Geld vom Staat fürs Menschsein. Echt jetzt?

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Geld vom Staat fürs Menschsein. Echt jetzt?
bref
Das Magazin der Reformierten N° 8 / 2016 – 29. April
Geld vom Staat fürs Menschsein.
Echt jetzt?
Zwölf Ansichten zu einem
bedingungslosen Grundeinkommen
Wer über das bedingungslose Grundeinkommen spricht,
kommt nicht um eine inflationäre Verwendung des Konjunktivs herum. Das liegt am Umstand, dass wir letztlich
alle Ahnungslose sind: Kein Land kennt ein bedingungsloses
Grundeinkommen, Erfahrungswerte fehlen.
Trotzdem entscheidet das Schweizer Stimmvolk am 5. Juni
darüber, ob künftig der Staat jedem Menschen in diesem
Land bedingungslos Geld zahlt. Egal, wie man zu dieser
Idee steht: Sie stellt Fragen, die ziemlich heftig an unseren
Denkformatierungen rütteln. Nur so lassen sich die teils
geharnischten Reaktionen von sonst besonnenen Menschen
auf ein Grundeinkommen erklären.
Das vorliegende Themenheft entstand in Zusammenarbeit
mit dem Institut Zukunft. Dieses steht den Grundeinkommensinitianten nahe. Trotzdem ist es kein Heft, das
einseitig die Vorteile eines Grundeinkommens preist.
Die Initianten zeichnen sich darin aus, dass sie am Diskurs
wohl fast mehr interessiert sind als am Abstimmungsresultat.
Allen in dieser Ausgabe befragten Frauen ist deshalb
gemein, dass sie sich – egal, ob sie ein Grundeinkommen
befürworten oder ablehnen – dem Thema mit nötiger
Offenheit stellten. Entstanden sind erörternde, oft von der
eigenen Lebenssituation ausgehende Gespräche. Dabei
wird jenes Thema angesprochen, das auch die reformierten
Kirchen umtreibt: was die Arbeit für Geld mit uns Menschen macht – und was dies letztlich fürs Menschsein
bedeutet.
2
Katie Pietsch
Bierbrauerin
S. 4
Antje Schrupp
Autorin
S. 18
Ingrid Grave
Ordensschwester
S. 35
Oliver Demont
bref Nº 8 — 2016
Gespräche Nadja Schnetzler
Bilder Laurent Burst
Ruth Schweikert
Autorin
S. 7
Jeannette Behringer
Politologin
S. 11
Harryet Lang
Modedesignerin
S. 15
Amira Hafner-Al Jabaji
Islamwissenschaftlerin
S. 21
Ulrike Guérot
Politikwissenschaftlerin
S. 27
Christine Egerszegi
Politikerin
S. 31
Debbie Zedi
Marketingleiterin
S. 38
Christine Bühler
Bäuerin
S. 41
Sarah Schilliger
Soziologin
S. 45
3
«Frauen wären
mutiger, ihr eigenes
Ding durchzuziehen»
Frau Pietsch, bis zur Gesprächsanfrage
kannten Sie die Idee von einem Grund­
einkommen nicht. Ihr erster Gedanke
dazu? Er galt meiner sehr konservativen
republikanischen Grossmutter. Sie würde
sich bestimmt aufregen, dass da Men­
schen wieder «Handouts», also Almosen,
erhalten, anstatt sich selber um ihren Er­
folg zu bemühen. Und man stelle sich vor,
dass nun plötzlich jeder Einwohner Almo­
sen bekommen soll – unvorstellbar! «Faul
und unverantwortlich ist das», würde sie
sagen.
Und was halten Sie von der Idee? Ich
sehe darin die Chance, dass ich wohl ra­
scher und freier den Entscheid gefällt hät­
te, mich dem Bierbrauen zuzuwenden. Ich
konnte mich ja nur für meinen neuen Job
entscheiden, weil eine Person aus meinem
Umfeld mein finanzielles Risiko bis heute
mitträgt. Mit einem Grundeinkommen
wäre ich nicht abhängig von ihr. Und
vermutlich hätte ich eine solche Ent­
­
scheidung mit weniger Schuldgefühlen
getroffen.
Inwiefern verändert ein Grundeinkom­
men das Verhalten der Menschen?
Wenn der Staat das Risiko des Scheiterns
ein Stück weit mitträgt, dann würden
Menschen wohl mehr wagen und auch
eher das tun, was sie wirklich gerne tun
4
und auch gut können. Heute treffen wir
Entscheide oft aus finanziellen Gründen
und lassen uns dabei von vermeintlich
vernünftigen Gründen leiten. Das Herz
und die Leidenschaft haben da wenig zu
melden. Als Chemikerin würde ich sagen:
Das Grundeinkommen senkt die Aktivie­
rungsbarriere für Lebensentscheidungen.
und prestigeträchtigen Positionen suchen.
Mit dem Grundeinkommen könnten sie
sich vielleicht aber eine Weiterbildung
finanzieren, die sie sonst nicht machen
würden. Oder ihren Job auf Teilzeit
reduzieren, um sich um Kinder zu küm­
mern – oder generell etwas Gutes für die
Gesellschaft tun.
Wie ist es, eine Arbeitsstelle aufzuge­
ben und selbständige Bierbrauerin zu
werden? Ein unglaublicher Schritt. Ich
bin die älteste Tochter. Die also, welche
die Eltern stolz machen sollte – und auch
die, welche die «guten Entscheide» treffen
sollte. Und dann entscheide ich mich nach
einer so langen Ausbildung für einen aus
der Sicht meiner Eltern «einfachen» Job.
Das hat ganz schön Mut gebraucht, ganz
abgesehen von den finanziellen Folgen.
Wie viele würden abspringen, ihr eige­
nes Ding machen? Die Karriere zu
wechseln, so wie ich es getan habe, wäre
sicher immer noch ungewöhnlich. Es
würde immer noch Mut erfordern. Hätte
ich zum Beispiel Kinder oder eine Hypo­
thek, hätte ich diese Entscheidung wohl
nicht getroffen, vermutlich auch nicht mit
einem bedingungslosen Grundeinkom­
men. Dann hätte ich vielleicht einmal
im Jahr unbezahlten Urlaub genommen,
um Bier zu brauen. Das wäre ja auch in
Ordnung, aber natürlich nicht genau das
gleiche.
Trotzdem haben Sie den Schritt ge­
wagt. Ja. Auch, weil ich über ein Backup
verfüge, wenn es mit dem Bierbrauen
nicht klappt: Ich kenne meinen Wert als
Chemikerin. Ich könnte jederzeit wieder
in die Pharmabranche zurückkehren.
Kleines Gedankenexperiment: Das
Grundeinkommen ist eingeführt. Was
wäre anders in der Pharmabranche?
Wohl gar nicht so viel. Es wird immer die
Menschen geben, die diese gutbezahlten
bref Nº 8 — 2016
Wie hart ist Ihre Arbeit als Bierbraue­
rin? Körperlich ist sie schon sehr hart,
Zwölfstundentage sind keine Seltenheit.
Nur: Es fühlt sich für mich nicht wie Ar­
beit an, da es das ist, was ich machen
möchte. Selbst das wenig spassige Fässer­
reinigen ist okay, weil es einfach ein Bei­
trag zu meinem Ziel ist: Alles über das
Bierbrauen zu wissen. Solange ich immer
Bild: Laurent Burst
Katie Pietsch verdiente als Chemikerin gutes Geld in der
­Pharmabranche. Dann entdeckte sie ihre Liebe zum Bierbrauen.
Der Wechsel zur selbständigen Brauerin und somit in eine
­finanziell unsichere Zukunft hat ihr viel Courage abverlangt.
­Zurzeit verdient sie zwei Franken – pro Stunde.
Katie Pietsch, 32, Zürich
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etwas dazulernen kann, nehme ich solche
Arbeiten in Kauf.
Und welche Arbeiten hast du in deinem
früheren Job in Kauf genommen? Ich
arbeitete in einer sehr grossen Firma, und
da nimmt man einfach unglaublich viele
Dinge in Kauf, die gar nichts mit der effek­
tiven Tätigkeit zu tun haben. Sie sind dann
einfach nur Teil von Politik, administrati­
ver Arbeit oder unproduktiver Tätigkeit.
Viele Mitarbeitende verlieren darin ganz
rasch das höhere Ziel aus den Augen. Sie
arbeiten dann halt, um das Geld zu be­
kommen, und suchen sich in der Freizeit
einen Ausgleich. Auch lassen sich in einer
Firma schlechte Prozesse oder Dinge, die
einen stören, kaum verändern. Oder es
geht extrem lange, bis sich etwas ändert.
Eine Firma in der Industrie ist ein Flug­
zeugträger. Meine kleine Bierbrauerei ist
aber ein Schnellboot. Das ist unglaublich
befriedigend.
Kritiker befürchten, ein Grundeinkom­
men führe dazu, dass niemand mehr
arbeiten will. Es wird Menschen geben,
die tatsächlich mit diesem Einkommen
zufrieden sind und sehr bescheiden nur
mit diesen Mitteln leben werden. Ich bin
mir aber ziemlich sicher, dass es weiterhin
viele Menschen geben wird, die etwas bei­
tragen wollen. Sei es für Kunden, für die
Gesellschaft oder für den Staat. Vielleicht
verlangt ein bedingungsloses Grundein­
kommen auch eine andere Erziehung.
Wenn Kinder und Jugendliche lernen,
dass sie sich für das entscheiden können,
was sie wirklich gut können und gerne
tun, dann reift ein ganz neues Denken her­
an. Im Zentrum würde dann stehen, dass
wir uns mehrmals im Leben neu erfinden
können – und dies ganz ohne existenziel­
le Angst. Das würde das Leben sehr viel
spannender machen.
Wie viel verdienen Sie eigentlich als
Bierbrauerin? Jetzt gerade verdiene ich
ungefähr zwei Franken pro Stunde. Ich
arbeite aber noch nebenher in einer Bar.
Was bedeutet Ihnen Geld? Für mich ist
Geld ein Werkzeug, das mir erlaubt, be­
stimmte Dinge zu tun. Hier zu leben zum
Beispiel. Oder genügend Geld zu haben,
um mir Lebensmittel zu kaufen und viel­
leicht einmal im Jahr meine Familie in den
USA zu besuchen. Mir ist Geld nicht un­
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wichtig, aber der Betrag ist mir heute egal.
Mein Berufswechsel hat meine Perspekti­
ve aufs Geld drastisch verändert. In mei­
nem alten Job dachte ich immer: Du musst
für deine Pensionskasse sparen, Geld spa­
ren, um in die Ferien zu fahren, und Geld,
um grössere Dinge zu kaufen. Heute tu ich
das, was ich wirklich gerne mache, und
alles andere ist wenig wichtig oder sogar
unwichtig. Früher verglich ich mich auch
mit anderen, die den gleichen Job hatten.
Es war mir wichtig, gleich viel oder mehr
zu verdienen.
Hätte Ihre Mutter mit einem Grund­
einkommen eine andere Biografie ge­
habt? Meine Mutter ist Lehrerin und hat
sich laufend weitergebildet. Sie musste
viele Darlehen aufnehmen, um Schul­
leiterin zu werden. Das gab viel Stress.
Dieser Stress wäre wohl kleiner gewesen,
und sie hätte ihre Weiterbildungen even­
tuell schneller abgeschlossen, weil sie
nicht immer berufsbegleitend hätte stu­
dieren müssen. Vermutlich hätte es ihr
Leben etwas einfacher gemacht.
Wird sich etwas für Frauen im speziel­
len ändern mit dem bedingungslosen
Grundeinkommen? Frauen orientieren
sich bei Entscheidungen im Leben noch
immer sehr an ihren Müttern oder Gross­
müttern, selbst wenn sie dies nicht wollen.
Irgendwie sind wir darauf programmiert,
am Ende doch eher konservative Wege zu
gehen. Zumindest erlebte ich das in den
USA so. Mit einem Grundeinkommen wä­
ren Frauen sicherlich mutiger, ihr eigenes
Ding zu machen. Ich halte mich da ganz
an meine Grossmutter. Sie war zwar kon­
servativ und hatte eine sehr klare Vor­
stellung davon, was eine Frau in meinem
Alter tun sollte. Aber zugleich sagte sie
mir auch immer: «Mädel, du lebst nur ein­
mal! Mach etwas aus deinem Leben und
warte nicht damit, bist du alt bist.»
Katie Pietsch wuchs in den USA auf, wo sie Chemie
studierte. Danach kam sie in die Schweiz, um
ihre Doktorarbeit in Toxikologie abzuschliessen.
Pietsch arbeitete für eine grosse Pharmafirma
in Basel, bevor sie ihr gesamtes Erspartes in eine
Craft-Bierbrauerei investierte. Sie hat bereits
mit anderen Brauerinnen ein eigenes Spezialbier
kreiert.
bref Nº 8 — 2016
«An finanzieller
Unsicherheit ist rein
gar nichts romantisch»
Die Autorin Ruth Schweikert räumt mit dem Klischee auf, dass
existenziell problematische Phasen die Kunst besonders positiv
­beeinflussen: «Das ist eine sehr zynische Sicht.» Ein Grundein­
kommen würde es erlauben, den Menschen bei seinen Stärken
­abzuholen, und nicht bei seinen Defiziten und Problemen.
Frau Schweikert, wenn Sie einen Ro­
man über die Idee des bedingungs­
losen Grundeinkommens schreiben
müssten, was würde darin stehen? Als
Protagonistin würde ich eine Freundin
von mir wählen, die eine äusserst schwie­
rige Kindheit und Jugend hatte. Dieser
Einstieg ins Leben wirkt bis heute in
ihr Erwachsenenleben nach. Ihre Mutter
kam in den sechziger Jahren in die
Schweiz, wurde von einem Schweizer
schwanger, der sie dann im Stich liess. Das
Vormundschaftsamt nahm der Frau ihr
Kind weg und steckte es ins Heim, wo ihm
alles nur erdenklich Schlimme widerfuhr.
Das wird ein trauriges Buch. Allerdings.
Meine Freundin musste sich richtig aus
dieser Biografie herausarbeiten. Heute ist
sie Autorin, befindet sich aber wieder in
prekären Umständen: Sie lebt in einem
Abbruchhaus und ist Sozialhilfeempfän­
gerin. Für alles, was sie zum Leben
braucht, muss sie sich beim Sozialamt
rechtfertigen und erklären. Die Frage
nach der Existenzsicherung frisst ihre
­gesamte Energie. Dabei hätte sie viel zu
bieten.
Die Protagonistin hätten wir also. Was
würde das Buch erörtern? Ich würde
anhand dieser Biografie literarisch aufzei­
gen, was es bedeutet, wenn man in einem
solchen negativen Kreislauf gefangen ist,
und was es bedeuten könnte, wenn solche
Kreisläufe – zum Beispiel mit einem
Grundeinkommen – durchbrochen wür­
den. Der Philosoph Peter Sloterdijk fragte:
Wo kann man Menschen in ihrer Stärke
abholen? Heute holen wir sie nicht bei
­ihren Stärken ab, sondern zeigen auf, was
an einem Menschen nicht gut ist oder
war­um ein Mensch in der Gesellschaft
nicht funktioniert. Wir argumentieren de­
fizitär. Das Grundeinkommen würde es
uns erlauben, den Menschen bei den
­Stärken abzuholen, nicht bei den Defizi­
ten und Problemen. Dieses Vorschuss­
vertrauen finde ich an der Idee richtig und
wichtig.
Welchen Beitrag kann die Literatur leis­
ten, solch neue Ideen wie das Grund­
einkommen zu entwickeln? Literatur
und Kunst sind Räume, in denen Vorstel­
lungen durchgespielt und Szenarien ent­
wickelt werden können. Friedrich Schiller
sagte: Der Mensch ist nur da ganz Mensch,
wo er spielt. Darin liegt der Wert jedes
literarischen oder künstlerischen Bei­
­
trags. Bei der Literatur kommt dazu, dass
wir uns als Menschen in andere Szenarien
hineindenken können. Wir sind zwar die,
die wir sind. Aber wir sind immer auch
andere, wenn wir lesen. Und so liessen
sich eben auch Ideen und Utopien mit
I­ nhalt füllen, um aufzuzeigen, wie eine
solche Utopie praktisch funktionieren
würde.
Wie hätte ein Grundeinkommen Ihren
Werdegang als Schriftstellerin beein­
flussen können? Ich hätte mich schneller
und stärker auf meine Tätigkeit als Auto­
rin konzentrieren können. Das Grund­
einkommen hätte vielleicht auch dazu
geführt, dass ich manchen Herausforde­
rungen aus dem Weg gegangen wäre. Ich
bin Dozentin für Literarisches Schreiben
an der Hochschule der Künste Bern. Hät­
te ich mich auch mit Grundeinkommen
für diese Stelle beworben, mich also dieser
Herausforderung gestellt? Wahrschein­
lich schon. Weil das Schreiben meine Lei­
denschaft ist und ich diese auch gerne
an junge Autorinnen und Autoren weiter­
geben möchte.
Hatten Sie als Autorin immer auch
­Nebenjobs? Ständig. In meiner Zeit als
alleinerziehende Mutter hatte ich die un­
terschiedlichsten Jobs. Telefonsex und
Kerzengiessen sind da nur zwei Beispiele.
Mit einem Grundeinkommen hätte ich
vielleicht als Autorin solche Tätigkeiten
auch für eine gewisse Zeit ausgesucht,
aber eher, um zu recherchieren. Es gab in
meinem Leben wirkliche Momente exis­
tenzieller Not, in denen ich tatsächlich
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Ruth Schweikert, 50, Zürich
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bref Nº 8 — 2016
nicht wusste, wie ich meine Kinder ernäh­
ren sollte. Auch konnten sie nicht an
allen sozialen Erlebnissen teilnehmen.
Das sind Erlebnisse, die man nicht ver­
gisst. Es ist ein Klischee zu glauben, dass
diese existenziell problematischen Pha­
sen die Kunst besonders positiv beein­
flussen würden.
Diese romantische Aussensicht auf die
«Not, die erfinderisch macht»? Ja, das
ist sogar eine sehr zynische Sicht. Es gibt
rein gar nichts Romantisches an finan­
zieller Unsicherheit, am Prekariat. Im Ge­
gensatz dazu macht ein zu hohes finan­
zielles Polster unter Umständen denkfaul
und träge. Aber gar kein Polster lähmt und
nimmt die Energie aus jedem gestalteri­
schen Prozess. Es ist alles eine Frage der
Balance.
Bild: Laurent Burst
Könnte ein Grundeinkommen eine sol­
che Lähmung verhindern? Wenn wir
von einem Grundeinkommen reden, das
eine bescheidene Existenz sichert, dann
ist das der richtige Ansatz. Wer mit die­
sem Geld lebt, ohne einer beruflichen Tä­
tigkeit nachzugehen, der muss sich sehr
gut überlegen, wie er mit diesem Betrag
durchkommt. Diese Personen leisten viel­
leicht dennoch einen Beitrag an die Ge­
sellschaft. Sie erziehen zum Beispiel Kin­
der. Ein Grundeinkommen würde uns
auch erlauben, dass wir uns zwischen­
durch aus dem Wirtschaftskreislauf her­
ausnehmen können. Nicht jeder muss
diesen Irrsinn dann ständig mitmachen.
Um mich herum verschwinden Menschen
monatelang in Kliniken, um ihr Burnout
zu kurieren. Das kostet die Allgemeinheit
ja auch enorme Geldbeträge.
Würde mit einem Grundeinkommen
der Druck auf Arbeitgeber steigen? Ar­
beitgeber müssten sich gut überlegen, was
sie einer Mitarbeiterin zu bieten hätten.
Lineare Lebensläufe sind ja schon heute
nicht mehr selbstverständlich. Mit einem
Grundeinkommen dürfen und müssen wir
uns plötzlich überlegen, was wir mit un­
serem Leben wirklich anfangen wollen.
Die Automatismen, die wir heute kennen,
würden wegfallen. Man macht dann nicht
einfach eine Banklehre, nur weil man
­einigermassen gute Noten hat. Somit kann
sich ein Arbeitgeber auch nicht mehr
­darauf verlassen, dass er einen Arbeit­
nehmer findet.
Kann der Mensch mit so viel Entschei­
dungsfreiheit überhaupt umgehen?
Der Schweizer Dichter Adolf Muschg sag­
te: Frei ist nur, wer von seiner Freiheit
auch Gebrauch macht. Diese Idee gefällt
mir. Freiheit ist ja nie absolut, sondern im­
mer primär eine Freiheit zur Entschei­
dung. Das Grundeinkommen schafft die
Freiheit, dass wir uns alle sehr gut überle­
gen dürfen, wo und wofür wir uns einset­
zen möchten.
Was bedeutet das für die Gesellschaft?
Wir müssen uns viel mehr damit anfreun­
den, dass es viele unterschiedliche Le­
benskonzepte gibt und dass wir mit diesen
Lebenskonzepten selber gar nicht unbe­
dingt einverstanden sein müssen, um als
Gesellschaft zu funktionieren. Wir wer­
den uns wieder viel mehr mit unserem
Innenleben befassen müssen, in dem es
nur uns selber gibt und das unser Kom­
pass ist. Nicht Kirche, nicht Staat, nicht
das Sozialamt und nicht die Nachbarin
nimmt uns diese Entscheidung ab. Viel­
leicht ist es die Basis für die Gesundung
ganz vieler Dinge, die heute schieflaufen.
Dafür wäre das Grundeinkommen eine
Lösung? Sie ist zu einem Teil Utopie, hat
aber auch einen Bezug zur Realität. «Ar­
beit erwirtschaftet das Geld» ist ja ein My­
thos. Das wissen wir eigentlich alle. Da
laufen viel mehr virtuelle und undurch­
sichtige Mechanismen ab, die mit Börse,
Rohstoffen und anderem zu tun haben.
Geld ist ein Mittel, ein Medium, mensch­
gemacht, eine Sprache, die wir uns ange­
eignet haben und mit der wir heute auf
bestimmte Weise kommunizieren. Die
Regeln dazu können wir jederzeit ändern.
Wir könnten als Schweiz auch Impulse
in andere Länder senden und zeigen,
dass Dinge nicht so laufen müssen, wie sie
heute laufen.
Ruth Schweikert ist Autorin zahlreicher Romane,
Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises und
weiterer namhafter Literaturpreise. Als Dozentin
für Literarisches Schreiben unterrichtet sie an
der Berner Hochschule der Künste. Schweikert ist
Mutter von fünf Söhnen und lebt in Zürich.
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Die Kirchgemeinde Wangen-Brüttisellen ist mit ihren
rund 2100 Mitgliedern eine attraktive Kirchgemeinde in
der Agglomeration Zürich. Zur Ergänzung unserer
ordentlichen 100%-Pfarrstelle suchen wir auf Sommer/
Herbst 2016 oder nach Vereinbarung
Zwei Pfarrstellen 150%
Die reformierte Kirchgemeinde Lenzburg-Hend­
schiken mit über 3000 Mitgliedern organisiert ihre
250 Pfarrstellenprozente im Amtswochensystem.
Infolge Pensionierung und beruflicher Neuorien­
tierung unserer beiden Pfarrpersonen suchen wir
zur Ergänzung des Pfarrteams per 1. März 2017
oder nach Vereinbarung
einen Pfarrer 80 –100%
eine Pfarrerin oder einen Pfarrer 50 –70%
Wir legen Wert auf
• Teamfähigkeit und Sozialkompetenz
• Freude und Offenheit für alle kirchlichen Dienste
• theologische Kompetenz, das Evangelium
­zeitgemäss zu verkünden
• eine lebensfrohe, initiative Persönlichkeit,
die leicht Kontakte mit Menschen aller Alters­
stufen knüpft
• Flair für Gottesdienste und liturgische Feiern
• Bereitschaft, unsere Kirchgemeinde gemeinsam
weiterzuentwickeln
• Offenheit für Ökumene und Allianz
Sie finden bei uns
• eine Pfarrerin (100%)
• zwei Katechetinnen und einen Katecheten
• eine verantwortungsbewusste Kirchenpflege
• ein kompetent geführtes Sekretariat
• Möglichkeit von Arbeitsschwerpunkten nach
Absprache
• ein Team motivierter Mitarbeiterinnen und
­Freiwilliger
eine Pfarrerin oder einen Pfarrer
(30%-Ergänzungspfarrstelle)
Zu Ihren Aufgaben gehören:
– Gottesdienste (Schwerpunkt Familien- und Jugendgottesdienste) und Kasualien
– Konfirmandenunterricht, Konflager
– Begleitung der Katechetinnen, des Kolibriteams und
verschiedener Angebote des rpg
– Kontakte zu Familien, jungen Menschen und Erwachsenen
Was uns wichtig ist:
– Sie haben Interesse an Familien-, Kinder- und Jugendarbeit
– Sie sind liberal und weltoffen
– Sie sind kommunikativ, team- und dialogfähig
– Sie besitzen die Fähigkeit, mit Menschen verschiedener
Generationen zusammen zu arbeiten
Wir bieten Ihnen:
– Eine engagierte Kirchenpflege
– Einen teamorientierten Pfarrkollegen
– Motivierte Mitarbeitende und ein Sekretariat, welches Sie
administrativ unterstützt
– Eigenes Büro im Gemeindeteil Brüttisellen
– Mehr Informationen zu unserer Kirchgemeinde finden Sie
auf www.ref-wangen-bruettisellen.ch
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung mit den üblichen Unterlagen bis 27. Mai 2016 an:
Kirchgemeinde Wangen-Brüttisellen, Vermerk Pfarrstelle,
Hegnaustrasse 36, 8602 Wangen, oder via E-Mail an
petra.kreinz@zh.ref.ch.
Für weitere Auskünfte und zur Beantwortung von Fragen
stehen Ihnen gerne zur Verfügung: Katharina Lamprecht
Baltensperger, Präsidentin Pfarrwahlkommission,
Tel. 044 833 15 22, oder Christina Beck, Präsidentin Kirchenpflege, Tel. 044 833 26 08.
Mehr über unsere Kirchgemeinde erfahren Sie
­unter: www.kirche-lenzburg.ch
Wir freuen uns auf Ihre schriftliche Bewerbung
bis 15. Juni 2016 an:
Michael Brücker, Postfach 480, 5600 Lenzburg 1
Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gerne:
Michael Brücker, Präsident der Pfarrwahl­
kommission, 078 647 21 17,
michael.bruecker@otzbooks.ch.
Susanne Ziegler, Pfarrerin, 062 891 21 06,
susanne.ziegler@kirche-lenzburg.ch.
10
bref Nº 8 — 2016
Das Magazin der Reformierten
Bestellen
«Es dreht sich alles
um diese Frage:
Was ist Gerechtigkeit?»
Jeannette Behringer ist Politologin und Ethikerin bei der reformierten
­Kirche des Kantons Zürich. Der Idee des bedingungslosen Grundein­
kommens kann sie viel abgewinnen. Grosse Zweifel hegt sie allerdings an
­deren Umsetzung. Sie fordert eine Kirche, die sich als gesell­s­chaftliche
­Akteurin in die Debatte einmischt.
Frau Behringer, auffallend oft sind Kirchenvertreter unter den Befürwortern
eines bedingungslosen Grundeinkommens zu finden. Es wird mit einem
menschenwürdigen Leben argumentiert und dass jeder Menschen bedingungslos angenommen sei – so stehe
es schliesslich auch in der Bibel. Lassen
christliche Werte gar keinen anderen
Schluss zu? Doch. Ich kenne einige Stim­
men in der reformierten Kirche, die das
Grundeinkommen deutlich ablehnen.
Und auch ich sehe es eher kritisch, gerade
was die Umsetzung betrifft. Letztlich
dreht sich aber alles um die Frage: Was
verstehen wir unter Gerechtigkeit?
Was ist für Sie Gerechtigkeit? Für mich
als Ethikerin in der Kirche ist Gerechtig­
keit geknüpft an die Frage der Verteilung.
Und gerade da scheitert für mich das
Grundeinkommen. Es wird Menschen ge­
ben, die zusätzlich zum Grundeinkom­
men Unterstützung benötigen. Beispiels­
weise, wenn ein Mensch auf eine
kostenintensive Pflege angewiesen ist.
Diametral anders würde wohl wiederum
der neoliberale Denker Thomas Straub­
haar, ehemaliger Direktor des Welt­
wirtschaftsinstituts in Hamburg, Gerech­
tigkeit definieren. Er befürwortet das
Grundeinkommen, weil dann alle anderen
Sozialleistungen konsequent abgeschafft
würden. Seiner Ansicht nach gewährt
der Staat für alle die gleichen Chancen
und schafft dadurch Startgerechtigkeit.
Startgerechtigkeit versus Verteilungsgerechtigkeit: Was berücksichtigt die
von Ihnen geforderte Verteilungsgerechtigkeit? Stellen Sie sich eine Schul­
klasse vor. Alle Schülerinnen und Schüler
kommen im gleichen Alter in die Schule.
Sie haben von aussen betrachtet die glei­
che Chance, was Bildung betrifft. Nun ist
es aber nicht so, dass diese Kinder alle tat­
sächlich am gleichen Punkt stehen. Sie
haben in den sieben Jahren bis zum Schul­
eintritt schon sehr viel Verschiedenes er­
lebt. Bildung, Zuwendung, Schicksals­
schläge – jede Biografie ist unterschied­
lich. Auch mit der gleichen Bildungschan­
ce sind die Startchancen also ungleich.
Die Verteilungsgerechtigkeit setzt da ein:
Wird das Grundeinkommen mit der Brille
der Verteilgerechtigkeit betrachtet und so
ausgearbeitet, dass bestehende Ungleich­
heiten vermindert werden, dann befür­
worte ich das Grundeinkommen. Wer
aber wie Thomas Straubhaar nur mit
Startgerechtigkeit für das Grundeinkom­
men argumentiert, trägt dazu bei, Un­
gleichheit zu stabilisieren.
Die Umsetzung der Initiative ist die
Knacknuss? So ist es. Das bedingungslose
Grundeinkommen ist eine der faszinie­
rendsten Ideen der letzten dreissig Jahre.
Mir gefällt die Zielsetzung der Initiative
sehr: Sie soll der ganzen Bevölkerung ein
menschenwürdiges Dasein und die Teil­
nahme am öffentlichen Leben ermögli­
chen. Nur: Das Durchdenken der Umset­
zung ist eminent wichtig, damit dieses
Ziel überhaupt erreicht werden kann.
Wo sehen Sie Schwierigkeiten? Proble­
matisch finde ich, dass die Schweiz auf
diese Idee einzig mit einem Ja oder Nein
antworten kann. Hinzu kommt, dass das
Ja von den Initianten bewusst nicht ge­
nauer definiert wurde. Etwa wenn Zahlen,
beispielsweise die Frage nach der Höhe
des Grundeinkommens, in den Raum ge­
stellt werden. Angenommen, das Grund­
einkommen würde angenommen, dann
geht es erst richtig los: Real existierende
Machtverhältnisse werden nachher dar­
über bestimmen, wie die Verteilung ge­
schieht.
Was heisst das konkret? Unter anderem,
dass nicht alle Gruppen, die das Grund­
einkommen betrifft, in den Diskurs einbe­
zogen sein werden. Zum Beispiel müssten
Themen wie Zuwanderung, regionale
­Lebenshaltungskosten, Einkommens- und
Vermögensunterschiede und weitere Ele­
mente zwingend mitbedacht werden.
11
Jeannette Behringer, 47, Zürich
12
bref Nº 8 — 2016
Aber es erfolgen ja bereits heute
­Vernehmlassungen von Gesetzesent­
würfen, an denen einzelne Verbände,
Interessengruppen und Institutionen
teilnehmen. Ja, und das ist auch eine tol­
le Sache. Aber es sind keine eigentlichen
Debatten und Diskurse, in denen öffent­
lich und breit Lösungen entwickelt wer­
den. Es braucht Ergänzungen zu Ver­
nehmlassungen, sogenannte deliberative
Verfahren. Das sind öffentliche Berat­
schlagungen mit allen Betroffenen dar­
über, wie etwas am besten umgesetzt
­werden kann. Heute ist es so, dass die Be­
völkerung abstimmt, und das Parlament
entwickelt das Gesetz dazu. In der Vorbe­
reitung der Entscheidungsfindung, in der
Meinungsbildung fehlt aber etwas sehr
Wichtiges. Das «deliberative Verfahren»
wäre eine demokratische Innovation, die
der Schweiz guttun würde.
Bild: lAURENT bURST
Können Sie ein Beispiel von solch
­einem Verfahren nennen? Ein gutes
­Beispiel sind sogenannte Publi-Foren, die
auch in der Schweiz durchgeführt wer­
den. Repräsentativ ausgewählte Bürgerin­
nen und Bürger beratschlagen über
­komplexe Themen und entwickeln Lö­
sungsvorschläge. Expertenkommissionen,
die beispielsweise in Deutschland und
Grossbritannien die Höhe des Mindest­
lohnes festlegen, entwickeln zusätzliche
Lösungen. Diese Verfahren wären auch
eine Möglichkeit, um die Höhe des Grund­
einkommens festzulegen. Wichtig ist al­
lerdings, dass die Gruppen durch Bundes­
rat und Parlament legitimiert sind und
Empfehlungen und Entscheidungsgrund­
lagen liefern.
Ist nicht die Initiative selbst Teil dieses
Prozesses? Ja, aber in der Phase vor der
Abstimmung. Und es ist phänomenal, dass
sich Schweizerinnen und Schweizer über
diese Initiative mit der Frage des Grund­
einkommens befassen. Die Initianten ha­
ben das sehr gut gemacht, dass sie schon
bei der Unterschriftensammlung immer
die Debatte und die Diskussion zum The­
ma angeregt haben. So kann ein Thema,
selbst wenn es an der Urne Schiffbruch
erleidet, am Leben gehalten werden. Mit
der Zeit entsteht vielleicht ein Konsens
in der Gesellschaft über eine soziale Inno­
vation.
Welche Frage ist für Sie die wichtigste
im Zusammenhang mit dem Grundeinkommen? Zentral finde ich, die Zielset­
zung der Initiative im Auge zu behalten.
Das bedeutet, sich zu fragen, ob ein
Grundeinkommen dem Ziel dient, dass
dadurch die ganze Bevölkerung ein men­
schenwürdiges Dasein und die Teilnahme
am öffentlichen Leben erhält. Für dieses
grosse Ziel ist es meines Erachtens not­
wendig, nicht nur einen engen Begriff von
Arbeit im Sinne bezahlter Erwerbsarbeit
an­zuwenden, sondern im Sinne Hannah
Arendts nach einer Auswirkung des
­
Grundeinkommens auf das gesamte Tätig­
keitsspektrum zu fragen.
Was würde das bedeuten? Ich frage
mich: Welche Auswirkung hätte das
Grundeinkommen auf die bezahlte Er­
werbsarbeit, auf die unbezahlte Hausund Familienarbeit sowie das freiwillige
Engagement? Wenn mit einem Grund­
einkommen erreicht werden soll, dass
sich mehr Menschen freiwillig enga­
gieren, dann muss man sich konkret
mit ­Erkenntnissen zu den Bedingungen
des Zustandekommens von Engagement
auseinan­dersetzen. Und auch damit, ob
die geschlechterspezifische Arbeitstei­
lung durch ein Grundeinkommen verän­
dert wird. Diese wäre notwendig, wenn
man allen eine Teilnahme am öffentlichen
­Leben ermöglichen möchte.
Sie arbeiten als Ethikerin bei der reformierten Landeskirche Zürich. Warum
äussern sich eigentlich Kirchen so gerne zum bedingungslosen Grundeinkommen? Für die christlichen Kirchen
ist Gerechtigkeit einer ihrer zentralen
Werte. Sie betonen, sich für andere einzu­
setzen, also «Dienst am Nächsten» zu tun.
Aber auch, Eigenverantwortung zu leben.
Letztlich geht es darum, Arbeit und Leis­
tung zu erbringen, aber auch auf den
Schutz der unverhandelbaren Menschen­
würde zu pochen. Diesen Druck muss die
Kirche als Akteurin der Gesellschaft stets
aufrechterhalten.
Klar: Viele Menschen haben die unmittel­
bare Bindung an die Institution verloren,
gehen zum Beispiel nicht mehr am Sonn­
tag in den Gottesdienst. Zugleich aber ist
ihre Haltung stark geprägt von Werten
wie Nächstenliebe und Gerechtigkeit –
nur werden diese Formen sehr individuell
gelebt. Das finden wir übrigens auch in
anderen Religionen. – Diese Werte sind in
einer zunehmend säkularisierten Gesell­
schaft nicht verschwunden. Sie sind nur
in neue Formen über­gegangen und wer­
den sich weiter transformieren.
Und was ist nun die Aufgabe der Kirche? Es geht darum, immer wieder auch
auf die christlichen Wurzeln unserer Ge­
sellschaft zu verweisen. Beispielsweise
bestreitet wohl kaum jemand mehr, dass
der Leistungsdruck und die Unsicherheit
am Arbeitsplatz zugenommen haben. Ich
habe manchmal den Eindruck, dass es
heute salonfähig ist zu sagen: Nur wer sich
bei der Arbeit etwas unsicher fühlt, ist
wirklich dazu motiviert, gute Leistungen
zu erbringen. Früher war der Zusammen­
hang in der Argumentation eher dieser:
Wir schaffen sichere soziale Bedingungen,
damit Menschen in ihrer Arbeit Leistung
erbringen können. Für uns als Kirche ist
klar: Der Mensch braucht eine sichere
Existenz, und von dieser Sicherheit aus
erbringen wir Leistung – nicht umge­
kehrt. Die Kirchen können den Diskurs
zur Frage nach dem guten Leben ent­
scheidend mitgestalten. Zum Beispiel,
indem sie auf den Schutz des Sonntags
achten, entgegen dem Trend der Deregu­
lierung bei den Ladenöffnungszeiten.
Denn Freiheit hat immer auch eine Kehr­
seite: die Verantwortung.
Jeannette Behringer ist Politologin und Ehtikerin
mit den Schwerpunkten politische Ethik, Demo­kratie, Wirtschaft und Europa. Die Doktorin
der Sozialwissenschaften arbeitet in der Abteilung
Lebenswelten der reformierten Kirche des
Kantons Zürich und verantwortet den Bereich
Gesellschaft und Ethik.
Die Säkularisierung der Gesellschaft ist
in vollem Gange. Wie will da die Kirche
mit ihren Themen überhaupt noch in
einer kirchenfernen Gesellschaft landen? Wir müssen unterscheiden, was die
Bindung an die Institution Kirche anbe­
langt und was gelebte Religiosität betrifft.
13
Wir suchen einen Pfarrer (100%)
www.evang-uznach.ch
(allenfalls 80%)
Die jetzige Stelleninhaberin verlässt aus familiären
Gründen unsere Gemeinde.
Aufgrund der Teamzusammensetzung suchen wir auf den
1. Januar 2017 oder nach Vereinbarung eine
Pfarrerin (60 %)
Jugendgottesdienste
mit Schwerpunkt Erwachsene und Familien
Kirchlicher Unterricht
Sie finden bei uns
– eine lebendige, regionale Kirchgemeinde mit Diasporacharakter, die sich am Modell «Familien-Generationenkirche» orientiert
– die Kirche mit dem Kirchgemeindehaus in Uznach
und das «Generationenhaus» in Eschenbach als
Begegnungszentrum
– Spielraum für die Weiterentwicklung unserer Vision einer
lebendigen Gemeinde und für eigene Ideen,
gemäss dem Slogan der St. Galler Kantonalkirche
«Nahe bei Gott – nahe bei den Menschen»
– ein engagiertes Team mit drei Pfarrkollegen, einer
Diakonin, einem Diakon und einer Jugendarbeiterin
– eine Verwaltung mit einem Kirchgemeindeschreiber
und einer Sekretärin
Könfis
Ihr Arbeitsgebiet
– Allgemeine pfarramtliche Aufgaben im Pfarrkreis Uznach
– Programmleitung im Kirchgemeindehaus Uznach
– Erwachsenenbildung, Familienangebote, gerne neue
Angebote für Frauen
– bei Bedarf Erteilung von Konfirmanden- und
Religions­unterricht
Wir wünschen uns eine Persönlichkeit, die
– Profil zeigt und ihren Glauben lebt
– lustvoll Neues entwickelt, begeistern kann und sich
selbst begeistern lässt
– offen, teamfähig und kommunikativ ist
– mobil ist und Wohnsitz im Kirchgemeindegebiet nimmt,
vorzugsweise in Uznach
Haben wir Ihr Interesse geweckt?
Wir freuen uns auf Ihre Kontaktnahme.
Nähere Auskünfte erteilen gerne
– Pfarrerin Susanne Tschümperlin, jetzige Stelleninhaberin
Telefon 055 285 15 12
Mail susanne.tschuemperlin@evang-uznach.ch
– Ursula Schweizer, Präsidentin der Pfarrwahlkommission
Telefon 055 283 21 53
Mail schweizer.rieden@swiss­online.ch
Wir freuen uns über Ihre Bewerbung bis am 31. Mai 2016
Evang. Kirchgemeinde Uznach und Umgebung
Pfarrwahlkommission
Herr Thomas Moser, Kirchgemeindeschreiber
Zürcherstrasse 18
8730 Uznach
kirchgemeindeschreiber@evang-uznach.ch
14
Teamarbeit
bref Nº 8 — 2016
Jugendliche
Freude am Entwickeln
Schulkinder
ab Mittelstufe
Lager
gelebter Glaube
Oekumene
Soziale Medien
lebensnaher Predigtstil
junge
Erwachsene
Im Sinne der ausgewogenen Teamzusammen­
setzung bevorzugen wir einen Pfarrer, der Mundart
spricht. Sind Sie der Pfarrer mit Herz, der diese
vielfältige Herausforderung in unserer Gemeinde
annehmen will? Dann erwarten wir Ihre vollständi­
gen Bewerbungsunterlagen bis 31. Mai 2016 an:
Reformierte Kirchgemeinde Dübendorf,
Pfarrwahlkommission, Bahnhofstrasse 37,
8600 Dübendorf.
Dübendorf ist eine grosse Kirchgemeinde im
rasant wachsenden Glattal. Obwohl der
Agglo­meration Zürich nahe, haben wir unsere
­Eigenständigkeit und unsere Eigenheiten bewahrt. Wir sind eine Gemeinde mit einer starken
sozialen Durchmischung, breitem Freizeitangebot und viel Grünraum zur Erholung.
Für Fragen stehen Ihnen zur Verfügung:
Christian Brütsch, Präsident Pfarrwahlkommission,
unter 079 446 39 89 oder Pfarrwahl2016@gmx.ch,
und Karin Baumgartner, Pfarrerin, unter
076 459 29 31 oder karin.baumgartner@zh.ref.ch.
Weitere Informationen finden Sie auf der
Kirchenhomepage: www.rez.ch
«Ein Leben unter dem
Existenzminimum führt
zur Verzweiflung»
Die Schweizerin Harryet Lang arbeitet in Berlin als Modedesigne­
rin. Davon leben kann sie allerdings nicht. Die 40jährige bezieht
Sozialhilfe für Selbständige vom deutschen Staat. Ein Grund­
einkommen würde viel Druck aus ihrem Leben nehmen, sagt sie.
Frau Lang, Sie leben in Berlin und nehmen hier regelmässig an der Verlosung
eines Grundeinkommens für ein Jahr
teil. Angenommen, Sie gewinnen die
tausend Euro im Monat, was würde sich
ändern? Zunächst wäre es für mich eine
grosse Entspannung. Ich beziehe aktuell
«Hartz 4 Aufstocker», das ist die Sozial­
hilfe für Selbständige. Konkret muss ich
dafür zweimal im Jahr alles offenlegen,
was bei mir reinkommt. Also was mein
Leben kostet und wofür ich Geld ausgebe.
Da kommt man sich ganz nackt vor, es
ist ein demütigender Prozess. Doch ohne
­dieses Geld könnte ich meiner Arbeit als
Modedesignerin gar nicht nachgehen.
Ein Grundeinkommen würde viel von die­
sem finanziellen Beschaffungsstress weg­
nehmen.
einmal Ferien mit der Familie machen
möchten oder dass sie Zeit brauchen, um
ein Buch zu schreiben.
Wer stellt bei der Verlosung das
Geld zur Verfügung? Der Verein «Mein
Grundeinkommen» sammelt per Crowd­
funding das Geld. Es sind viele Privatper­
sonen, die spenden, was ich grossartig
finde. Immer wenn 12 000 Euro zusam­
men sind, werden sie an eine Person ver­
geben. Damit macht der Verein auf die
Idee des Grundeinkommens in Deutsch­
land aufmerksam. Dabei muss jeder Teil­
nehmer angeben, was man mit dem
Grundeinkommen anfangen würde. Ich
las bei anderen Personen, dass sie wieder
Das Grundeinkommen würde Ihnen
also erlauben zu investieren. Genau.
Jetzt lebe ich von einem Tag zum nächsten,
muss alles selber organisieren und prak­
tisch alles selber machen. Das raubt mir
unglaublich viel Zeit. Das ist aber teilweise
auch meiner Haltung geschuldet, dass,
wenn ich etwas nähen lasse, ich die Arbeit
hier in Berlin vergebe – mit entsprechen­
der Kostenfolge. Und mittelfristig möchte
ich dann neben der fairen Produktion auch
noch Biostoffe nutzen. Dafür fehlt mir aber
im Moment einfach das Geld.
Angenommen, Sie hätten finanziell
eine stabilere Basis, was würden Sie als
nächstes tun? Ich würde ein Grundein­
kommen nutzen, um mein Geschäft vor­
anzutreiben, das seit 2010 im Aufbau ist.
Im Moment kann ich es mir beispielswei­
se nur selten leisten, die Produktion mei­
ner Kollektion auszulagern. Hätte ich be­
dingungslos 1000 Euro im Monat zur
Verfügung, ich würde dies tun. Zusätzlich
würde ich eine Person anstellen, die mei­
ne Produkte bei Boutiquen vermarktet.
Ich könnte mich dann wieder stärker auf
das Entwerfen von neuen Kollektionen
konzentrieren.
Was nennen Sie eigentlich Ihr Vermögen? Ein Zimmer voll von Schnittmus­
tern, die ich über die Jahre entwickelt
habe. Es wäre aber schön, wenn ich ein
kleines, richtiges Finanzpolster anlegen
könnte. Das würde mir erlauben, relaxter
an gewisse Themen heranzugehen.
In Berlin gibt es viele Menschen, die mit
wenig Geld auskommen. Studenten,
aber auch Personen mit einem Projekt,
das Zeit braucht, aber kein Geld einbringt. Wie organisiert man sich hier,
damit es klappt? Wir tauschen viel mehr
Dinge und Dienstleistungen – helfen uns
gegenseitig aus. Fotografiert wer meine
Modeschau, dann biete ich ihm als Gegen­
leistung ein oder zwei Stücke aus meiner
Kollektion an. Wenn ich mehr Geld hätte,
würde ich die Leute liebend gerne bezah­
len, das ist ja klar. Aber es geht vielen wie
mir, und so sind wir gewohnt, in Natura­
lien oder Gegenleistungen zu denken und
zu zahlen.
Erleben Sie diesbezüglich Berlin anders als die Schweiz? In der Schweiz ist
diese Haltung weniger verbreitet. In Ber­
lin kommen die Menschen oftmals gar
nicht anders über die Runden. Ich glaube
auch, dass Leute mit wenig Geld in der
Schweiz stärker an den Rand der Gesell­
schaft gedrückt werden als in Berlin. Hier
15
Harryet Lang, 40, Berlin
16
bref Nº 8 — 2016
kann ich auch mit sehr wenig Geld an fast
allem teilhaben. So gibt es zum Beispiel
viele kostenlose oder extrem günstige
Kulturangebote, freie Eintritte in Museen,
Festivals und vieles mehr, was eine Gross­
stadt wie Berlin zu bieten hat.
Bild: Laurent Burst
Was hat diese Berliner Lebensart mit
Ihnen gemacht? Wenig Geld macht
­kreativ, und man fällt bewusstere Ent­
scheide. So habe ich zum Beispiel die
Schneiderschere, die ich 1996 als Abschieds­geschenk bei einem Praktikum er­
halten habe, heute immer noch im Ein­
satz. Es braucht keine neue, ich behandle
sie einfach mit Sorgfalt und schleife sie
immer wieder nach. Ich will an dieser
Stelle aber etwas klarstellen: Zwischen
wenig Geld und zu wenig Geld gibt es
­einen grossen Unterschied. Ein beschei­
dener Lebensstil kann die Kreativität be­
flügeln. Ein Leben unter dem Existenz­
minimum führt aber zur Verzweiflung.
Inwiefern würde ein Grundeinkommen
eine Gesellschaft verändern? Den Men­
schen würde es besser gehen, und das
meine ich insbesondere psychisch. Und
die Menschen wären weniger gestresst.
Dadurch würde das, was man tut, auch
besser. Ich merke das auch bei der Mode:
Wenn ich entspannt an die Sache heran­
gehen kann, ist das Resultat einfach bes­
ser. Weiter würden die Leute vermehrt
das tun, was sie wirklich gut können – und
nicht das, was am meisten Geld bringt.
Gerade in der Schweiz sitzen viele in Jobs,
die sie zwar nicht mögen, die aber gut
­bezahlt sind. Das verstehe ich nicht so
richtig.
Würden Sie in die Schweiz zurückkehren, wenn dort ein Grundeinkommen
eingeführt würde? Eher nicht. Ich würde
den Schweizern zwar ein Grundeinkom­
men gönnen, auch wenn andere Länder
dieses wohl nötiger hätten. Warum ich
aber nicht zurückkehren würde: Ich bin
in Berlin zuhause. Dieses Jahr hatte ich
nach sechzehn Jahren eine kurze Zeit
wirklich Heimweh nach der Schweiz und
fühlte mich für ein paar Monate hier in
Berlin nicht mehr so wohl. Dann bin ich
in einen neuen Kiez gezogen und hab
mich wieder in diese Stadt verliebt. Was
ich aber nicht weiss, mich jedoch noch
interessieren ­würde: Sieht das Grundein­
kommen in der Schweiz vor, dass es wirk­
lich alle erhalten? Also auch jene, ein
­grosses Ver­mögen haben oder extrem viel
verdienen?
Arbeitkraft darauf fokussieren möchte.
Solange ich in prekären Verhältnissen
lebe, werde ich deshalb auch an der Ver­
losung zum Grundeinkommen teilneh­
men. Drücken Sie mir die Daumen.
Harryet Lang zog nach ihrem Studium an der
Modedesignschule in Zürich nach Berlin.
Dort entwirft sie seit sechzehn Jahren Männer­
kollektionen und entwickelt Berufskleidung.
Ja, das ist die Idee. Hmm, das ist irgend­
wie unfair. Zugleich: Es kann ja auch jede
Person, der es finanziell sehr gut geht, aus
irgendwelchen Gründen in Not geraten.
Und dann bekommt man heute Sozial­
hilfe. Das Grundeinkommen dreht das
um, und man bekommt in jedem Fall, egal
ob es einem gutgeht oder nicht, einen de­
finierten Betrag. Wer es nicht braucht,
kann es zum Beispiel auf die Seite legen
für schlechtere Zeiten, oder es anlegen
oder den Betrag für einen guten Zweck
spenden. Doch, das macht schon Sinn.
Sie leben seit vielen Jahren in finanziell prekären Verhältnissen. Haben
Sie ­eigentlich ein Motto, das Sie durchs
Leben trägt? Mein Motto ist: Klar kann
ich das – ich hab’s nur noch nie gemacht.
Ich habe bereits einige Male im Leben
wirklich krasse Entscheide getroffen. Mit
13 bin ich von zuhause ausgezogen und
mit 23 nach Berlin ausgewandert, ohne zu
wissen, was mich hier erwartet. Meine
Pläne haben sich immer wieder geändert.
Zuerst wollte ich Journalistin werden.
Dann merkte ich, dass mich Modedesign
so sehr interessiert, dass ich meine ganze
17
«Mit dem Grundeinkommen wird nicht
automatisch alles gut»
Die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp setzt sich für das
­bedingungslose Grundeinkommen ein. Sie warnt aber davor,
dass die 2500 Franken als Quasi-Lohn für häusliche Betreuung
­angesehen werden und damit feministische Errungenschaften
aufs Spiel setzen könnten.
Das ist ja eigentlich positiv, oder? Auf
jeden Fall, ja. Leider entwickelte sich der
Diskurs um das Grundeinkommen dann
immer mehr in die Richtung, dass das
Grundeinkommen die Zukunftslösung für
alle Probleme sein soll, mit denen wir konfrontiert sind. Doch das glaube ich nicht.
Ich denke, das Grundeinkommen ist ein
wichtiger Baustein, ein Element dafür,
wie wir die vielen «Baustellen» in unserer
Gesellschaft angehen könnten. Vielleicht
kann es so etwas wie der Leim werden,
der alles zusammenhält. Das Grundeinkommen fordert uns heraus, die Themen
18
Arbeit, Erwerb und Zusammenleben einmal genauer zu beleuchten. Es ist wichtig,
aber es gibt andere, ebenso wichtige Dinge
für die Zukunft.
Was braucht es um das Grundeinkommen herum? Wir müssen das Grundeinkommen in einen grösseren Zusammenhang stellen: Speziell aus einer feministischen Perspektive ist das Thema der
sogenannten Care-Arbeit, der Arbeit, bei
der sich Menschen um Menschen kümmern, ein essenzieller Bestandteil dieser
Gesamtschau.
Viele Leute, die zum ersten Mal vom
Grundeinkommen hören, sagen: Das
Grundeinkommen krempelt alles um.
Stimmt das? Ich sehe das nicht so. Das
Konzept einer bedingungslosen Versorgung von Menschen ist schon lange da.
Wir haben einen weitgehenden Konsens
in der Gesellschaft darüber, dass für die
Menschen, die nicht für sich selbst sorgen
können, gesorgt werden muss. Aber die
damit verbundene Arbeit wurde und wird
grösstenteils von Frauen auf informeller
und unbezahlter Basis geleistet, weshalb
sie sogar manchen Grundeinkommensbefürwortern nicht einfällt, wenn sie nach
Beispielen gefragt werden. Das Grundeinkommen krempelt unser Gesellschaftssystem also nicht völlig um, aber es macht
bref Nº 8 — 2016
Aspekte davon sichtbar, die bisher weitgehend unsichtbar sind. Dass Menschen
nicht allein für sich selbst sorgen können,
sondern auf Hilfe und Unterstützung der
Gesellschaft angewiesen sind, gehört
schlicht zur Conditio humana. In einem
Grundeinkommen würde das lediglich
monetarisiert: Alle bekommen Geld, weil
alle Geld zum Leben brauchen. Das ist
eine sehr positive Sache. Nur ist sie leider
nicht zu Ende gedacht.
Inwiefern nicht zu Ende gedacht? Die
Sorge vieler Feministinnen ist, dass ein
Grundeinkommen auch ein Rückschritt
sein könnte, weil die Gefahr besteht, dass
es als Quasi-Lohn für häusliche Care-Arbeit angesehen wird. Frauen haben sich
Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und
Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt seit den
siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts
hart erkämpft. Trotzdem – das belegen
auch Umfragen – legen bis heute Männer
im Beruf einen viel grösseren Wert auf Status und Einkommen, während es Frauen
vor allem wichtig ist, dass sie etwas tun,
was für sie und andere sinnvoll ist.
Und wozu führt das? Männer entscheiden sich wesentlich seltener als Frauen
dafür, ihre Erwerbsarbeit aufzugeben
oder zu reduzieren, wenn es zum Beispiel
notwendig wird, für Kinder, für die alten
Bild: lAURENT bURST
Frau Schrupp, Sie sind laut Ihrem Blog
eine Verfechterin der Idee des Grundeinkommens, aber trotzdem sehen Sie
auch ein grosses Problem darin. Können Sie diesen Widerspruch erklären?
Mit der Idee des Grundeinkommens
selbst habe ich gar kein Problem. Ich habe
ja schon 2004 zusammen mit anderen
­einen Text geschrieben, der für ein Grundeinkommen plädiert. Ab 2005 wurde
dann die Idee des Grundeinkommens in
Deutschland immer stärker diskutiert.
Wichtig war dafür auch Götz Werner, der
Besitzer der DM-Drogeriemärkte, der
sich bis heute stark für ein Grundein­
kommen einsetzt. Dadurch kam die Idee
in den Mainstream und aus der «linken
Ecke» heraus.
Antje Schrupp, 52, Frankfurt am Main
19
Eltern oder Schwiegereltern zu sorgen.
Das ist natürlich in beiden Fällen auch
­sozialisationsbedingt und damit veränderbar, aber derzeit eine Realität, die wir
einkalkulieren müssen. Ein Grundein­
kommen, das eingeführt wird, ohne über
Geschlechterbilder und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertieft nachzudenken, würde deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass Frauen
weiterhin mehrheitlich das tun, was zu
tun ist, und sich mit dem Grundeinkommen zufriedengeben, während Männer
weiterhin mehrheitlich Status und Verdienst verfolgen. Ein isoliertes Grundeinkommen, ohne dass gleichzeitig auch die
Care-Arbeit neu organisiert wird, könnte
zu einer Zweiklassengesellschaft führen,
weil es das Dilemma nicht aufhebt, dass
Menschen sich entscheiden müssen zwischen Geld, Karriere, öffentlichem Einfluss auf der einen und Sorgearbeit auf der
anderen Seite.
Was also müssen wir tun? Wir müssen
Care-Arbeit anders ermöglichen, als diejenigen Menschen, die sie erledigen, mit
dem Existenzminimum abzuspeisen. Und
genau das ist der Fall, wenn das Grundeinkommen als Ermöglichung von häuslicher
Care-Arbeit betrachtet wird. Ich sehe die
Gefahr, dass die Diskussion über CareArbeit, die derzeit an Fahrt gewinnt, mit
der Einführung eines Grundeinkommens
an Dringlichkeit verlieren könnte.
Wer muss sich an dieser Diskussion beteiligen? Diese Diskussion müssten alle,
aber vor allem auch die Männer führen.
Bei den Frauen hat sich schon einiges verändert in den letzten vierzig Jahren. Bei
den Männern noch nicht so viel. Sie machen immer noch nur einen Bruchteil der
Care-Arbeit in Familien und wählen nur
selten Pflegeberufe. Ich halte das für einen
Konflikt, der offensiv und explizit zum
Thema gemacht werden muss.
Könnte es nicht sein, dass das Grundeinkommen der Katalysator wäre, um
genau solche Denkprozesse in Gang zu
setzen? Auf jeden Fall ist das Grundeinkommen ein Katalysator für vieles. Aber
es wird damit nicht automatisch «alles
gut». Der Marxismus hat auch gesagt:
Mit unserem System werden sich die
Geschlechterdifferenzen automatisch auflösen, denn unser System sorgt für Gleich-
20
heit. Doch das war falsch. Soziale Rollenmuster sind tief verankert und gehen
nicht «automatisch» weg, und dasselbe
gilt für den Wert von Berufen und Tätigkeiten. Ein Grundeinkommen kann bestehende Stereotype unter Umständen sogar
zementieren helfen.
Solche Diskussionen und Anpassungsprozesse brauchen viel Zeit, Jahrzehnte, wenn nicht noch länger. Braucht es
eine Reihenfolge? Erst dieser Diskurs,
dann die Einführung eines Grundeinkommens? Wir können durchaus beides
gleichzeitig tun. Ich mache das immer je
nach Kontext: Wenn ich unter Grundeinkommensbefürwortern bin, die darin die
Lösung aller Probleme sehen, dann bringe
ich die gerade genannten feministischen
Argumente ein, und wenn ich unter Feministinnen bin, die alles mit einer Quote
lösen wollen, dann bringe ich die Idee des
Grundeinkommens ins Spiel. Wir müssen
auf beiden Ebenen diskutieren, das ist elementar. Sehr wichtig wäre, dass man die
feministischen Ökonominnen mit ins Boot
holt, wenn über das Grundeinkommen
diskutiert und auch wenn es umgesetzt
wird. Sie haben über ganz viele Aspekte
geforscht und geschrieben, die für das
Grundeinkommen relevant wären. Wenn
man nicht hört, was sie zu sagen haben,
wenn man sie nicht als Partnerinnen in
die Diskussion einbezieht, fehlt da ein
wichtiges Element, das zum Gelingen bei­
tragen kann.
Woran liegt das wohl, dass diese Stimmen nur so wenig gehört werden? Es
gibt stapelweise Bücher von feministischen Ökonominnen, die sich mit diesem
ganzen Themenkomplex aus den unterschiedlichsten Perspektiven befassen. Leider werden ihre Positionen in den männlich dominierten Bewegungen wenig bis
gar nicht rezipiert. Ich weiss, ehrlich gesagt, auch nicht, woran es liegt, dass sich
so wenige Männer für feministische Ökonomiekritik interessieren. Vielleicht ist
ihnen die Relevanz jener eher «unsichtbaren» Seite der Ökonomie, die sich nicht im
Bruttosozialprodukt oder in der Steuer­
politik niederschlägt, sondern im sogenannten Privaten stattfindet, nicht bewusst. Wie gesagt: Vor allem Männer
müssten sich mit diesen Gedanken zu
befassen beginnen.
bref Nº 8 — 2016
Was müsste man denn nun konkret tun,
um das Problem an der Wurzel zu packen? Und wer müsste es tun? Das gesellschaftliche Umdenken in der Neuverteilung von Arbeit und Einkommen wird
meiner Ansicht nach eher mit dem Nachdenken über Care-Arbeit kommen als
über das Grundeinkommen. Das Ziel muss
sein, eine gesellschaftliche Diskussion
dar­über anzustossen, wie wir in Zukunft
mit der Care-Arbeit umgehen wollen. Nur
dann bleibt das Grundeinkommen keine
abstrakte Idee. Das Grundeinkommen
darf allerdings auf keinen Fall als «die Lösung» angepriesen werden. Es ist immer
nur ein Teil der Lösung, ein Puzzleteil, das
dann Sinn ergibt, wenn die anderen Puzzleteile drumherum auch da sind.
Warum ist das Grundeinkommen Teil
der Lösung? Weil es monetär sichtbar
macht, dass alle Menschen bedürftig sind,
dass wir sozusagen alle «Sozialhilfeempfänger» sind, dass niemand sich selbst
­versorgen kann, sondern dass wir nur in
Gemeinschaft und mit gegenseitiger Fürsorge im Alltag gut leben. Damit hilft es
uns, uns von dem Idealbild des autonomen Selbstversorgers zu verabschieden,
das derzeit irgendwie über allen sozial­
politischen Projekten schwebt, aber eben
nicht funktioniert.
Antje Schrupp studierte Politikwissenschaft,
Philosophie und evangelische Theologie in Frankfurt am Main. Die Politikwissenschaftlerin und
Journalistin beschäftigt sich mit der politischen
Ideengeschichte von Frauen und ist Autorin
einiger Bücher.
Dieser Text erschien in leicht abgeänderter Form
erstmalig im Februar 2016 in der Zeitschrift Du.
«Das ‹Wer zahlt,
befiehlt›, würde sich
verändern»
Dass Arbeit immer mehr Menschen krank macht, findet die
­­Islamwissenschaftlerin Amira Hafner-Al Jabaji alarmierend.
Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen würde man
in Zukunft nicht mehr fragen: Was ist dein Beruf? Sondern:
Was ist deine Leidenschaft?
Frau Hafner-Al Jabaji, wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen mit dem
Islam vereinbar? Ich sehe zumindest
nicht, wo die Idee einem islamischen
Prinzip widerspricht. Daher wäre es
durchaus spannend, das bedingungslose Grundeinkommen unter islamischen
Wirtschaftstheorien weiter zu entwickeln. Im islamischen Wirtschafts- und
Gesellschaftssystem gilt, dass jedem Menschen das zukommen soll, was er braucht.
Wie dieser Balanceakt durch staatliche
Vorgaben zu erreichen ist, ist nicht vor­
gegeben.
Gibt es gar keine Regeln? Doch. Wichtig ist, dass der Mensch nicht dauerhaft
in Abhängigkeiten von anderen geraten
soll. Abhängigkeiten widersprechen der
Gleichheit der Menschen und machen sie
unfrei. Jemand, der sich zum Beispiel so
stark verschuldet, dass er sein ganzes Leben lang die Zinsen zurückzahlen muss,
und aus der Schuldenspirale nicht herauskommt, lebt in Knechtschaft. Darum sind
im islamischen Bankenwesen exorbitant
hohe Zinsen verboten.
Der Begriff von der Bedingungslosigkeit ist eher bei der Religion als beim
Staat angesiedelt. Was verstehen Sie
darunter? Religiös betrachtet ist Bedingungslosigkeit ein wichtiges Prinzip. Nach
dem Koran verpflichtet sich Gott gegenüber dem Menschen einseitig und damit
bedingungslos zu Barmherzigkeit. Ich
kann unabhängig von Lebensführung und
meinen Qualitäten auf dieses Versprechen
bauen. Trotzdem auferlegt uns Gott, unser
Leben nach seinen Bestimmungen zu führen. Darin steckt, dass wir uns trotz und
nicht wegen der Gewissheit der Barmherzigkeit in diesem Leben anstrengen sollen.
In der Religion spielt auch die Familie
eine wichtige Rolle. Sie sind selber
Mutter von drei Söhnen. Welchen Einfluss hätte ein bedingungsloses Grundeinkommen auf solche Gemeinschaften? In der Gemeinschaft könnte das
einzelne Grundeinkommen zusammen
eingesetzt werden. Das fördert die Debattierkultur, den Gemeinschaftssinn und die
Verantwortung. Es schafft sicher auch
­flachere Hierarchien in der Familie oder
einer Gruppe. «Wer zahlt, befiehlt» verändert sich zu «Wer mitzahlt, befiehlt mit».
Könnte ein Grundeinkommen helfen,
dass wir wieder mehr aufeinander
achtgeben? Ja. Denn bei uns ist Arbeit
umso höher angesehen, je besser sie entschädigt ist oder je stärker sie in der Öffentlichkeit vollzogen wird. Hingegen
haben Leistungen, die im Privaten und im
sozialen Bereich erbracht werden, einen
vergleichsweise geringen Status. Ein weiteres Problem ist, dass wir Arbeit immer
mit Erwerbsarbeit gleichsetzen. Der tatsächliche Nutzen, Sinn und Gewinn wie
auch der Schaden, den eine Tätigkeit für
eine Gesellschaft generiert, beides steht
oft nicht in angemessenem Verhältnis zur
Entlöhnung und zum Status.
Was müsste auf diese Erkenntnis folgen? Wir sollten uns überlegen, was der
Wert von Arbeit wirklich ist. Nicht bloss
rein finanzökonomisch, sondern verknüpft mit Themen wie Nachhaltigkeit,
Nutzen und Schaden für andere Menschen. Das wäre ein ganzheitlicher Ansatz. Tätigkeiten, die in der Gemeinschaft
grossen Nutzen bringen, würden vielleicht auch mehr Ansehen geniessen,
­beispielsweise in der Pflege oder in der
Kinderbetreuung.
Nach welchen Kriterien sollte die Höhe
des Grundeinkommens festgelegt werden? Ich würde das Grundeinkommen an
einen klar definierten Index knüpfen, zum
Beispiel an jenen von Nahrungsmittelpreisen oder Lebenshaltungskosten. So
könnte man den Betrag am gegenwärtigen
Preisniveau ausrichten. Interessant ist
­natürlich auch die Frage, wer das Grundeinkommen bekommen soll. Jede Bürgerin und jeder Bürger ab 18? Kinder auch?
21
Wem würde ein Grundeinkommen am
meisten nützen? Menschen, die in einer
schwierigen Lebenssituation stecken.
Zum Beispiel durch Scheidung, Tod eines
Partners, Invalidität oder Verlust des Arbeitsplatzes. Sie hätten weniger Stress,
wenn es ein Grundeinkommen gäbe. Trotz
ihrer misslichen Lage hätten sie jederzeit
ein Mindestauskommen, um das sie sonst
in solchen Situationen noch zusätzlich als
Bittsteller auf Sozialämtern kämpfen
müssten. Das frisst viel Energie. Mit
dem bedingungslosen Grundeinkommen
könnte man diese Energie schneller wieder auf konstruktive Dinge lenken.
Menschen reagieren gegenüber der
Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens oft ablehnend. Haben Sie
eine Idee, warum das so ist? Weil wir
in einer individualistischen Gesellschaft
­leben, die stark auf Wettbewerb und Konkurrenz ausgerichtet ist. Die Idee, dass der
Einzelne sein Leben selber bestimmen
kann, hat auch dazu geführt, dass viel an
Gemeinsinn verloren gegangen ist. Gerade
in der Schweiz vermisse ich manchmal
die kollektive Erinnerung an schlechte
Zeiten, wie andere Länder sie kennen.
Wir haben eine lange Zeit sehr gut gelebt,
während es anderen Ländern in Europa
schlechtging. Unser Wohlstand gibt jenen
recht, die unser jetziges System für richtig
und gut halten. Er geht aber auf Kosten
des Gemeinsinnes, dessen Notwendigkeit
viele von uns nie selbst erfahren haben.
Als ich Sie fragte, ob Sie sich zum
Grundeinkommen äussern wollen, haben Sie sofort zugesagt. Warum? Für
mich wäre ein Grundeinkommen ein
­Paradigmenwechsel zu unserem heutigen
Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.
Kürzlich sah ich einen Tagesschau-Beitrag
über arbeitsbedingte Krankheiten. In der
Schweiz macht Arbeit offensichtlich immer mehr Menschen krank. Sogar junge
Menschen sind davon betroffen. Das finde
ich alarmierend.
eines Grundeinkommens hiesse aber,
rechtzeitig die Rettungsboote hinunterzulassen, bevor wir den Eisberg rammen.
Auch das ist nicht angenehm, aber die
Chance, dass es gut herauskommt, ist
grös­ser. Die Idee bedeutet auch, dass wir
ein zentrales Element der Gesellschaft
ganz anders gestalten, als wir es bisher
gemacht haben, und damit einen Veränderungsprozess einleiten. Dieser könnte sich
dann auch auf andere Ebenen von Wirtschaft und Gesellschaft auswirken.
Das sichere Schiff verlassen wir aber
meist nur, wenn wir dazu gezwungen
werden. Wie würden Sie die Idee des
Grundeinkommens bei den Menschen
beliebt machen? In der Schweiz gibt es
immer mehr Menschen mit kleinen Einkommen, die nicht lebenssichernd sind.
Ich würde auf diese Menschen zugehen
und ihnen klarmachen, was sich für sie als
Individuen mit dem Grundeinkommen
ändern würde. Ein Umdenken hat zum
Glück ja bereits stattgefunden. Früher
fragte man einander: Was würdest du
­machen, wenn du eine Million gewinnst?
Heute fragt man: Was würdest du machen,
wenn du ganz viel Zeit hättest?
Sie haben zwei fast erwachsene Söhne
und einen Sohn in der Primarschule.
Würde ein Grundeinkommen ihren
Start in ein selbständiges Leben erleichtern? Ja. Heute müssen sie sich ständig fragen, ob das, was sie lernen, später
auch ihr finanzielles Auskommen sichern
wird. Es gibt heute Löhne, mit denen man
keine Familie durchbringen kann. Mit einem Grundeinkommen könnten meine
Söhne sich sofort stärker auf ihre Träume,
Ziele und Fähigkeiten konzentrieren. So
würde man in Zukunft nicht mehr fragen:
Was ist dein Beruf? Sondern: Was ist deine
Leidenschaft?
Amira Hafner-Al Jabaji ist Mitbegründerin des
«Interreligiösen Think-Tanks» und Moderatorin der
Sendung Sternstunde Religion im Schweizer
Fernsehen SRF. Für ihr langjähriges Engagement
für den Dialog zwischen den Religionen wurde sie
2011 mit dem Anna-Göldi-Preis ausgezeichnet.
Bild: lAURENT bURST
Alle denselben Betrag oder abgestuft? Da
gibt es viele Details zu bedenken.
Muss man also das ganze Wirtschaftssystem ändern? Das wäre wohl ein Kraftakt. Als würde man die Titanic kurz vor
dem Eisberg noch umlenken wollen. Ein
Crash ist programmiert. Die Einführung
22
bref Nº 8 — 2016
Amira Hafner-Al Jabaji, 44, Grenchen SO
23
Ein Essay von Ina Praetorius
Die gängige Wirtschaftswissenschaft sagt uns, Menschen
arbeiteten nur gegen «finanzielle Anreize». Wenn dem so wäre,
hätte zwar kaum jemand als Baby überlebt, und welchen
Sinn sollte Wirtschaft ohne erwachsen gewordene Babys machen? Trotzdem sind die meisten Leute, die ohne Bezahlung
dafür sorgen, dass das Zusammenleben gelingt und dass es
auch in Zukunft noch Konsumenten und Produzentinnen geben
wird, folgsam genug zu sagen, sie seien «nur zuhause» und
würden erst später wieder «arbeiten gehen». Tatsächlich ist es
noch nicht lange her, dass man das vielfältige Tun dieser
Leute im Mythos «Mutterliebe» unterbrachte. Heute nennt
man es zum Beispiel «Elternurlaub» oder «Life» oder
«Arbeitslosigkeit». Wie unangemessen solche Begriffe für
Daseinsmodelle und Lebensläufe unserer Zeit sind, zeigen
gleich mehrere Gespräche in diesem Magazin.
Im «Elternurlaub» zum Beispiel ist man meist stark
erschöpft. Schliesslich ist man tagsüber mit Stillen, Wickeln,
Kochen, Putzen, Waschen, Aufräumen, Wiegenliedersingen,
mit Arztbesuchen, Organisationsentwicklung und Haushaltsmanagement voll ausgelastet und steht nachts des Öfteren
auf, um der «Privatsache Kind» – also der Zukunft – materielle
und immaterielle Gratisnahrung zu verabreichen. Nicht selten
ist man hocherfreut, wenn man sich von solcherart Urlaub
endlich im Büro – in der «Arbeitswelt» – ­erholen kann. Da aber
das seltsam anstrengende Nichtstun zuhause – alltagssprachlich sind wir zuweilen so frech, es «Hausarbeit» zu nennen –
im Bruttosozialprodukt nicht oder allenfalls unter «Konsum»
figuriert, muss es sich bei alldem um eine Sinnestäuschung
handeln. Denn Konsum und Musse machen schliesslich nicht
müde, sondern stark und glücklich – und fit, die «Work-LifeBalance» im Alleingang zu stemmen.
Zwar liesse sich in einer Erhebung des Bundesamtes
für Statistik nachlesen, dass in der Schweiz im Jahr 2013 8,7
Milliarden Arbeitsstunden unbezahlt geleistet wurden, dass
für unbezahlte Arbeit vierzehn Prozent mehr Zeit aufge­
wendet wurde als für bezahlte, dass die gesamte im Jahr 2013
geleistete unbezahlte Arbeit auf einen Geldwert von 401
Milliarden Franken geschätzt wird, dass Frauen 62 Prozent
dieser unbezahlten Arbeit leisteten, dass Hausarbeiten mit
6,6 Milliarden Stunden drei Viertel und Betreuungsaufgaben
im eigenen Haushalt mit 1,5 Milliarden Stunden siebzehn
Prozent des Gesamtvolumens der unbezahlten Arbeit ausmachten, dass Frauen in der Schweiz, würde alle Arbeit
mitgerechnet, im Jahr 2013 241 Milliarden Franken verdient
hätten, Männer immerhin noch 159 Milliarden. Letzteres
vermeldete die Neue Zürcher Zeitung. Aber wenn das Dogma
vom Homo oeco­nomicus, der nur gegen finanzielle Anreize
sich selbst und seine Familie ernährt, auf dem Spiel steht,
scheint die Bundesstatistik, die solche Zahlen schon seit rund
zwanzig Jahren zur Verfügung stellt, ebenso nebensächlich zu
sein wie die Anstrengung des adäquaten Begriffs.
Verglichen mit dem Mainstream der wissenschaftlichen
Ökonomie ist der Vatikan mit seiner hochbetagten Dogmatik
geradezu ein seriöser Wahrheitssucher.
Auch die Initiantinnen und Initianten der «Volksinitiative
für ein bedingungsloses Grundeinkommen» stellen das Dogma
24
vom Menschen, den man mittels Geldentzugsdrohung zum
Arbeiten anhalten muss, in Frage. Im Initiativtext steht, jedem
Menschen sei von der Geburt bis zum Tod ein fixer Geldbetrag auszuzahlen, um «der ganzen Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben»
zu ermöglichen. «Der Mensch», so heisst es, sei nämlich von
Natur aus ein tätiges Wesen, und deshalb müsse er endlich
frei entscheiden können, wie er seine vielfältigen Gaben ins
Zusammenleben einbringen wolle. Dass Menschen ohne finanzielle Anreize keineswegs nur faul auf dem Sofa lägen, könne
man schliesslich an den Künstlern sehen, oder an den Rentnern, den Erbinnen und an der vielen freiwilligen Arbeit, ohne
die schon heute keine Gesellschaft funktioniere.
Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine ziemlich
gute Idee, bloss: die klassische Freiwilligenarbeit in Vereinen,
Gremien oder caritativen Organisationen macht laut Bundesstatistik gerade mal 7,6 Prozent der unbezahlten Arbeit aus.
Sie zeichnet sich dadurch aus, dass man sie jederzeit beenden
kann, sobald einem der Sinn danach steht, weil dadurch
niemand grösseren Schaden erleidet. – Hingegen würde ohne
die restlichen 92,4 Prozent der unbezahlten Tätigkeiten das
menschliche Zusammenleben geradewegs kollabieren.
Die Bedeutung der unbezahlten oder massiv unterbezahlten
Care-Arbeit für das Gelingen des menschlichen Zusammen­
lebens ist nicht mit Fussball- oder Schachklubs zu vergleichen,
und übrigens auch nicht mit den hochdotierten Tätigkeiten
von Schönheitschirurgen, Werbefachleuten oder Showmastern. Sie ist bei weitem wichtiger für das Zusammenleben
als die meiste Lohnarbeit. Dennoch kommt dieser Teil der unbezahlten Arbeit in der bisherigen Debatte um das Grund­
einkommen ebenso wenig vor wie in der akademischen Wirtschaftswissenschaft.
Nicht einmal am 23. September 2015, als der Nationalrat
über die Volksinitiative debattierte, kam das riesige Volumen
der Care-Arbeit angemessen zur Sprache. Die Gegnerinnen und
Gegner des Grundeinkommens hatten deshalb leichtes Spiel,
die Initiative als Spinnerei von Aussenseitern und als Hängematte für Faulenzer abzutun. Denn die wenigen befürwortenden Parlamentarier und Parlamentarierinnen konzentrierten sich, wie schon die Mehrheit des Initiativkomitees in
der Zeit der Unterschriftensammlung, nahezu ausschliesslich
auf Werte wie Selbstentfaltung, Kreativität und Autonomie.
Das Parlament beschloss denn auch mit 146 gegen 14 Stimmen,
bei 12 Enthaltungen, die Initiative dem Volk zur Ablehnung
zu empfehlen.
Woran liegt es, dass die von viel mehr Frauen als Männern unbezahlt geleistete Care-Arbeit, ohne die jegliches Wirtschaften seinen Sinn verlöre, in der Debatte um das Grund­
einkommen bis heute fast gänzlich verschwiegen wird? Ist man
zu träge, sich mit den offensichtlichen Ungereimtheiten in den
noch gängigen ökonomischen Begrifflichkeiten zu befassen?
Will man, dass Frauen weiterhin die notwendige Basisarbeit
leisten, jetzt nicht mehr ganz umsonst, sondern dankbar für
ein zum Hausfrauenlohn pervertiertes, knapp existenzsicherndes Grundeinkommen? Oder gilt es noch immer als pietätlos,
grob und vereinfachend, «Mutterliebe» mit «richtiger Arbeit»
zu vergleichen? Liebt aber der Arzt, der Lehrer, der Professor
seine Arbeit nicht auch und wird dennoch selbstverständlich
bref Nº 8 — 2016
dafür bezahlt? Sperren sich Männer womöglich grundsätzlich
gegen Argumente, die aus Frauenbewegungen stammen?
Entwickeln sie Widerstände vor allem dann, wenn diese
Argumente nicht «schwach» sind, sondern sich in der Mitte
ihres Projekts breitmachen könnten? Empfinden sie die
Nähe zum Feminismus als Selbstentfremdung und Schwächung ihrer Männlichkeit? Halten Frauen ihrerseits Abstand
vom Thema Care-Arbeit, weil sie sich mit ihrer peinlich
unfreien traditionellen Rolle nicht mehr identifizieren, sich –
aus verständlichen Gründen – von ihr emanzipieren wollen?
Behaupten auch sie deshalb häufig – gegen die Statistik –,
die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern sei längst
überwunden und müsse in der Debatte um das Grundeinkommen keine Rolle mehr spielen? Oder erinnert die Tatsache,
dass der Grossteil der Care-Arbeit keineswegs im Sinne von
Freiwilligenarbeit geleistet wird, sondern lebensnotwendig ist,
zu sehr an die eigene Kindheit und damit an die bleibende
Abhängigkeit aller Menschen nicht nur von den Müttern, sondern auch von Gemeinwesen und von der Natur, deren Teil
wir alle sind und auch im Zeitalter der Roboter bleiben werden?
Wird die unabschaffbare Bedürftigkeit aller Menschen in
einer Kultur, die seit Jahrhunderten das «autonome Subjekt»
glorifiziert, als Kränkung empfunden? Spricht man deshalb
geradezu obsessiv über «Unabhängigkeit» und «Selbst­
entfaltung», so als wolle man Geburtlichkeit, Krankheit, Behinderung, Körperlichkeit und Tod mit einem Bann belegen?
Das bedingungslose Grundeinkommen lässt sich aber nur
im Rahmen einer Ökonomie sinnvoll denken, die auf ihre
Grundbedeutung zurückkommt. Diese Grundbedeutung lässt
sich auf den ersten Seiten jedes beliebigen Lehrbuchs der
Ökonomie nachlesen, etwa in Günter Ashauers «Grundwissen
Wirtschaft»: «Es ist Aufgabe der Wirtschaftslehre zu unter­
suchen, wie die Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse am sinnvollsten hergestellt, verteilt und ge- oder verbraucht werden.»
Es ist offensichtlich, dass Care-Tätigkeiten in diese
allgemein akzeptierte Definition des Ökonomischen nicht nur
einzuschliessen sind, sondern ihr unmittelbarer zugeordnet
werden können als Finanzprodukte, Castingshows oder Kampfflugzeuge. Tatsächlich geht der Begriff Ökonomie auf die
altgriechischen Begriffe Oikos/Haushalt und Nomos/Gesetz
zurück, stellt also nicht Geld und Markt, sondern den Haushalt und damit die Befriedigung tatsächlicher – nicht hergestellter – Bedürfnisse in die Mitte. Dass sich die ökonomische
Theorie von ihrer selbstgesetzten Ausgangsdefinition weit
entfernt hat, ist zwar historisch leicht zu erklären: Schon in der
Antike ordneten Chefdenker den Haushalt und die in ihm
verrichtete Sklaven- und Frauenarbeit einer «höheren Sphäre»
unter, in der freie männliche Bürger sich, unsichtbar versorgt
von Dienstpersonal, «Höherem» zuwenden konnten: dem Gelderwerb, der Politik und der Theoriebildung. An diese Fiktion
vom vermeintlich unabhängigen Besitzbürger konnten die
Begründer der modernen ökonomischen Theorien anknüpfen,
indem sie unter «Wirtschaft» nur noch geldvermittelte
Tauschakte verstanden und ihr Kerngeschäft, die Befriedigung
elementarer Bedürfnisse in der «Familie», dem «Privathaushalt» und der scheinbar unbegrenzt schenkenden «Natur»,
verschwinden liessen. Solcherart Perversion des anfänglichen
Sinnes von Ökonomie hat aber keine Zukunft in einer Zeit
der Banken-, Währungs-, Umwelt- und Sinnkrisen, und auch
nicht in der Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen.
Im Kontext einer postpatriarchalen symbolischen Ordnung
hingegen, in der das Ganze der Ökonomie und damit die Frage,
wie wir als Menschheit überleben wollen, wieder in den Blick
kommt, könnte die Idee eines bedingungslosen Grundein­
kommens zu einem entscheidenden Teil der Lösung werden.
Die Religionen hätten im notwendigen Wandel hin zu
einem realistischen Bild vom Menschsein, von Arbeit und
Wirtschaft eine wichtige Rolle zu spielen. Denn sie haben nie
bestritten, dass Menschen vom ersten bis zum letzten Tag
ihres Lebens fürsorgeabhängig sind. Was sollte das Göttliche,
an das fromme Menschen sich dankbar, klagend, wütend
oder bittend wenden, anderes sein als eine Chiffre für das Unberechenbare, von dem wir alle gleichermassen abhängig
sind? Egal, wie viele Dollars sich auf unseren Konten und wie
viele Titel sich in unseren Biografien angehäuft haben?
Allerdings fassen vor allem die «grossen» Monotheismen
menschliche Abhängigkeit in eigenartige Bilder: Gemäss ihnen
sind wir nicht abhängig von unserer Mitwelt, von Wasser, Luft,
Erde, von Älteren und schützenden Gemeinwesen, sondern
von einem «Herrn im Himmel», der alles vom Anfang bis zum
Ende der Welt im Griff hat. Dass wir «Geschöpfe Gottes» oder
«Kinder Gottes» sind, das scheint, wenn ich offizieller Kirchensprache glaube, dies zu bedeuten: Wir sollen einen allmächtigen Herrn im Himmel preisen. Denn dieser Herr, so
heisst es, hat uns erschaffen, er liebt, straft, züchtigt, verdammt
oder rettet uns, wie es ihm beliebt. – Tatsächlich spiegeln viele
biblische Gottesbilder Herrschaftsformen, die wir heute als
«Tyrannei» oder «Diktatur» bezeichnen würden, auch dann
noch, wenn die Gläubigen versuchen, sich und das Göttliche
aus solchen Kontexten zu lösen. Wenn wir das Unver­fügbare
zu einem Vater im Himmel machen, dann ändert sich an der
Grundkonstellation nämlich noch nichts: Der Inbegriff des
Lebendigen bleibt eingezwängt ins Bild eines Mannes irgendwo oben, wir bleiben unten, wie die Sklavinnen, Sklaven, Ehefrauen und Kinder in den Grosshaushalten des antiken Oikos.
Trotzdem gilt: Weil religiöse Menschen um ihre Ab­
hängigkeit wissen, haben sie sich bis heute der teilaufgeklärten
Rede vom Menschen, der «sein eigener Herr» ist, nicht gänzlich ausgeliefert. Die Frommen, egal welcher Zugehörigkeit,
erkennen im vermeintlich unabhängigen Hausherr-Menschen
eine schädliche Illusion. Die Enzykliken von Papst Franziskus sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache, allerdings
vorerst ohne das Patriarchat als Dreh- und Angelpunkt im
überkommenen Konstrukt zu benennen und zu verabschieden.
Die Frommen könnten deshalb anfangen, zusammen mit
allen anderen neu darüber nachzudenken, wovon genau wir
abhängig sind: von einem allmächtigen unsichtbaren Herrn
oben im Himmel, der alles vom Anfang bis zum Ende der Welt
kontrolliert? Oder von Luft, Wasser, Erde, von einander und
von Liebe (1 Johannes 4,8)?
Ina Praetorius, 60, ist evangelische Theologin und Autorin mit Themen­
schwerpunkten in feministischer Ethik und postpatriarchaler Lebensgestaltung.
Sie lebt und arbeitet in Wattwil SG.
www.inapraetorius.ch
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Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle?
Öffentliche Debatte im Chor des Grossmünsters
mit
Adolf Muschg, Autor
Klaus Heer, Paartherapeut
Jacqueline Badran, Nationalrätin
Frank Mathwig, Ethiker
Daniel Straub, Mitinitiant
Samstag, 7. Mai 2016
Grossmünster Zürich
Im Juni stimmen wir über die Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen» ab. Welches Menschenbild steht hinter dieser Idee? Was riskieren wir, wenn wir
die Initiative annehmen? Was verhindern wir, wenn wir
sie ablehnen?
Am Samstag, 7. Mai 2016 (11.00–12.45 Uhr) wird im Chor
des Grossmünsters an die offene, lustvolle und liberale
Tradition des Austauschs von Argumenten angeknüpft,
die Zwingli während der Reformation begonnen hat.
Nach kurzen Inputs prominenter Gegnerinnen und Befürworter des Grundeinkommens ist das Publikum eingeladen, an der Diskussion teilzunehmen.
Moderation:
Christoph Sigrist, Pfarrer Grossmünster Zürich
Res Peter, Pfarrer Neumünster Zürich
zukunft.ch
26
bref Nº 8 — 2016
«Demokratie
kann und muss
experimentieren»
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot hält die Ökonomi­
sierung der Gesellschaft für ein grosses Defizit. Sie macht
sich um jene Menschen Sorgen, die wir politisch und kulturell
von unserem Gemeinwesen ausgeschlossen haben.
Frau Guérot, könnte die Idee eines
­bedingungslosen Grundeinkommens
Europa dabei helfen, den Menschen
gleichen Zugang zu sozialen Rechten
zu geben? Da bin ich zuerst einmal skep­
tisch, und zwar aus ethischen Gründen.
Ich finde die Grenzziehung zwischen Ei­
genverantwortung und Verantwortung
der Allgemeinheit eigentlich eine sehr
vernünftige Idee. Das Problem bei egalitä­
ren Ideen ist, dass man die Trittbrettfah­
rer nicht richtig aussortieren kann. Ist es
moralisch für jeden Menschen gut, wenn
er einfach einen fixen Betrag zur Verfü­
gung hat? Gibt ihm das Antrieb? Ich finde,
dass man eher denen helfen soll, die wirk­
lich Hilfe brauchen.
Wer heute aber Sozialhilfe benötigt,
muss in fast allen Ländern eine auf­
wendige und demütigende Recht­
fertigungsmaschine durchlaufen, um
Hilfe zu bekommen. Ich bin auch
der Meinung, dass die Ökonomisierung
der Gesellschaft ein grosses Defizit ist,
in der wichtige gesellschaftliche Arbeit
nicht mehr finanziell wertgeschätzt wird.
Und oft leisten bedürftige Personen wie
alleinerziehende Mütter eine solche Ar­
beit. Vielleicht kann ein «Vorschussbe­
trag», den ich bekomme, noch bevor ich
etwas leiste, auch kreative Gestaltungs­
kraft freisetzen. Daraus kann etwas ent­
stehen, das nachher für die Wertschöp­
fung gut ist.
Wären Sie Ihrer beruflichen Leiden­
schaft gefolgt, wenn Sie einen fixen
Betrag pro Monat erhalten hätten, als
Sie sich für eine Laufbahn entscheiden
durften? Ja, das hätte ich tatsächlich den­
noch gemacht. Das was ich tue, begeistert
mich. Ich denke auch, dass sehr viele
Menschen einen inneren Antrieb haben.
Es gibt aber auch Menschen, denen dieser
Antrieb fehlt. Die dritte Generation von
Erben in Deutschland zum Beispiel,
die haben oft keinen gesellschaftlichen
Antrieb, keine Gemeinwohlorientierung
mehr, sondern nur noch Geld. Mir macht
aber vor allem das untere Fünftel der
Menschen Sorgen, die wir politisch und
kulturell de facto von unserem Gemein­
wesen ausgeschlossen haben und die sich
konsequenterweise von der Gesellschaft
verabschiedet haben, indem sie nicht ein­
mal mehr wählen. Was machen wir mit
denen?
Das hat aber nichts mit dem Grund­
einkommen als vielmehr mit dem Bil­
dungssystem zu tun. Richtig. Im Bil­
dungssystem haben wir ja so ziemlich
alles zusammengestrichen, was Kinder zu
kritischen und kreativen Bürgern machen
könnte: Kunst, Musik oder Geisteswissen­
schaften mussten den Angeboten wei­
chen, die Kinder und Jugendliche zu
­tauglichen Arbeits­tieren in unserem Wirt­
schaftssystem m
­ achen. Wir setzen mehr
auf «Ausbildung» als auf Bildung. Und die
kreativen, intelligenten Kinder aus Unter­
schichten, die identifizieren wir heute gar
nicht mehr. Obwohl wir wissen, dass wir
gerade diese gezielt fördern müssten.
Würde ein bedingungsloses Grund­
einkommen dies ändern? Man kann
jedenfalls darüber debattieren, ob ein
Grundeinkommen etwas dazu beitragen
könnte, unsere heutige pervertierte Form
der Ökonomisierung aller Bereiche des
menschlichen Lebens zu ändern. Ausser­
dem hätte die Idee den Vorteil, dass man
nicht mehr darüber debattieren müsste,
wer denn jetzt unter welchen Vorausset­
zungen überhaupt Hilfe verdient hat, mit
welcher Behinderung man noch arbeiten
kann und muss, oder ob man von einer
alleinerziehenden Mutter erwartet, dass
sie einer Erwerbsarbeit nachgeht.
Welche Demokratieform ist besser ge­
eignet, solch rasche und radikale Ent­
scheide zu fällen? Die repräsentative
Demokratie oder die direkte Demokra­
tie, wie wir sie in der Schweiz kennen?
Ich stehe klar auf dem Boden der reprä­
sentativen Demokratie. Unzählige Studien
27
Ulrike Guérot, 50, Berlin
28
bref Nº 8 — 2016
zeigen, dass bei Initiativen nur motivierte
Wähler zur Urne gehen, die ihr politisches
Ziel punktuell durchsetzen wollen, und
dann nur vermeintliche Mehrheiten dabei
herauskommen. Wobei die Wahlbetei­
ligung insgesamt deutlich unter fünfzig
Prozent lag. In komplexen politischen
Sys­
temen sind immer Kompromisse­
erforderlich, die man in zugespitzten
Referendums­
fragen schlecht abbilden
kann. Und dann ist es immer auch leichter,
einfach mit Nein zu stimmen und einfach
gegen etwas zu sein, als die politische Ver­
antwortung für ein kompliziertes Ja zu
übernehmen.
Was sind die Voraussetzungen für ­eine
funktionierende Demokratie? Der poli­
tische Diskurs, der zu neuen gesellschaft­
lichen Entscheidungen führt, muss in
­einer Demokratie auch wirklich funktio­
nieren. Wenn ein Fünftel der Bevölkerung
de facto sozial ausgegrenzt ist und keine
adäquate Bildung mehr bekommt, die die­
sen Namen verdient hat, dann kann ein
Fünftel der Bevölkerung sich auch keine
richtige Meinung mehr bilden und hat da­
mit auch keine politische Teilhabe mehr.
Das ist eine gefährliche Tendenz, die wir
in den USA und in vielen europäischen
Demokratien sehen.
Bild: Laurent Burst
Was passiert dann? Wir haben dadurch
immer mehr Bürger, die sich von unter­
komplexen, populistischen Antworten auf
komplexe gesellschaftliche Sachverhalte
verführen lassen oder, noch schlimmer,
nur noch über Angst, Emotionen und Res­
sentiments funktionieren. Deshalb finde
ich den oft gebrauchten Satz «Man muss
die Bürger da abholen, wo sie sind» sehr
problematisch. «Abholen» reicht nicht,
weil wir die Bürger dann an einem Ort ab­
holen, der uninformiert, uninspiriert und
oft brandgefährlich ist.
Was müssen wir stattdessen tun? Wir
sollten dafür sorgen, dass die Bürger wie­
der an Debatten teilhaben können, dass
sie Sachargumente gewichten können und
mit moralischen Kriterien konfrontiert
werden, kurz, dass sie wieder denken ler­
nen. Das eigene Denken und Gewissen
auszuschalten hat Menschen schon ein­
mal in der Geschichte zu willigen Vollstre­
ckern schrecklicher Dinge gemacht. Han­
nah Arendt sprach von der «Banalität des
Bösen». Wir müssen dafür sorgen, dass
Menschen nachdenken können und wol­
len, bevor sie sich eine Meinung bilden.
Könnte man also sagen: Die Demokra­
tie ist kaputt? Wenn Sie wollen, können
Sie sagen: The system is broken. Ja. Wir
haben eine Krise des demokratischen
­Kapitalismus, und das gilt ganz besonders
für das Governance-System der Eurozone.
Sie arbeiten im «Democracy Lab». Das
klingt nach einem Ort, wo Experimente
gemacht werden. Wie sehen die aus?
Wir haben damit angefangen, über Euro­
pa nicht mehr als Bundesstaat oder Staa­
tenbund, sondern als Republik zu spre­
chen. «Am Anfang war das Wort», steht im
Johannesevangelium, oder die Kinderärz­
tin und Forscherin Françoise Dolto sagte:
«Alles ist Sprache.» Wie wir etwas benen­
nen, macht einen grossen Unterschied. Es
bestimmt, wie wir dazu in Beziehung ste­
hen, ob es uns emotional anspricht oder
ob es abstrakt bleibt. Ob wir über die «Ver­
einigten Staaten von Europa» oder über
die «Republik Europa» sprechen, ist nicht
gleichgültig. Das war das erste Experi­
ment: das Projekt Europa neu zu denken,
indem wir neue Begriffe dafür verwenden.
Denn aus Gedanken werden Worte, und
aus Worten werden Taten. Wir möchten
herausfinden, was passiert, wenn wir mit
europäischen Bürgerinnen und Bürgern
über Europa als Republik, als «res publica
europea» als Allgemeingut oder Gemein­
wesen im Sinne von Aristoteles sprechen.
Ist eine Demokratie dazu geeignet,
solch grosse Paradigmenwechsel wie
beispielsweise ein Grundeinkommen
einzuläuten? Strukturelle Behäbigkeit ist
ein Wesen der Demokratie. Der Mensch
ist ein Gewohnheitstier; ich merke es auch
am eigenen Leib, wie schwierig es ist, ei­
gene Gewohnheiten zu ändern. Je älter
man wird, desto schwieriger wird das. Auf
Gesellschaften übertragen stimmt das
auch. Oft ist die Veränderung erst dann
möglich, wenn der Leidensdruck zu gross
ist. Dennoch ist die Demokratie immer
grundsätzlich stabiler als die Herrschaft
Einzelner. Beim «wohlwollenden König»
zum Beispiel weiss man ja nie, wie «wohl­
wollend» der auf Dauer bleibt.
Eignet sich eine Demokratie überhaupt
für Experimente? Und wie kann eine
Demokratie mit Rückschlägen umge­
hen, die durch das Einschlagen eines
falschen Wegs entstehen? Die Demo­
kratie ist sogar das einzige Gemeinwesen,
die einzige Organisationsform, in der dies
im Idealfall möglich ist. Denn sie erneuert
sich selbst ständig und sagt: Lasst uns den
Kurs, den wir eingeschlagen haben, korri­
gieren. Wir können immer wieder über
Dinge abstimmen, die uns nicht gefallen.
Wir können – in einer funktionierenden
Demokratie – prinzipiell die Personen
wählen, die unsere Bedürfnisse und Mei­
nungen tatsächlich vertreten. Ja, Demo­
kratie kann und muss experimentieren.
Was sorgt in einer Demokratie dafür,
dass neue Ideen umgesetzt werden?
Eine Gesellschaft sollte immer nach der
Utopie streben, auch wenn man dort nie
wirklich ankommt. Wenn wir die Utopie
aus den Augen verlieren, dann haben wir
insgesamt verloren, dann verlieren wir
den moralischen Anspruch auf Verbes­
serung der Welt, dann ist wirklich alles
­vermeintlich alternativlos.
Was wäre ein Beispiel einer solchen
Utopie? Gesellschaftliche Gerechtigkeit
ist eine solche Utopie. Wir wissen, dass sie
nie ganz erreicht wird, aber wir streben
danach. Und dieses Ideal steuert dann
auch unseren Diskurs, weil wir wissen,
wonach wir streben.
Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des
«European Democracy Lab» in Berlin. Die Politik­wissenschaftlerin beschäftigt sich mit der Zukunft
der europäischen Demokratie und erhielt dafür
2003 den nationalen Verdienstorden Frankreichs.
Guérot hat zwei erwachsene Söhne und lebt
in Berlin.
Dieser Text erschien in leicht abgeänderter Form
erstmalig im Februar 2016 in der Zeitschrift Du.
29
Die Sozialwerke Pfarrer Sieber (SWS) bieten Menschen in Not – wie Suchtkranken, Obdachlosen, psychisch und
physisch Leidenden, Mittellosen und Heimatlosen – seelsorgerliche, soziale, medizinische und materielle Hilfe
an. Im Sinne unseres Stiftungsgründers werden wir dort aktiv, wo andere Netze fehlen. Als SWS aktualisieren
wir die biblische Botschaft der Nächstenliebe im Blick auf die gesellschaftliche Not. Wir finanzieren unsere
Tätigkeiten zu rund 45% aus Spendengeldern.
Per 1. Juni 2016 oder nach Vereinbarung suchen wir eine/n
Bereichsleiter/in Kommunikation und Fundraising 100%
In dieser Funktion sind Sie verantwortlich für die Umsetzung und Weiterentwicklung unseres Kommunikationsund Fundraisingkonzepts. Dazu gehören schwerpunktmässig die Darstellung unserer Organisation in der
Öffentlichkeit und in den Medien, die mediale Präsenz im kirchlichen Umfeld und im grossen Unterstützerkreis
sowie die aktive Pflege der Kontakte zu Medien-schaffenden und Veranstaltern. Sie verantworten zudem die
Kommunikation über Internet und Netzwerke.
Zu Ihren Hauptaufgaben gehören:
-
Die Vermittlung des Engagements der Stiftung in der Öffentlichkeit durch griffigen Journalismus.
Die Vernetzung der Stiftung im gesellschaftlichen und kirchlichen Umfeld und mit politischen
Entscheidungsträgern
Die Koordination, Planung und Durchführung der jährlichen Kommunikations- und FundraisingAktivitäten gemeinsam mit Ihrem motivierten und kompetenten Team.
Unterstützung des Gesamtleiters, der Geschäftsleitung und des Stiftungsrates in medialen und
öffentlichkeitswirksamen Fragestellungen.
Ihr Profil:
-
Sie sind eine initiative, vertrauenswürdige, team- und dienstleistungsorientierte Persönlichkeit
Sie haben relevante Berufserfahrung in Journalismus und Kommunikation und verfügen über
Fundraisingkenntnisse
Sie haben praktische Projekterfahrung im Internetbereich
Sie pflegen einen sorgfältigen Arbeitsstil
Sie sind Menschen in schwierigen Lebenslagen ein vertrauenswürdiges und belastbares Gegenüber
Sie identifizieren sich mit den christlichen Grundwerten in einem sozial-diakonischen Unternehmen,
das der evangelisch-reformierten Kirche nahesteht und das Menschenwürde, Nächstenliebe und
Verantwortung im Dienst für leidende Menschen konsequent umsetzen will.
Wir bieten Ihnen interessantes und vielseitiges Aufgabengebiet, in dem Sie sich persönlich und beruflich
weiterentwickeln können. Ein angenehmes Arbeitsklima schafft Ihnen Raum zu kreativem und effizientem
Arbeiten.
Ihre vollständigen Bewerbungsunterlagen mit Foto nehmen wir gerne unter folgender Adresse entgegen:
Stiftung Sozialwerke Pfarrer Sieber, Frau Marianne Mathyer, Personalverantwortliche, Hohlstrasse 192, 8004
Zürich oder per Mail an: marianne.mathyer@swsieber.ch
30
bref Nº 8 — 2016
«Diese Idee ist ein
Ladenhüter aus dem
19. Jahrhundert»
Die ehemalige Ständerätin Christine Egerszegi ist eine vehemente Gegnerin des bedingungslosen Grundeinkommens:
zu unflexibel, zu teuer, zu sehr Giesskannenprinzip. Die FDP-­
Politikerin befürchtet zudem, dass viele Menschen nur
wegen der 2500 Franken in die Schweiz ziehen würden.
Frau Egerszegi, als Privatperson wie
auch als bürgerliche Politikerin haben
Sie sich immer wieder für Themen ein­
gesetzt, die sonst eher Anliegen von
Linken sind: schulergänzende Kinder­
betreuung, die Altersvorsorge oder
auch die Förderung des Musikunter­
richts. Was treibt Sie als Politikerin an?
Gerechtigkeit. Ungerechtigkeit führt bei
mir zu Engagement. Das war bereits bei
meinem allerersten politischen Vorstoss
so. Ich war erst seit sechs Wochen Leiterin
einer Musikschule im Aargau, als eine vollamtliche Flötenlehrerin krank wurde und
ins Spital musste. Ich erfuhr, dass sie ihre
Vertretung selber suchen und auch bezahlen musste. Das konnte ich kaum glauben.
Jeder Hilfspolizist erhält ja Erwerbsersatz
ausbezahlt, wenn er krank wird – warum
soll das nicht auch für eine Flötenlehrerin
gelten? Ich reichte deshalb einen Erwerbsausfall-Antrag bei der Schulpflege
ein, der allerdings abgelehnt wurde.
Mit welcher Begründung? Die Antwort
war sinngemäss: Weil das bisher so gut
funktioniert hat, lassen wir es so, wie es
immer war. – Dieser Satz hat mich politisiert. Wenn man etwas verbessern muss,
kann ich nicht ruhen, bis eine Lösung da
ist. Ich engagierte mich dann dafür, dass
153 000 Unterschriften für die Initiative
«Jugend + Musik» gesammelt wurde. Sie
verlangte, dass die musikalische Bildung
in der Schweiz gestärkt wird. Ich nahm
stundenlange Autofahrten durch die
Schweiz auf mich, um die Idee zu verbreiten. Nach einem Gegenentwurf des Parlaments zogen wir die Initiative zurück, da
wir unsere Anliegen umgesetzt sahen.
Heute sind wir am Ziel. Sieben Jahre,
nachdem wir die Initiative 2008 eingereicht haben: In den Schulen geniesst der
Musikunterricht den gleichen Stellenwert
wie der Sport.
Befürworter eines Grundeinkommens
argumentieren, dass gerade solche En­
gagements in der Gesellschaft einfa­
cher wären, wenn alle einen fixen mo­
natlichen Betrag erhalten würden. Die
Idee des Grundeinkommens ist ein Ladenhüter. Er wurde bereits im 19. Jahrhundert
in Belgien von Joseph Charlier propagiert
und ist dort erfolglos ausprobiert worden.
Auch in der Mongolei und in Brasilien gab
es Experimente. Das hat aber alles nicht
funktioniert.
Warum lehnen Sie das Grundeinkom­
men so kategorisch ab? Gegenfrage:
Warum sollten wir ein System, das erwiesenermassen gut funktioniert, abschaffen?
Das Grundeinkommen ist zu wenig flexibel und funktioniert nach dem Giesskannenprinzip. Ich lehne das ab.
Inwiefern ist es zu wenig flexibel?
­Unser System ist auf zwei obligatorischen
Säulen aufgebaut. Einerseits die Altersvorsorge, die wie ein Sparstrumpf funk­
tioniert. Andererseits sorgen Versiche­
rungen bei Invalidität, Unfall und
Arbeitslosigkeit dafür, dass mögliche Risiken im Leben gemindert werden. Menschen, die es irgendwie nicht schaffen,
erhalten somit Hilfe, um später wieder auf
eigenen Beinen zu stehen. Unsere Sozialsysteme sind flexibel, ganz im Gegensatz
zum Grundeinkommen. Dieses schüttet
einfach starr jeder Person den gleichen
Betrag aus – unabhängig davon, ob sie es
braucht oder nicht. Und dieses Geld fehlt
dann da, wo es nachher wirklich benötigt
wird.
Aber das wäre auch nicht mehr nötig,
da ja das Grundeinkommen den Gang
aufs Sozialamt erspart. Das ist zu kurz
gedacht. Nehmen wir das Beispiel der
Langzeitpflege: Ohne zusätzliches Geld
zum Grundeinkommen ist eine aufwendige Pflege nicht erhältlich. Da braucht es
dann zu den bereits ausgegebenen Grundeinkommensmilliarden noch sehr viel
mehr Geld, um sich das leisten zu können.
Am Ende bleibt aber die simple Frage:
Woher soll dieses Geld überhaupt kommen? Ein weiteres Problem wäre zudem
der finanzielle Anreiz für Menschen, die
31
Christine Egerszegi, 68, Mellingen AG
32
bref Nº 8 — 2016
noch nicht in der Schweiz leben – aber
aufgrund des Grundeinkommens hierher
ziehen würden. Falls es in der Schweiz
2500 Franken bedingungslos gibt, ist das
ja das Paradies. Da würde ich auch sofort
hinziehen, wenn ich in meinem Heimatland als Ärztin 300 Franken verdiene.
Was mich an dieser Initiative auch stört:
Unsere Verfassung ist kein Ort für Experimente.
Wie meinen Sie das? Würde das Grundeinkommen angenommen werden, bedingt das auch eine Verfassungsänderung.
In die Verfassung gehören für mich aber
nur solide, durchdachte Dinge, egal, ob sie
jetzt von rechts oder links kommen. In
eine Verfassung gehört kein Minarettverbot, aber auch kein Grundeinkommen.
Das hat etwas mit dem Respekt gegenüber
und dem Verständnis für eine Verfassung
zu tun.
Sie setzen sich sehr stark ein für die
­Musikförderung. Aber sind nicht Musi­
ker oder Künstlerinnen gerade jene,
die auffallend oft in finanzieller Not
landen? Zugegeben, für Menschen, die in
der Kultur tätig sind, wäre es tatsächlich
interessant, dass sie bedingungslos eine
Basis erhielten. Aber das ist ein frommer
Wunsch. Ich stehe voll und ganz hinter
unseren Sozialwerken. Das sind die Säulen, die uns stützen. Auch die Musiker und
Künstler.
Bild: Laurent Burst
Was ist Ihrer Ansicht nach die Motiva­
tion, einer Tätigkeit nachzugehen? Das
kann die Faszination für etwas sein. Es
kann aber auch sein, weil der Mensch einfach aus finanziellen Gründen arbeiten
muss. Was aber klar ist: Alle brauchen eine
Struktur in ihrem Alltag. Ich hoffe auch,
dass jeder Mensch für irgendetwas ein
Feuer entwickeln kann. Sei es im Beruf,
in der Freizeit oder in einem Ehrenamt.
Diese Haltung versuchte ich auch immer
meinen Kindern weiterzugeben.
schon aufzeigen, dass er das Geld wirklich
benötigt. Das Ziel muss auch immer sein,
einen Sozialhilfebezüger wieder in die
Selbständigkeit zu bringen. Das war auch
mein Grundsatz, als ich in einer Gemeinde
für die Sozialhilfevergabe zuständig war.
Wie lebten Sie diesen Grundsatz kon­
kret? Wir bezahlten beispielsweise einer
Frau, die von den Drogen loskommen
wollte, eine kosmetische Behandlung, damit sie ihre hartnäckige Akne bekämpfen
konnte. Das verhalf ihr zu mehr Selbstvertrauen bei Bewerbungsgesprächen. Oder
einer Geschäftsfrau, die kurz vor der
­Geburt ihres Kindes von dessen Vater mit
dem gesamten Vermögen verlassen worden war, zahlten wir einen Wohnsitz im
Aargau und eine vorübergehende Zweitwohnung in Zürich, damit sie Arbeit und
Kinderbetreuung in Einklang bringen
konnte. Nach sechs Monaten stand sie
wieder auf eigenen Beinen. Sie zahlte
­übrigens dem Sozialamt alles zurück.
Gibt es eine soziale Idee oder Utopie,
der Sie etwas abgewinnen können?
Dass jede Frau und jeder Mann einen gemeinnützigen Beitrag für die Gemeinschaft leisten soll. Das kann politisch, kulturell oder sozial sein. Ich finde es sehr
wichtig, dass wir alle nicht nur konsumieren, sondern auch etwas geben. Auf dem
Formular, das ich bei meinem Eintritt in
den Nationalrat ausfüllen musste, gab es
eine Linie mit «Militärischer Grad». Da
habe ich hingeschrieben: «Feldweibel zu
Hause». Gleich darunter habe ich eine
neue Linie gezogen, die ich mit «Gemeinnütziges Engagement» versah. Seither ist
diese Frage Teil des Fragebogens.
Christine Egerszegi sass für die Freisinnig-Demo­
kratische Partei der Schweiz ingesamt zwölf Jahre
im Nationalrat und acht Jahre im Ständerat. Als
Nationalratspräsidentin war sie in den Jahren 2006
und 2007 die höchste Schweizerin. 2015 trat sie
aus dem Ständerat zurück.
Versuchen wir einmal, dem Grundein­
kommen etwas Positives abzugewin­
nen. Menschen, die bedürftig sind,
müssten in Zukunft vor dem Staat
nichts mehr von sich preisgeben, um
Unterstützung zu erhalten. Ist das erstrebenswert? Denn ein Mensch in einer
solchen Situation möchte ja das Geld von
anderen Menschen haben. Da muss er
33
Die beiden evangelischen Kirch­
gemeinden Stettfurt und Lommis
liegen am Sonnenhang des
Lauchetals im Thurgau und zählen
zusammen rund 1000 Mitglieder
Wir suchen nach Vereinbarung
Pfarrerin / Pfarrer
50%-Ergänzungspfarrstelle, im Anstellungsverhältnis
Sie teilen sich die 100%-Pfarrstelle mit unserem Pfarrer,
der zu 50% angestellt ist.
Das Evangelium verkünden Sie engagiert, sind in der
evangelischen Kirche verwurzelt und ökumenisch offen.
neuen Pfarrerin
oder Pfarrer (80%)
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Gemeindeaufbau zu gestalten.
besetzen.
Ihr Arbeitsgebiet:
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llgemeine pfarramtliche Tätigkeit mit
Schwerpunkt Diakonie und Familienarbeit
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nge Zusammenarbeit mit dem Pfarrkollegen
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ngagierte Teilnahme am (Kirch-)Gemeinde­
leben
Haben wir Ihr Interesse an dieser Pfarrstelle geweckt?
Dann erwarten wir gerne Ihre Bewerbungsunterlagen.
Eingabefrist: 31. Mai 2016, an:
Präsident Evangelische Kirchgemeinde Lommis
Andreas Bernhaut, Rebenstrasse 2
9508 Weingarten-Kalthäusern
praesidium@evklommis.ch
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Pfarrerin oder wählbaren Pfarrer
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ine sozialkompetente, begeisterungsfähige,
kommunikative und humorvolle Persönlichkeit
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Angestellte, Kirchenpflege)
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­Verkündigung des Evangeliums
Das Magazin der Reformierten
Sie finden bei uns:
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ktive und motivierte Angestellte und
Freiwillige
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inen offenen Pfarrkollegen (100%)
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inen engagierten Jugendarbeiter (80%)
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in leistungsfähiges Sekretariat
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eitgemässe Anstellungsbedingungen und
moderne Infrastruktur
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ine grosszügige Wohnung
Schreiben Sie Ihre Meinung
Redaktion bref
Leserbriefe
Pfingstweidstrasse 10
8005 Zürich
Weitere Informationen erhalten Sie über unsere
Website www.ref-urdorf.ch oder beim Präsidenten der P
­ farrwahlkommission, Herrn Urs
Luginbühl, Tel. 044 734 08 06.
redaktion@brefmagazin.ch
Die Redaktion trifft nicht nur eine Auswahl, sie kürzt
Zuschriften auch, und zwar ohne Rücksprache mit den
Autoren. Über nicht veröffentlichte Briefe wird keine
Korrespondenz geführt. Anonyme Zuschriften und Briefe
mit beleidigendem oder anstössigem Inhalt wandern
in den Papierkorb.
34
Urdorf liegt am westlichen Stadtrand von
Zürich und ist bestens durch Verkehrsverbund
und Autobahnnetz erschlossen. Unsere aktive
Kirchgemeinde zählt 2900 Mitglieder und
verfügt über ein vielseitiges Gemeindeleben.
Infolge eines Stellenwechsels möchten wir
möglichst bald die vakante Ergänzungspfarrstelle mit einer / einem
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung. Senden Sie
diese schriftlich mit den üblichen Bewerbungsunterlagen bis am 31. Mai 2016 an den Präsidenten der Pfarrwahlkommission, Ev.-ref. Kirch­
gemeinde Urdorf, Sekretariat, Weihermattstr. 40,
8902 Urdorf, oder elektronisch an
oeme@kirche-urdorf.ch.
bref Nº 8 — 2016
«Faule Menschen gibt
es überall, auch ohne
Grundeinkommen»
Um ihren Lebensunterhalt muss sich Ingrid Grave keine Sorgen ­machen.
Die Ordensschwester erhält schon heute eine Art Grundeinkommen.
Auf die faule Haut legt sie sich deshalb nicht, sondern sprüht vor Ideen.
Mit einem Grundeinkommen würden die Menschen überlegen, wie
sie ihr Leben schöner gestalten können, glaubt sie.
Frau Grave, als Ordensschwester leben
Sie eigentlich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen. Sie müssen
sich um Finanzen keine Sorgen machen. Ja, das stimmt. Wenn zum Beispiel
eine Schwester in der Klosterküche arbei­
tet, erhält sie dafür keinen Lohn. Aber sie
verfügt über die Gewissheit, dass für sie
bis an ihr Lebensende gesorgt wird.
Das bedingungslose Grundeinkommen würde das Klosterprinzip in die
Gesellschaft tragen. Nicht ganz. Es wür­
de aber dafür sorgen, dass ein Mensch so
viel erhält, dass er sein Leben in Würde
leben kann. Seine Grundbedürfnisse also
abgedeckt sind, ohne dass er dafür schuf­
ten muss. Was er aber dazuverdient, sollte
dann schon ganz ihm gehören. Das ist
bei uns im Kloster anders: Was zusätzlich
verdient wird, wandert in den Gemein­
schaftstopf.
Und wie wird sein Inhalt gerecht unter
den Schwestern verteilt? Es ist ja so, dass
die eine zum Glücklichsein ein Paar Wan­
derschuhe braucht und die andere ein
Klavier. Ist das Gerechtigkeit? Vielleicht
nicht, aber wenn es passt und jede das be­
kommt, was sie wirklich braucht, dann ist
das schon richtig. Es darf einfach kein
Schnickschnack sein.
Läuft das ohne Konflikte ab? Natürlich
kommt es da auch zu Streitereien. Damit
diese aber möglichst nicht entstehen oder
Spannungen abgebaut werden, treffen wir
uns regelmässig und sprechen über solche
Dinge. Es ist bei uns aber wie in jeder Be­
ziehung oder in jeder Familie: Alle tragen
einen Rucksack mit ihrer Vergangenheit.
Deshalb müssen auch wir uns bei Konflik­
ten aneinander angleichen oder auch mal
etwas stehen lassen.
Was mögen Sie an der Idee eines
­bedingungslosen Grundeinkommens?
Dass man Menschen, die viel haben, sagen
kann: Schau mal, du hast Glück gehabt.
Du hast Begabungen mitbekommen und
konntest etwas daraus machen. Andere
haben diese Begabungen nicht bekom­
men, oder es wurden ihnen Steine in den
Weg gelegt. Aber auch diese Menschen
brauchen ein Leben in Würde.
Was treibt die Ordensschwestern im
Kloster eigentlich an, einer Arbeit nachzugehen? Das ist, wie sicher auch ausser­
halb des Klosters, ganz unterschiedlich.
Es gibt Ordensfrauen, die sind zufrieden
mit der Arbeit, die man ihnen zuteilt. Und
es gibt welche, die die ganze Zeit vor Ide­
en sprühen und diese auch umsetzen wol­
len. Ich gehöre eher zu den letzteren.
Ist es nicht interessant, dass der Reiz zu
arbeiten auch ohne Lohn existiert? Das
lässt sich so pauschal nicht sagen. Ich den­
ke, es ist eher eine Frage des Naturells.
Manche Menschen haben Antrieb, andere
nicht. Auch in meiner Familie gibt es ganz
unterschiedliche Persönlichkeiten.
Das Grundeinkommen macht Menschen faul, sagen Kritiker. Das kann im
Einzelfall sein. Aber Faule gibt es überall,
auch ohne Grundeinkommen. Menschen,
die einfach nicht wollen. Sogar innerhalb
derselben Familie mit den gleichen Idea­
len gibt es Menschen, die etwas aus ihrem
Leben machen, und andere, die scheitern.
Das ist einfach die menschliche Natur.
Wenn aber jeder sein Grundeinkommen
hat und darüber nachdenken kann, wie
man es sich noch schöner machen kann,
dann fängt der Mensch an zu überlegen
und lässt sich etwas einfallen.
Warum ist das so? Das weiss ich aus mei­
ner Erfahrung als Pädagogin. Kinder wol­
len immer von selber lernen, aber wir
treiben es ihnen ja in der Schule oft aus.
Man sollte wohl mehr darüber nachden­
ken, wie man diese Lernbegierde beibe­
halten will, dann werden die Kinder auch
später dem nachgehen, was sie wirklich
interessiert. Das bedeutet auch, dass man
nicht mehr darüber nachdenken sollte,
35
Ingrid Grave, 78, Zürich
36
bref Nº 8 — 2016
wie Kinder wertvolle Mitglieder der Wirt­
schaft werden, sondern vielmehr wertvol­
le Mitglieder der gesamten Gesellschaft.
Das wäre mal etwas!
Bild: Laurent Burst
Sie glauben, der Mensch ist intrinsisch
motiviert? Wenn ich an eine Grenze stos­
se im Leben, dann merke ich das ja, dass
ich da eine Lücke habe, und dann kann
mich darum kümmern, dieses Wissen zu
erwerben. Die meisten Menschen wollen
immer weiterlernen, sich immer weiter
entwickeln. Das ist auch im Kloster so.
Die wenigen faulen bleiben faul, und die­
jenigen, die sich weiter entwickeln ­wollen,
entwickeln sich weiter, wenn das Umfeld
einigermassen stimmt. Auch Menschen,
die nichts beitragen können, weil sie
krank oder eingeschränkt sind, wird es
immer geben. Und für diese muss die
­Gesellschaft dann auch verstärkt sorgen.
Nicht jeder hat die nötigen Ressourcen für ein gut geführtes Leben mitbe­
kommen.
Und was passiert bei einem Grundeinkommen mit Berufen, die heute in der
Gesellschaft nicht so angesehen sind?
Es wird auch in Zukunft immer junge
Menschen geben, die sich für einen Beruf
begeistern lassen. Auch solche, die nicht
so angesehen sind. Die besten Angestell­
ten sind jene, die spüren, dass sie ihre
­Tätigkeit interessiert und begeistert. Da ist
das Geld dann auch nicht das einzig Ent­
scheidende. Man ist Bäuerin oder Hand­
werker, weil man die Tätigkeit gerne
macht. Hier in unserem Haus in der Alt­
stadt von Zürich gibt es zum Beispiel
­einen selbständigen Restaurator. Er liebt
dieses Haus richtiggehend. Und stellt er
uns nach einer Reparatur eine Rechnung,
sagt die Kirchenleitung: Das ist ja gar
nicht mal so teuer! Er verlangt also wohl
zu wenig. Dafür wohnt er bescheiden, hat
aber viel Zeit für seinen Sohn. Das gibt
ihm Freiheiten in der Gestaltung seines
Lebens.
Was bedeutet Bedingungslosigkeit aus
Ihrer Sicht? Im religiösen Sinne sicher
zuerst einmal, dass ich bedingungslos ge­
liebt werde. Das ist etwas, was ich aber
auch annehmen muss. Also etwas, woran
ich glauben muss. Und diesen Glauben
daran muss ich auch immer wieder erneu­
ern. Ich kann ja einem Menschen auch
sagen: Ich stelle mich dir bedingungslos
zur Verfügung. Verliebte zum Beispiel
sind ganz bedingungslos. Klingt die erste
Verliebtheit ab, dann fängt man aber oft
an, Bedingungen zu stellen. Bedingungs­
losigkeit bedeutet für mich vor allem: Du
genügst so, wie du bist. Du musst nichts
tun, um geliebt zu werden. Mit den Men­
schen ist das nicht immer ganz einfach. In
meinem Glauben kann ich das aber erfah­
ren, dass ich genau so geliebt werde und
genüge, wie ich bin.
Wie würden Sie das auf das bedingungslose Grundeinkommen übertragen? Der Mensch wäre frei, mit dem
Grundeinkommen sein Leben gut zu ge­
stalten. Das Geld müsste sicherstellen,
dass die wesentlichen Dinge möglich sind:
Wohnung, Essen, Kleidung, aber auch et­
was Geld für Erholung und Erlebnisse
sowie etwas für die Gesundheit. Wer dann
merkt, dass das Geld nicht dafür reicht,
die eigenen Träume zu verwirklichen,
kann zusätzlich tätig werden. Das ist et­
was, was die meisten Menschen sowieso
wollen.
re einsetzen würden, was ja auch für die
gesamte Gesellschaft ein Gewinn wäre.
Jeder Mensch ist anders, hat andere Bega­
bungen und Anlagen. Die kann man nut­
zen oder nicht. Wenn ich zwei Menschen
in meiner Familie vergleiche, war einer
von ihnen sehr intelligent und der andere
hat nicht so viel Begabung für sein Leben
mitbekommen. Er hat aber doch das aller­
beste aus seinem Leben gemacht. Der an­
dere war intelligent, hat sich aber wohl
gesagt: Was soll ich mich anstrengen, ich
finde das Leben, so wie es ist, angenehm.
Ich könnte mir vorstellen, dass der weni­
ger begabte Mann sich mit einem Grund­
einkommen vermutlich positiver entwi­
ckelt hätte als der sehr begabte, der aber
nichts aus seinem Leben machen will.
Würde das Grundeinkommen noch andere Dinge ändern? Das Ansehen als
Professor oder Ärztin würde sich wohl
mit einem Grundeinkommen ändern. Mit
einem Grundeinkommen wären plötzlich
andere Berufe angesehen. Konkret: Ein
Bauarbeiter, der trotz Grundeinkommen
auf dem Bau arbeitet, würde vermutlich
mehr Anerkennung für seinen Beruf
erfahren als ein Arzt oder eine Bankdirek­
torin.
Ingrid Grave trat 1960 in die DominikanerinnenGemeinschaft in Ilanz GR ein. Dort arbeitete sie als
Lehrerin, später wurde sie bekannt als Moderatorin
der Fernsehsendungen Sternstunde und Wort
zum Sonntag. Grave lebt in einer kleinen Wohnung
inmitten der Altstadt von Zürich, wo sie sich in
ökumenischen Seelsorgeprojekten engagiert.
Zurzeit bereitet sie ihren Umzug zurück ins Kloster
im Bündner Oberland vor.
Und wer das Grundeinkommen nicht
braucht? Wer es nicht braucht, kann es
für andere oder für die Allgemeinheit ein­
setzen. Im Kloster denke ich, dass die
Schwestern wohl das Geld eher für ande­
37
«Im ‹Biotop Schweiz›
lässt sich das
ausprobieren»
Debbie Zedi ist Marketingleiterin der Zürcher Hochschule der Künste.
Gerade für intrinsisch motivierte Menschen wie Künstler wäre ein be­
dingungsloses Grundeinkommen eine wichtige Absicherung, denn: «Wer
einfach möglichst schnell viel Geld verdienen möchte, wählt kaum ein
­Studium in den Künsten.»
Und wenn Sie die Gegenkampagne
leiten würden? Dann würde ich ganz
stark mit Zahlen arbeiten. Funktioniert
das wirklich? Ich würde Horrorszenarien
zeigen, Angst davor machen, was mit
dem Grundeinkommen alles schieflaufen
könnte.
Zu Ihnen: Mögen Sie eigentlich die
Idee eines Grundeinkommens? Sagen
wir es so: Ich freue mich, dass wir in der
Schweiz überhaupt eine solche Vision
entwickeln und diskutieren können. Es ist
38
eine visionäre, fast utopisch anmutende
und doch fassbare Idee. Schon allein dass
man wagt, so etwas zu denken, finde ich
toll. Im besonderen gefällt mir die Komplexitätsreduktion, die Vereinfachung.
Was meinen Sie mit Komplexitätsreduktion? Dass wir mit einem Grundeinkommen weniger Energie für Administration und Bürokratie brauchen würden.
Was ich auch spannend finde: Unsere Gesellschaft wäre wohl weniger von Ängsten
und Zwängen geprägt. Wenn Existenzängste auf ein Minimum reduziert werden, kann sich der Einzelne freier entfalten. Vielleicht sehen sich Menschen dann
auch weniger dazu gezwungen, das zu
tun, was gesellschaftskonform ist. Ich
sehe das auch bei unseren Studierenden:
Es braucht nach wie vor oft Mut, sich an
der Zürcher Hochschule der Künste für
einen Beruf im Bereich Kunst oder Kultur
zu entscheiden. Ein solcher Entscheid löst
in vielen Familien Ängste und Gegenreflexe aus. Und es stimmt ja auch: Mit einem
solchen Beruf müssen viele um ihre Existenz kämpfen und oft nebenher einen
Brotjob machen, um das Nötigste zum
­Leben zu verdienen.
Was würde sich für die Studierenden
an der Zürcher Hochschule der Künste
mit einem Grundeinkommen ändern?
Studierende, die nicht auf die finanzielle
bref Nº 8 — 2016
Unterstützung ihrer Eltern zählen können, hätten es mit einem Grundeinkommen weniger schwer. Das Grundeinkommen würde allen Studierenden erlauben,
sich voll und ganz aufs Studium zu konzentrieren. Niemand wäre gezwungen,
einem Nebenjob nachzugehen, um sich
während des Studiums über Wasser zu
halten. So kämen die Studierenden vielleicht schneller ans Ziel. Es könnte aber
auch genau das Gegenteil der Fall sein:
Weil der Druck weniger gross ist, gäbe
es vielleicht mehr «ewige Studenten», die
im Studium ein bisschen vor sich hin
dümpeln.
Worin unterscheidet sich ein Kunststudent von einem anderen Studenten?
Die Studierenden hier sind wirklich intrinsisch motiviert. Wer einfach möglichst
schnell möglichst viel Geld verdienen will,
wählt kaum ein Studium in den Künsten.
Jeder und jede hier brennt für seine oder
ihre Kunst, sei es nun Design, Musik, Film
oder Tanz. Es gibt aber sicher auch in den
meisten anderen Berufsgattungen diejenigen Menschen, die für ihre Sache brennen: für den Bau, die Forschung, für
Dienstleistungen.
Wie wäre Ihre Biografie mit einem bedingungslosen Grundeinkommen verlaufen? Dann wäre ich nach der Matura
nicht arbeiten gegangen, sondern hätte
BILD: lAURENT bURST
Frau Zedi, Sie verantworten das Marketing der Zürcher Hochschule der Künste. Unabhängig, was Sie vom Grundeinkommen halten: Wie würden Sie dieses
bei den Menschen in der Schweiz beliebt machen? Gute Frage. Ich würde
wohl Zukunftsszenarien visualisieren:
Was wäre mit dem Grundeinkommen anders als heute? Was würde gleich bleiben?
Dargestellt in Bildergeschichten oder kurzen Videoclips, die man auf Social Media
teilen kann. Zum Beispiel ein Familiengespräch über die Ferien, zu denen die Kinder von ihrem Grundeinkommen auch
ihren Beitrag leisten. Oder ein Mitarbeitergespräch mit dem Chef über unbezahlten Urlaub. Diese Szenen aus dem Alltag
sollten mögliche neue Denkmuster und
Verhaltensweisen zeigen, die mit dem
Grundeinkommen entstehen.
Debbie Zedi, 38, Zürich
39
mit einem Studium angefangen. So aber
habe ich gleich angefangen zu arbeiten,
weil meine Eltern mich finanziell nicht
unterstützten. Allerdings: Was ich heute
weiss, lernte ich «on the job» und in berufsbegleitenden Ausbildungen.
spiel ein Putzmann oder eine Kassiererin
aus ihrer Tätigkeit? Diese Frage stellt sich
ja insbesondere bei schlechtbezahlten
­Berufen. Würden diese Leute ihre Tätigkeit weiter ausüben, wenn es das Grundeinkommen gäbe?
Was ja auch toll ist. Ja, das sehe ich auch
so. Ich habe von der Praxis gelernt und
ging nicht von der Theorie aus. Dass ich
arbeiten musste, hat mich natürlich auch
angetrieben. Hätte es ein Grundeinkommen gegeben, als ich mein Sabbatical gemacht habe, hätte ich wahrscheinlich
nicht noch Teilzeit gearbeitet, um mir das
Nötigste zum Leben zu verdienen. Ich
hätte ein «richtiges» Fulltime-Sabbatical
eingelegt, also ein Lesejahr gemacht oder
wäre eigenen Projekten nachgegangen –
ganz unabhängig davon, ob sie Geld einbringen oder nicht.
Und? Wir wissen nicht, was genau passieren würde. Aber es gäbe eine Dynamik in
das Ganze. Wenig beliebte Jobs müssten
künftig besser bezahlt werden, ansonsten
will sie keiner mehr machen. Es ist genau
diese Dynamik, die mich am Grundeinkommen fasziniert: das Hinterfragen des
jetzigen Systems und das Aufbrechen von
Ungerechtigkeiten, die in der gegenwärtigen Ordnung wurzeln.
Heute zielt Bildung meist darauf
ab, die Abgänger bestmöglich auf
die ­Berufswelt vorzubereiten. Würde
ein Grundeinkommen andere Schwerpunkte in der Bildung setzen? Möglicherweise. Bildungsinstitutionen bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen
Ausrichtung am Arbeitsmarkt und Ausrichtung an Gesellschaft und Wissenschaft. Da können unterschiedliche Wertvorstellungen und Prioritätensetzungen
aufeinanderprallen. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen wäre der
Druck vielleicht weniger hoch, die Bildung so stark am Arbeitsmarkt auszurichten.
Mit welcher Konsequenz? Dass junge
Menschen, die sich nach der obligatorischen Schulzeit für eine Ausbildung oder
ein Studium entscheiden müssen, sich bei
ihrem Entscheid mehr durch ihre Interessen und ihre Begabung leiten lassen als
von wirtschaftlichen Überlegungen und
damit verbundenen Ängsten wie: Werde
ich in diesem Beruf meinen Lebensunterhalt sicherstellen können?
Was geschieht, wenn ein Grundeinkommen eingeführt würde? Für sich
selber und sein Umfeld kann man vermutlich einschätzen, was man mit einem
Grundeinkommen machen würde. Für
Berufe und Lebensumfelder, die einem
fremd sind, ist das schwieriger zu beurteilen. Wie viel Freude schöpfen zum Bei-
40
Kritiker sagen, dass beim Grundeinkommen zu viele Fragen ungeklärt
sind. Ja, aber man muss auch gar nicht alle
Fragen beantworten. Wir sollten einfach
mal damit anfangen und herausfinden,
was dann geschieht. Klar, das braucht
Mut. Aber im «Biotop Schweiz» könnten
wir es uns erlauben, so etwas auszuprobieren. Es kann nicht viel schiefgehen.
Und falls doch, passen wir das System an.
So wird es laufend besser.
Warum soll ausgerechnet die Schweiz
mit einem Grundeinkommen starten?
Weil es den Ländern um uns herum weitestgehend schlechter geht als uns – wir
leben hier in einer äusserst privilegierten
Situation. Und weil wir dann wieder einmal Pioniere wären und unser Wissen
weitergeben könnten.
Gibt es keine Bedenken bezüglich
­einem Grundeinkommen? Doch. Ich
frage mich, ob sich das bedingungslose
Grundeinkommen für Teilzeit-Arbeitsmodelle eher nachteilig auswirken würde.
Wenn ich mit einem Vierzigprozentjob
das gleiche Einkommen erziele wie mit
dem Grundeinkommen, ist die Motivation
nicht besonders gross, arbeiten zu gehen.
Das fände ich schade, da wir künftig stärker auf Teilzeitarbeit setzen müssen.
Ein Grundeinkommen könnte aber
auch zu flexibleren Arbeitsmodellen
führen. Gut möglich. Ich bin mit einem
Hausmann als Vater aufgewachsen, meine
Mutter ging arbeiten. Ich hoffe, dass solche Konstellationen mit dem Grundeinkommen noch selbstverständlicher wür-
bref Nº 8 — 2016
den. Mehr Flexibilität hätte sicherlich zur
Folge, dass viele Menschen motivierter
und relaxter bei der Arbeit wären.
Die Grundeinkommens-Initiative wird
von vielen belächelt – und doch hat sie
eine ungeheure Sprengkraft. Warum?
Die Welt ist ja nicht aus Zufall so, wie sie
ist. Sie ist so, weil es immer Menschen gegeben hat, die Dinge neu gedacht haben.
Grosse Dinge, die für uns heute selbstverständlich sind, sind das Resultat einer
­grossen Idee aus der Vergangenheit. Das
bedingungslose Grundeinkommen ist so
eine grosse Idee.
Debbie Zedi ist Leiterin Marketing der Zürcher
Hochschule der Künste. Nach der Matura arbeitete
sie bei einem Telekommunikationsanbieter,
danach für eine Ideenfabrik, für eine Fotoagentur
und als Creative Director in einer Eventagentur.
Zedi absolvierte ihre Ausbildung zur Kommunika­
tionsplanerin und den Master in Business
Communications berufsbegleitend.
«Niemand teert
bei 35 Grad freiwillig
eine Strasse»
Ohne staatliche Gelder müsste die Bäuerin Christine Bühler den
Milchwirtschaftsbetrieb aufgeben. Einem Grundeinkommen
steht sie dennoch skeptisch gegenüber. Sie sagt, dass diese Idee
wohl nur bei akademischen Berufen ­funktionieren würde.
Frau Bühler, angenommen, die Bauern
erhalten in Zukunft vom Staat keine Direktzahlungen mehr, dafür ein Grundeinkommen von 2500 Franken je Familienmitglied. Was hätte das für Ihren
Betrieb für Auswirkungen? Die Pou­
letmast könnten wir wohl weiterführen,
die Milchwirtschaft müssten wir sofort
einstellen. Und wie stark wir dann das
Land noch bewirtschaften könnten, kann
ich auch nicht sagen, da die Milchwirt­
schaft an die Landbewirtschaftung ge­
knüpft ist. Selbst wenn wir die Poulets
noch weiterproduzieren würden, bliebe
die Frage, ob dann noch jemand in unserer
Pouletmetzgerei arbeiten wollte. Nur Spe­
zialkulturen mit Gemüse, Aprikosen oder
Kräutern sind selbsttragend. Einen Hof
mit Milch, Fleisch und Getreide selbst­
finanziert zu betreiben ist heute aber
praktisch unmöglich.
Die Umstellung auf ein Grundeinkommen würde ja nicht von heute auf morgen stattfinden. Nun ja, das stimmt. Die
Schweiz könnte es auch einfach auspro­
bieren, schliesslich sind wir ein kleines
Land. Wenn es nicht funktioniert, lässt
sich ja wieder Gegensteuer geben. Und ob
die diskutierten 2500 Franken der richti­
ge Betrag sind, ist ja auch nicht unbedingt
klar. Das müsste man alles testen. Ich fin­
de die Idee, ein neues System zu suchen,
um die Sozialleistungen auch in Zukunft
erbringen zu können, sehr wichtig. Da
sollte man alles prüfen, auch das Grund­
einkommen. Dennoch frage ich mich, ob
sich nicht zu viele aus der Verantwortung
ziehen, wenn es ein Grundeinkommen
gäbe. Was ist dann mit der Pflegefachfrau,
die vielleicht nur noch fünfzig Prozent
arbeiten will? Fällt am Ende das gesamte
Gesundheitssystem auseinander?
Vielleicht würde die Pflegefachfrau mit
der Hälfte ihres Pensums motivierter
arbeiten? Und es gäbe Platz für eine
weitere Person, die fünfzig Prozent arbeiten will? Ja, das kann sein. Und viel­
leicht würde die Gesellschaft solche Beru­
fe dann auch durch eine andere Brille
sehen. Vielleicht würden diese Jobs auch
einen besseren Ruf haben. Wer weiss.
Heute wollen Jugendliche ja kaum mehr
Berufe erlernen, in denen körperlich ge­
arbeitet wird. Kopfarbeit hat einen besse­
ren Status als die handwerkliche Arbeit.
Das finde ich eine bedenkliche Entwick­
lung.
Das heisst, ein Grundeinkommen könnte den Status gewisser Arbeiten verändern? Vielleicht. Ich würde das begrüs­
sen. Denn ohne den Gerüstbauer lässt
sich kein Haus renovieren. Und wenn im­
mer weniger Personen solche Tätigkeiten
ausführen wollen, werden sie vielleicht
sogar besser bezahlt. Ich glaube, dass das
Grundeinkommen eher in akademischen
Kreisen funktionieren würde, nicht aber
bei handwerklichen Berufen. Es geht doch
niemand bei 35 Grad nach draussen und
teert eine Strasse, wenn er nicht muss.
Wem würde ein Grundeinkommen am
meisten nützen? Wohl Eltern mit Kin­
dern. Alleinerziehende Eltern vollbringen
einen wichtigen Dienst an der Gesell­
schaft, der nicht honoriert wird. Ein be­
dingungsloser Betrag könnte diese Arbeit
sichtbarer machen und sie dafür angemes­
sen entlöhnen. Dass ein Grundeinkom­
men alle Sozialwerke überflüssig macht,
glaube ich allerdings nicht. Es wird immer
Leute geben, für die man trotz Grundein­
kommen sorgen müsste. Und um diese
müssen wir uns als Gesellschaft küm­
mern, gerade weil es die schwächsten
sind. Geschieht dies nicht, zerfällt ein
Land, eine Gemeinschaft.
Was beschäftigt die Bäuerinnen in der
Schweiz? Die schwierige Einkommenssi­
tuation vieler Betriebe ist ein Dauerbren­
ner. Dann die mangelnde Wertschätzung
der Konsumenten gegenüber Nahrungs­
mitteln. Wir möchten als Verband aufzei­
gen, was es alles braucht, bis ein Liter
Milch da ist oder ein Brot aus dem Ofen
41
Christine Bühler, 57, Twann BE
42
bref Nº 8 — 2016
kommt. Dahinter steckt nämlich sehr viel
Arbeit. Aber auch die Beziehung von uns
Bauern und der Gesellschaft ist etwas, was
uns sehr beschäftigt.
Wie meinen Sie das? Ein Bereich der
Gesellschaft zu sein, der Direktzahlungen,
also praktisch Almosen von den anderen
erhält, das ist für viele nicht einfach. Des­
halb kann man fast sagen, dass die Bauern
und Bäuerinnen ein Grundeinkommen
erhalten. Es ist aber nicht bedingungslos,
sondern geknüpft an eine bestimmte Leis­
tung. Dem Selbstbewusstsein tun diese
Direktzahlungen aber nicht besonders
gut. Gerade die Männer auf den Betrieben
leiden oft unter dieser Situation. Und das
kriegen natürlich auch die Frauen mit.
Bild: Laurent Burst
Bauernbetriebe sind in der Regel Familienbetriebe. Ein Grundeinkommen
könnte Bäuerinnen auch Unabhängigkeit und Sicherheit verschaffen. Das
Thema der finanziellen Absicherung be­
schäftigt heute viele Bäuerinnen. Ob ein
Grundeinkommen da eine Hilfe wäre,
kann ich nicht sagen. Es ist aber bereits
heute so, dass Bäuerinnen sich zum Bei­
spiel vom Betrieb einen Lohn auszahlen
lassen und dann Arbeitslosengeld bezie­
hen, wenn sie diese Tätigkeit nicht mehr
ausüben können. Die Arbeiten auf dem
Hof können sie dann im Anstellungsver­
hältnis in Prozenten angeben und mit den
Sozialversicherungen abrechnen.
Warum ist das so wichtig? Tut die Frau
das nicht, ist sie einfach als «nicht er­
werbstätig» erfasst und nicht abgesichert.
Das ist heute einfach nicht mehr akzepta­
bel. Eine weitere Möglichkeit ist, die Frau
zur Mitbewirtschafterin zu machen. Dazu
muss sie aber über eine landwirtschaftli­
che Ausbildung mit Nachweis verfügen.
Von den Bäuerinnen beanspruchen leider
viel zu wenige diesen Status. Viele in mei­
nem Alter sind frustriert, wenn sie auf ihr
berufliches Leben zurückblicken. Sie mer­
ken, dass sich ihre Leistung nirgends
­manifestiert hat.
Gibt es denn auch Frauen mit eigenem
Hof? Ja, die gibt es immer mehr. Frauen
übernehmen häufig Nischenbetriebe an
schwierigen und nicht lukrativen Lagen.
Dort punkten sie mit extremer Innova­
tion. Das ist eindrücklich zu sehen.
Beispielsweise? Eine Bäuerin hat ange­
fangen, Apfelringe von ihren Hochstamm­
bäumen zu dörren – heute beschäftigt sie
mehrere Angestellte und konnte auch den
«Apfelringliturm» im Schweizer Pavillon
an der Expo in Mailand beliefern. Aber
gerade die Männer haben da im ersten
Moment nicht immer Verständnis, wenn
ihre Frauen die Selbständigkeit suchen.
Sie wollen sich lieber auf die alther­
gebrachten Produkte und Methoden
­stützen.
Was brauchen die Bäuerinnen in Zukunft, damit es ihnen gutgeht? Neben
der festgeschriebenen und effektiven
Gleichstellung und einer besseren finan­
ziellen Lage brauchen Bäuerinnen vor
allem Raum. Man muss sie machen lassen,
sie ihren eigenen Betriebszweig ent­
wickeln lassen.
Was ist Ihre Selbständigkeit innerhalb
vom Familienbetrieb? Wir haben neben
unserer klassischen Milchwirtschaft eine
Pouletmast aufgebaut, die zusätzlichen
Ertrag zu unserem angestammten Ge­
schäft generiert. Unterdessen ist das ein
eigenständiger Bereich, für den heute nur
ich zuständig bin. Ich wollte das so.
Christine Bühler ist diplomierte Bäuerin, Präsidentin des Schweizerischen Bäuerinnen- und
Landfrauenverbands und Vizepräsidentin des
Schweizerischen Bauernverbands.
43
Die Abteilung Spezialseelsorge der reformierten
Landeskirche des Kantons Zürich betreut
die Seelsorge in Institutionen sowie kantonalkirchliche Beratungsangebote inhaltlich und
personell. Sie unterstützt die Landeskirche und
Kirchgemeinden mit Fachwissen und Konzeptarbeit im Bereich Seelsorge. Wir suchen per
1. August 2016 oder nach Vereinbarung eine/
einen
Für die kürzlich fusionierte evangelisch-reformierte
Kirchgemeinde Oberer Necker im St.Galler Neckertal
(Toggenburg) suchen wir per 1. August 2016 oder nach
Vereinbarung
eine Pfarrerin, einen Pfarrer oder
ein Pfarrpaar mit einem Pensum
von 80% für das Pfarramt St. Peterzell
Fachmitarbeiter/-in 50%
In den ersten drei Jahren sind Sie zuständig für die
Projektleitung im Schwerpunkt «Palliative Care» in
der Zürcher Landeskirche. Später übernehmen Sie
die Verantwortung für weitere Projekte und Aufträge der Abteilung, insbesondere in den Seel­
sorgebereichen im Gesundheitswesen.
Unsere lebendige Landgemeinde:
• Umfasst die Dörfer St. Peterzell und Hemberg mit knapp
1500 Gemeindegliedern.
• Wird durch ein gut eingespieltes Pfarrehepaar im
Pfarramt Hemberg und das zu besetzende Pfarramt in
St. Peterzell betreut.
• Wird durch einen Sozialdiakon in Ausbildung, ein
Sekretariat, eine engagierte Kirchenvorsteherschaft und
Freiwillige gestaltet.
• Stellt ein ansprechendes, geräumiges Pfarrhaus in der
Nähe von Kirche und Schulzentrum Oberes Neckertal zur
Verfügung.
• Hat gute ÖV-Anbindung mit 30'-Takt.
Sie verfügen über ein abgeschlossenes Theologiestudium und haben mehrere Jahre Berufserfahrung
in der Spezialseelsorge und/oder im Gemeindepfarramt gesammelt. Zusätzlich bringen Sie eine
Aus- oder Weiterbildung im Bereich «Palliative
Care» mit. Die Herausforderungen der Seelsorge
im Gesundheitsbereich sind Ihnen bekannt. Sie sind
es gewohnt, selbständig zu arbeiten, und haben
Freude am konzeptionellen Arbeiten und Steuern
von Prozessen. Das vernetzte Denken und Handeln
fällt Ihnen leicht und Sie sind eine kontaktfreudige
Persönlichkeit, die gerne im Team arbeitet.
Ihre Aufgaben:
• S elbständige Betreuung des Seelsorgekreises St. Peterzell.
• S chwerpunkte: Erwachsenenbildung, Diakonie,
Geistliche Begleitung der Jugendlichen ab Oberstufe bis
Konfirmation.
• A
ndachten und Seelsorge in den Institutionen
Landscheide und Aemisegg.
• V
ielfältige Gottesdienste gemäss gemeinsamer Planung.
• D
ie Stelle lässt in ihren Strukturen Freiraum für
Gestaltungsmöglichkeiten.
Es erwartet Sie eine moderne Betriebskultur, die
auf Qualität und Entwicklung Wert legt. Weitere
Auskunft erteilt Ihnen gerne Pfrn. Rita Famos,
Abteilungsleiterin Spezialseelsorge,
Tel. 044 258 92 79, rita.famos@zh.ref.ch. Besuchen
Sie auch unsere Homepage: www.zh.ref.ch
Interessiert? Dann senden Sie bitte Ihre Bewerbungsunterlagen bis am 13. Mai 2016 an: Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich,
Stichwort «Fachmitarbeiter/-in Spezialseelsorge»,
Personaldienst, Hirschengraben 7, Postfach, 8024
Zürich, oder als pdf-Gesamtdokument per E-Mail
an: personaldienst@zh.ref.ch
Ihr Profil:
• S ie sind (eine) offene, initiative Persönlichkeit(en).
• S ie sind motiviert, sich in unserer vielfältigen
Kirchgemeinde zu engagieren.
• S ie pflegen eine offene, theologisch landeskirchliche
Haltung.
• S ie sind in der Schweiz wählbar.
• S ie suchen den Kontakt zur Bevölkerung.
• S ie schätzen die Zusammenarbeit im Team sowie
selbständiges Arbeiten.
• S ie engagieren sich in der ökumenischen und regionalen
Zusammenarbeit.
• S ie nehmen möglicherweise in der Gemeinde Wohnsitz.
Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte auch an
das Präsidium und die Pfarrpersonen.
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung, gerne auch
elektronisch, mit den üblichen Unterlagen an:
Präsidium der Pfarrwahlkommission
Sabina Nef, Scherbstrasse 47, 9633 Hemberg, 071 377 13 74
familie@ref-oberernecker.ch, www.ref-oberernecker.ch
44
Das Magazin der Reformierten
Hinweis des Inserateservice:
Anzeigenschluss für die nächste Ausgabe ist
am Freitag, 6. Mai 2016, 12 Uhr.
Den Inserateservice erreichen Sie telefonisch
unter 044 299 33 20 und per E-Mail:
inserate@brefmagazin.ch
bref Nº 8 — 2016
«Es ist ja nicht so, dass
wir in der besten aller
Gesellschaften leben»
Die Soziologin Sarah Schilliger ist davon überzeugt, dass dank
einem bedinungslosen Grundeinkommen Männer ihr Arbeitspensum reduzieren und sich mehr an der Haus- und Familienarbeit
­beteiligen würden. Gleichzeitig warnt sie davor, dass die Initiative
zu einer neoliberalen Utopie pervertiert werden könnte.
Frau Schilliger, Feministinnen befürch­
ten, dass sich durch ein Grundeinkom­
men Frauen noch stärker in der Fürsor­
ge engagieren. Könnten tatsächlich
grosse feministische Errungenschaften
der letzten dreissig Jahre verloren ge­
hen? Das ist ein Horrorszenario für jene,
die noch geprägt sind von der Hausfrau­
ennorm von vor dreissig bis sechzig Jah­
ren. Damals war eine Forderung der Frau­
enbewegung, dass sich Frauen vermehrt
in die Erwerbsarbeit integrieren und sich
dadurch emanzipieren. Die Realität ist
heute aber eine komplett andere. Für
Frauen ist das Recht auf Erwerbsarbeit
zunehmend zu einer Pflicht zur maxima­
len Erwerbsbeteiligung geworden.
Wer fordert dies im politischen Pro­
zess? Heute wird insbesondere von der
Wirtschaft propagiert, dass Frauen eine
Erwerbsarbeit leisten müssen, um jeden
Preis. Das geht sogar so weit, dass man
sagt: Frauen, die studiert haben, sollen
Strafgebühren bezahlen, wenn sie nach
der Familiengründung keine Erwerbs­
arbeit leisten. Die US-Sozialphilosophin
Nancy Fraser sieht vielmehr die Männer
in der Pflicht. Ihr Verhalten werde dar­
über entscheiden, wie die Verteilung von
Erwerbs- und Fürsorgearbeit in Zukunft
aussehen wird.
Inwiefern? Wenn sich Männer nicht weit­
aus mehr an der Haus- und Familienarbeit
beteiligen, wird es keine geschlechterge­
rechte Gesellschaft geben. Ein Grundein­
kommen könnte die Bedingungen dafür
verbessern: Väter würden ermutigt, ihre
Erwerbstätigkeit zu reduzieren und auch
vermehrt Teilzeit zu arbeiten. Zudem
­wären Frauen finanziell unabhängiger.
Jede Person soll also den Dingen nach­
gehen, die sie erfüllt und mit denen sie
einen Beitrag zur Gesellschaft leisten
kann? Ja. Ich sehe das Grundeinkommen
auch als eine Chance, über traditionelle
Strategien hinauszugehen. Es hat das
­Potenzial, einige Gewissheiten zu hinter­
fragen. So zum Beispiel jene, dass wir am
besten in abgeschlossenen, kleinfami­li­ären Einheiten leben. Vielleicht würden
sich vermehrt Menschen fragen, wie wir
uns gemeinschaftlich organisieren könn­
ten. Heute sehe ich viele Paare mit Kin­
dern, die komplett im Hamsterrad von Job
und Kinderbetreuung gefangen sind.
siven Steuern auf Einkommen und Ver­
mögen. Letzteres hätte einen gerechten
Umverteilungseffekt. Zudem befürchte
ich, dass das Grundeinkommen auch für
eine neoliberale Utopie missbraucht wer­
den könnte, indem die heutigen Sozial­
leistungen durch das Grundeinkommen
vollkommen ersetzt würden.
Wo sehen Sie Schwierigkeiten beim
Grundeinkommen? Die Finanzierung ist
für mich ein zentraler Punkt. Wie soll sie
bewerkstelligt werden? Im Initiativtext
wird über die Art der Finanzierung leider
gar nichts gesagt. Wohl auch, weil man
noch nicht zu viel vorgeben möchte. Diese
Diskussion muss aber sehr ernsthaft und
genau geführt werden, da es viele offene
Fragen bei der Finanzierung zu klären
gilt.
Als Soziologin beobachten Sie, wie und
warum sich Gesellschaften verändern.
Die Einführung eines Grundeinkom­
mens wäre der Start einer länger dau­
ernden Veränderung. Gibt es vergleich­
bare andere Prozesse? Die gibt es.
Beispielsweise die Veränderung bei den
Rollenbildern und Geschlechterstereoty­
pen. Wir sehen, dass diese Veränderung
viel Zeit benötigt. Insbesondere die Ein­
stellungen in unseren Köpfen verändern
sich nicht von heute auf morgen. Die
Emanzipation der Frauen zum Beispiel
und der Aufbau einer geschlechtergerech­
teren Gesellschaft sind noch immer auf
der Tagesordnung, und weiterhin kämpft
die feministische Bewegung dafür. Die
Einführung eines Grundeinkommens
wäre der Startschuss für eine langwierige
Veränderung, eine Art Transformation.
Aber selbst jetzt, wo wir dieses Interview
führen und sich eine Gesellschaft in einem
Entscheidungsprozess befindet, sind wir
alle bereits Teil davon.
Die da wären? Die Frage ist, ob wir das
Grundeinkommen lediglich aus Mehr­
wertsteuern finanzieren oder aus progres­
Veränderungen, die rascher vonstatten
gehen, erwachsen aus Migrationsströ­
men. Die Idee des Grundeinkommens
45
Sarah Schilliger, 36, Bern
46
bref Nº 8 — 2016
ist, dass jeder, der in der Schweiz lebt,
dieses erhält. Also auch Flüchtlinge.
Wie finden Sie das? Das ist eine Knack­
nuss, die unbedingt diskutiert werden
muss. Denn häufig wird in Diskussionen
um das Grundeinkommen nicht näher
darauf eingegangen, wer alles ein Grund­
einkommen erhalten würde. Also alle
rechtmässig ansässigen Menschen? Alle
Staats­bürger? Oder jene, die sich dauer­
haft in einem Land aufhalten? Und was
heisst dauerhaft: nach fünf, nach zwei
Jahren, nach einem Jahr? Wir müssen das
dis­kutieren. Auch um dem Argument von
­rechter Seite entgegenzutreten, dass ein
Grundeinkommen nur den Sozialschma­
rotzer-Tourismus fördert.
Ein Teil der Gesellschaft erhält ein
Grundeinkommen, ein anderer nicht.
Würde das nicht neue Probleme schaf­
fen? Ja. Deshalb muss die Idee des Grund­
einkommens zwingend mit der Frage der
globalen Bewegungsfreiheit verbunden
geführt werden – und langfristig müsste
die Idee transnationalisiert werden. Wird
das Grundeinkommen nur in der Schweiz
eingeführt, werden mit Sicherheit Regeln
aufgestellt, die Zäune zur Folge haben.
Und genau das läuft der Idee eines Grund­
einkommens zuwider.
Bild: lAURENT bURST
An welchen Themen sind Sie als Sozio­
login besonders stark interessiert? Ich
will Ungleichheiten und Machtverhältnis­
se aufspüren. Ausgehend von konkreten
Realitäten und gesellschaftlichen Ausein­
andersetzungen versuche ich, Gesell­
schaftsprozesse zu verstehen und anders
zu denken. Es ist ja nicht so, dass wir be­
reits in der besten aller möglichen Gesell­
schaften leben.
Gibt es da erfolgversprechende Ideen?
Soziale Bewegungen von unten, die selbst
organisiert sind, die neue Wege des Zu­
sammenlebens erproben, finde ich span­
nend. Hier werden konkrete Utopien
­entworfen. Antworten auf derzeitige ge­
sellschaftliche Herausforderungen kön­
nen wir nicht am Schreibtisch erfinden,
sondern nur in konkreten und alltäglichen
sozialen Kämpfen. Ich bin selbst in ver­
schiedenen Bewegungszusammenhängen
engagiert. Politisches Engagement und
wissenschaftliche Arbeit befruchten sich
dabei gegenseitig. Ich will diese Bereiche
auch nicht strikt voneinander trennen. Es
braucht eine engagierte Wissenschaft, die
sich einmischt.
Viele Menschen sind mit dem Status
quo zufrieden und wollen sich nicht
weiter in gesellschaftliche Diskurse ein­
bringen. Ich glaube aber nicht, dass es
einfach am fehlenden Interesse liegt, dass
Menschen sich nicht politisch engagieren.
Damit soziale Bewegungen entstehen,
braucht es mindestens drei Dinge: Res­
sourcen, ein Kollektiv von Menschen und
gemeinsame Perspektiven, die man verfol­
gen will. Ressourcen zu haben ist eine
wichtige Voraussetzung, um überhaupt
befähigt zu werden, sich zu engagieren.
Nicht alle haben diese Ressourcen, insbe­
sondere die nötigen zeitlichen Kapazi­
täten. Viele Menschen sind ganz einfach
damit beschäftigt, ihr Leben einiger­
massen im Griff zu haben. Dann braucht
es ein Kollektiv, in dem man sich bewegen
kann. Für die Entstehung von gesell­
schaftlichen Bewegungen sind soziale
Räume und Möglichkeiten zentral, um
miteinander in einen Austausch zu kom­
men.
Ein Grundeinkommen könnte helfen,
Zeit zu schaffen für vermehrtes Enga­
gement. Absolut. Das Grundeinkommen
schafft für alle Freiräume zum Denken,
Ausprobieren und Handeln. Einige haben
das heute schon, aber anderen wird
das verwehrt, weil sie wegen langer Ar­
beitszeiten und sozialer Verpflichtungen
­wenig Autonomie in ihrer Alltagsgestal­
tung haben. Das Grundeinkommen bietet
die Möglichkeit, sich stärker entlang von
eigenen Fähigkeiten und Interessen zu
entwickeln. Wenn ich Lust habe, mich
weiterzubilden, kann ich das tun. Wenn
ich ­
lieber in der Nachbarschaft einen
Gemeinschaftsgarten anlegen möchte,
­
ebenfalls.
Sarah Schilliger studierte Politikwissenschaft,
Soziologie und Philosophie an der Universität
Zürich. Ihre Doktorarbeit handelt von Frauen
aus Osteuropa, die in der Schweiz als Wander­
arbeiterinnen in der Pflege arbeiten. Heute
ist sie Oberassistentin und Lehrbeauftragte am
Seminar für Soziologie der Universität Basel.
Das Magazin der Reformierten
Erscheint alle zwei Wochen
am Freitag.
bref steht in der Folge von
Kirchenblatt für die reformierte
Schweiz (seit 1844), Der Protestant
(seit 1897), Evangelischer Presse ­dienst EPD (seit 1927) und
Reformiertes Forum/Reformierte
Presse (1986–2015).
Herausgeberin
Reformierte Medien,
Pfingstweidstrasse 10, 8005 Zürich
Geschäftsführung Thomas Gehrig
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bref, Pfingstweidstrasse 10
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Telefon 044 299 33 21
www.brefmagazin.ch
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Publizistische Leitung
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Redaktion
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Andreas Bättig,
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Dieser Text erschien in leicht abgeänderter Form
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