der Freitag | Nr. 40 - Juristische Fakultät
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der Freitag | Nr. 40 - Juristische Fakultät
≫freitag.de/der-turm Die Community rezensiert die Verfilmung des Tellkamp-Romans Echte Kerle Der berühmteste Frauenversteher Amerikas sagt: Ein gleichberechtigter Partner bringt mehr Spaß Alltag S. 25 Generation Gesichtslos Der BolognaProzess hat die Unis stark verschult. Und nun wird über junge Akademiker so laut geklagt wie noch nie Wochenthema S. 6/7 Partner des Guardian 4. Oktober 2012 40. Woche Deutschland 3,60 € Ausland 3,90 € „Sind es nicht wir, die zu lange arbeiten?“ gérald cordonnier Das Mein Meinungsmedium nungsmedium M O N TA G E : D E R F R E I TA G , M AT E R I A L : H E R M A N N B R E D E H O R S T / L A I F, F O T O L I A , D D P ; F O T O ( O B E N ) : F O T O L I A Politik Die Community fragt sich, ob es wirklich die Griechen sind, die umdenken sollten ≫freitag.de/fremdbestimmung Der Lotse will an Bord Wie der Beamte Peer Steinbrück der neue Helmut Schmidt werden will S. 4 /5 Der Kandidat täuscht Kompetenz Der neue Gegenspieler von Kanzlerin Angela Merkel hat die Ursachen der Eurokrise bis heute nicht verstanden ■ Albrecht Müller E in Medienprodukt wird Kanzlerkandidat der SPD. So war es 2009 mit Frank-Walter Steinmeier, so ist es jetzt mit Peer Steinbrück. Wieder eine sichere Bank für Angela Merkel. In einem beachtlichen Teil der Medien – von der Süddeutschen („Warum Steinbrück die beste Wahl ist“) über die Frankfurter Rundschau („Merkels gefährlichster Gegner“) bis zum Kampagnenmedium SpiegelOnline („Die beste Wahl“) – herrscht Zustimmung, Respekt, Jubel. Doch die Ernüchterung wird spätestens am Wahlabend 2013 groß sein. Wer sich bis dahin nicht betrunken machen will, sollte schon heute auf die Fakten schauen. Denn Peer Steinbrück täuscht: Er gibt sich als unabhängig und kritisch gegenüber Banken und Spekulanten – und ist doch einer der ihren. Er gebärdet sich als schnoddrig, aber gradlinig und verantwortungsbewusst – tatsächlich leugnet er Verantwortung. Er wird als guter Wahlkämpfer dargestellt – doch er war es nicht und wird es auch nicht sein. Aber der Reihe nach. Steinbrück ist ein miserabler Makroökonom. Noch im Jahr 2008, als die Signale schon erkennbar auf eine Konjunkturabschwächung hindeuteten, polemisierte er als Finanzminister gegen Konjunkturprogramme. Wenige Wochen später beschloss er sie dann im Kabinett Merkel mit. In seinem dicken Papier vom 26. September mit dem Titel „Vertrauen zurückgewinnen: Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte“ gibt er gleich auf der ersten Seite zu erkennen, dass er den Zusammenhang von Konjunkturbelebung und Schuldenabbau nicht verstanden hat. Er schreibt dort, die „2.000 Milliarden US-Dollar für Konjunkturprogramme“ weltweit seien gleichbedeutend mit neuen Schulden. Er nimmt nicht einmal jetzt, angesichts der Entwicklung in Griechenland und Spanien, die Zusammenhänge wahr: Wenn man die Wirtschaft kaputtspart, dann baut man nicht Schulden ab, sondern auf. Mit Steinbrück als Kanzler oder Vizekanzler werden wir an den Vorurteilen dieser minderbemittelten Ökonomen kleben bleiben. Zulasten aller Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen oder Angst um ihren Arbeitsplatz haben. In seinem Papier taucht auch kein einziger Hinweis darauf auf, dass er die Hauptursache der Euro-Krise verstanden hat: die Auseinanderentwicklung der Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Staaten. Steinbrück sieht die Relevanz der Binnennachfrage nicht und bringt wie Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Götzen Exportweltmeisterschaft Opfer. Banker sind bei Peer Steinbrück gut aufgehoben, SPD-Anhänger dagegen nicht Steinbrück hat als früherer Finanzminister auch die gravierenden Mängel auf den Finanzmärkten mit zu verantworten, für die er in seinem Papier nun wieder Korrekturen vorschlägt. In der Koalitionsvereinbarung 2005 wird der Deregulierung das Wort geredet. Es wird der Ausbau des Verbriefungsmarktes gefordert. Die Finanzmarktaufsicht soll mit Augenmaß vorgehen – also ein Auge zudrücken. Das alles und vieles mehr seien vordringliche Maßnahmen zur Stärkung des „Finanzplatzes Deutschland“. Steinbrück betrieb dieses Geschäft, obwohl damals, zwischen 2005 und 2008, die Krise deutscher Finanzinstitutionen schon erkennbar war. Sie hatten schon im Februar 2003 von Kanzler Gerhard Schröder die Unterstützung für eine sogenannte Bad Bank gefordert. Die 2007 auffliegende Krise der Industriekreditbank und die Blase bei der Hypo Real Estate mussten für die Bankenaufsicht, für die wiederum der Bundesfinanzminister zuständig ist, absehbar gewesen sein. Und jetzt schreibt dieser dafür Verantwortliche in seinem Papier, „aus einem verhältnismäßig kleinen Problem mit US-Immobilienkrediten“ habe „sich eine Finanzund Bankenkrise“ entwickelt. Das ist unglaublich. Das ist der geläufige Versuch, die Entstehung der Finanzkrise auf die USA abzuschieben. Steinbrück ist wie auch Merkel in den Fängen der Finanzwirtschaft. Unter Schwarz-Rot wurde die IKB mit zehn Milliarden Euro aufgefangen. Zehn Milliarden an Steuergeldern für eine lächerliche Bank, die man ohne Folgen für die Gesamtwirtschaft hätte in die Insolvenz gehen lassen können. Im Fall der HRE wurden bereits über 100 Milliarden Euro öffentlicher Gelder aufgewendet, um eine einzige private Bank zu retten. Wer solche Hypotheken auf uns und unsere Jugend lädt, sollte sich in sein Kämmerlein zurückziehen. Die FAZ hat sich bereits treffend geäußert: „Die Taten von früher beruhigen die Banker offenbar mehr als sie Steinbrücks Worte von heute beunruhigen. Vielleicht wählen sie den Mann sogar.“ Die Banker sind bei Steinbrück in der Tat gut aufgehoben, SPD-Anhänger nicht. Das wird einer der Gründe dafür sein, dass Steinbrücks Ergebnis bei der Bundestagswahl 2013 jämmerlich schlecht sein wird. Die SPD wird nämlich nur gewinnen, wenn sie eine wirkliche Alternative zu Angela Merkel und Schwarz-Gelb darstellt und es ihr gelingt, die eigenen Sympathisanten zu mobilisieren. Nur so wird es möglich sein, die feste Verankerung der Kanzlerin bei den meinungsführenden Medien auszugleichen. Steinbrück als Person und Politiker besitzt nichts, was diese Mobilisierung möglich macht. Albrecht Müller machte bis Mitte der neunziger Jahre für die SPD Politik. Er ist heute Herausgeber von nachdenkseiten.de Christina Ujma über den Vatileaks-Prozess Der Kammerdiener des Papstes soll’s gewesen sein? Dan Brown, übernehmen Sie! D er Vatileaks-Prozess ist der vorläufige Höhepunkt eines massiven Skandals, der den notorisch geheimniskrämerischen Papst-Staat seit 2011 aufs kräftigste blamiert. Auf einmal liegen die sorgsam verborgenen Mechanismen der katholisch-politischen Hierarchie offen, denn jede Menge geheimer Dokumente sind von sogenannten verräterischen Raben an Journalisten verscherbelt worden oder erschienen auf der Website Vatileaks.com. Neben viel Belanglosem kam auch Brisantes ans Tageslicht. So soll die Vatikanbank Mafiagelder gewaschen haben, zudem herrschen offenkundig auch beim Papst Vetternwirtschaft und Korruption. Lange konnte man das Leck nicht finden. Dann wurde der Kammerdiener des Papstes als Schuldiger präsentiert, der im Alleingang die Geheimnisse des Vatikans enthüllt haben soll. Zumindest in Italien glauben aber nur wenige, dass der biedere Diener Paolo Gabriele, auf den der Papst ursprünglich große Stücke gehalten haben soll, der alleinige Schuldige ist, zumal die Lecks nach dessen Festnahme nicht sofort gestopft waren. Viele sehen ihn als Sündenbock, als Bauernopfer, das ausgewählt wurde, um die wahren Zusammenhänge zu verschleiern. Die Vatileaks-Story ist eine Geschichte mit vielen Facetten, die unsere Einbildungskraft befeuern: Von der Homestory, die Monsignore Gänswein und den Papst in trauter Harmonie zeigt, bis zum Plot für einen Vatikankrimi reichen die Möglichkeiten. Letzteres ist ein eigenes Genre, hierzuande haben Johanna Alba und Jan Chorin Papstkrimis vorgelegt. Auch im Vatileaks-Fall riecht es nach großer Verschwörung. Von den angebotenen Plots überzeugt allerdings keiner vollkommen, auch die Experten haben sich bisher nicht festlegen wollen. Die ersten, die in Verdacht gerieten, waren natürlich die versprengten Progressiven. Sie stört die absolute Monarchie im Vatikan, ebenso viele der enthüllten Transaktionen. Als Tatverdächtige taugen sie aber nur bedingt, denn sowohl Papst Benedikt wie sein Vorgänger haben dafür gesorgt, dass kein Progressiver in die Nähe geheimer Dokumente kommt. Die Traditionalisten haben da viel eher Zugang, und sie sind auch zahlreicher am Hofe Benedikts vertreten. Allerdings fehlt es ihnen an einem Tatmotiv, denn der Papst ist ihnen ausgesprochen freundlich gesonnen. Bleiben die reinen Machtkämpfe ohne politischen oder theologischen Hintersinn: Da heißt es einerseits, das Ziel sei, Tarcisio Bertone, den Premierminister des Vatikans abzuschießen, der sich viele Feinde beim Missbrauchsskandal machte. Andere sagen, es gehe gegen die zahlreichen Deutschen, die Benedikt installiert habe. Hier sei vor allem sein engster Vertrauter, eben jener Monsignore Georg Gänswein Zielscheibe. Der immer noch recht ansehnliche Privatsekretär entlastet den greisen Papst zunehmend von Tagesaufgaben und entscheidet selber. Das sei dem italienischen Apparat des Vatikans ein Ärgernis. Seit neustem hält der Vatikan wieder dicht. Ob die Wahrheit jemals ans Licht kommen wird, ist unklar. Umso gespannter darf man sein, ob Vatileaks tatsächlich einen Krimi insprieren wird. Müsste es nicht mit dem Teufel zugehen, wenn nicht der Verschwörungsspezialist Dan Brown himself längst Lunte gerochen hätte? Seit der Papst 2005 seinen Bestseller Sakrileg (The Da Vinci Code) verbieten wollte, hat er mit dem Vatikan zumindest eine Rechnung offen. Christina Ujma ist Literaturwissenschaftlerin und schreibt im Freitag regelmäßig über italienische Zustände 4 198389 803605 40 Hegelplatz 1 10117 Berlin PVStk. A04188 Entgelt bezahlt Tagebuch 02 Seite 2 Inhalt der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Sie finden alle Texte auf freitag.de, indem Sie die Headline, ein Stichwort oder den Autoren in der Suche eingeben. Wo vermerkt, finden Sie dazu auch Zusatzmaterial im Internet, also weitere Texte, Audiobeiträge und Videos Die Gewinnende Malu Dreyer soll neue Ministerpräsidentin in Mainz werden. Selbst die Opposition hat kaum etwas an ihr auszusetzen Titelthema Der Lotse will an Bord S. 4/5 Wie der Beamte Peer Steinbrück der neue Helmut Schmidt werden will Politik USA S. 3 Soziale Gerechtigkeit ist im Wahlkampf ein Riesenthema, vor allem, wenn die Sportübertragungen ausfallen Konrad Ege Spanien S. 9 Premier Rajoy hat inzwischen links wie rechts gegen sich. Nun werden auch noch die Separatisten laut Giles Tremnet, The Guardian Zeitgeschichte S. 12 Der Ausgang der Spiegel-Affäre gilt als Beweis für funktionierende Demokratie. Es sei denn, man schaut genauer hin Wolfgang Wippermann Kultur Manifest S. 13 Den Intellektuellen fiel es bisher leicht, auf Brüssel zu schimpfen. Nun beginnen sie, für die europäische Idee zu brennen Steffen Kraft Literatur S. 16 Ist doch egal, welcher Autor auf der Shortlist des Buchpreises steht. Die Auswahl folgt nicht üblichen Kriterien Katrin Schuster Wissen S. 23 Unser IQ ist in den letzten 100 Jahren stark gestiegen. Warum, erklärt der Psychologe James Flynn Ian Tucker, The Guardian Alltag Dazwischen S. 28/29 Ob wir einen Mann oder eine Frau vor uns sehen, ist nur eine Frage des Blicks. Das zeigt die Porträtserie „ErSieEs“ von Yvonne Most Der, die, das S. 30 Prostitution ist in China verboten. Das interessiert ausländische Geschäftsleute wenig. Sex nach dem Deal muss sein Adrian Kummer Grenzstreifen S. 31 Der Berliner Checkpoint Charlie ist nicht nur ein Symbol des Kalten Krieges. Hinter der Kulisse tobt die Schlacht ums Geld Florian Buchmayr A – Z Friseure S. 32 Haare schneiden als Event Leserbriefe, Impressum S. 24 ■■Verena Schmitt-Roschmann D er Legende nach löste schon Malu Dreyers Berufung 2002 im rheinland-pfälzischen Sozialministerium wahre Jubelschreie aus. Das lag womöglich weniger an der SPD-Politikerin selbst, die damals aus dem Mainzer Jugendreferat in die Landespolitik wechselte, als an ihrem Vorgänger Florian Gerster. Denn der galt als ehrgeizig und eitel, sich stets zu Höherem berufen fühlend, und als er dann endlich als Krisenmanager zur Bundesanstalt für Arbeit weggelobt wurde, sollen ihm aus seinem Ministerium nicht nur Segenswünsche hinterhergeeilt sein. Sinnigerweise stürzte Gerster bei der BA nur knapp zwei Jahre später über eine undurchsichtige Affäre um millionenschwere Beraterverträge. Für Malu Dreyer dagegen begann tatsächlich ein Höhenflug – wenn das Bild für eine bodenständige Politikerin überhaupt passt. Es begann jedenfalls eine durchaus ungewöhnliche politische Karriere, die die 51-Jährige nun als Nachfolgerin des angeschlagenen Dauerministerpräsidenten Kurt Beck in die Mainzer Staatskanzlei führen soll. Auch dabei begleitet die Lehrerstochter aus Neustadt an der Weinstraße eine Art euphorisches Wohlwollen. Sozialdemokraten feiern die Juristin, die erst mit 34 Jahren in die SPD eintrat, als „Königin der Herzen“, als kompetent, charmant, volksnah, mit gewinnendem Wesen. Die grüne Koalitionspartnerin Eveline Lemke freut sich: „Ich bin fest überzeugt, sie wird das klasse machen. Sie ist auch eigentlich unser heimlicher Wunschkandidat gewesen.“ Selbst bei der Konkurrenz ist kaum Kritik zu hören. Der sonst so bissigen CDU-Oppositionsführerin Julia Klöckner hat es die Sprache verschlagen. Und der FDP-Sozialpolitiker Heinrich Kolb, der Dreyer aus dem Vermittlungsausschuss in Berlin kennt, räumt ein: „Sie ist einfach eine angenehme Person. Sie weiß, was sie will, aber sie ist nicht ideologisch. Man weiß bei ihr, woran man ist.“ So viel Lob ist selten im politischen Hauen und Stechen, schon gar in Berlin. Vielleicht ist das politische Klima etwas milder im beschaulichen Mainz, wo Kurt Beck 18 Jahre lang als provinzieller Patriarch Furore machte und selbstzufrieden mal mit der FDP, mal mit den Grünen regierte. Vielleicht ziehen auch Dreyers politische Erfolge. Unter Druck geriet sie nur ein einziges Mal, wegen eines Mordes in einem Jugendheim 2003. Nach zehn Jahren Sie studierte erst Theologie, später Jura mit dem Ziel, Arbeitsrichterin zu werden. Stattdessen stieg Malu Dreyer zur Hoffnung der rheinlandpfälzischen SPD auf F o t o : B o r i s R o e s s l e r / d pa Liebe Leserinnen und Leser, warum sollte man als Mann zum Feministen werden? Über diese Frage stolperte ich, als ich vor Kurzem ein Buch des Soziologen Michael Kimmel in der Hand hielt. Kimmel ist der bekannteste Männerforscher der USA. Er hat die akademische Teildisziplin Men’s Studies mitbegründet und zusammen mit Michael Kaufmann den Guy’s Guide to Feminism geschrieben, in dem die Autoren erklären, was es bedeutet, Feminist zu sein. Natürlich hielt ich mich schon vor dem Lesen des Guy’s Guide für einen emanzipierten Mann. Und dass wir in einigen Bereichen weit von gleichen Chancen für Frauen und Männer entfernt sind, ist zweifellos Fakt. Aber auf die Idee, mich selbst als Feministen zu bezeichen, war ich noch nie gekommen. Als ich Kimmel nun in Berlin zum Gespräch traf, erklärte er mir, warum viele Männer sich bei Genderfragen nicht zuständig fühlen. Es liege an der Unsichtbarkeit von Privilegien für die Privilegierten. Sie nehmen sie nicht wahr, weil sie nicht gezwungen sind, darüber nachzudenken. In welcher Situation Kimmel das merkte, und warum man auch als Feminist richtig Spaß haben kann, lesen Sie auf S. 27. Ihr Jan Pfaff Amtszeit kann die Sozialministerin auf eine Arbeitslosenquote von nur 5,1 Prozent verweisen. Dreyer gilt als detailgenau und sachorientiert, offen und entscheidungsfreudig. Und doch geht es hier nicht nur um Konzepte und Programme, die Sympathie gilt vor allem der Person. „Vielleicht ist es diese ungewöhnliche Mischung aus physischer Zerbrechlichkeit und Willensstärke, die ihr diese Aura verleiht“, sagt einer, der Dreyer lange kennt. Die Ministerin leidet seit zwei Jahrzehnten an Multipler Sklerose. 2006, da war sie schon vier Jahre im Amt, machte sie das selbst öffentlich, als man ihre Schwierigkeiten beim Laufen schon erahnte. Zuletzt sah man sie bisweilen im Rollstuhl. Als im Frühjahr die Spekulationen über Becks Nachfolge losgingen, hieß es noch, Dreyer wäre eine fast ideale Kandidatin – wenn nur ihre chronische Krankheit nicht wäre. Nun ist sie es trotzdem geworden. Angespannt sieht sie aus, als sie am Freitagabend langsam am Arm einer Kollegin mit Beck zur Pressekonferenz in der Staatskanzlei schreitet. Der Ministerpräsident selbst wirkt tief deprimiert, dass er mitten in der Affäre um das Pleiteprojekt Nürburgring nun doch das Feld räumen muss – wo er doch im Sommer noch trotzig behauptet hat, er werde bis zur Wahl 2016 bleiben. Er spricht mit schleppender Stimme von seinen Gesundheitsproblemen, von „recht ernsten“ Schwierigkeiten mit der Bauchspeicheldrüse und seinem Selbstverständnis, sein Amt nur ganz oder gar nicht auszufüllen. Dreyer, nur sehr dezent geschminkt, in dunklem Oberteil und Blazer, blickt immer wieder ernst zu Beck herüber. Man nimmt ihr das Mitgefühl ab und auch die Selbsterkenntnis, dass sie sich eine Bürde aufhalst. „Kurt Beck hat für einen Mann recht kleine Füße“, versucht sie einen Scherz. „Aber wenn ich an die Fußstapfen denke, die er hinterlässt, habe ich doch richtig Herzklopfen.“ Und dann kommt sie zum Punkt: „Ich fühle mich gesund, und ich spreche das ganz bewusst an, weil ich nicht möchte, dass meine Gesundheit beziehungsweise meine eingeschränkte Mobilität irgendwann mal ein Tabuthema in diesem Land werden sollte.“ Wenn nötig, werde sie einen Rollstuhl nutzen. Das ist alles. Dreyer trägt ihre Krankheit nicht zu Markte, und sie definiert sich nicht über ihr Handicap. Aber es ist klar, dass sie in einem Maße authentisch wirkt, wie es viele Wähler bei den Florian Gersters der Politik vermissen. „Malu Dreyer hat die Gabe, auf die Menschen einzuwirken und sie mitzunehmen“, und zwar „nicht nur pro forma“, so sagte es der ehemalige SPD-Minister Karl Peter Bruch dem SWR. Dem politischen Motto auf ihrer Webseite „Tolerant handeln. Sozial entscheiden. Selbst bestimmt leben“ folgt sie selbst. Mit ihrem Mann Klaus Jensen, dem Oberbürgermeister von Trier, und dessen drei Kindern lebt Dreyer in einem integrativen Wohnprojekt mit jungen und alten, behinderten und nichtbehinderten Menschen. Trotzdem wäre es wohl falsch anzunehmen, Dreyer sei zu nett für die Politik. Zehn Jahre Gesundheitsministerin, das gehe nicht ohne eine gewisse Härte, sagt einer, der sie in BundLänder-Verhandlungen erlebt hat. „Die würde nicht durchkommen, wenn sie nicht auch beißen könnte.“ Und in diesen oft elend langen Reformrunden ist sie keinesfalls eine der ersten, die zu Boden gehen. „Ich habe sie für ihr Durchhaltevermögen immer bewundert“, sagt der FDP-Politiker Kolb. „Sie ist eine taffe, kämpferische Person.“ Lutz Herden über Benjamin Netanjahus Rettungsanker Iran Wolfgang Heininger über den AKW-Stresstest der EU Die Farbe Rot Alibi-Veranstaltung M it einer Rakete und rotem Filzstift auf weißem Papier hat Israels Premier der UN-Vollversammlung zu verstehen ge geben: Wir haben es zehn vor zwölf. Wird der potenziellen Kernwaffen-Macht Iran nicht Einhalt geboten, ist es irgendwann zu spät. Das passte zu den Roten Linien, die Benjamin Netanjahu zuvor für die Iran-Politik der USA gezogen hatte. Als besäße er die Richtlinien-Kompetenz im Weißen Haus und könnte auf einer Gewaltpflicht gegenüber Teheran bestehen. Ein zweifelhaftes Verhalten. Warum tut sich Netanjahu das an? Schließlich befürwortet der Republikaner Mitt Romney als Präsidentenbewerber einen Militärschlag gegen Iran ohne großes Wenn und Aber. Und Amtsinhaber Barack Obama hat die Formel geprägt, es sind alle Optionen im Spiel, von Verhandlungen über Sanktionen bis zum Krieg. Kaum anzunehmen, dass er plötzlich für einen diplomatischen Ausgleich mit der Islamischen Republik wirbt. Dieser Präsident hat verglichen mit der Bush-Administration lediglich die Rhetorik poliert und auf den Begriff Schurkenstaat verzichtet. Allen Turbulenzen im Nahen und Mittleren Osten zum Trotz bleiben die USA vorerst in zweierlei Hinsicht berechenbar: In der Feindschaft zum Iran, die es ohne dessen Atomprogramm vermutlich genauso gäbe, und in der Tolerierung der Kompromisslosigkeit Israels gegenüber den Palästinensern. Deren Aussichten auf den eigenen Staat sind heute schlechter als zu Zeiten von George Bush, der 2002 wenigstens eine Road Map zur Zweistaatlichkeit zustande brachte. Obama hingegen blieb schuldig, was er in seiner KairoRede 2009 versprochen hatte: Hilfe für das palästinensische Volk, damit es nicht vergeblich auf seinen Staat hofft. Premier Netanjahu darf eigentlich mit der Obama-Regierung zufrieden sein. Weshalb werden ihr Rote Linien aufgezeigt? Es könnte der Tag kommen, an dem ein US-Präsident die Belange seines Landes denen Israels voranstellt, weil ihm die politisch-religiösen Erben des Arabischen Frühlings keine Wahl lassen. Momentan kreist die US-Nahostpolitik in einer Warteschleife. Man muss abwarten, was aus dem zu Zeiten Mubaraks so gefälligen Ägypten unter dem Muslim-Bruder Mursi Redaktion Artikel von Redakteuren und Autoren des Freitag wird. Es lässt sich wenig tun gegen die vom Terror gefütterten, selbstzerstörerische Obsessionen im Irak. Man hat zu erdulden, dass Saudi-Arabien, Ägypten und die Türkei den Iran dabei haben wollen, um als Quartett nach einer Lösung in Syrien zu suchen. Und überhaupt – wie reagieren die Amerikaner, wenn Assads Diktatur einer islamistischen weicht, die einem jüdischen Staat das Existenzrecht bestreitet? Die arabische Welt lässt sich nicht mehr nach Schwarz und Weiß sortieren. Schon vor den Umbrüchen 2011 war das Raster wenig realitätstauglich – heute ist es anachronistisch. Israel muss das beunruhigen. Durch alte Feindbilder schimmern neue Bedrohungen. In Nord afrika sind US-Botschafter nicht mehr sicher. Wo soll das enden? In dieser Lage kann der IranKonflikt für einen israelischen Regierungschef auch ein Rettungsanker sein, damit die strategische Partnerschaft mit den USA nicht davon treibt. Das geht weit über hoch angereichertes Uran aus den Gas zentrifugen von Natans hinaus. Wenn Netanjahu über Rote Linien redet, sind damit auch die Grenzen Israels gemeint. Community Beiträge von Mitgliedern der Freitag-Community F ast alle Atomkraftwerke in Europa sind gegen Naturkatastrophen und technische Störfälle unzureichend gesichert – auch die noch laufenden Meiler in Deutschland. Dies belegt der Sicherheitscheck, den EU-Energiekommissar Günther Oettinger erarbeiten ließ. Wie ernst das ist, wird manchmal verdrängt. Beim AKWStresstest-Simulator im Internet ist es ähnlich wie bei Loriots uraltem Sketch „Wir bauen ein Atomkraftwerk“. Bei einem Fehler macht es „Puff“, Kühe und Bäume fallen um und der Reaktor brennt sich durch den Fußboden. Nur im wirklichen Leben bleibt es eben nicht beim „Puff“, wenn so ein Meiler durchgeht. Tausende sterben unmittelbar oder an den Spätfolgen. Landstriche werden unbewohnbar. Die Folgekosten sind gar nicht zu beziffern. Ein solcher Größter Anzunehmender Unfall (GAU) sollte rein statistisch eigentlich nur alle 35.000 Jahre vorkommen – so rechneten „Experten“ das Risiko klein. Die Unfälle in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima haben diese Statistik aber schon lange ad absurdum geführt. Gelernt haben die Verantwortlichen aus schweren und schwersten Störfällen trotzdem nichts, wie die EU-Prüfung belegt. Bei fast allen Anlagen wurden gravierende Defizite aufgezeigt. Dabei wurde doch bereits nach Tschernobyl 1986 die Nachrüstung unsicherer Kraftwerke beschlossen. Nur ist sie nicht in allen Ländern umgesetzt – eigentlich ein Skandal. Die EU hat zwar festgelegt, welche elektrische Leitfähigkeit Waldhonig besitzen darf, aber in Sachen Atompolitik und -aufsicht agieren die Mitgliedsstaaten weiter nach eigenem Gusto. Auch der nach Fukushima eilig angesetzte „Stresstest“ ist eine Alibi-Veranstaltung. Die darin aufgelisteten Defizite, deren Behebung bis zu 25 Milliarden Euro kosten soll, sind nur die Summe bereits bekannter Fakten. Ein wesentliches Risikoelement, der weltweite Terrorismus, wurde erst gar nicht in die Prüfkriterien aufgenommen. Würde diese Gefahr, etwa durch den gezielten Absturz eines Großflugzeugs auf ein AKW, realistisch bewertet, müssten sämtliche Meiler eher heute als morgen abgeschaltet werden. Wolfgang Heininger kommentierte zuletzt Japans Atomwende Syndication Artikel unserer Syndication-Partner wie zum Beispiel dem Guardian Politik 03 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Feste Betriebsrenten waren früher Teil vieler Tarifverträge. Bei Tarifverhandlungen heute stehen die Renten ganz oben auf der Abschussliste. Im Trend liegen NFL und NHL auch mit Forderungen nach Zugeständnissen selbst bei Profitabilität. Eher unglaubwürdig ist jedoch der Appell, die Schiedsrichter müssten sich veränderten Wirtschaftsbedingungen und der Marktwirtschaft anpassen. Die NFL ist in den USA ausgenommen vom Kartellgesetz: Sie hat mit Marktwirtschaft wenig zu tun. Die Eigentümer konkurrieren nicht gegeneinander, sondern teilen die Profite auf, sprechen sich ab beim Vertragsabschluss mit Neuzugängen und verpflichten sich zu Gehaltsobergrenzen. Am Ende schalteten sich sogar Barack Obama und Mitt Romney in den Tarifstreit ein. Sie drängten auf ein schnelles Ende. Selbst Scott Walker, der republikanische Gouverneur von Wisconsin, sprach sich für die Rückkehr der regulären und gewerkschaftlich organisierten Schiedsrichter aus. Er war entrüstet über die Niederlage der Green Bay Packers, dem Team aus Wisconsin. Gleichzeitig will eben jener Walker in Wisconsin den im öffentlichen Sektor Beschäftigten das Recht auf Gewerkschaften absprechen. Nur Verlierer Foto: J i m M c I sa ac/G e t t y I m ag e s Eis mit Stil? Streik Die US-Eishockey-Liga NHL hat ihre Spieler ausgesperrt, die NFL die Schiedsrichter. Und das mitten im Wahlkampf um die Präsidentschaft ■■Konrad Ege M itt Romney spricht von den 47 Prozent, die ein Schmarotzer-Dasein auf Kosten des Staates führen. Occupy wiederum sagt, 99 Prozent leiden unter einem Prozent der Bevölkerung. Kurz: Soziale Gerechtigkeit ist in den Vereinigten Staaten ein Riesenthema. Sogar dort, wo der Amerikaner bei Bier und Burger den Alltag vergessen möchte – beim Sportschauen – ist harter Arbeitskampf angesagt, denn in der National Hockey League (NHL), der nordamerikanische Eishockey-Profiliga, wird gestreikt. Genauer: Die Tarifverhandlungen zwischen der NHL und der Spielergewerkschaft sind gescheitert. Die Eigentümer der 30 nordamerikanischen Profiteams wollen den Anteil der Spieler von den NHL-Einnahmen – vergangene Saison waren es 3,3 Milliarden Dollar und damit höher als jemals zuvor – von geschätzten 57 Prozent auf 47 Prozent reduzieren. Bereits bestehende Spielerverträge würden aufgelöst. Die Spieler sagten Nein, und die Eigentümer machten die Stadien dicht. Lockout – das heißt, die Teambesitzer schickten ihre Angestellten in die unbezahlten Zwangsferien. Vorbereitungsspiele wurden abgesagt, die Büros der Teams arbeiten auf Sparflamme. Die Florida Panthers haben sogar ihr Maskottchen entlassen – beziehungsweise den Mann, der im Panther-Kostüm die Zuschauer anfeuert. Die arbeitsrechtlichen Zustände in der NHL ist kompliziert: Die Liga darf mit den Spielern Gesamtarbeitsverträge abschließen. Diese Verträge umfassen über 500 Seiten und regeln alles von Verpflegungspauschalen bei Auswärtsspielen, Umzugskosten bei Transfers, Anzahl der Flüge der Lebenspartnerin zwecks Wohnungssuche, maximal erlaubte Trainingszeiten oder Anzahl der Vorbereitungsspiele pro Spieler. Im Kern aber geht es um etwas sehr Kluges: Finanzausgleich zwischen profitablen und defizitären Klubs. Der sogenannte Salary Cap – eine Art Lohnobergrenze – soll verhindern, dass nicht, wie im europäischen Fußball, die reichsten Vereine die besten Spieler mit hohen Salären anlocken können. Denn eine ausgeglichene Liga ist attraktiver für die Fans und für die Spieler, denen dadurch mehrere interessante Arbeitgeber zur Verfügung stehen. Trotz dieser an sich guten Ideen ist das Klima in der NHL vergiftet. Man erinnert sich an den Lockout von 2004, der eine ganze Saison lang dauerte. Eine ganze Saison ohne Eishockey! Die Fans in Nordamerika sind sauer. Die europäischen freuen sich. Warum? Manche NHL-Spieler überbrücken die Zwangspause mit „Gastspielen“ in Europa. Beliebt ist die Schweiz (Joe Thornton und Rick Nash zieht es nach Davos, Star-Center Jason Spezza an den Zürichsee). Viele zieht es aber auch in die Heimat: Jaromir Jágr spielt im tschechischen Kladno, Evgeni Malkin bei Metallurg Magnitogorsk, Pavel Datsuk geht zu ZSKA Moskau und Superstar Alexander Ovechkin zum Stadtkonkurrenten Dynamo Moskau. Unklar ist noch, wo der vermeintlich beste Spieler der NHL hinwechselt: Sidney Crosby. Russland erteilte er eine Absage, die Schweiz macht sich Hoffnungen. Europas Problem mit der NHL Für die Spieler ist die Pause ein Problem. Ovechkin äußerte sich in der Washington Post über den Lockout: „Die Eigentümer spielen nicht Hockey, sie blockieren keine Schüsse, sie schlagen sich nicht, sie kriegen keinen drauf. Sie sitzen nur auf der Tribüne und genießen das Spiel.“ Und sie wollen weniger zahlen. Deshalb ging er nach Russland. Aber so sehr sich die europäischen Fans auf die die Topstars freuen, den Ligen bereiten die temporären Neuzugänge Bauchschmerzen. Vor allem die horrenden Summen für die Versicherung der Löhne sind eine große Belastung; zwischen 2500 und 20.000 Dollar kostet die Versicherung eines Spieler im Monat. Das hat dazu geführt, dass Niklas Bäckström, der finnische Torhüter von Minnesota, nicht zu HIFK Helsinki wechselt, wo er Miteigentümer ist, sondern nach Minsk, das bereit war, seine Versicherung zu decken. Aber auch die russische Liga (KHL) hat Restriktionen eingeführt. Die 20 Klubs dürfen maximal je drei NHL-Spieler zu maximal 65 Prozent ihres NHL-Lohns verpflichten, zwei davon müssen Russen sein. In der schwedischen Eliteserie wiederum sind nur Lockout-Spieler willkommen, die Verträge bis Ende der Saison abschließen, unabhängig von der Dauer des Lockouts. Man will keine Superstars haben, die sich für ein paar Spiele im Glanz sonnen und dann wieder verschwinden, sobald der Lockout in der NHL wieder beendet ist. Auch im Football, dem profitabelsten Profisport in den USA, gab es dieses Jahr einen dramatischen Lockout: Er richtete sich gegen die Schiedsrichter. Die 121 Unparteiischen sollten eine Gehaltsreduzierung hinnehmen. Zudem wollte die NFL die garantierte Altersversorgung durch Zahlungen an Aktienfonds ersetzen. Die Schiedsrichter weigerten sich. Und wurden ausgesperrt. An drei NFL-Spieltagen pfiffen stattdessen Ersatzschiedsrichter, die zuvor nur Spiele in Amateur- und Spaß-Ligen geleitet hatten. Es war kein schöner Anblick. Das Regelwerk der NFL ist komplex. Die Männer (und erstmals eine Frau!) in den schwarz-weiß gestreiften Hemden verloren häufig den Überblick. War das nun ein Foul oder nicht? Ein Touchdown oder nicht? Regelverstöße und Gewalt nahmen zu. Dem Quarterback der Dallas Cowboys, Matt Schaub, wurde beim Zusammenstoß mit einem Verteidiger der Denver Broncos ein Stück vom Ohr abgerissen. Das Spiel der Washington Redskins gegen die Cincinnati Bengals endete im Chaos beim Streit um verbleibende Spielsekunden und einen wutentbrannt auf das Feld stürmenden Coach. Ausgesprochen unschön war die Partie Green Bay Packers gegen Seattle Seahawks. Mit einem umstrittenen Touchdown in letzter Sekunde gewann Seattle 14 : 12. Die Aussperrung der Referees ist schwer zu erklären. Angeblich ging es um einen Streitwert von gerade eben drei Millionen Dollar. Peanuts gemessen am Umsatz der Liga. Die NFL hat im Vorjahr rund neun Milliarden Dollar eingenommen. Ein Schiedsrichter verdient im Schnitt 8.000 Dollar pro Spiel. Die Eigentümer sind Multimillionäre oder gar Milliardäre wie Terry Jones von den Dallas Cowboys, Paul Allen von den Seattle Seahawks und Dan Snyder von den Washington Redskins. 15 der 32 Besitzer stehen auf der „Forbes Liste der 400 reichsten Amerikaner“. Schwere Gehirnschäden Diesen Eigentümern – die Mehrzahl bekannt als stramm konservativ – geht es bei der Aussperrung der Schiedsrichter offenbar ums Prinzip. Sie benehmen sich wie das sprichwörtliche eine Prozent. Großer Konfliktpunkt war offenbar die Altersversorgung, denn bisher finanzierten die Eigentümer eine Rentenversicherung für die Unparteiischen, die zu festen Rentenzahlungen verpflichtete. Dazu erläuterte NFL-Commissioner Goodell in der Huffington Post, das könne nicht so weitergehen, in den USA sei diese Art der Altersversorgung am Verschwinden. Da hat er recht. Die Krise der Eishockey-Liga NHL trifft alle: Die FloridaPanthers haben sogar ihr Maskottchen entlassen Die Erleichterung bei Coaches, Spielern und Fans war schließlich groß, als es letzte Woche zu einer Einigung kam. Der Druck und die Unzufriedenheit der Zuschauer dürfte es der Vereinigung der NFL-Schiedsrichter (NFLRA) in den Verhandlungen mit der Liga leichter gemacht haben, ihre Positionen durchzusetzen. Im neuen, auf acht Jahre angelegten Vertrag erhalten die Schiedsrichter höhere Löhne und bessere Renten. Ihre Löhne sollen von derzeit 149.000 Dollar auf 173.000 Dollar im nächsten Jahr und schließlich auf bis zu 205.000 Dollar im Jahr 2019 steigen. Manche Schiedsrichter sollen ab nächstem Jahr zudem als Vollzeitkräfte arbeiten können. Aber damit sind noch lange nicht alle Probleme der NFL gelöst: Immer mehr wissenschaftliche Studien können belegen, dass Footballspieler beim gewaltsamen Zusammenstoß langfristig schwere Gehirnschäden davontragen mit alzheimerartigen Symptomen. Bis vor wenigen Jahren hat die NFL das stets kleingeredet. Wer auf dem Spielfeld umgehauen wurde und k.o. ging, der musste sich anschließend nur mal kurz hinsetzen, dann ging es weiter. Die organisierte Gewalt der modernen Gladiatoren auf dem Rasen hat die NFL groß gemacht. Heute wird der Zusammenhang von Football und Gehirnschäden ernster genommen. Die Helme wurden verbessert und das regelwerk verändert, um Kopf-gegen-Kopf-Kollisionen – eine der spektakulärsten, aber eben auch gefährlichsten Situationen im Football – zu vermeiden. Mehr als 3.000 Ex-Spieler haben die NFL aufgrund von Spätschäden verklagt. Das könnte selbst einer neun Milliarden Dollar schweren Industrie schwer zu schaffen machen. Auch wegen der Nachwuchs- und Versicherungsfrage: NFL-Spieler kommen aus den Football-Ligen der Colleges. Und die haben keine finanziellen Reserven für Zivilklagen und eskalierende Versicherungsprämien. Und wie geht es weiter beim Eishockey? Es gibt zwei Interessentengruppen, die in den letzten sieben Jahren von der NHL profitiert haben. Zum einen die Spieler, die durchschnittlich 2,4 Millionen Dollar pro Jahr verdienen. Und zum anderen die oberen zehn Prozent der NHL-Besitzer, die aufgrund der Lohnobergrenze für Spieler jetzt Millionen in die eigene Tasche stecken konnten. Wer aber profitiert vom diesjährigen Lockout? Wenig wird ruchbar über die Gespräche mit der Spielergewerkschaft. Die Eigentümer und die Spieler seien weit entfernt voneinander, heißt es nur. Schon jetzt ist absehbar, dass es am Ende wohl vier Verlierer geben wird: 1. Die Besitzer – denn ohne Eishockeyspiele hat der Verein auch keine Einnahmen. 2. Die Spieler – besonders jene, die weder in Europa überwintern, noch ein hohes Gehalt haben. 3. Die Nebenverdiener – die Eishockey-Liga ist ein gigantisches Unternehmen, an dem viele kleinen Betriebe mitverdienen. Keine Spiele in der NHL bedeutet große Verluste für die Bars im Umfeld, für die Hot-Dog-Verkäufer, für die Ordner und Ticket-Verkäufer. 4. Die Fans – denn so sehr man sich in Europa über die Stars freut; es ist ein bisschen wie die Vorrunde beim DFB-Pokal schauen, wenn Bundesligisten Hobbykicker 14:0 abfertigen, aber auch mal straucheln. Nett anzusehen, aber irgendwann freut man sich wieder auf echte Duelle. Konrad Ege hatte zuletzt die schwindenden Chancen der Republikaner im US-Wahlkampf kommentiert 04 Titelthema der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Der Lotse will an Bord Wie der Beamte Peer Steinbrück der neue Helmut Schmidt werden will Nur einer wird gewinnen Unter vielen Ein Kandidat wird dann Kanzler, wenn er den Zeitgeist verkörpert: Peer Steinbrück will die Hartz-Reformen vergessen machen, indem er die Finanzmärkte kontrolliert ■■Georg Fülberth I m Herbst 2011 durfte gelacht werden. Ein Buch-Cover zeigte den Altkanzler Schmidt und den Abgeordneten Steinbrück vor einem falsch aufgestellten Schachbrett. Im Inneren des Bandes redeten sich beide mit „Helmut“ und „Peer“ und per Sie an und bestätigten einander, wobei der Jüngere den Älteren verhalten anbetete und dieser ihn als seinen politischen Erben empfahl. Das wirkte peinlich. Aufmerksame Beobachter wiesen darauf hin, dass dieses Arrangement Teil einer Kampagne sein könnte, vermuteten dahinter aber eher eine pfiffige Geschäftsidee der Zeit, vielleicht auch der Holtzbrinck-Verlagsgruppe oder von Hoffmann und Campe. Danach wurde das Marketing im Innenleben der SPD kleingehäckselt. Schmidts Eleve erschien als einer, der zu früh gestartet und dann in einer Troika gelandet war. Jetzt aber ist er nominiert, und es fragt sich, ob er immer noch der kleine Gernegroß am Schachbrett oder jetzt ernst zu nehmen ist und Chancen gegen die amtierende Kanzlerin hat? Dies soll hier zum Anlass genommen werden, die lange Reihe früherer Oppositionspolitiker, die gegen Amtsinhaber antraten, Revue passieren zu lassen. Sie zerfallen in zwei Gruppen: Zählkandidaten oder gefährliche Herausforderer. Dabei mag das persönliche Format der Bewerber zwar nicht völlig belanglos sein, ausschlaggebend aber ist es nicht. Denn wichtiger als Personen und Events sind gesellschaftliche Grund-Strömungen, die von den Kandidaten genutzt werden können. Die Frage lautet dann: Was hat der eine Kandidat, das der andere nicht hat? Im Duell zwischen Konrad Adenauer und Kurt Schumacher im Jahr 1949 verkörperte der CDU-Bewerber ein Projekt, das als zukunftsträchtig wahrgenommen wurde: Westintegration, Kampf gegen den Kommunismus an der Seite der stärksten Militär- und Wirtschaftsmacht der Erde. Marshallplan und D-Mark wirkten als Vorentscheidungen zu seinen Gunsten nach. Er gewann. 1953 und 1957 war Erich Ollenhauer nur noch ein Zählkandidat der SPD, denn Adenauer hatte jetzt auch noch den dauerhaften Wirtschaftsaufschwung auf seiner Seite. Adenauer, Brandt, Schmidt … Vier Jahre später aber, im Jahr 1961, verkörperte Willy Brandt ein neues Projekt: Flexibilisierung der Außenpolitik (auch zur Öffnung von Märkten im Osten), Modernisierung der Infrastruktur, Erschließung von Begabungsreserven. Dieses Vorhaben trug ihn dann nicht sofort, auch nicht vier Jahre, sondern erst acht Jahre später ins Amt. So lange die Reformagenda noch mitten im Kampf stand, konnten die Christdemokraten Rainer Barzel (1972) und Helmut Kohl (1976) als Zählkandidaten zurückgelassen werden, mochte die Dynamik der Wahlkämpfe sie auch zeitweilig als nicht völlig aussichtslos dastehen lassen. Mit Franz Josef Strauß war das 1980 anders. Sein Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ nahm ein Stereotyp der AdenauerZeit wieder auf, transportierte aber zugleich die wirtschaftspolitische Botschaft von Margaret Thatcher. Demnach galt der Sozialstaat als Zwangsanstalt und die Entfesselung der Märkte als großes Durch atmen. Durch die Bresche, die Strauß damit geschlagen hatte, zog Helmut Kohl zwei Jahre später ins Kanzleramt. Den Klartext zur von ihm proklamierten „geistig-moralischen Wende“ lieferte das marktradikale Lambsdorff-Papier. Gegen Helmut Schmidt, der dazu nicht bereit war und dem seine Partei auf einem solchen Weg damals auch nicht gefolgt wäre, wurde Kohl der Mann der Stunde. Anzeige www.leibniz-gemeinschaft.de 81762 | Deutschland: 3,00 EUR 0 EUR tschland: 3,0 81762 | Deu nd: 3,00 EUR 81762 | Deutschla 2/2012 2/2012 Le ibn iz- Jo ur na l u rn a l l L e ib n iz -J o Le ib ni z- Jo ur na 2/2012 Wasser hung unter r: Klimaforsc Seelabo Seelabor: Klimaforschu er Wasser und er unt ng unter Wasser Teu Teuer und aforschung LeibnizSeelabor:s-Klim ule Teue Stipendiat rstenHerrkund Herk Ge z- mt bni be ulesnim nizLei erLeib Ind aufga aufg esabe Herkul rn t wir s Ko end Stipe affen aufiat Stip ndia Gene Wie sch Wie e schaff en e? wir aufgab Ger end mt iew nim r Inder Inde nimmsten Energ t Das Magazin der Leib niz-Gemeinschaft aft Gemeinsch der LeibnizDas Magazinder Leibniz-Gemeinschaft Das Magazin die dieffEnerg en wiriewende? Wie scha die Energiewende? Gerst n Korn enaufs Kor Gene Gene aufs Unserseere n re WirtsUcUnse h enn isn e w s t a ft f s a w e e h is s i c e e s WWirirtstchaftsw en pfe hinter d Köter Die Köpfe Diehin n de sen n de o er gn nt hi ro enkturp eKKö Dink ju onpf Konju tur pro n gn se ose no n og pr ur kt Konjun Das Leibniz-Journal. Jetzt für 3 Euro an Flughäfen und Bahnhöfen. Was bei aller Aufregung nicht vergessen werden darf: Nun steht uns ein langer Wahlkampf bevor, denn gewählt wird ja … Aber er schwächelte in den Folgejahren immer mehr, da er aus Angst vor Stimmenverlusten nicht nur auf die Wirtschaftsführer, sondern zwischendurch auch auf den Sozialpolitiker Norbert Blüm hörte. Wohl deshalb ließ Oskar Lafontaine seit dem Jahr 1988 einen Zukunftsentwurf vorbereiten: den sozialökologischen Umbau. Wir wissen nicht, was ohne Mauerfall und Messer-Attacke daraus geworden wäre. Aber sein Konzept widersprach dem – sagen wir es so – Lebensgefühl einer neuen Wirtschaftsgeneration: flotte Renditen an den „Märkten“ statt nachhaltiger Sanierung der Grundlagen der kapitalistischen Ordnung durch gut bezahlte Arbeit und Schonung der natürlichen Ressourcen. Es ist schwer vorstellbar, dass sich Lafontaine als Kanzler schließlich gegen diesen Trend hätte durchsetzen können. Das nationale Groß ereignis des Mauerfalls ließ ihn bei der Wahl von 1990 untergehen und wirkte sich auch noch vier Jahre später zu Kohls Gunsten aus. Rudolf Scharping war mal wieder nur ein Routinegegner, ein klassischer Zählkandidat Helmut Kohls langjährige Förderer aber – unter ihnen dürften sich auch diejenigen befunden haben, deren Namen er in der Schwarzgeld-Affäre von 1999 verschwieg – wurden mit seiner eher hinhaltenden Wirtschafts- und Sozialpolitik immer unzufriedener, ablesbar war das an den Kommentaren der von ihnen gewiss nicht unbeeinflussten Mainstream-Medien. Gerhard Schröder nun, der sich gern als „der Genosse der Bosse“ porträtieren ließ, stellte jene Entschlossenheit dar, die der amtierende Kanzler vermissen ließ. Als Kandidat des Jahres 1998 präsentierte er den Unternehmer Jost Stollmann als seinen Wunsch-Wirtschaftsminister. Und Oskar Lafontaine warb nach links. Als der nach gewonnener Wahl aber Jost Stollmann verhinderte und stattdessen die Bundesbank und die Börsen herausforderte, wurde Gerhard Schröder, nun Kanzler, in den großen Printmedien abgemahnt. Die Bundesrepublik, so kolportierte man dort, werde zum Gewerkschaftsstaat, vielleicht sei der neue Kanzler auch nicht besser als der alte. Erst nach Oskar Lafontaines Rücktritt ist Gerhard Schröder dann wieder zum Hoffnungsträger derer geworden, die an seinem Vorgänger zuletzt verzweifelt waren – was wiederum im Jahr 2002 schlecht für Edmund Stoiber war. Darauf betätigte sich Schröder, der Wiedergewählte, als Vollstrecker des 20 Jahre alten Lambsdorff-Papiers – ab März 2003 hieß es Agenda 2010. Allerdings drohte die Sozialdemokratie an diesen neuen Gesetzen, der Teilprivatisierung der sozialen Sicherungssysteme und der Senkung des Spitzensat- zes der Einkommenssteuer von ehemals 53 Prozent auf 42 zu zerbrechen. So erhielt Angela Merkel, die kein Kontrastprogramm, sondern nur ein Kraftwort – „durchregieren!“ – anzubieten hatte, 2005 ihre Gelegenheit. 2000 war die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall und anderen kapitalistischen Interessenverbänden gegründet worden. Mit der Kanzlerin war diese Initiative nicht durchgehend zufrieden, sie erschien ihr als zu kompromissbereit. Ihre Chance beruhte auf der Hoffnung, dass die FDP 2009 irre gut abschneiden werde, sodass mit vier Jahren Verspätung doch noch marktradikal durchregiert werden könne. Frank-Walter Steinmeier wirkte daneben nur noch als ein Schröder-Imitator und Statist. Nun also Peer Steinbrück, der – unabhängig von seiner Fortüne – ein aussichtsreiches Programm hat: die Rettung der Beute, die mit der Agenda 2010 und der Rente mit 67 gemacht wurde, durch Kontrolle der Finanzmärkte. Das ist kein Widerspruch. Das Feuilleton wird ihn bejubeln. Steinbrück muss gar nicht viel tun Als die FDP 2009 ihr Rekordergebnis erzielte, waren die Voraussetzungen für eine Realisierung ihrer Verheißungen – noch weniger Steuern und mehr Deregulierung – aufgrund der Krise des Vorjahres schon entfallen. Das wurde allerdings erst mit den Bankenrettungen der Folgezeit deutlich. Zugleich war klar: Die Entfesselung der Finanzmärkte – beginnend mit der Aufhebung der festen Wechselkurse 1973 und dem „Big Bang“ an der Londoner Börse 1986 – gefährdet auf Dauer die Stabilität des gesamten Wirtschaftssystems. Für eine Teilreform steht nun Peer Steinbrück bereit. Die hohen Renditen, die bislang beim Zocken erzielt wurden, müssen nun eben anderwärts hereingeholt werden: durch weitere Senkung der Lohnstückkosten und der Sozialabgaben, beides günstig für den Export. Dass Steinbrück ein Schröder-Mann ist, wird ihm dabei nicht scha- den. Der Ex-Kanzler und sein Finanzminister Hans Eichel haben vor Kurzem eine Rechtfertigungsoffensive mit verteilten Rollen gestartet. Schröder: Dank der Agenda 2010 stehe Deutschland derzeit gut da. Eichel: Ja, er habe den Finanzmarkt auch in Deutschland dereguliert, aber CDU/CSU hätten noch viel mehr verlangt – er sei also das kleinere Übel gewesen. Kohl, Merkel … Steinbrück? Vor Monaten war aus dem linken Flügel zumindest in der Provinz noch da und dort die Drohung zu hören: Für einen Kandidaten Steinbrück werde man nicht in den Wahlkampf ziehen. Das wird sich legen, denn die Spitzenvertreter dieser Richtung haben schon recht deutlich Einverständnis signalisiert. Hier findet man: Eine siegreiche SPD mit einem auch von vielen Unternehmern geschätzten Kandidaten ist besser als das Verbleiben in der Opposition. Man wird sogar inhaltlich Gefallen an Steinbrück finden: wegen seines Versprechens, die Finanzmärkte bändigen zu wollen. Dies ist ja das Mantra all derer – innerhalb und außerhalb der SPD – die sich der Linken zurechnen. Die antikapitalistische Rhetorik der Feuilletons, die seit Jahren im Schwang ist, ja sogar die Demonstrationen gegen die Welt der Banken – sie werden Steinbrücks Wahlkampf beflügeln, ohne dass er ihren radikaleren Wortführern das geringste Zugeständnis machen muss. Weil: Der frisch gekürte SPD-Kanzlerkandidat gehört der IG Bergbau, Chemie, Energie an. Die ist gegen eine umverteilende Steuer- und Abgabenpolitik, die IG Metall letztlich auch. Mit diesen beiden stark an der Ausfuhr orientierten Gewerkschaften wird Steinbrück keine Schwierigkeiten haben. Und: Indem er eine Ampelkoalition nicht völlig ausschließt, ermutigt er die Sponsoren der FDP. Es rentiert sich wieder, in diese so oft totgesagte Partei zu investieren. Dass die SPD sich Steinbrück leisten zu können meint, zeigt, dass sie keine Angst vor der Linkspartei mehr hat. Ob er im nächsten Jahr wirklich Kanzler wird, ist nicht in erster Linie wichtig: Der von ihm vorgeschlagene leichte Richtungswechsel in der Wirtschaftspolitik kann auch von anderen realisiert werden, vielleicht sogar von Angela Merkel. Falls Steinbrück scheitern sollte, mag ihm eine Zeile der Ballade „Tord Foleson“, die in der alten Arbeiterbewegung gern gesungen wurde, Trost spenden: „Das Banner kann stehen, wenn der Mann auch fällt.“ Georg Fülberth schrieb zuletzt über die geistig-moralische Wende des Jahres 1982 Titelthema 05 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 … erst irgendwann im September 2013. Bis dahin kann noch die eine oder andere Partie Schach gespielt werden Verbotene Liebe Allein Eigentlich sind sich SPD und Linke in vielen Punkten einig. Dennoch wird sich Peer Steinbrück kaum auf Kipping & Co. zubewegen, der Hanseat denkt in dieser Frage ideologisch ■■Benjamin von Brackel F ür Peer Steinbrück hat sie nur einen Satz übrig. Es ist kurz nach 12 Uhr an diesem Montag, Katja Kipping steht zusammen mit ihrem Co-Parteivorsitzenden Bernd Riexinger auf einer Bühne vor dem Kanzleramt. „Guten Morgen“, begrüßt die Linken-Chefin die etwa drei Dutzend Senioren, die ihr zuhören, wie sie der Regierung Betrug vorwirft und eine Angleichung der Renten in Ost und West fordert. Die SPD sei in der Sache kaum besser, sagt Kipping. „Die hat ja jetzt auch einen Kanzlerkandidaten – oder soll ich sagen: Vizekanzlerkandidaten?“ Eine kleine Spitze, mehr nicht. Eigentlich hätte Kipping allen Grund, beleidigt zu sein. Sie hat es geschafft, ihre Partei dazu zu bringen, sich für eine Regierungsbeteiligung im Bund zu öffnen und die Bedingungen dafür auf ein Maß herunterzuschrauben, das Verhandlungen nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ein riskantes Unterfangen, zumal die Linke an dieser Frage auf ihrem Parteitag in Göttingen noch fast zerbrochen wäre. Gedankt wurde Kipping das aber nicht: Steinbrück war noch nicht mal offiziell als Kandidat bekanntgegeben worden, da hatte er schon eine Koalition mit der Linken ausgeschlossen. Und das, obwohl sich auch die SPD in ihren Oppositionsjahren nach links bewegt hat. Nach und nach hat die Partei ihre marktfreundlichen Positionen relativiert, sich für die Vermögenssteuer und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes ausgesprochen, für Mindestlohn, Transaktionssteuer und nun für eine Reform der Rente, auch wenn die genaue Ausgestaltung noch aussteht. Kein Politikwechsel Noch nie waren sich SPD und Linke so nah wie heute – zumindest was die Inhalte angeht. Und trotzdem ist ein Politikwechsel nach links in weite Ferne gerückt. Das hat vor allem mit dem Kandidaten Peer Steinbrück zu tun. Seine persönliche Ablehnung resultiert aus seiner Zeit als Referent an der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, wie sein Biograf Daniel Goffart schreibt. Damals besuchte Steinbrück auch das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen. Die Eindrücke festigten sein Bild der DDR als ein System, in dem die Menschenwürde verachtet wird. Seitdem gehe er gegen jeden Versuch von „Sozialismusverklärung und DDRNostalgie“ an. Die Linke als normale Partei zu betrachten, die 22 Jahre nach der Wiedervereinigung ihre Vergangenheit in großen Teilen kritisch betrachtet, fällt ihm schwer. Wichtiger noch dürfte ein anderer Punkt sein: Steinbrück und die Linke trennen Gräben in der ideologischen Grundausrichtung. Steinbrück fährt trotz der Beschlüsse seiner Partei einen eigenen Kurs, verteidigt die Agenda 2010 und lehnt nach wie vor eine Vermögenssteuer ab, genau wie die Forderung der Parteilinken, das Rentenniveau nicht weiter zu senken. Dahinter steckt seine Überzeugung, dass sich die Partei stärker um Aufstiegswillige kümmern muss, um Mittelständler, Existenzgründer und Facharbeiter. Die SPD sieht er weniger als Umverteilungs- denn als Wertschöpfungspartei. Klar, dass er die Linke als Gegner sieht. Was heißt das nun für die Linke selbst? Muss Kipping angesichts der neuen Situation nicht befürchten, dass die alten Kämpfe in der Partei entlang der zwei Lager wie- Sein Aufstieg zum Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück hat in seiner politischen Karriere einige Niederlagen eingesteckt – und er hat sich noch nie als Spitzenkandidat bei einer Wahl durchgesetzt. Trotzdem führt er nun die SPD in den Bundestagswahlkampf 2013. Seine politischen Lehrjahre verbringt der Hamburger in den Büros bedeutender Sozialdemo kraten. Er arbeitet im Kanzleramt unter Helmut Schmidt, 1986 leitet er das Büro von NRW-Ministerpräsident Johannes Rau. In SchleswigHolstein geht er 1990 in die Regierung, erst als Staatssekretär, dann als Minister. 1998 wechselt Steinbrück nach NordrheinWestfalen. Dort wird er zunächst Wirtschaftsminister, dann Finanzminister, 2002 schließlich Ministerpräsident des Landes. Doch sein steiler Aufstieg bekommt im Juni 2005 einen ersten großen Dämpfer: Bei der Kandidatur zur Wiederwahl in Nordrhein-Westfalen steckt er mit der SPD eine krachende Niederlage ein – der Anfang vom Ende von Rot-Grün auch im Bund. Letztlich schadet das Steinbrücks Karriere aber kaum. Ein halbes Jahr später steigt er zum Bundesfinanzminister in der Großen Koalition auf. In der SPD wird er Vizeparteichef. Nach der Niederlage der SPD bei der Bundestagswahl 2009 zieht sich Steinbrück aus der ersten Reihe der Bundespolitik zurück. Er gibt alle Parteiämter auf und behält nur sein Bundestagsmandat. Er wolle sich nun mehr um seine Familie kümmern, sagt er. Die freie Zeit nutzt er, um ein Buch über die Finanzund Wirtschaftskrise zu schreiben: „Unter‘m Strich“. Damit tourt er durch die Republik. Es juckt ihn, ins Rampenlicht zurückzukehren. Als gefragter Redner streicht er üppige Honorare ein – auch von Banken, die ja eigentlich stärker reguliert werden sollen. Dennoch gilt Steinbrück als wichtigster Finanzfachmann seiner Partei. In Umfragen bleibt der ehemalige Bundesminister, der sich in der Krise neben Kanzlerin Angela Merkel profiliert hat, einer der beliebtesten Politiker der SPD. Als solchen braucht ihn seine Partei. Im Juli 2011 wird er Mitglied der sogenannten Troika mit dem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel und Fraktionschef Steinmeier. Im Oktober vor einem Jahr ruft ihn dann Altkanzler Helmut Schmidt quasi im Alleingang zum Kanzlerkandidaten aus: „Er kann regieren“, sagt Schmidt im Spiegel über Steinbrück. Die SPD nimmt Steinbrück die Inszenierung zunächst krumm. Auf dem Parteitag Ende 2011 schlägt ihm Unmut entgegen, und er zieht sich etwas aus dem Rampenlicht zurück. Erst nach einer Kräfteverschiebung in der Troika – Gabriel rechnet sich wenig Chancen aus und Steinmeier zögert – wird im Spätsommer deutlich, dass alles auf den 65-Jährigen zuläuft. In einer überstürzt angesetzten Pressekonferenz präsentieren ihn Gabriel und Steinmeier als Kanzlerkandidaten. bvb/tt In Wahrheit aber ist der neue Kandidat ein willkommener Gegner für die Linkspartei Deswegen sei sie bereit, auch unter einem Kanzler Steinbrück eine rot-rot-grüne Regierung zu bilden. Entscheidend sei nicht der Kanzlerkandidat, sondern das Programm. Und hier sehe sie Schnittmengen. Gleichzeitig forderte sie die SPD auf, sich von „kindischen Abgrenzungsritualen“ zu lösen. Von ihrer Partei bekommt sie dafür Unterstützung – keine Selbstverständlichkeit nach den heftigen Debatten vor ein paar Monaten. „Wir machen das ja nicht zum Null-Tarif“, sagt Kipping. „Nicht als Andienerei, sondern als nach vorne gerichtetes Reformprogramm.“ Selbst von Sahra Wagenknecht, der Vizechefin der Linken, sind neue Töne zu hören: „Wenn die Inhalte stimmen – etwa die Wiederherstellung der gesetzlichen Rente, Verbot von Leiharbeit, ein Mindestlohn von zehn Euro und eine Vermögenssteuer – dann werden wir uns nicht verweigern.“ Aber, schränkt sie ein, „Steinbrück hat sich ja bereits festgelegt, dass er die Banken lieber gemeinsam mit der FDP regulieren will.“ Auch Gerhard Schröder sei 1998 mit einem relativ linken Wahlkprogramm Kanzler geworden, erinnert Wagenknecht. Steinbrück, der Schröder als Vorbild für seinen Wahlkampf bezeichnet hatte, könnte einen ähnlichen Weg einschlagen. Der Schachzug ist wohl durchdacht: Indem die Linke sich der SPD anbietet, wirft sie das Licht auf die Kluft zwischen Steinbrück und seiner Partei. Will die SPD ihr linkes Programm ernst nehmen, dann muss sie dem Wähler erklären, warum ihr Kanzlerkandidat eine Koalition mit der Linken ausschließt, nicht aber eine mit der FDP. Wahlkampfthema Rente Im Wahlkampf könnte die Linke von dieser Ungereimheit profitieren. Kein Wunder, dass die Parteispitze nun einen besonderen Schwerpunkt setzt: „Die Linke wird die Rente zum zentralen Thema des Wahlkampfs machen“, verkündete Bernd Riexinger auf der Veranstaltung vor dem Kanzleramt. „Große Teile der zukünftigen Generation werden eine Rente kriegen, von der sie nicht leben können.“ Zur Gegenfinanzierung des Parteimodells für höhere Altersbezügen will er paritätische Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Linke hat das Thema auch gewählt, um daran – für den Wähler sichtbar – zu testen, wie ernst es die SPD mit „sozialer Politik“ meint. Gerade streitet diese über ihr Konzept: Die Parteilinke kämpft gegen das Ansinnen Steinbrücks, das Rentenniveau auf 43 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns zu senken, wie es 2004 unter Schröder beschlossen wurde. Steinbrück wisse ja nicht mal, ob er Rentnern steigende oder sinkende Renten versprechen könne, stichelte Kipping jüngst in einem Interview im Hamburger Abendblatt. Denn trotz aller Avancen und der Betonung auf die Schnittmengen beider Parteien in den Programmen ist der Kanzlerkandidat auch ein willkommener Gegner. „Steinbrück ist Programm: Er steht zur Agenda 2010 und damit für Niedriglöhne und Armutsrenten, er steht in keiner Weise für einen Politikwechsel“, sagt Wagenknecht. Sollte auch Steinbrück für die SPD eine Wahlniederlage einfahren, hoffe sie darauf, dass in dem Fall jemand aus dem linken Parteiflügel an die Spitze komme. Neben der Bühne spricht auch Kipping sich Mut zu. Eine Gefahr will sie nicht darin erkennen, dass mit der Festlegung auf Steinbrück die Linke auf lange Sicht ohne Machtperpektive dastehen könnte. „Steinbrücks politische Halbwertszeit wird möglicherweise sehr kurz sein – soviel wie er ausgeschlossen hat“, meint Kipping. Denn nicht nur gegen eine Koalition mit der Linken hat sich der Kandidat verwahrt. Er weist es auch weit von sich, in einer großen Koalition nur Minister zu werden. Anzeige Mehr Berlin geht nicht: Die Berliner Zeitung APP für Ihr iPad! spreis: hrung zum Einfü monatl. nur 4 13,99 Ihre Vorteile: • schon am Vorabend auf dem iPad • multimediale Zusatzinhalte Einfach APP laden unter: www.berliner-zeitung.de/app Apple, the Apple Logo and iPad are Trademarks of Apple Inc., registrated in the U.S. and other countries. Appstore and AppleCare are Service marks of Apple Inc. APP-Zugang endet automatisch. F o t o S : F e l i x H e y d e r / D PA , B E A R B EIT U NG : d e r F r e i ta g der aufflammen? Muss sie nicht gar einsehen, dass es nichts bringe, sich auf die SPD zuzubewegen? Muss sie sich damit zufrieden geben, dass die Linke eine Protestpartei ist – und diejenigen, die auf Frontalopposition und Systemwechsel setzen, am Ende doch Recht haben? Kipping wählt den umgekehrten Weg. Sollte es eine Versuchung gegeben haben, auf die Zurückweisung beleidigt zu reagieren und den Kandidaten frontal anzugreifen, so hat sie ihr widerstanden. „Wir sind ja nicht bei Verbotene Liebe“, sagt Kipping, die inzwischen von der Bühne herabgestiegen ist, während sich die Versammlung aus Fahnenträgern und Senioren vor dem Kanzleramt auflöst. „Es geht nicht um eine Politikheirat, sondern um die politischen Inhalte.“ 06 Wochenthema der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 „Ich arbeite mit dem System dagegen“ Generation Gesichtslos Bald beginnt das neue Semester. Eigentlich ein Grund zur Freude. Aber die Klagen über junge Akademiker sind so laut wie nie: Sie seien unauffällig, ohne Ecken und Kanten. Aber stimmt das? Und wenn ja, wer hat Schuld an dieser Entwicklung? Sie selbst oder doch der Bologna-Prozess? Sprechstunde Unsere Autorin macht gerade ihren Master. Mit ihrem Lieblingsprof Ottmar Ette sprach sie über die Chancen, die das neue Uni-System trotz aller Nachteile birgt Die Kinder der Krise Herbstsemester Das Studium wird immer verschulter, statt dem Lieblings- wird das Vernunftfach gewählt. Darin spiegelt sich auch die Angst, in der Globalisierung zu verlieren E s ist eine fast süßliche Szenerie, die der berühmte Reisende aus den USA da in Heidelberg beobachtet. Er ist gerade dem europäischen Geist auf der Spur: „Man sieht zu jeder Stunde so viele Studenten auf der Straße, dass man sich manchmal fragt, wann sie eigentlich arbeiten. Einige tun es, andere nicht... denn das deutsche Universitätsleben ist ein sehr freies Leben.“ Der Fremde ist verblüfft, aus der Heimat kennt er eine rigidere Taktung. Er heißt Mark Twain und hält dieses Erlebnis in dem Band „Bummel durch Europa“ fest, der von seinen Erfahrungen auf dem alten Kontinent berichtet. Die Visite findet Ende der 1870er Jahre statt: mitten in der machtvollen Epoche eines deutschen Kaiserreichs, das Disziplin und Untertänigkeit zu Leittugenden auserkoren hat. Nur in den Universitäten gelten andere Gesetze. Sie sind Inseln libertärer Widerspenstigkeit, die von den Herrschenden toleriert werden. Denn das Humboldt’sche Bildungsideal, das die Unabhängigkeit der Wissenschaft vorsieht, ist unantastbar. Wer heute in die Unis blickt, wird rasch feststellen, dass sich die Studenten so gut wie keine Freiheiten mehr gewähren. Seit Beginn des sogenannten Bologna-Prozesses, der 1999 beschlossen und im Jahr 2010 beendet wurde, betrachtet die junge Generation ihre Lehrjahre als eine Art berufsqualifizierende Maßnahme, so konsequent wie keine zuvor. Mit Bologna ist der europäische Bildungsraum vereinheitlicht worden, damit Abschlüsse nun grenzübergreifend gelten können. Im Zuge dessen wurde das zweistufige Bachelor-/Master-System eingeführt, auch, um die Unizeiten massiv zu verkürzen. Ein Studium soll nun nicht mehr als jene Phase gelten, in der Interessen jenseits des fachlichen Kanons vertieft oder neue Lebensentwürfe erprobt werden. Stattdessen ist der bruchlose Übergang zwischen Schule, Uni und Job das angestrebte Ideal. Was aber hat diese Entwicklung, die man ohne zu untertreiben als europäische Bildungsrevolution bezeichnen kann, mit den Studierenden selbst gemacht? Wie sind die jungen Akademiker von heute eigentlich? Lern was Vernünftiges! Seit den frühen achtziger Jahren blickt der Hochschulforscher Tino Bargel in die Seele der deutschen Studenten, er erforscht ihre Werte und Wünsche und erhebt repräsentative Umfragen wie den Studierendensurvey, an dem regelmäßig Zehntausende teilnehmen. „Studenten erwarten von ihrem Studium heute in erster Line die Befähigung zu einem Beruf zu erlangen“, sagt er. Diese sogenannte employability, die maßgeschneiderte Ertüchtigung für den Arbeitsmarkt, sei wichtiger als alles andere und ein sehr neues Phänomen. Normalerweise scheut Bargel Etikettierungen, aber nun wählt er Begriffe, die die heute Immatrikulierten sehr fade erscheinen lassen: „Ohne spezifisches Profil, ohne Kanten, ohne besondere Farbe“ seien sie. Eine „unauffällige Generation“. Früher waren Unis autarke Laboratorien für Experimente, Parallelgesellschaften im Guten, wo sich junge Menschen ihre persönlichen Erleuchtungen erlaubten. Geschadet hat die Zügellosigkeit den wenigsten, im Gegenteil, etliche Persönlichkeiten haben diese Freiräume genutzt. Im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, in der Bundesrepublik. Da ist Rosa Luxemburg, die eine notorische Fachwechslerin war und sich nach den Naturwissenschaften auch der Ökonomie, dem Recht und der Philosophie zuwandte. Theodor W. Adorno, der sich neben der Lehre an der Philosophischen Fakultät auch dem Dandytum im Kaffeehaus widmete. Oder Helmut Kohl: Er hat sich für sein Geschichtsstudium mit anschließender Promotion heute undenkbare acht Jahre Zeit genommen. Und nicht zu vergessen: In den sechziger und siebziger Jahren waren Hörsäle und Seminare Keimzellen für politische Strömungen, die die Bundesrepublik der Nachkriegszeit umwälzten. Nicht wenige Studenten von heute klinken sich aus dieser Kontinuität aus. Fragt man Soziologen nach einem Psychogramm dieser Generation, hört man Attribute, die Karriere-Ratgebern entnommen sein könnten: pragmatisch, utilitaristisch, opportunistisch. Auch Klaus Hurrelmann, Leiter der Shell-Jugendstudie, zählt solche Eigenschaften auf, wirbt aber zugleich um Verständnis für das Nutzen-Kalkül-Denken: „Sie richten sich damit nur auf die Chancenstrukturen in unserer Gesellschaft ein.“ Mit anderen Worten: Die jungen Menschen F o t o s : U t e G r a b o w s k y/ p h o t o t h e k . n e t, p r i vat ( u n t e n ) ■■Philipp Wurm Studenten der Universität Bonn tragen wieder jene Talare im amerikanischen Stil, unter denen die 68er den Muff von tausend Jahren vermuteten Noch nie zuvor haben so viele BWL studiert wie heute erhoffen sich einen sicheren Arbeitsplatz. Der sei ihnen „sehr wichtig“, gaben 65 Prozent der Studenten an Universitäten im aktuellen Studierendensurvey an – 1993 lag dieser Wert noch bei 50 Prozent. Also belegen sie am liebsten Fächer, zu denen der gönnerhafte Onkel rät, wenn er zur AbiFeier eingeladen den Neffen beiseite nimmt: „Lern was Vernünftiges!“ Das Fach BWL ist der gemeinsame Nenner dieser Generation – eine Schicksalsgemeinschaft der Besitzstandswahrer und Bildungsaufsteiger, Überflieger und Underdogs, Rastlosen und Ratlosen. Wer einen BWL-Abschluss in der Tasche hat, darf sich auf der sicheren Seite wähnen, denn so massenkompatibel mit den Jobprofilen in Großkonzernen, mittelständischen Betrieben oder im öffentlichen Dienst ist kein anderer Studiengang. Im Wintersemester 2010/11 waren hier laut Statistischem Bundesamt 184.846 eingeschrieben, so viele wie in keinem anderen Fach und knapp ein Drittel mehr als noch vor 20 Jahren. Bei Jura, Medizin und Germanistik dagegen stagnieren die Zahlen Neben BWL stehen aber auch noch andere Fächer hoch im Kurs, die in den Berufsinfor- Wochenthema 07 Mehr zu unseren aktuellen und vergangenen Wochen themen finden Sie online auf freitag.de/wochenthema mationszentren feilgeboten werden wie Tannenbäume in der Adventszeit: Maschinenbau und Verfahrenstechnik etwa wurden 2010 zusammengerechnet von 171.869 studiert, Informatik wies 133.750 Immatrikulierte auf. Nun sind dies alles grundsätzlich keine ehrlosen Studiengänge, problematisch jedoch ist, dass die Studenten an Pioniertaten immer weniger Interesse zeigen. Nur noch 62 Prozent geben in Bargels Survey an, es sei ihnen „sehr wichtig“, eigene Ideen zu verwirklichen. 1993 lag der Wert noch bei 73 Prozent. Zu dieser Mentalität, einer Mischung aus Sicherheitsdenken und Willfährigkeit, passen auch die Beschwerden dieser Generation. Sie stöhnen, ächzen und brechen zusammen wie sonst nur Büroangestellte, deren Nine-to-Five-Routine und Gehorsam durch Gehaltsabrechnungen erkauft wurde und bislang das Gegenmodell zum Campusleben war. Nun finden sich die Studenten im selben Hamsterrad wieder. Bei einer Umfrage der TU Chemnitz unter Psychologen von Studentenwerken kam heraus, dass 61 Prozent der Beratungsstellen vor allem in den vergangenen fünf Jahren „einen deutlichen Anstieg von Burn-out im engeren Sinne“ registriert haben. In die Gefühlswelten vieler deutscher Hochschüler hat sich eine Verstörung eingeschlichen, die das Studium zu einer Last macht. Überall Rationalisierung Natürlich hat die Einführung der Bachelor-/Master-Studiengänge etwas mit diesen Stresssymptomen zu tun. Universitäten haben sich vielerorts in Lernfabriken verwandelt, in denen Studenten Referate und Hausarbeiten ausbrüten wie Legehennen, getrieben von den Credit Points. Das Studium ist schneller, verschulter, leistungsorientierter geworden. Diese Rationalisierung folgt der Marschroute, die die europäischen Bildungsminister ausriefen, als sie den Bologna-Prozess einleiteten. In einer Deklaration formulierten sie als Ziel, „die arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der europäischen Bürger (…) zu fördern“. Aus Sorge, die Volkswirtschaften könnten im global verschärften Wettstreit um das beste Humankapital den Anschluss verlieren, wurde Abschied genommen vom traditionellen Studentenbild und seiner altehrwürdigen Rahmung, dem Humboldt’schen Bildungsideal. Zweckmäßig sollte sie nun sein, die Lehre an Hochschulen, organisiert in straffen Stundenplänen, ausgerichtet nach den Bedürfnissen der Personalabteilungen in den Unternehmen. Wenn junge Menschen ihre Vita nun also nüchtern durchplanen wie ein Consultant eine PR-Strategie, aufgepeppt mit Praktika und Auslandssemestern, machen sie nichts anderes, als dieser ökonomischen Logik zu gehorchen. Kollektiv frönen sie der employability. Die Bachelor-/Master-Reform erklärt aber nicht allein, warum viele Studierende sich so bereitwillig in ihre Rolle als Objekte fremder Begehrlichkeiten fügen. Geprägt haben sie auch die Gefühlsaggregate, die sich in die brüchigen Wohlstandsidyllen ihrer Elternhäuser einnisteten, als sie noch mit erstem Liebeskummer und der neuen Sido-Platte beschäftigt waren. In den frühen und mittleren Nullerjahren, in ihrer Teenager-Phase, sickerten Gifte in bürgerliche Familien, die man zumindest in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte bis- lang nicht gekannt hatte: Ohnmacht angesichts weltwirtschaftlicher Triebkräfte, Angst vor dem sozialen Abstieg. Da war die Pisa-Studie, die deutschen Schülern das Wissensniveau Ungarns und der Slowakei bescheinigte und an der Tauglichkeit des Nachwuchses zweifeln ließ. Die Arbeitslosigkeit, die wie ein Menetekel über den noch nicht abbezahlten Reihenhäusern schwebte – und von der rot-grünen Regierung mit der Hartz-IV-Reform bekämpft wurde, einer beispiellosen Aufkündigung sozialstaatlicher Gewissheiten. Überhaupt der ganze Sabine-Christiansen-Alarmismus dieser Ära, der von der Mittelschicht mehr Leistung, Härte, Egoismus forderte, damit Deutschland in der Globalisierung den Anschluss nicht verpasse. Der Bologna-Prozess spielte sich vor dem Firmament dieser Untergangsstimmung ab. „Studenten sind Kinder ihrer Zeit“, sagt der Hochschulforscher Tino Bargel, „und die ökonomische Begleitmusik ihrer Sozialisation hat Irritationen ausgelöst.“ Die größte Furcht wurde ihr jedoch eingeimpft, als 2008 mit den Pleiten großer Banken die Erosion des Finanzsystems begann. Die Studenten sind geprägt von der Abstiegsangst ihrer Eltern Doch die Verfehlungen einer Managerkaste, deren Verhaltenslehren noch Teil ihrer Erziehung waren, hat statt Protest nur Passivität ausgelöst. Sie fühlen sich machtlos gegenüber den Urgewalten einer wankenden Welt. Umso wichtiger ist ihnen die Kontrolle über die eigene Biografie. Vielleicht ist das auch der Grund, warum eine Bewegung wie Occupy hierzulande nicht mehr als ein pfadfindergroßes Zeltlager war. Überhaupt sagen nur 37 Prozent der Befragten im Studierendensurvey, allgemeines politisches Interesse zu hegen. 1983 waren es noch 54 Prozent. Kaum arbeitslose Akademiker Dabei ist die Angst, die ihre Hände im Spiel hat bei der nervösen Bastelei an einer bombensicheren Zukunft, eine Schimäre. Ob man sein Studium in neun oder zwölf Semestern geschafft hat, ist den meisten Arbeitgebern egal. Und die Gefahr, nach einem Studium ins Prekariat abzustürzen, tendiert gegen Null, selbst in geisteswissenschaftlichen Fächern. Die Akademikerarbeitslosigkeit beträgt in Deutschland gerade einmal 2,5 Prozent. Es gibt keine Anzeichen, dass sich daran etwas ändern wird. Existenzängste müssen allein die gleichaltrigen, meist männlichen Grenzgänger aus den Randgebieten der deutschen Komfortzone verspüren, diejenigen, die in Berlin-Marzahn, in der Dortmunder Nordstadt oder in mecklenburgischen Dörfern um ihren Hauptschulabschluss kämpfen mussten. Doch deren raue Lebenswirklichkeit zwischen Niedriglohnjob und Arbeitslosengeld wird vor lauter Selbstbespiegelung gerne vergessen. Kein Wunder, an den Unis bleiben die Sprösslinge aus der Mittelschicht meist unter sich. Nur zwei Prozent der Studierenden kommen aus Arbeiterhaushalten. Es ist eine tragische Ironie, dass mittlerweile selbst Personalverantwortliche großer Unternehmen, jene Gatekeeper, die Einlass in die Führungsetagen gewähren, von jungen Bewerbern abgeschreckt sind. Ein ehemaliger Personalvorstand der Citibank forderte jüngst: „Die Fähigkeit zur Selbstreflexion muss an den Hochschulen zum Thema gemacht werden.“ Dabei waren es gerade solche Arbeitgeber, denen es die Studenten recht machen wollten. Die Schelte ist auch eine Kritik an der Bachelor-/Master-Umstellung, die den studentischen Profilverlust begünstigt hat. Sie kommt ausgerechnet von denen, die diesen Bruch forciert haben. Vor allem ist sie ein Eingeständnis: Es geht um den Unsinn einer akademischen Bildung, deren Primat der Arbeitsmarkt ist. Und darum, dass diese Ökonomisierung letztlich sogar der Wirtschaft schadet. Aus dem Klammergriff können sich nur die Studenten selbst befreien – indem sie ihr Studium nicht zur bloßen Stufe auf der Karriereleiter degradieren. Trotz des Tunnelblicks, zu dem die Bachelor-/MasterStudiengänge verleiten, lassen sich immer noch genug Anreize für Anarchie finden. Man kann zum Beispiel vom Vernunftzum Lieblingsfach wechseln. Oder ein Semester aussetzen, um zu kellnern. Oder sich an Gleise ketten. Es könnte sein, dass das mehr zur Persönlichkeit beiträgt als die hastige Zufuhr von neuen Credit Points. Philipp Wurm schrieb im Freitag zuletzt die Titelgeschichte „Der lange Weg nach oben“ Der Freitag: Uns Studieren den wird oft vorgeworfen, wir seien mehr an den Bedingungen des Studiums als an den Inhalten interessiert. Ist das so? Die Lehr- und Lernsituation hat sich durch den BolognaProzess sehr stark verändert. Mittlerweile existieren verschiedene Logiken gleichzeitig. Viele studieren auf Bachelor und wissen, dass es zugleich Kommilitonen gibt, die in den alten Studiengängen auf Magister und Diplom studieren oder noch Studiengänge belegen, die schon wieder abgeschafft sind. Von daher ist für diese Generation eine Situation entstanden, in der sie sich ständig auf neue Bedingungen einstellen muss. Das heutige Studium funktioniert archipelisch. Es gibt verschiedene Studienorte, die jeweils nach einer eigenen Logik funktionieren. Das ist insofern paradox, als der Bologna-Prozess ja gerade eine Logik schaffen wollte: Man beginnt etwa ein Studium in Dublin, setzt es in Paris fort und endet in Palermo. Aber das schafft auch Un sicherheit. Wir witzeln oft, dass wir zur Not Taxi fahren. Die Frage, was man mit seinem Studiengang anfängt, ist in den Geisteswissenschaften nicht unbedingt eine neue. Das haben sich Ihre Vorfahren auch immer gefragt. Ich würde sagen, etwa 70-80 Prozent unserer Studierenden haben eine Arbeit gefunden, die für ihre Ausbildung adäquat ist. Bei mir im Bereich haben schätzungsweise über 90 Prozent der Doktoranden und Doktorandinnen innerhalb von kurzer Zeit Stellen gefunden. So schlecht sieht es nicht aus. Aber für die meisten, die ich kenne, kommt nach dem Bachelorabschluss fast selbstverständlich der Masterstudiengang. Viele fühlen sich nach sechs Semestern nicht ausreichend gelehrt – anders als es Bologna eigentlich vorsieht. Bologna ist ein velozifärisches System. Das heißt, es setzt auf Schnelligkeit, und die Entscheidungsprozesse kommen von außerhalb, aus den Ministerien. Die am Anfang sehr starken Proteste gegen das System wurden von der Politik relativ schnell ausgeschaltet. Universitäten und Fakultäten, die sich zunächst dagegen entschieden hatten, sind mittlerweile längst überrollt worden. Auch sie mussten das System, mit einer gewissen Verspätung, aber im Grunde doch relativ schnell einführen. Velozifärisch heißt, es hat auch etwas Teuflisches. In den neuen Studiengängen müssen ständig neue Leistungen erbracht werden. Dennoch wirft man uns vor, wir seien stromlinienförmig. Diese Befürchtung hatte ich zunächst auch. Das sehe ich mittlerweile überhaupt nicht mehr, außer in Einzel fällen, aber die gab es immer. Es gibt heute durch das Internet eine Vielzahl an digitalen Informationsquellen, die ausgeschöpft werden, und zwar immer mit Blick auf spätere Arbeitsmöglichkeiten. Die Leute fangen sehr früh an, quer zu denken. Ich habe es jetzt zweimal erlebt, dass Studierende sehr früh Kontakt zu Fernsehsendern hergestellt und dort Arbeit gefunden haben. Ist unser Wissen oberfläch licher geworden? Die alte Universität im Sinne von Wilhelm von Humboldt funktioniert so nicht mehr. Ein klassisches Bildungsideal des Studierens in die Breite ist ganz bewusst ausgeschaltet worden. Durch die Geschwindigkeit bleibt nicht mehr ausreichend Zeit zur Vertiefung und Suche. Dieses Suchen ist zugleich aber auch das Forschen im weitesten Sinne. Meine persönliche Haltung dazu ist eine sehr negative, weil das für mich in meinem Studium der wichtigste Wert war. Ich habe für mein Studium relativ lange gebraucht und mir gleichzeitig verschiedene Gegenstände und Methodologien erarbeitet. Damit war ich sehr glücklich. Ich sehe den Bologna-Prozess als einen Verlust. Trotzdem kann es damit auch einen anderen Wert geben. Neue Fähigkeiten, wie sich auf ständig verändernde Verhältnisse einzustellen, können entstehen. Etwa ein hohes Maß an Flexibilität. Damit geht aber auch eine gewisse Überforderung ein her. Das zeigt auch die Situa tion in den psychologischen Beratungsstellen. Der emoti onale Druck ist sehr hoch. Studierende von heute sind nicht besser oder schlechter, sie sind signifikant anders Das kann man auch in den Sprechstunden feststellen. Ich würde sogar eine geschlechterspezifische Unterscheidung machen. Es sind in aller Regel die Studentinnen, die ein räumen, ich schaff das nicht, und es geht alles nicht mehr. Die Studenten mauern eher. Ich kenne auch Geschichten von Kommilitoninnen, die in einer Sprechstunde weinend zusammengebrochen sind, obwohl es „nur“ um eine Hausarbeit ging. Das passiert bei mir häufig, der Druck in den Fächern ist gewaltig. Die Sprechstunde ist dafür Ventil und Signal. Ich bin da sehr vorsichtig, allerdings auch aus einer alten Zeit heraus. Vor 20 Jahren habe ich an einer Universität studiert, an der sich zwei Studentinnen nach dem Besuch einer Sprechstunde bei einem Dozenten das Leben genommen haben. Dieser Stress ist also kein völlig neues Phänomen. Anders ist aber heute diese intensive Thematisierung. Diese Vier-Augen-Gespräche sind oft keine wissenschaftlichen Sprechstunden mehr. Es geht zunehmend um allgemeine Lebensfragen, etwa die nach dem Lebensrhythmus und der Zukunft nach dem Studium. Ich nehme mir dann Zeit und versuche, die Studierenden zu beruhigen. Was ist der größte Unter schied der Bachelor-/ Master-Studierenden zu früheren Generationen? Ich selber hatte nie das Gefühl, dass die Studierenden heute besser oder schlechter sind, sondern signifikant anders. Sie fragen sehr schnell nach den Spielregeln. Es gibt viele, die geradezu verwaltungstechnisch abfragen, welche Leistung sie erbringen müssen, oder welche Möglichkeiten zur Umrechnung der Leistungspunkte es gibt. Das ist aus dieser viellogischen Struktur heraus zu erklären. Schreibe ich etwa eine Masterarbeit in einem lehramtsbe zogenen Studiengang, ist die Masterarbeit kürzer als in einem nicht-lehramtsbezogenen. Es gelten für alle Varia tionen immer etwas andere Spielregeln, die auch manchmal für mich nicht mehr überblickbar sind. Und das war früher anders? Da waren die Studienbedingungen klarer. Gleichzeitig waren die Möglichkeiten, den Studierenden entgegenzukommen und Freiräume zu lassen, wesentlich größer. Ich habe mich lange Zeit dagegen gewehrt, meine Vorlesungen mit einer Klausur abzuschließen, bis ich dazu gezwungen wurde. In meinem Studium ging es nicht um die Frage, ob man am Ende ein abprüfbares Wissen zertifizieren lassen muss, sondern darum, was ich – pathetisch gesprochen – für mein Leben mitnehme. Die neuen Studiengänge funktionieren nach einer anderen Logik. Es geht um abfragbares und kanonisiertes Wissen, nicht die Vermittlung einer Grundhaltung. Insofern ist die klassische Vorlesung das absolute Gegenmodell zu den Bachelor- und Masterstudiengängen. Wie haben Sie dieses Problem gelöst? Ich versuche die Klausuren radikal zu entschärfen. Es ist nicht so, dass man als Dozentin oder Dozent keine Spielräume hätte. Meine Haltung gegenüber dem Bologna-Prozess lässt sich zurückführen auf die Maßgabe, welche die spanischen Kolonien seit dem 16. Jahrhundert hatten. Da gab es diesen Rechtsgrundsatz: la ley se obedece pero no se cumple. Ich gehorche dem Gesetz, aber ich führe es nicht aus. Das heißt bei der Vor lesung, dass ich zwar eine Klausur schreiben lasse. Aber ich verändere den Spirit dessen, was ich damit auslösen möchte, nicht. Ich mache nur eine äußere Korrektur, die keine inhaltlichen Konsequenzen hat. Uns bleibt kaum Zeit, unser Wissen zu vernetzen. Wir treffen uns meist nur einmal im Semester als Gruppe zum Lernen, jeweils kurz vor einer Klausur. Da ist auch ein großer Unterschied zu früher. Die Sozialstruktur innerhalb der Kurse ist prekär, weil sich die Leute Ottmar Ette, geboren 1956, ist das, was man eine Koryphäe nennt. Der Professor für Romanische Literaturwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam hat u.a. den Forschungsverbund Lateinamerika BerlinBrandenburg mitgegründet. oft nur ein einziges Mal pro Woche sehen. Für Diskussionszirkel bleibt überhaupt keine Zeit. Bei mir im Studium kannte man sich eigentlich ziemlich gut, auch an großen Universitäten. Umgekehrt hat die soziale Vernetzung über digitale Netzwerke und andere Kommunikationsformen zugenommen. Die Studierenden bekommen heute mit, was auf den anderen Inseln läuft. Das bietet einem auch Chancen. Absolut. Es ist ein Lernprozess. Die Ablehnung von Bologna hat bei mir eher dem Versuch Platz gemacht, die Lücken dieses Systems zu nutzen. Früher wurden Studiengänge für sehr lange Zeiträume eingerichtet. Heute haben wir welche, die mit einem Federstrich von seiten des Ministeriums oder des Dekans beseitigt werden können. Insofern hat sich bei mir eine gewisse Gelassenheit entwickelt. Ich achte vor allem darauf, wo ich die mir wichtigen Lehrinhalte implementieren kann. Und wo ich die Möglichkeit habe, mit dem System etwas gegen das System zu machen. Eines ist ganz sicher: Die Studierenden verstehen das sofort. Im Umkehrschluss schafft das für Studierende eine existenzielle Angst. Was mache ich, wenn sich mein Studiengang auflöst? Ich sehe da nicht den Untergang des Abendlandes. Der aus meiner Sicht gut gedachte, aber schlecht implementierte Bologna-Prozess bietet durch sein Zerreißen eine ganze Reihe von Zusatzchancen. Insofern bin ich optimistisch. Es ist eine hochgradig transitorische Situation. In der Geschichte des Studiums gab es wohl noch nie eine Übergangszeit, in der mit so hoher Geschwindigkeit und so kurzen Verfallszeiten studiert wurde. Das hat neben allem zusätzlichen Stress auch ganz eindeutig Vorteile. Wie meinen Sie das? In unserer Situation gibt es die Chance, etwas wie einen Bildungsbegriff neuen Zuschnitts zu entwickeln. Er wäre nicht nationalkulturell, sondern als weltweiter, archipelischer Bildungsbegriff möglich. Meine Lehre zielt darauf ab, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, nach unterschiedlichen Logiken zu reagieren. Zu wissen, dass es jenseits von Brandenburg, Deutschland und Europa Arbeitsmöglichkeiten und Betätigungsfelder gibt. Es gehört zu den Privilegien der Fächer, für die ich zuständig bin, genau in diese Richtung eine Neugier in Gang zu setzen. Wie kann ich mir das konkret vorstellen? Wenn es in einer Vorlesung um die Frage der Globalisierung geht, ist mein Zweck neben der Vermittlung bestimmter Inhalte, letztlich die Studierenden dazu zu bringen, ihre Position innerhalb dieser Entwicklung zu überdenken. Was hat das, ganz simpel gesagt, eigentlich mit mir zu tun? Ich lege die Ver anstaltungen insgesamt so an, dass sie versuchen, ein Handwerkszeug allgemeiner Art, sozusagen ein Lebenswissen, zu vermitteln, das auf der Basis des alten Begriffs des Weltbewusstseins funktioniert. Und das erfüllt mich sehr. Das Gespräch führte Juliane Löffler 08 Politik der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 In den Stollen staut sich die Wut Südafrika Beim Streik der Bergarbeiter von Marikana wurden im August 64 Menschen getötet. Nun werden auch andere Minen von sozialen Aufständen erfasst chen Besitz der Männer sichern. „Wir leben und arbeiten hier wie Tiere“, stöhnt Mokwane. „Wenn man sich beschwert, sagen sie dir: Du wohnst hier nicht allein, also richte dich gefälligst ein.“ Das Essen, für das die Minengesellschaft aufkommt, hat mit Essen nur entfernt etwas zu tun. „Morgens bekommst du eine Tasse Tee und einen Viertellaib Brot, das manchmal schon alt und so hart ist, dass es keiner essen kann“, schildert Mokwane skandalöse Verhältnisse. „Das Mittagessen ist meist vom Vortag und der Reis so verkocht, dass er wie Brei schmeckt .“ ■■David Smith F o t o : A B A L L O T H E K I S O /af p/ g e t t y i m a g e s U nten im Stollen herrschen Qual, Schinderei, Hitze und die kalte Angst, niemals zurückzukommen. Am schlimmsten aber – sagt der Driller Mbuzi Mokwane – sei der Tag, an dem man seinen Lohn erhalte. „Für mich ist das der elendeste Moment von allen. Wenn ich meinen Lohnzettel bekomme, auf dem 4.000 Rand (380 Euro – die Red.) stehen, fange ich an, meine Ausgaben zu berechnen und könnte verrückt werden. Man wird am helllichten Tag ausgeraubt.“ Mokwane schuftet in der Blyvooruitzicht-Mine bei Carletonville in einem Gebiet, das in der lokalen Sesotho-Sprache Ort des Goldes heißt. Hier fahren die Bergleute Tag für Tag mit der Angst in den Stollen, es könnte ihr letzter sein. Sie klagen über schlechte Bezahlung, schlechtes Essen, menschenunwürdige Behausungen und die Ignoranz ihrer Bosse, die sie immer noch behandeln wie Tiere. Ihr schwelender Groll kann sich jeden Augenblick entladen. Südafrikas Minenarbeiter stehen im Kampf um soziale und ökonomische Befreiung an vorderster Front. Wenn es sein muss, stellen sie sich der Polizei mit Knüppeln in den Weg und lassen sich von Streiks in den großen Platin-, Gold- und Kohlebergwerken des Landes nicht abhalten. Gerade erst musste das Unternehmen Anglo- Unter Tage herrschen 40 bis 45 Grad in der Platinmine Phokeng. Sie liegt 120 Kilometer nordwestlich von Johannesburg Gold Ashanti einräumen, die meisten seiner etwa 35.000 Arbeiter hätten bei einem illegalen Ausstand die Arbeit niedergelegt. Zugleich gehen Arbeitskämpfe bei Gold Fields und Anglo American Platinum weiter, so dass in deren Rustenburg-Minen derzeit weniger als ein Fünftel der Belegschaft einfährt. Viele hat der Streik in Marikana angespornt, bei dem im August 46 Menschen von der Polizei getötet wurden, letztlich aber eine beachtliche Lohnerhöhung durchgesetzt werden konnte. Anzeige Das große »Blätter«-Paket Nur für kurze Zeit: Das Aktionsangebot für Politikhungrige Moeletsi Mbeki, Ökonom und Bruder des früheren Präsidenten Thabo Mbeki, zufolge hat „Marikana gezeigt, dass es 1994 mit dem Ende der Apartheid offenbar nur darum ging, eine neue schwarze Elite in das sozioökonomische System zu integrieren, wie es die Weißen seit 1870 betreiben“. Die Regierung scheint enttäuscht darüber, dass sich momentan nur neun, statt der angestrebten 15 Prozent der Minen in der Hand schwarzer Eigentümer befinden. Es hat kaum den Anschein, als würden die angestrebten 26 Prozent bis 2014 erreicht. 18 Jahre nach dem Abschied von der Apartheid ist jedoch die Geduld der Arbeiter am Ende. Von Julius Malema, dem hitzköpfigen Ex-Vorsitzenden der ANC-Jugend, hören sie: „Sie haben euch das Gold gestohlen. Jetzt seid ihr dran.“ Eine von extremer Ausbeutung geprägte Industrie am Kap, in der großer Reichtum und eben solche Armut aufeinanderprallen, durchlebt eine existenzielle Krise. In den tiefsten Stollen der Welt kamen im Vorjahr 123 Menschen ums Leben. Unter den Arbeitern ist die Tuberkulose sechsmal mehr verbreitet als in der Gesamtbevölkerung Südafrikas. Fallende Steine Seit dem Crash von Lehman Brothers im September 2008 hat sich die Welt radikal verändert. Was als Finanzkrise begann, hat sich längst zu einer Staats- und Demokratiekrise ausgeweitet. + EXIT: Mit Links aus der Krise Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.) Blätter für deutsche und internationale Politik Wie aber ist dieser Krise zu begegnen? Wie sehen wirksame politische Alternativen zum realexistierenden Kapitalismus aus? EAN edition Blätter Mehr zum Programm auf www.blaetter.de Euro 15,00 (D) sFr 18,60 Mit Links aus der Krise Elmar Altvater Samir Amin Colin Crouch Tim Jackson Tony Judt Birgit Mahnkopf Robert Misik Antonio Negri Kate Pickett Harald Welzer u.v.a. »Ideales Rüstzeug für den klugen Protest – bei einem gleichzeitig höchst basisnahen Preis.« Frankfurter Rundschau ISBN-13 978-3-9804925-6-0 ISBN-10 3-9804925-6-7 EXIT edition Blätter Das Buch zur Krise 288 Seiten mit 24 Beiträgen von: Elmar Altvater, Colin Crouch, Birgit Mahnkopf, Antonio Negri, u.v.a. Normalpreis: 15 Euro Archiv-DVD 1990-2011 + Alle »Blätter«-Texte der letzten 22 Jahre Normalpreis: 40 Euro Das »Blätter«-Abo Monat für Monat kritische Kommentare und hintergründige Analysen Normalpreis: 79,80 Euro + Ein Jahr Online-Abo www.blaetter.de Online-Zugriff auf alle »Blätter«Texte der vergangenen 12 Jahre Normalpreis: 20 Euro = nur 79 Euro statt 154,80 Euro Jetzt bestellen auf www.blaetter.de Der 33-jährige Mokwane erzählt, was passiert, wenn sich im Schacht Blyvooruitzicht die Tür des Förderkorbes schließt. „Für mich ist das Einfahren wie eine Folter. Ständig quält mich die Frage: Werde ich je wieder lebend herauskommen oder sterben? Herabfallende Steine können einen verletzten oder gar töten.“ Beim Bohren liegen die Männer in einer anderthalb Meter hohen Spalte, können also nicht aufrecht stehen, müssen knien oder kauern. Mokwane: „Die Schwierigkeit besteht darin, beim Bohren die Maschine im Gleichgewicht zu halten. Alles wackelt und kostet Kraft. Und dann der Rauch – man kann keine Atemmaske aufsetzen, denn die wird leicht nass. Also atmest du den Rauch ein. Nur wird es manchmal so heiß, dass du gar nicht mehr atmen kannst. Aber die Bosse verbieten, dass man sich im Frischluftstollen erholt.“ Im November sei ein Kollege so erschöpft gewesen, dass er nicht auf fallende Steine achtete und verschüttet wurde. Er habe überlebt, sitze jetzt aber im Rollstuhl. Bis heute warte er auf sein Schmerzensgeld. Auch der Rassismus macht nicht an den Toren der Minen halt: „Die weißen Bosse respektieren uns nicht“, sagt Mokwane. „Sie respektieren sich nur gegenseitig. Es kümmert sie nicht, was unten im Schacht passiert. Unsere schwarzen Bosse sind nicht besser.“ Wie viele andere schickt Mokwane mehr als die Hälfte seines Lohns an die verarmte Familie, die weit weg im Dorf Mqanduli in der Provinz Eastern Cape lebt. Seine Frau, drei Kinder, die Mutter und drei Geschwister sind auf ihn angewiesen, um Nahrung, Unterkunft und Schulgebühren bezahlen zu können. Mokwane vermisst sie sehr, kann aber nur Weihnachten und Ostern nach Hause. Sein Zimmer in der Unterkunft für die Arbeiter riecht nach Schweiß. Fliesen sind gesprungen, die Wände schmutzig, in der Küche stehen leere Bierflaschen in einer Ecke, verwitterte, rot besprühte Schließfächer sollen den persönli- Vergessenes Blut Vor einer Woche ließen Mokwane und seine Kollegen die Gewerkschaft wissen, dass auch sie 12.500 Rand (1.190 Euro – die Red.) im Monat verdienen wollten wie ihre Kollegen in den Platinschächten von Marikana. „Wenn die Gewerkschaft das nicht herausholt, werden wir streiken. Ja, ich finde, wir sollten streiken und erst dann anfangen zu verhandeln. Niemand sollte wieder arbeiten gehen, solange unsere Forderungen nicht erfüllt sind.“ Der Frust über die dem ANC nahestehende Gewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM) ist groß. Soto Maqundweni, einer von Mokwanes Zimmergenossen, meint: „Wir halten die meisten von denen für Betrüger. Sie sind schuld, wenn wir keine höheren Löhne kriegen, weil sie gar nicht daran denken, unsere Interessen zu vertreten.“ Andere Bergleute – zumeist Arbeitsmigranten vom Ostkap oder aus dem Nachbarland Lesotho – äußern sich ähnlich. Die von Arbeitslosigkeit und Armut ins Arbeitsjoch der Gruben Getriebenen sehen in den Ereignissen von Marikana – dem letzten Endes doch erfolgreichen Arbeitskampf – einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern. Was etwas damit zu tun haben dürfte, dass sie jedes Vertrauen in den NUM, aber auch den ANC verloren haben. Man atmet den Rauch ein. Nur wird es oft so heiß, dass man gar nicht mehr atmen kann Mit einer Liste der Beschwerden von Arbeitern konfrontiert, antwortete vor Tagen eine Sprecherin von Village Main Reef, dem die Blyvooruitzicht-Mine gehört: „Ich glaube, dass es viel Unmut der Angestellten über die kollektiven Strukturen der Tarifpartner gibt. Das Management der Mine wird sich darum kümmern. Aber Beschwerden, von denen wir offiziell keine Kenntnis haben, können nicht durch die Medien auf die Agenda gesetzt werden. Seitdem Village Main Reef die Mine am 1. Juni 2012 übernahm, haben wir uns offen mit allen Anteilseignern wegen der Herausforderungen auseinandergesetzt, von denen die Zukunft des Unternehmens bedroht ist.“ In seinem Buch Der Weg nach Wigan Pier schrieb der Schriftsteller George Orwell 1937: Obwohl die Arbeit von Bergleuten überall auf der Welt so notwendig sei, bleibe sie der Wahrnehmung entrückt und in der Gesellschaft unsichtbar – als würde das Blut in unseren Adern vergessen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Südafrika ist das Land mit der tiefsten sozialen Kluft im Bergbau weltweit. Die Mittelschicht will von den Arbeitsbedingungen unter Tage nichts wissen, obwohl die ihre Privilegien erst möglich machen. Charles Abrahams, ein Anwalt, der über 3.000 ehemalige, heute lungenkranke Kumpel vertritt, ist überzeugt: „Wir haben es mit der gleichen sozialen Ungleichheit zu tun wie zu Zeiten der Apartheid. Die oben wollen um Gottes willen nicht wissen, wie es unten aussieht.“ David Smith ist einer der Afrika-Korrespondenten des Guardian Übersetzung: Holger Hutt Politik 09 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Protestwelle Die Regierungen der Eurozone schleifen den Sozialstaat, um die Finanzkrise einzudämmen. Doch inzwischen wächst der Widerstand: Am vergangenen Wochenende gingen in Paris, Madrid, Lissabon, Athen und Berlin Hunderttausende Menschen für mehr Gerechtigkeit auf die Straße Holz sammeln für den Winter Griechenland Das jüngste Sparpaket der Regierung sieht vor, den Renten-Etat nochmals zu verkleinern D er Däne Poul Thomsen, der unter den Troika-Inspektoren bei den Verhandlungen in Athen den IWF vertritt, ließ sich nicht beirren: Was der griechische Finanzminister Jannis Stournaras an Sparvorschlägen präsentiert habe, sei unzureichend. Her müssten Einschnitte im Renten-Budget, mindestens 4,5 Milliarden Euro. Doch damit wäre für die Koalition aus Nea Dimokratia, Pasok und Dimar (Demokratische Linke) eine Schmerzgrenze erreicht, die zu überschreiten den Koalitionsfrieden und damit das Kabinett gefährden würde. Ob Thomsen das wolle, fragte Minister Stournaras. Vorgeschlagen wird nicht nur, die Altersbezüge zu kürzen. Zudem soll das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre steigen. Damit ließen sich weitere 1,1 Milliarden Euro einsparen, sagt die Troika. Durchgesetzt hat sie bereits, dass beim 11,6 Milliarden Euro umfassenden neuesten Sparpaket die Gehälter im öffentlichen Dienst weiter schrumpfen. Aber noch ist nichts offiziell bestätigt, erst im Oktober will die Regierung das Parlament entscheiden lassen. Dann wird sich zeigen, wie belastbar die Koalition ist. Abgeordnete von Pasok und Dimar haben bereits wissen lassen, dass sie gegen die Vorlage stimmen wollen. Dass es dann wieder einen Generalstreik gibt wie in der Vorwoche, als ganz Griechenland die Arbeit niederlegte, kann nicht ausgeschlossen werden. Eine Konsequenz der angeordneten sozialen Auszehrung ist auf jeden Fall die wachsende Bereitschaft zur Steuerhinterziehung. Wer kann, steckt die Mehrwehrsteuer in die eigene Tasche: Kioske, Restaurants, Fuhrunternehmen, jede Art von Kleingeschäften. Und sollte die Regierung tatsächlich eine Kopfsteuer für Immobilienbesitzer einführen, werden Mieten künftig unter dem Tisch bezahlt. Zudem dürfte es noch mehr Schwarzarbeit geben. So rutscht die Wirtschaft weiter ab. Gegenwärtig ist der private Konsum so schwach wie der politische Wille zum Wandel. Die Griechen sparen an allem und plündern die Wälder, um Holzvorräte für den Winter zu beschaffen, da sich Heizöl um 40 Prozent verteuern soll. Mieten werden nur noch gelegentlich bezahlt. Gleiches gilt für Kredite, wodurch den Banken Verluste von 57 Milliarden Euro entstanden sein sollen, wie es heißt. Misere der Sozialkassen Schlimmer noch ist der offenbar nicht mehr abwendbare Kollaps der Sozialkassen, den die Politiker in Kauf genommen haben. Ohne die im Oktober erwartete 31-Milliarden-Euro-Tranche aus Brüssel, die vom Testat der Troika abhängt, wird es in Griechenland keine öffentliche Gesundheitsversorgung mehr geben. Schon jetzt sind die Ambulanzen überlaufen, Behandlungen und Medikamente nur noch gegen Barzahlung zu haben. Schuld an dieser Misere ist die ungleiche Behandlung von Banken und Sozialkassen. Während man nach dem Schuldenschnitt im März die Geldhäuser rekapitalisierte, wurde nichts gegen die bei den Versicherungskassen aufgerissenen Finanzlöcher getan. Diese Institute sahen sich bis dahin per Gesetz gezwungen, ihr Vermögen in Staatsanleihen anzulegen, und zählten zu denen, die bei der Umschuldung viel Geld verloren. Wie nicht anders zu erwarten, bezahlen die Bürger einen Teil dieses „Haircuts“ und müssen gleichzeitig für das Unvermögen und die Verweigerungsmentalität ihrer Beamten büßen: Heizöl war bislang im Vergleich zu Diesel nur wenig besteuert. Also kauften Großhändler riesige Mengen an Heizöl und verkauften sie als Diesel weiter, mit dem Wissen ranghoher Politiker. Weil ein simpler Kontrollmechanismus nicht zustande kam, wurde der Steuersatz für Heizöl dem für Diesel kurzerhand angepasst. f o t o : D A N I P O Z O /A F P/ G e t t y I m ag e s ■■Richard Fraunberger Jeder gegen jeden Dabei könnte Griechenland in Geld schwimmen und der Staat seine Kassen in kurzer Zeit mit gut 40 Milliarden Euro füllen, würden Gelder aus säumigen Steuern, Schulden und Strafbescheiden eingetrieben. Doch kaum etwas geschieht. Immerhin sollen nun Freiberufler mit einem Einheitssteuersatz von 35 Prozent bedacht werden. Eine gute Idee, die 20 Jahre zu spät kommt und ohnehin an mangelnden Kontrollen scheitern dürfte. Laut einer Studie der University of Chicago sind es Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte und Architekten, die das meiste Geld am Fiskus vorbei schleusen – also genau jene Berufsgruppen, die besonders häufig im Parlament vertreten sind. Der dadurch verursachte Schaden wird auf mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. So bereichert sich eine Gesellschaftsschicht auf Kosten der anderen, so kämpft jeder gegen jeden. Einig ist man sich allenfalls bei der Suche nach Schuldigen: die deutsche Kanzlerin, die EU-Kommission, die eigenen Politiker. Was im Kaffeehaus völlig untergeht, ist der Umstand, dass die Regierung unter dem Druck der Troika der Bevölkerung unter anderem das abpresst, was jeder vor dem Fiskus zu verstecken sucht. Während die Regierungskoalition sich streitet und händeringend alles nieder kürzt, um Forderungen der Gläubiger zu erfüllen, und die Finanzpolizei gerade gegen 36 namhafte Politiker ermittelt, fordert die linke Oppositionspartei Syriza einen parlamentarischen Ausschuss, der Reparationszahlungen für die während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg begangenen Gräuel und verursachten Schäden eintreiben soll. Deutschland müsse seinen Verpflichtungen nachkommen, sagte Syriza-Chef Alexis Tsipras. Leider habe es bisher keine Regierung geschafft, Griechenlands berechtigte Ansprüche erfolgreich geltend zu machen. Ein erstaunlicher Schachzug, ausgerechnet diesen seit Jahren zwischen Athen und Berlin ausgetragenen Streit zu beleben. Dass Syriza in den Umfragen an Zuspruch verliert, könnte eine Erklärung dafür sein. Im Aufwind weiß sich die neonazistische Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgendämmerung). Augenblicklich liegt sie im Parteien-Ranking an dritter Stelle und würde bei Wahlen mehr Stimmen erhalten als die einst mächtige Pasok. Erst kürzlich zertrümmerten Parteimitglieder in Athen die Marktstände von Migranten. Sie hätten keine Lizenz, und da die Polizei nicht kontrolliere, schreite man eben selber zur Tat, hieß es zur Begründung. Der soziale Frieden unter den sonst toleranten und gelassenen Griechen schwindet erkennbar. Richard Fraunberger schrieb zuletzt über die Koalition aus Nea Dimokratia, Pasok und Dimar Fahrzeug-Puffer der Polizei vor dem Parlament in Madrid Wenn der Tiger erst einmal springt Spanien Die Politik von Premier Mariano Rajoy führt nicht nur zu immer größeren Protesten, sie fördert auch den Separatismus in den Regionen ■■Giles Tremnet T rümmer, die von den gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei vor dem Parlamentsgebäude in Madrid zurückbleiben, bezeugen, wie sich sozialer Widerstand radikalisieren kann. Vor einem Jahr noch hatten friedlich demonstrierende Indignados den Occupy-Aktivisten an der Wall Street Pate gestanden. Bei den jüngsten Protesten nun verweigerten Indignado-Gruppen eine Teilnahme, weil sich die Wut in Gewalt zu entladen drohte. Genau so kam es. Was zeigt diese Konfrontation? Zunächst einmal, dass die Regierung unter Premier Mariano Rajoy ungehaltener auf den Widerspruch der Straße reagiert als je zuvor in ihrer bisherigen Amtszeit. Regierungsbeamte werden nicht müde zu verkünden, bei den Demonstranten dieser Tage handele es sich um Krawallmacher, linke wie rechte. Vielleicht glaubte die Bereitschaftspolizei deshalb auch, sie dürfe ohne Identifikationsmarken aufmarschieren. Viele Spanier sehen in dieser Anonymisierung ein Indiz dafür, dass sich Sicherheitskräfte über dem Gesetz wähnen. Der eigene Staat Was sie in diesem Eindruck bestärkt, ist ein Tweet von José Manuel Sánchez von der Vereinigten Polizeigewerkschaft SUP. „Wir unterstützen Sie darin, keine Marken zu tragen“, schrieb er seinen Kollegen. „Gebt es ihnen!“ Jüngste Fernsehbilder von Gummiknüppeln und -geschossen gegen Demonstranten legen nahe: Genau das ist geschehen. Die Polizei rechtfertigt sich mit Protokollen, in denen steht, dass am Wochenende nach dem Marsch aufs Parlament 260 Kilogramm Steine zusammengetragen worden seien, die auf Polizisten geworfen wurden. „Der Regierung entgleitet die Kontrolle über das Land“, meint der sozialistische Oppositionsführer Alfredo Pérez Rubalcaba. „Es ist ein Fehler, angesichts sich häufender Demonstrationen nur über öffent- liche Ordnung zu reden, die gewahrt sein muss.“ Das kann als Ermahnung verstanden werden, sich stattdessen vielmehr dem Phänomen der Sezession zu widmen. Knapp vier Jahrzehnte nach dem Tod Francos im November 1975 zeigen sich im seinerzeit durch die Zentralregierung geschlossenen Abkommen mit den Regionen immer bedrohlichere Risse. Artur Mas, Chef der katalanischen Regionalregierung, fordert vorgezogene Wahlen für den 25. November, während sich in Barcelona Politiker aller Lager immer wieder gewaltigen Manifestationen für die Unabhängigkeit anschließen. Mas will den eigenen katalanischen Staat, und Wahlen würden sich als Plebiszit über diesen Ausfallschritt anbieten. Noch hüllt sich seine nationalistische Koalition Convergència Democràtica de Catanlunya (CDC) allerdings in Euphemismen und nimmt das Wort „Unabhängigkeit“ nicht in den Mund. Einmal aus dem Käfig gelassen, dürfte sich der Tiger schwer wieder einfangen lassen. Umfragen zeigen, dass sich inzwischen mehr als 50 Prozent der Katalanen von Madrid trennen möchten. Wie ernst diese Tendenz genommen wird, zeigt die Rückkehr des Königs aufs politische Parkett. Juan Carlos, der weithin als wichtigster Vermittler der spanischen Demokratie gilt, warnte die Separatisten davor, Schimären nachzujagen. Wütende Stimmen von ganz rechts drohen unverhohlen: Man habe doch eine Verfassung, nach der die Armee berufen sei, die Inte grität des Landes zu schützen. 1934 habe die republikanische Regierung sogar den Kriegszustand erklärt, als die Katalanen Wie ernst die Lage ist, zeigt die Intervention von König Juan Carlos schon einmal nach der Souveränität griffen. Premier Rajoy sorgt sich dennoch mehr um die rezessionsgeplagte Wirtschaft, die eine Arbeitslosenquote von 25 Prozent produziert, als um den Separatismus. Bis 2014 werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) noch einmal um drei Prozent schrumpfen, sagen Analysten. 2011 lag das Haushaltsdefizit bei neun Prozent. Nun soll es kategorisch reduziert werden, da sonst die Kreditaufnahme stetig wächst. Nur wie ein Defizit verringern, wenn dank Rezession die Einnahmen des Staates weiter abnehmen? Die Regierung hat einen Sparhaushalt und ein Reformpaket für 2013 vorgestellt, die für einen wahrscheinlichen Beistand (Bail-out) durch die anderen Euroländer vorbereiten sollen. Der jüngste Stresstest offenbarte, dass für eine Rekapitalisierung der durch die Immobilienblase geschwächten Banken etwa 60 Milliarden Euro gebraucht werden. Der Europäische Rat hatte Ende Juni beschlossen, dass aus dem Hilfsfonds EFSF 100 Milliarden an die fallsüchtigen Finanzhäuser gehen. Nur fließt dieses Kapital zunächst in den staatlichen Bankenrettungsfonds Frob und treibt die Staatsschulden nach oben. Ende September sprang so der Zinssatz, den Investoren für Kredite verlangen, erneut auf über sechs Prozent. Rajoy wird keine andere Wahl bleiben, als mit Haut und Haaren unter dem Rettungsschirm Zuflucht zu suchen. Die EU könnte das in einen Zwiespalt bringen, denn auch die katalanischen Nationalisten hoffen auf Zuspruch aus Brüssel bei ihrem Umgang mit dem spanischen Zentralstaat. Was sie sich vorstellen, reicht von völliger Unabhängigkeit und eigener EU-Mitgliedschaft hin zu einer neuen föderalen Übereinkunft mit Madrid. Das heißt, viele Katalanen betrachten Europa als ihre Rettung. Die EU-Spitzen sollten sich das vielleicht vor Augen führen, wenn sie über die Härte der Konditionen für einen der Staaten entscheiden, dessen Bürger mit größter Inbrunst auf Europa hoffen. Giles Tremnet ist Guardian-Kolumnist Übersetzung: Zilla Hofman 10 Politik der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Für tot Erklärte leben länger Venezuela Nachdem auf den schwerkranken Hugo Chávez schon die ersten Nachrufe geschrieben wurden, kehrt er vor den Präsidentschaftswahlen nun auf die politische Bühne zurück N och zwei Monate hätte er zu leben, meldeten Teile der venezolanischen Presse im Mai. Also dürfte es Hugo Chávez inzwischen nicht mehr geben. Wie dramatisch sein Zustand tatsächlich war, zeigte sich Anfang April, als er in einer Kirche seiner Geburtsprovinz Barinas kniete und weinte. „Jesus, gib mir deine Krone, gib mir dein Kreuz, gib mir deine Dornen, damit ich bluten kann – aber gib mir auch Leben. Ich möchte noch mehr für dieses Land und dieses Volk tun. Nimm mich noch nicht zu dir.“ Damals glaubten viele, Chávez werde die Präsidentenwahl am 7. Oktober nicht mehr erleben. Es ist wenig über seine Krankheit bekannt; sie wird wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Im Vorjahr soll der Comandante auf Kuba dreimal operiert worden sein. In dieser Zeit wurde das Land hauptsächlich per Twitter regiert, lästert die Opposition, die öffentlich fragt, ob die lange Absenz des Staatschefs verfassungskonform sei. Mitte Juli jedoch ließ sich Hugo Chávez als Kandidat für das Präsidentenvotum registrieren und teilte bei dieser Gelegenheit mit: „Ich bin absolut gesund und habe sogar angefangen, wieder eine Runde zu gehen!“ Der 58-Jährige gibt nicht mehr den streitbaren Caudillo, der „den Yankees einen Knock-out verpassen“ will, sondern den versöhnlich milden, teils romantischen Survivor. „Chávez, corazón de mi patria“ wird als das Chanson seiner Wahlkampagne intoniert. „Chávez, Herz meines Vaterlandes“, heißt es da und weiter: „Chávez ya no soy yo, Chávez es el pueblo“ (Chávez, das bin ich schon längst nicht mehr allein, Chávez ist das Volk). Ein einziges Jahr Verantwortlich für diese Metamorphose zeichnet Joao Santana, ein brasilianischer Marketingstratege, der zuvor schon in seinem Land die Kampagne für die Lula-Nachfolgerin Dilma Roussef managte. Santana versucht, die hartgesottene Chávez-Rhetorik weichzuspülen, wo es nur geht. Slogans wie „Yankees, fahrt zur Hölle!“ mögen zwar gut bei seinem Anhang ankommen, doch hat Chávez als Scharfmacher kaum Chancen, Stimmen bei den noch Unentschiedenen einzusammeln. Aber jede Konzilianz hat Grenzen: „Zu den Reichen im Land sage ich“ – so der Wahlkämpfer zuletzt gewohnt forsch –, „Sie tun gut daran, mich zu wählen, denken Sie darüber nach! Sind Sie an einem Bürgerkrieg interessiert? Ich glaube, keiner von Ihnen ist das!“ Wer verstehen will, weshalb 14 Jahre nach der ersten Präsidentschaft noch immer so viele Venezolaner hinter Chávez stehen, der sollte zum Gang durch Caracas aufbrechen und mit den Menschen reden. Mit Maria Toro etwa, der Eigentümerin eines Souvenirladens. „Wissen Sie, wann man eine Revolution erlebt?“, fragt sie. „Dies geschieht, wenn Wunder täglich Wirklichkeit werden. Die Bolivarische Revolution hat nur ein einziges Jahr gebraucht, um den Analphabetismus im Lande zu besiegen. Ist das keine Effizienz?“ Es sind Zweifel bei allzu viel Selbstlob angebracht, denn nach dem Statistischen Institut INE waren Ende 2011 etwa 95 Prozent der Venezolaner alphabetisiert, was trotzdem beeindruckt. Der 58-Jährige gibt nicht mehr den Caudillo, der den Yankees einen Knock-out verpassen will In Toros Laden stehen zwischen Hängematten und Puppen aus Afrika Kaffeebecher mit dem Bildnis der Präsidenten, der alte Omis knutscht. „Unter dem Comandante sind wir nationalistischer geworden. Deswegen werden immer mehr venezolanische Produkte gekauft. Natürlich stört das manchen, der es mit der Opposition hält. Sie kommen rein, drehen die Becher um, als ob eine Kakerlake zu sehen wäre, und rennen kreischend weg“, erzählt Toro. Auch Elsy Torrealba glaubt fest an die Revolution und Chávez’ „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Man findet sie an der Esquina Caliente (heißen Ecke) am Plaza Bolívar im Zentrum von Caracas. „Ich bin eine Revolutionärin“, sagt die 55-Jährige. Torrealbas Esquina besteht aus sechs Reihen mit Plastikstühlen, von denen aus Senioren das in einem Partyzelt dargebotene Fernsehprogramm verfolgen können, das allerlei Gutes über die Revolution verkündet. Torrealba hat klare Vorstellungen, wie ein Revolutionär sein soll. „Das ist jemand wie Ché Guevara, der alles für die Gemeinschaft gibt, ohne davon selbst Vorteile zu haben. Ich selbst hatte bisher nicht viel von der Revolution, aber es geht Venezuela deutlich besser. Und allein das zählt!“ Ob sie das genauer beschreiben könne. „Señor, das führt zu weit. Aber gut, denken Sie nur an die Misión Sucre, die Misión Barrio Adentro, die Misión Vivienda, die Misión Robinson, die Misión En Amor Mayor ...!“ Torrealba vergisst kein Sozialprogramm der Regierung. In der Tat hat Hugo A n z ei ge PapyRossa Verlag | Luxemburger Str. 202 | 50937 Köln Charlotte Wiedemann Werner Ruf Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben Der Islam – Schrecken des Abendlands Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt 186 Seiten, 12,90 Euro 978-3-89438-494-4 Als langjährige Auslandsreporterin im Iran, in Afrika und Südostasien zeigt Charlotte Wiedemann in diesem Werkstatt-Bericht, wie Journalismus unser Weltbild prägt. Dem Eurozentrismus des Mainstreams setzt sie einen Journalismus entgegen, der Respekt und Information statt kontextloser Nachrichten bietet. Wie sich der Westen sein Feindbild konstruiert 129 Seiten, 9,90 Euro 978-3-89438-484-5 Die Konflikte von heute, so Samuel P. Huntington, seien solche mit gefährlichen Kulturen wie dem Islam. Der einst biologisch begründete Rassismus kommt nun kulturell daher. Die Debatte um Sarrazin und der »Karikaturenstreit« markieren nur die Spitze des Eisbergs einer sich europaweit formierenden Rechten. Tel. (02 21) 44 85 45 | mail@papyrossa.de | w w w . p a p y r o s s a . d e F o t o : J U A N B A R R E TO /A F P/ G e t t y I m age s ■■Jeroen Kuiper Hugo Chávez – der ewige Präsident Rotes Barett Seine erste Wahl gewinnt Hugo Chávez Ende 1998 mit 56 Prozent der Stimmen. Sein Erkennungszeichen ist das rote Barett der Fallschirmjäger. Im Amt proklamiert er Venezuelas Bolivarische Revolution. Staatsstreich scheitert Im April 2002 putscht ein Teil der Streitkräfte und stellt Chávez für 48 Stunden unter Arrest. Massenproteste in Caracas sowie das Verhalten loyaler Einheiten erzwingen seine Freiheit und die Rückkehr ins Amt. Chávez Milliarden in die Bildung seiner Landsleute, eine kostenlose Gesundheitsfürsorge, in Wohnungen für Arme und Pensionen für Alte gesteckt. Die Popularität des Präsidenten stieg oder fiel mit den Ausgaben für die Misiónes. Hugo Pérez, Professor für Sozialwissenschaft an der Universität Caracas, relativiert, sicher sei die Armut im Land gewichen. Aber das gelte nur bis 2007. Seitdem gebe es wieder einen entgegengesetzten Trend. Beim Votum am 7. Oktober ist Henrique Capriles der aussichtsreichste Bewerber der Opposition. Der Sohn einer jüdischen Polin und eines Vater mit Wurzeln auf Curacao kommt aus einem wohlhabenden Milieu. Der 40-Jährige setzt sich vom „alten, angeschlagenen Caudillo“ (wie er Chávez bezeichnet) schon dadurch ab, dass er seine Wahlmeetings regelmäßig nach kilometerlangen Fußmärschen erreicht, was Chávez zu parieren sucht, indem er seinen Gegner nie beim Namen, sondern stets nur Majunche – Verlierer – nennt. Capriles verkörpere die Oligarchie, der nichts weiter vorschwebe, als die seit 1999 verfolgte Sozialpolitik zu beenden. Tatsächlich hat der Bewerber mehrfach angedeutet, bei einigen Misiónes bleiben zu wollen. Anfangs führte Chávez in allen Umfragen, doch Capriles hat aufgeholt. Hugo Pérez meint: „Wer auch immer gewinnt, muss sich einer Inflation von mehr als zehn Prozent wie einer völlig außer Kontrolle geratenen Kriminalität erwehren. Zudem ist Venezuela hoch verschuldet. Genau genommen wäre es für Chávez gar nicht so schlecht, jetzt dem unerfahrenen Capriles den Vortritt zu lassen, um in fünf Jahren als Retter in Not zurückzukehren.“ Was passiert, sollte sich die Gesundheit von Chávez erneut verschlechtern? Pérez: „Die Nachfolge ist nicht geregelt, aber es Noch ein Triumph 60 Prozent der Wähler verhindern im August 2004 per Plebiszit ein gegen Chávez gerichtetes Amtsenthebungsverfahren der Opposition. Der Präsident feiert den Sieg als „sauber und transparent“. Schlag ins Kontor Mit der dritten Präsidentschaft, die Chávez 2006 mit 63 Prozent klar gewinnt, ereilt den Comandante eine schwere Niederlage: Er verliert Ende 2007 das Referendum über eine neue Magna Charta des Landes. gibt Kandidaten wie Außenminister Nicolás Maduro, Parlamentspräsident Diosdado Cabello oder jemanden aus der Chávez-Familie. Sie alle haben zwar nicht dieses Charisma, aber der Chávismo wird nicht von heute auf morgen verschwinden. Chávez hat Hunderttausende politisiert – von moderaten Sozialdemokraten über Kommunisten bis zu Milizionären in den Volksvierteln von Caracas, die ihre Revolution verteidigen wollen.“ „Reich sein ist schlecht, reich sein ist inhuman!“, intonierte Chávez 2009. „Es ist wichtiger, nützlich zu sein!“ Um zu unterstreichen, was gemeint war, aß er einen Keks, der aus dem Mund eines neben ihm stehenden Knirpses kam. „Schauen Sie sich dieses Kind an, merken Sie sich seine Generosität! Später kommt die kapitalistische Gesellschaft, die uns mit Egoismus betankt. Aber dieses Kind teilt mit mir, was es in seinem Mund hat. Gott segne es!“ Gott segne dieses Kind! Laut Vladimir Villegas, einst Vizeaußenminister, sei es eine Illusion zu glauben, dass aus Venezuela ein sozialistisches Land werde. „Chávez ist ein Mann der Armee, demokratische Institutionen findet er hinderlich. Er ist letztendlich nur an einem interessiert – und das ist die Macht. Er träumt von einem Superstaat, der ihm völlig zu Diensten ist. Ich weiß nicht, ob er einen Masterplan hat, wo genau er mit seinem Land hin will. Natürlich redet er viel über Simon Bolívar, aber irgendwann zeigte er sich auch am Dritten Weg von Tony Blair interessiert. Wie kann das Sozialismus sein? Seine Politik erinnert an tropischen Obstsalat. Von allem etwas.“ Seit Villegas 2007 mit Chávez brach, schmäht er ihn als zwielichtigen Populis- Notfalls 200 Jahre Die Bolivarische Revo lution werde noch 200 Jahre dauern, verkündet Chávez im Februar 2009 nach dem Sieg bei einem weiteren Verfassungs referendum, das ihm eine unbegrenzte Amtszeit sichert. LH ten, der seinem Land mehr schade als nütze. „Die Gewaltenteilung funktioniert nicht mehr. Wir haben mittlerweile Militärrichter. Weder ist die Autonomie der Universitäten garantiert noch das Privateigentum geschützt.“ Kaum anders äußert sich Douglas Bravo, Venezuelas berühmtester Ex-Guerillero, der in den siebziger Jahren in den Bergen gegen die Armee kämpfte. 1992 holte er zusammen mit Chávez und anderen Militärs zu einem Coup d’Etat aus, der scheiterte. Seinerzeit habe Chávez, erinnert sich Bravo, noch nicht an den Sozialismus geglaubt. „Sein größtes Verdienst besteht darin, dass unter seiner Präsidentschaft, Venezuelas politische Linke erstmals darüber nachdenken musste, was sie genau will. Ansonsten aber hat Chávez einfach die alte Bourgeoisie durch eine andere ersetzt. Für mich gibt es nichts Sozialistisches an seiner Politik. In Venezuela dreht sich noch immer alles um die Öl-Einnahmen. Wir haben eine Economía de Puerto (Hafenwirtschaft J.K.). Wir produzieren nichts, die Landwirtschaft ist tot, wir importieren nur. Trotz seiner linken Rhetorik bleibt Chávez Garant für das Öl des kapitalistischen Westens. Daher herrscht bei uns noch immer Staatskapitalismus.“ Hugo Chávez selber sieht das natürlich anders. „Ein Wahlsieg ist kein Luxus – das ist eine Notwendigkeit!“, schärft er bei allen Kundgebungen seinen Anhängern ein. „Eine Niederlage für die Bolivarische Revolution wäre nicht nur eine Niederlage für Venezuela. Es wäre eine Niederlage für die ganze Welt!“ Jeroen Kuiper hat jüngst im Freitag über das Los der Bergarbeiter in den Stein kohlengruben Kolumbiens geschrieben der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Positionen 11 Meinungen und Essays finden Sie unter freitag.de/positionen. Widerspruch? Kommentieren Sie! Geheimnisvolle Nabelschnur Community Debatte Urheberrecht Der Begriff „geistiges Eigentum“ ist ein Geschöpf der Romantik. Wir aber stehen vor einer neuen Revolution Alzheimer vorbeugen: die Suche nach dem richtigen Weg ■■Wolfgang Michal F Sonderstellung des Autors Vor der bürgerlichen Revolution war das Urheberrecht nämlich ein rein vermögensrechtlich ausgerichtetes Verlagsrecht. Es schützte den Verleger vor dem illegalen Nachdruck „seiner“ (dem Autor abgekauften) Manuskripte. Bei der Durchsetzung dieses Schutzrechts half ihm in der Regel ein vom Feudalherrn verliehenes Privileg. Wenn heutige NetzSchlaumeier behaupten, unser gegenwärtiges Urheberrecht sei nichts anderes als ein Privilegienrecht der Verwerter, so blenden sie den für die Urheber wichtigsten Zeitabschnitt – die Romantik – einfach aus. Sie unterschlagen die emanzipatorische Weiterentwicklung des Verlagsrechts zum Autorrecht. Die Erfindung des bürgerlichen Persönlichkeitsrechts war auch der philosophisch-juristische Hebel, um den Autor als neuen „Player“ in das bis dahin auf Verleger beschränkte Interessenspiel einzuführen. Jetzt stritten nicht mehr nur die Verleger untereinander um die Druckberechtigung, es stritten zwei verschiedene Parteien um dasselbe „geistige Eigentum“. Der Schutz der persönlichen Interessen der Urheber am Werk mischte sich nun a) mit den wirtschaftlichen Interessen der Urheber und b) mit den wirtschaftlichen Interessen der Verwerter. Diese Verquickung stürzte die Juristen in begriffliche Konfusion. Denn das geistige Eigentum war nun einerseits im Sinne von a) und b) vollständig veräußerbar und deshalb zwischen den beteiligten Interessengruppen als Wirtschaftsgut frei verhandelbar, Gegen diese Form von Demenz ist bis jetzt kein Kraut gewachsen. Jedoch ist der Verzehr von Obst und Gemüse laut Community-Mitgliedern in jedem Fall empfehlenswert. Beim Fett ist es wie mit den anderen Lebensmitteln: je weniger verarbeitet, desto besser. Angeblich cholesterinsenkende Margarine ist ein Kunstprodukt und bestimmt nicht gesund. Sie enthält pflanzliche Sterine. Industriell gehärtete Fette, Transfette, müssen verboten werden. Sie verursachen Diabetes, Alzheimer, Herzkrankheiten und sind für Ungeborene schädlich. In Dänemark wurde ein Grenzwert für Transfettsäuren festgelegt. In den USA und Kanada muss auf Lebensmittelpackungen der Gehalt an trans fats angegeben werden. Schachnerin I l l u s t r at i o n : O t t o F ü r d e r F r e i ta g ür Leute, die Ordnung und Systematik schätzen, ist das deutsche Urheberrecht die ultimative Herausforderung. Seit 100 Jahren versuchen sich kluge Köpfe an einer Neuordnung – es gelingt ihnen aber nicht, denn unsere Rechtsphilosophen und Begriffsjuristen sind dermaßen verliebt in ihre Haarspaltereien und pathetischen Irrationalismen, dass die Formulierung eines klaren positiven Rechts durch Rechthaberei nur weiter verzögert wird. Dazu gehört auch der religionskriegähnliche Streit um Inhalt und Begriff des „geistigen Eigentums“. Das moderne deutsche Urheberrecht – entwickelt unter dem Eindruck der französischen Revolution (und in Preußen 1837 erstmals kodifiziert) – ist bis heute eine romantische Verquickung von Persönlichkeits- und Vermögensrechten, die so unauflösbar miteinander verquirlt sind, dass nur Explosivstoffe beide wieder voneinander trennen können. Das geistige Werk, das ein Urheber aus seinem Innersten heraushebt – wie die Romantiker glauben –, existiert zwar nach der Schöpfung als ein selbstständiges Wirtschaftsgut außerhalb seines Schöpfers, bleibt aber auf geheimnisvolle Weise mit diesem verbunden! Für Verwerter und Nutzer ist diese fast schon mystische Rückbindung bis heute ein steter Quell des Ärgernisses. Doch für den Urheber war die „Erfindung“ des „Autorrechts“ ein enormer Fortschritt. Das Autorrecht ist mit der Arbeits- und Eigentumstheorie John Lockes verbunden und wurde von Naturrechtsphilosophen, Aufklärern und Idealisten (Kant, Fichte, Hegel) definiert und erstritten. Geistiges Eigentum war demnach eine Folge der bürgerlichen Persönlichkeit und der Freiheit des Individuums (Hegel!). Nur in einem freien Bürger konnte etwas so Fundamentales wie das (An-)Recht auf Sachen entstehen – und zwar auf körperliche wie auf unkörperliche. An diese idealistische Tradition knüpfen Schriftsteller, Tatort-Autoren oder Chefredakteure an, wenn sie pathetische Manifeste und wortmächtige Wutreden für den Schutz des geistigen Eigentums unterzeichnen. Sie verkennen dabei, dass wir uns nicht mehr in der Romantik, sondern am Anfang der nächsten Revolution befinden. Das Urheber-Persönlichkeitsrecht ersetzte in der Zeit der Romantik allmählich den Begriff des geistigen Eigentums, das bis zu dieser Wende als reines Immaterialgüterrecht verstanden wurde. In vor-romantischer Zeit verkaufte ein Schöpfer sein Werk komplett an einen Verleger. Die idealistische Vorstellung einer unauflösbaren Einheit von Schöpfer und Werk existierte noch nicht. Also betrachtete sich der Verleger nach dem Kauf des Manuskripts auch als hundertprozentiger Eigentümer des in den Druckbuchstaben enthaltenen geistigen Werks. Das Manuskript wechselte – wie die Fachjuristen sagen würden – „als restlos übertragbares Wirtschaftsgut“ für einen Batzen Geld den Eigentümer. Wenn NetzSchlaumeier sagen, unser Urheberrecht sei ein Privilegienrecht der Verwerter, blenden sie den wichtigsten Zeitabschnitt aus andererseits war es untrennbar mit der Gruppe der Urheber verwachsen. Diese Sonderstellung der Autoren im modernen Urheberrecht verteidigen die Urheber seither mit Zähnen und Klauen. Im Laufe der Jahre wurde die juristische Argumentation so parteiisch, dass der „materielle Gehalt“ des geistigen Eigentums aus dem Blick geriet. Diesen könnte man in dem sperrigen Satz zusammenfassen: „Geistiges Eigentum ist die Idee einer allein kraft Schöpfungsaktes in der Person des Erzeugers entstehenden ausschließlichen und übertragbaren Berechtigung am geschaffenen Geisteswerk.“ Der ursprüngliche Begriff des geistigen Eigentums meinte also nicht das Eigentum im landläufigen Sinn (wie das Sacheigentum) – er zielte vielmehr auf die Idee einer exklusiven und übertragbaren Berechtigung. Das heißt: Schöpfer und Werk werden sofort nach der Geburt getrennt. Der Schöpfer hat lediglich die exklusive Berechtigung, das Werk zu verwerten. Er kann diese Berechtigung an Dritte übertragen. Damit steht das vom Schöpfer abgenabelte geistige Eigentum als handelbares Gut im Zentrum der juristischen Überlegungen – und nicht der Besitzanspruch des Schöpfers. Zweck einer Schöpfung ist ja die Veröffentlichung, nicht ihr Privatbesitz. Der materielle Gehalt des geistigen Eigentums entspricht damit dem Begriff des Immaterialgüterrechts, wie ihn der deutsche Jurist Josef Kohler 1907 geprägt hat, um den ideologisch überfrachteten Begriff des Privateigentums zu vermeiden und das begriffliche Kuddelmuddel juristisch aufzulösen. Kohler, davon ist der Schweizer Wirtschaftsjurist Cyrill P. Rigamonti überzeugt, hat die ideologische Verkürzung des geistigen Eigentums auf Privateigentum rückgängig gemacht und den rechtsdogmatischen Gehalt des geistigen Eigentums in seiner ursprünglichen Bedeutung „restauriert“. Diese ursprüngliche Bedeutung meint eben nicht Eigentum, sondern „ein Recht an einem außerhalb des Menschen stehenden, aber nicht körperlichen, nicht fass- und greifbaren Rechtsgut“. Würde man Kohlers Sichtweise akzeptieren, könnte man die verschiedenen Interessen, die auf das gleiche Werk gerichtet sind, rechtlich besser zueinander in Beziehung setzen. Es würde nämlich anerkannt, dass Urheber, Nutzer und Verwerter ein prinzipiell gleichberechtigtes (wenn auch unterschiedliches) Interesse an sämtlichen geistigen Schöpfungen haben. Die Sonderstellung der Urheber würde kassiert. Kohler, so Rigamontis Überzeugung, vollendete damit die Entwicklung des Urheberrechts vom einstigen Verlags- zum kommenden Immaterialgüterrecht, indem er die romantische Konstruktion des mit seinem Schöpfer verwachsenen Eigentums eliminiert. Kohlers Vorstellungen entsprachen allerdings nicht den sozialen Ideen seiner Zeit, und so wandte sich die Debatte in den folgenden 100 Jahren wieder von der Immaterialgüteridee ab. Man pflegte das „geistige Eigentum“ lieber als sozial-politischen Kampfbegriff, anstatt seinen ursprünglichen Gehalt als Chance für einen neuen Interessenausgleich zwischen Verlegern, Autoren und Verbrauchern zu begreifen. Einsatz der Verwerter In den Jahren der Weimarer Republik verfestigte sich die Auffassung weiter, dass das Urheberrecht einzig den Urhebern zu dienen habe und für deren Interessenmaximierung geschaffen sei. Die Rechtsprechung der Bundesrepublik hat diese Sichtweise übernommen. Deshalb wurden sämtliche Einschränkungen zugunsten anderer Interessen (wie etwa denen der Verbraucher) als „Ausnahmen“ oder „Schrankenregelungen“ formuliert und meist mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums nach Art.14 GG begründet. Die ideologische Aufladung des Begriffs „geistiges Eigentum“ erfolgte im Übrigen nicht von rechts, sondern von Seiten der SPD und der Gewerkschaften, die im Urheberrecht den Hebel sahen, Künstlern ein gesichertes Einkommen zu verschaffen. Erst spät erkannten die Verwerter, dass der Begriff des geistigen Eigentums auch für ihre Interessen hervorragend einsetzbar ist, insbesondere zur Abwehr der mit dem Internet aufkommenden Nutzer-Ansprüche. Die bestehende große Koalition aus Urhebern und Verwertern für ein politisch verstandenes „geistiges Eigentum“ ist dieser historischen Entwicklung geschuldet. Es führt deshalb zu nichts, den unterschriftsfreudigen Urhebern immer wieder ihren „veralteten Begriff vom geistigen Eigentum“ um die Ohren zu hauen. Die Urheber werden ihn verteidigen, weil er mit ihrer Emanzipationsgeschichte verbunden ist. Produktiver wäre es, wenn die heutigen Netzpolitiker den ungeliebten Begriff endlich akzeptieren würden, ihm aber sein ideologisches Mäntelchen ausziehen und konstruktiv mit ihm arbeiten – im Sinne der Schaffung eines modernen Immaterialgüterrechts. Wolfgang Michal bloggt unter wolfgangmichal.de. Lektürehinweise: Cyrill P. Rigamonti Geistiges Eigentum als Begriff und Theorie des Urheberrechts (2001); Ludwig Gieseke Vom Privileg zum Urheberrecht, Die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland bis 1845 (1995) Es käme auf einen Versuch an, Supermärkte zu eröffnen, die lediglich die notwendigen Lebensmittel und die für den Alltag gebräuchlichen Dinge anbieten. Man wird regelrecht erschlagen von dem immer größeren Massenangebot an Süßigkeiten. Allein schon bei der Betrachtung des süßlichen Angebots reagiert das Gehirn mit einem Insulinschub, was sich später dann, als Nebeneffekt, bei manchen Kindern als Aufmerksamkeitsdefizit Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) fortsetzt. Martin Gebauer Es fehlt die Kontrollinstanz, die den schädlichen Teil der Industrie dicht macht. Aber woher soll diese Kontrolle kommen im marktfreien Betrieb, der den Abgeordneten Lobbyisten vor die Nase setzt? Dieses System macht immer mehr Menschen krank. Aber solange die (Einfluss-)Reichsten den Eindruck machen, dass es ihnen noch gut geht, wird der Karren jeden Tag tiefer in den Dreck gefahren. h.yuren Im Zusammenhang mit der Ernährung ist wichtig, dass langsam das erschreckende Ausmaß des Ein flusses belegt werden kann. Es lohnt sich, kalorienbewusst und ausge wogen zu kochen und zu essen, die Umstände der täglichen Mahlzeiten in den Griff zu bekommen, sich zu bewegen und Stoffwechsel entgleisungen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Alzheimer-Demenz, ursprünglich eher genetisch begründet und daher schicksalhaft hingenommen, wird wohl durch alltägliches und lang jähriges Verhalten mitgesteuert und ausgelöst. Columbus Alle, die jetzt Alzheimer haben, haben Notzeiten erlebt und waren mehrjährig mangelernährt. Speziell in Kindheit und Jugend. TheBigRedOne Wirklich vorbeugen kann man, nach aktuellem Wissensstand, durch moderates Ausdauertraining von 30 Minuten pro Tag, das kann auch schon Spazierengehen sein. Das senkt das Risiko für Herzkreislauferkrankungen, Krebs und Demenz, und zwar auch wenn man Über gewicht hat. Bewegung hat einen positiven Einfluss auf den Effekt von Insulin. Es könnte natürlich sein, dass Menschen, die sich be wegen, auch sonst eher dazu neigen, sich der Gesundheit zuträglich zu verhalten. Man sieht, es ist kompliziert. merdeister ≫ freitag.de/community K l e i nA n z e i g e Kur in Kolberg in Polen. 14 Tage ab 429 Euro! Hausabholung inkl.! Hotelprospekte und DVD-Film gratis! Tel. 0048943555126 www.kurhotelawangardia.de der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 12 Chronik F O T O S : A F P/ G E T T Y I M A G E S Die Woche vom 27. September bis 2. Oktober 2012 Gorleben Syrien Urteil China USA Strahlende Kanzlerin Für immer verloren Vermittlung von Toleranz Ausgestoßen Ohne Terror-Stigma Die Opposition mühte sich redlich, aber an Angela Merkel bissen sich SPD, Grüne und Linke im Gorleben-Untersuchungsausschuss die Zähne aus. Als Bundesumweltministerin hatte sie sich in den neunziger Jahren stets für den niedersächsischen Salzstock als Atomendlager ausgesprochen, ohne dass der mit anderen möglichen Standorten verglichen worden war. Hat sie die Standortsuche also manipuliert? Es dürfte kaum überraschen, dass die Kanzlerin vor dem Ausschuss alle Unterstellungen zurückwies. Auf die Frage, warum sie sich damals nicht so differenziert ausgedrückt habe, antwortete sie nur: „Weil ich damals noch nicht so perfekt war wie heute.“ MYS Bei den Gefechten in Aleppo ist ein Teil des historischen Zentrums zerstört worden. Das zeigt ein Video der syrischen Opposition. Darauf zu erkennen sind brennende Geschäfte und Marktstände, die zum weltberühmten Basar Aleppos gehören. Seit August herrscht in der Handelsmetropole ein fragiles Patt – Assad-Armee und Rebellen-Einheiten beherrschen jeweils eine Hälfte der Stadt. Da die Kämpfe nicht abflauen, leidet die urbane Infrastruktur, so dass manche Viertel tagelang ohne Wasser bleiben und Löscharbeiten unmöglich sind. Mit der Zerstörung des alten Suoks von Aleppo hat der Bürgerkrieg bei einer weiteren Stätte des Weltkulturerbes zu irreversiblen Schäden geführt. LH Mit dem Antrag auf Befreiung ihrer Tochter vom Schwimmunterricht ist eine muslimische Familie vor dem hessischen Verwaltungsgerichtshof gescheitert. Einen Burkini – einen weiten Ganzkörperbadeanzug – anzuziehen reiche nicht, der Koran verbiete auch gemeinsamen Schwimmunterricht mit Jungen, argumentierten die Zwölfjährige und ihre Eltern. Berührungen seien nicht ausgeschlossen. Doch der Gerichtshof bekräftigte den staatlichen Erziehungsauftrag. Im Unterricht gehe es auch um die Vermittlung von Toleranz im Umgang mit Andersgläubigen, und auch das Mädchen könne sich dem nicht entziehen. Die Familie kann jetzt vor dem Bundesverwaltungsgericht klagen. MYS Noch im Mai galt Bo Xilai als designiertes Mitglied im Ständigen Ausschuss des KP-Politbüros, dem inneren Führungskreis. Nun ist der Ex-Parteichef der Metropole Chongqing aus der Partei verbannt und wird schwerer Vergehen angeklagt. Wie die Agentur Xinhua informiert, soll Bo in Kürze vor Gericht stehen. Ihm würden „Amtsmissbrauch, Bestechlichkeit und andere Verbrechen“ vorgeworfen. Schon für Korruption kann in China die Höchststrafe verhängt werden. Im August war Gu Kailai, die Ehefrau des außer Dienst gestellten Politikers, eines Giftmordes für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden. Inzwischen wurde die Strafe in lebenslängliche Haft umgewandelt. LH Die von der US-Regierung geführte Liste terroristischer Vereinigungen wird kürzer. Sie muss ohne die Mujahedin-e Khalq (MEK/Volksmujahedin) auskommen. Wie das State Department mitteilt, trägt die iranische Gruppierung nicht länger das TerrorStigma. Schon 2001 hatten die MEK der Gewalt offiziell abgeschworen. Die Volksmujahedin spielten 1979 eine Schlüsselrolle beim Sturz des Schah und folgten damals einem militanten Anti-Amerikanismus. Bald darauf ins irakische Exil vertrieben, wurden sie von Diktator Saddam Hussein als Fünfte Kolonne gegen den Iran in Reserve gehalten. Vor Jahren bereits hat die EU die Volksmujahedin aus ihrem Terror-Dossier gestrichen. LH 1962 Bedingt demokratisch ■ Wolfgang Wippermann D ie Bundeswehr war 1962 nur „bedingt abwehrbereit“. Sie wäre nicht in der Lage gewesen, einen (vermuteten!) Angriff der Truppen des Warschauer Paktes abzuwehren. Zu dieser Einschätzung der Lage in einem wohlgemerkt vermuteten Konfliktfall hatte das NATO-Herbstmanöver Fallex 62 geführt. Das war allgemein bekannt und wurde auch einigen Journalisten des Magazins Der Spiegel bekannt gemacht. Sie verwerteten die ihnen von einigen Militärs zugesteckten Informationen für einen Artikel, der am 8. Oktober 1962 unter der Überschrift „Bedingt abwehrbereit“ veröffentlicht wurde. Dies geschah freilich erst, nachdem sein Inhalt wiederum mit Militärs und Politikern abgesprochen, dazu vom Bundesnachrichtendienst (BND) überprüft worden war. Es handelte sich um eine höchst merkwürdige, ja eigentlich skandalöse journalistische Praxis, die es in einer vollendeten Demokratie nicht geben sollte. Diesem Anspruch genügte die Bundesrepublik nicht – sie war nur bedingt demokratisch. Schließlich griff der Staat ein und machte aus der Spiegel-Affäre einen Staatsskandal. Es kam dazu, als am 28. Oktober 1962 normale und Sondereinheiten der Polizei wie die „Sicherungsgruppe Bonn“ die Redaktion des Spiegel besetzten, Dokumente konfiszierten und Journalisten verhafteten, darunter den Herausgeber und Chefredakteur Rudolf Augstein. Das Szenario erinnerte die Zeitgenossen an Vorgänge, wie sie sich 29 Jahre zuvor in ähnlicher Form in den ersten Monaten der NS-Diktatur abgespielt hatten. Doch lassen wir diesen möglicherweise unzulässigen Vergleich zwischen einer deutschen Diktatur und einer deutschen Demokratie und widmen uns zunächst der Frage, warum der Staat so spät zugriff. Was war zwischen dem 8. Oktober 1962, als die „Bedingt abwehrbereit“-Nummer des Magazins erschien, und den überfallartigen Festnahmen und Durchsuchungen Ende Oktober geschehen? Um die Frage zu beantworten, müssen wir unseren Blick vom nebligen Hamburg auf das sonnige Kuba richten. Hier hatten die Sowjets Abschussvorrichtungen für Mittel- streckenraketen installiert. Von denen hätte, wären sie mit Atomköpfen bestückt worden – was bekanntlich nicht passiert ist – eine direkte Bedrohung der USA ausgehen können. Die so hervorgerufene neue militärische Lage hätte eine neue militärische Strategie der NATO erfordern können. Im englischen Kauderwelsch des Nordatlantikpaktes gab es die bereits unter dem Label preemptive strike – sie meinte einen präventiven Atomkrieg. Tatsächlich haben den seinerzeit NATO-Generäle ernsthaft erwogen und vorgeschlagen – nicht zuletzt unter Verweis auf die Lehren des NATOHerbstmanövers Fallex 62. Ihrer Auffassung schloss sich der damalige westdeutsche Verteidigungsminister an. Sein Name war Franz Josef Strauß. rie Hier schließt sich der SpiegelFreitag-Se Kreis. Im bewussten Artikel war die Preemptive-Strike-Strategie r Bonner Tabus de zwar mit keinem Wort erwähnt Republik worden, man hätte sie aber zwischen den Zeilen lesen und folgende Forderung aufstellen können: Anstatt einen Angriff der Truppen des Warschauer Paktes mit konventionellen Waffen abzuwehren, sollte die NATO lieber mit atomaren angreifen. Ein präventiver Atomkrieg verstieß allerdings gegen nationales und internationales Recht. Immerhin war die „Vorbereitung eines Angriffskrieges“ vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal 1945/46 geächtet worden. Angeklagt, einen Angriffskrieg geplant und ausgelöst zu haben, waren von diesem Gericht Generäle und Politiker Hitlers als Kriegsverbrecher zum Tode beziehungsweise zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Das wollten sowohl die alten wie die neuen Generäle und Politiker der Bonner Republik unbedingt vermeiden. Daher – um von sich und ihrer Schuld abzulenken – riefen sie „Haltet den Dieb!“ und verlangten, diesen vermeintlichen Dieb in Haft zu nehmen. Gemeint war der Spiegel. Die Spiegel-Redakteure wurden aber nicht wegen Diebstahls von irgendwelchen geheimen Dokumenten (die waren ihnen ja von den Generälen und Politikern ausgeliefert worden), sondern wegen Landesverrats verhaftet. Dabei handelte es sich um ein Vergehen, das von den autoritären und zutiefst antidemokratischen F O T O : F R I T Z F I S C H E R / D PA Zeitgeschichte Mit der Spiegel-Affäre kommt es zu einem Staatsskandal, wie ihn die Bundesrepublik noch nicht erlebt hat. Der danach gern reklamierte Liberalisierungsschub bleibt aus Augstein (l.) und Ahlers nach ihrer Freilassung im Februar 1963 Besonders empörend war, dass der „Spiegel“Redakteur Ahlers durch die Polizei eines faschistischen Staates verhaftet wurde Vorgängern der Bundesrepublik erfunden, ins Strafgesetzbuch geschrieben und für antidemokratische und zutiefst verbrecherische Zwecke und Ziele genutzt worden war. Dennoch und obwohl der entsprechende Paragraf 94 des deutschen Strafgesetzbuches von den siegreichen Alliierten kassiert wurde, hatten ihn die demokratische Bundesrepublik wie die diktatorische DDR wieder in Kraft gesetzt und für Zwecke verwandt, die fundamentalen demokratischen Grundsätzen widersprachen. Dies war nicht nur, aber besonders beim Spiegel-Skandal der Fall. Bei dem es sich genau genommen gleich um mehrere Skandale handelte. Zu der unrechtmäßigen Festnahme der Spiegel-Redakteure in Deutschland durch deutsche Polizisten kam die Verhaftung des Spiegel-Redakteurs Conrad Ahlers in Spanien durch spanische Polizisten. Schon dies war empörend. Noch empörender war jedoch, dass die Verhaftung von Ahlers durch die Handlanger eines faschistischen Staates erfolgte, womit man es bei Francos Spanien zweifellos zu tun hatte. Ungeachtet dessen unterhielt die Bundesrepublik enge Beziehungen zu Francos Diktatur – dies nicht nur in politischer und wirtschaftlicher, sondern auch in militärischer Hinsicht. Kurz zuvor hatte man sich in Bonn sogar um Militärbasen auf der Iberischen Halbinsel be- müht. Es lässt sich zumindest vermuten, dass die Geheimdienste beider Länder recht gut miteinander konnten. Ohne diese Kooperation hätte es nicht zur sofortigen Festnahme von Ahlers kommen können. Damit war die Skandal-Kette noch nicht zu Ende. Skandalös und eines demokratischen Rechtsstaates unwürdig war ferner, dass einige der Ende Oktober 1962 verhafteten Journalisten erst im Februar 1963 wieder auf freien Fuß kamen, obwohl es von Anfang an außer Frage stand, dass sie in keiner Weise für die ihnen angelasteten Vergehen verantwortlich waren. Hier saßen völlig Unschuldige in Haft. (Einige von ihnen teilten dieses Schicksal mit Personen, die nach und wegen des KPD-Verbots von 1956 zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren.) Mindestens ebenso skandalös war es, dass die am Spiegel-Skandal wirklich schuldigen Politiker und Polizisten ihre nur kurz unterbrochene berufliche und politische Karriere fortsetzen konnten. Der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß wurde zwar von Kanzler Adenauer entlassen, stand aber bei der Bundestagswahl 1980 kurz davor, selbst Regierungschef zu werden. All das scheint heute vergessen. Der Ausgang der Spiegel-Affäre wird landauf und landab und in nahezu allen Medien als Beweis für die Festigkeit der westdeutschen Demokratie und ihre Überlegenheit gegenüber der ostdeutschen Diktatur gefeiert. Letzteres ist sicher richtig. Doch hat die Spiegel-Affäre wirklich einen „kräftigen Liberalisierungsschub“ gebracht, wie der Historiker Heinrich August Winkler meinte? Hier sind Zweifel angebracht. Immerhin blieb vieles von dem dauerhaft beschädigt, was im Herbst 1962 Schaden genommen hatte. Die demokratischen Rechte und Freiheiten der Bundesbürger sind nicht erweitert, sondern eingeschränkt worden. „Mehr Demokratie“ hatte Willy Brandt versprochenen – es wurde weniger: Man denke an die Notstandsgesetze, Berufsverbote, ein beschnittenes Demonstrationsrecht, gestärkte Verfassungsschutzbehörden oder die Perfektionierung von staatlichen Überwachungsmethoden. All das hat es nach und trotz der Spiegel-Affäre gegeben – und gibt es immer noch. Ein Ende und die wirkliche Wende zum Guten und Demokratischen sind nicht abzusehen. Wolfgang Wippermann schrieb zuletzt über das Luxemburger Abkommen von 1952 13 Glotzen Mit Joko und Klaas durch die Nacht gefahren S. 14 Leben Der Kommunist Erwin Jöris und das 20. Jahrhundert S. 15 Denken Warum wir immer intelligenter werden S. 23 Die Cut UpMethode von W. S. Burroughs ist nur eines von vielen Themen unserer Literaturseiten S. 16 – 21 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Sehnsucht Europa Kulturkommentar Stephan Porombka Kein Krisengerede mehr: Die Literatur im Netz boomt Pathos Den Intellektuellen fiel es bisher leicht, auf Brüssel zu schimpfen. Nun beginnen sie, für die europäische Idee zu brennen. Endlich D ■ Steffen Kraft Nur Frieden zieht nicht mehr Es ist ja ein alter Vorwurf, dass die Kulturschaffenden sich nicht um das Zusammenwachsen von Europa kümmerten, dass sie gar die Begeisterung für dieses „Jahrtausendprojekt“ vermissen lassen. Abgesehen davon, dass sich Begeisterung schwer einfordern lässt, kam die europäische Staatengemeinschaft bisher auch ohne Beistand von Intellektuellen rasch voran. Sie riss die Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten ab, schaffte eine übernationale Währung und sog nach 1989 einen großen Teil der osteuropäischen Länder in sich hinein. Es scheint sogar so, als rührte der historische Aufstieg der Europäischen Union gerade daher, dass sie ihre Macht ohne Pathos ausübte und keines der neuen Mitglieder zwang, sein Nationalnarrativ für eine andere, „europäische Erzählung“ aufzugeben – abgesehen von der Floskel, dass doch in Zukunft Frieden herrschen solle. Im Interview mit dem European antwortet Frank-Walter Steinmeier auf die Frage nach dem, was Europa verbindet, pflichtschuldig mit einem Zitat des luxemburgischen Premiers Jean-Claude Juncker: „Wenn du einem jungen Menschen den Sinn von I L L U S T R AT I O N : D E R F R E I TA G , F O T O : B R I O N G Y S I N , W I L L I A M S . B U R R O U G H S / I N S T I T U T F R A N C A I S / T H E B A R R Y M I L E S A R C H I V E O kay, nicht alle Versuche finden sofort Applaus: „Unser Vaterland ist von jetzt an Europa. Unsere Hymne die ,Ode an die Freude‘. Und unsere Fahne zeigt zwölf Sterne auf himmelblauem Grund“, schreiben der Grüne Daniel Cohn-Bendit und der liberale Ex-Premier Belgiens Guy Verhofstadt allen Ernstes in ihrem soeben als Buch erschienenen Manifest Für Europa! Stakkato-Sätze, apokalyptischer Duktus, regelmäßig eingestreute Slogans – Verhofstadt und Cohn-Bendit nutzen Propaganda-Mittel, an deren Wirkung schon lange niemand mehr zu glauben wagte. Sie schrecken nicht einmal davor zurück, den Leser per Du aufzufordern: „Vollende, was die europäischen Pioniere einst begonnen haben.“ Dass solche Sätze leicht befremdlich wirken, braucht man nicht zu betonen. Dennoch stellt sich die Frage, warum Pathos im Zusammenhang mit Europa generell fehl am Platz sein sollte. Ja, mehr noch: Braucht die Idee eines demokratischen Europa in dieser Zeit nicht wirklich eine starke Sprache, wenn sie nicht unter dem vorgeblichen Gewicht der Finanzkrise ersticken will? Braucht es nicht tatsächlich ein kräftiges Gegengewicht zur kühlen Rhetorik der Alternativlosigkeit? Schließlich suggeriert die Sprache der Technokraten ja auch, dass das supranationale Wirtschaftsregime so bürgerfern bleiben muss, wie es zurzeit ist. Es scheint, dass die Intellektuellen das vermehrt auch so sehen. Noch Ende 2011 begegnete man einem Aufruf der Zeit lieber mit dem Hinweis, ein kapitalistisch verfasstes Europa sei per se nicht demokratisierbar. Inzwischen registriert man einen offeneren Umgang mit Visionen für Europa – nicht nur bei Cohn-Bendit, der eine Kurzform seines Manifests schon im Mai zusammen mit dem Soziologen Ulrich Beck veröffentlichte. Auch der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat unter dem auf Georg Büchner anspielenden Titel Der europäische Landbote eine Verteidigung Brüssels auf den Markt gebracht. Und auf dem Zeitschriftenmarkt erscheint seit vergangener Woche das vor drei Jahren gegründete Online-Magazin The European nun auch als Printtitel – mit einer festen Rubrik für Interviews über die Zukunft Europas. Europa erklären willst, dann gehe mit ihm über einen Soldatenfriedhof “. Doch die Rede von Europa als Friedensprojekt wirkt auf jüngere Generationen kaum mehr. Und so fordert selbst SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück nun eine „neue Erzählung“ für Europa. In seiner Ende 2010 erschienenen Biographie hatte er die Idee eines transnationalen Union noch als „Wolkenkuckucksheim“ bezeichnet. Helmut Kohl fleht wiederum Angela Merkel an, sich die EU auch jenseits der Finanzkrise zur Chefinnensache zu machen. Und der faktische Bundespräsident Helmut Schmidt trifft den formalen Amtsinhaber Joachim Gauck zum TV-Talk, um den Deutschen klarzumachen, dass die Idee Europas über Verordnungen zu Energiesparlampen hinausgeht. Wenn all diese Vorstöße auch aus unterschiedlichen Motiven erfolgen, sie verfolgen doch ein ähnliches Ziel: Europa muss für sich das Primat der Politik zurückfordern. Es ist diese These, die den Grünen Cohn-Bendit und den Liberalen Verhofstadt zusammenführt: Nationalstaaten allein können sich im Sog der Globalisierung nicht behaupten. Um Märkte heute noch ansatzweise zu bändigen, braucht es das Gewicht einer transnationalen Demokratie, die sich nicht im Gestrüpp nationaler Interessenskämpfe verheddert. Klar, diese These wiederholt ein Jürgen Habermas in Variaten schon seit Jahren, Die Vereinigten Staaten von Europa wollen das Primat der Demokratie zurückfordern zuletzt in seiner Schrift Zur Verfassung Europas. Habermas spricht von Europa stets als einem „politischem Projekt“. Das mag angenehm zurückhaltend klingen, doch impliziert das auch seine Ersetzbarkeit. Warum sollten die Europäer nicht einfach ein neues „Projekt“ starten, die Renationalisierung der Politik beispielsweise, wenn das bequemer scheint? Der Beamte als Aufklärer Dezidierter ist da schon Robert Menasse. Seine Landboten-Schrift ist Ausfluss wochenlanger Aufenthalte in Brüssel. Resultat ist verblüffenderweise ein Lob der Brüsseler Bürokratie, deren Protagonisten Menasse als Träger einer postnationalen Aufklärung beschreibt – kompetent ausgebildet, die Interessen Europas und nicht ihrer Herkunftsländer verfolgend. Anders als Hans Magnus Enzensberger, der in der Brüsseler Bürokratie den bevormundenden Hegemon erblickt, kann Menasse an der Normierungsarbeit der EU-Kommission nicht viel anrüchiges finden. Der Feind der Europäer seien nicht die Bürokraten, vielmehr die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, die sich im Europäischen Rat treffen, um die nationalen Interessen der Einzelstaaten zu vertreten – und damit eine wirkliche transnationale Entwicklung behindern. Hart kritisiert Menasse natürlich Angela Merkels Politik in der Eurokrise. Dabei steigert er sich in die These hinein, dass Merkel im Grunde nichts mit Europa anfangen könne, weil sie als junge Frau in der DDR die Idee der Völkerfreundschaft als Propagandalüge erfahren habe. Das mag übertrieben sein, verweist aber auf einen kaum beachteten Umstand: Die Erzählung von der EU als Friedensprojekt verfängt nicht nur in der neuen Generation nicht mehr. Vielmehr ist es auch eine geographische Grenze, an die sie stößt. Sicher, die Bedeutung der europäischen Einigung für die deutsch-französische Aussöhnung ist unbestreitbar. In Osteuropa allerdings hat die Idee Europas als Friedensstifter zurecht große Schwierigkeiten. War es nicht eher das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Ost und West, der neue Kriege in Europa verhindert hat? In dieser Perspektive erweist sich auch der Drang Konrad Adenauers in die EU eher als Projekt zur Westbindung, denn als getrieben von einem Friedensideal. Es ist solche Vorsicht, die viele Linke immer noch gegen pathosgeschwängerte Appelle für eine Vereinigung Europas hegen: Dass die Idee nur vorgeschoben sei, um harte wirtschaftliche und militärische Interessen durchzusetzen. Auch gegen solche Bedenken ziehen Cohn-Bendit und Verhofstadt ins Feld. Sie sind sich mit Menasse einig: Problematisch an der EU ist, dass dort vor allem nationale Interessen vertreten werden. Für Europa! schlägt daher die Abschaffung des Europäischen Rats vor, jenes Gremiums, in dem die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten selbst zunehmend über die Geschicke der EU bestimmen. An seine Stelle soll ein transnationaler Senat treten, zusammengesetzt aus Abgeordneten der nationalen Parlamente. Mit zwei parlamentarischen Kammern, so das Kalkül, wäre das Demokratiedefizit – immerhin das wichtigste Argument gegen eine Entwicklung der EU zu einem Bundesstaat neuen Typs – widerlegt. So gesehen kann man sich vom hohen Ton schon ein wenig verführen lassen. Für Europa! Ein Manifest Daniel Cohn-Bendit & Guy Verhofstadt, Hanser 2012, 141 S., 8 € Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas Robert Menasse, Zsolnay Verlag 2012, 112 S., 12,50 € er amerikanische AvantgardePoet Kenneth Goldsmith war gerade noch im Weißen Haus und hat zum Vergnügen von Barak Obama Staumeldungen als Lyrik gelesen. Nun erklärt er dem Publikum in Berlin auf Einladung der Kulturstiftung des Bundes, wie die kommende Literatur aussehen wird. „Die Zukunft des Schreibens heißt: nur noch zu zeigen und zu klicken“, ruft er gut gelaunt. „Und die Zukunft des Lesens heißt: nicht mehr zu lesen!“ Was er meint: Autoren werden zukünftig nicht mehr Romane, Kurzgeschichten oder Gedichte verfassen. Stattdessen forwarden, posten und twittern sie, was sie im Netz finden. Das klingt für alle, die an die klassische Literatur glauben, nach einem schlechten Witz. Doch Goldsmith meint es ernst. Er will die Aktivitäten im Netz nicht verdammen, sondern ihr kreatives Potential freilegen. Damit setzt er sich an die Spitze einer Bewegung, die derzeit den Literaturbetrieb aufmischt. Seit die eBooks bis auf die Spitzenplätze der Bestsellerlisten vorstoßen, erscheint das Netz immer deutlicher als Plattform neuer Möglichkeiten. Jetzt können die Autoren schneller publizieren und direkter mit Lesern kommunizieren. Jetzt können sie neue Formen des Marketings erfinden und über ein Erzählen nachdenken, das nicht auf ein Buch beschränkt bleibt. Der Leser muss nicht erst in die Geschichte eintauchen. Er kann mit seinen smarten Lesegeräten, die er als Telefon, Tablet oder Labtop bei sich trägt, immer schon eingeloggt sein. Experimente dieser Art werden nicht nur von Autoren unternommen. Derzeit schießen Projekte aus dem Boden, die Programme, Plattformen oder Apps entwickeln, um Texte anders zu schreiben, zu vernetzen, zu bearbeiten, mit Bildern, Filmen und Audiofiles aufzuladen und weiterzusenden. Die Formate der Literatur explodieren. Sie tun das mit einer Druck- und Begeisterungswelle, die selbst etablierte Akteure des Buchmarkts nicht unberührt lässt. Die ahnen längst, dass sie den Experimenten aufmerksam folgen müssen. Hier werden die Potentiale der Literatur und die Zukunftsfähigkeit des gesamten Betriebs erprobt. Auch wenn damit noch nicht viel zu verdienen ist: Von Krise kann keine Rede sein. Stattdessen beginnt gerade jetzt im Netz und rund um das Netz herum die Boom-Zeit der Literatur. Das Buch wird dabei nicht verschwinden. Aber ihm wird im Medienset eine neue Aufgabe zugewiesen. Es wird mit Nervosität aufgeladen. Texte werden über Links mit Filmen, mit Bildern, mit Audios und mit LivePerformances verbunden sein. Die gehören dann zu einem großen Medienwerk, in dem das einzelne Buch ein Puzzlestück und ein Relais ist. Dass dabei, wie Kenneth Goldsmith meint, das Schreiben nur noch ein Zeigen und Klicken ist und das Lesen durch das Posten ersetzt wird, ist unwahrscheinlich. Gleichwohl sieht er richtig: Diese neue Literatur wird auch eine neue Geschwindigkeit haben, die durch den Rhythmus von Empfangen, Bearbeiten und Weiterversenden bestimmt ist. Das klingt nach ferner Zukunft. Ist es aber nicht. Wir machen es längst, wenn wir an unseren Computern sitzen und mit unseren Smartphones spielen und lesen, schreiben und posten, kommentieren und senden. Der Boom der Literatur ist da. Gut, wenn ab und zu einer wie Goldsmith vorbei kommt und uns daran erinnert. Stephan Porombka ist Professor für Kulturjournalismus und Literaturwissenschaft an der Uni Hildesheim 14 Kurz & Klein der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Am Sonntag ein „Tatort“ aus Konstanz (20.15 Uhr, ARD), K ritik im Anschluss auf freitag.de Film „Beziehungsweisen“ von Calle Overweg und „Schönheit“ von Carolin Schmitz Antlitz sparet nicht noch Mühe Medientagebuch Je oller, desto doller: Durch die Nacht mit Joko und Klaas Durch die Nacht mit … XXL 100 min., Oktober 23.05 Uhr auf Arte F o t o : Fa r b f i l m V e r l e i h A Viel investiert: Wer anfängt, den eigenen Körper zu optimieren, findet schnell die nächste verbesserungswürdige Stelle S cripted Reality ist ein Vorwurf, den man dem Privatfernsehen macht. Dort wird, etwa in Dokusoaps, Laientheater gegeben, Kleindarsteller sagen Text auf. Denn Kleindarsteller kosten nicht viel, und das wahre Leben als vorgefertigter, ausgedachter Text lässt sich leichter in Richtung Sensation und exploitation steuern, als das bei tatsächlichen Lebensumständen der Fall wäre. Das ist im Dokumentarfilm zumeist anders, aber nicht unbedingt deshalb, weil der Dokumentarfilm auch mal ins Kino darf. Die entscheidende Frage lautet, wie und zu welchem Zwecke inszeniert wird, und sie wird anregend gestellt von zwei Filmen, die fast zeitgleich ins Kino kommen: Schönheit von Carolin Schmitz (diese Woche) und Beziehungsweisen von Calle Overweg (11. Oktober). Letzterer nennt sich selbst „gespielter Dokumentarfilm“, weil hier drei Schauspielerpärchen mit jeweils echten Psychotherapeuten Sitzungen abhalten. Zwischendurch sieht man kleinere Spielzenen, jeder Illusion von „Echtheit“ wird aber von Be- ginn an vorgebeugt durch die Sichtbarmachung der Mittel. Gedreht wurde in einem theaterhaften Studio, in dem Autos oder Räume nur markiert werden, durch Geräusche etwa. Außerdem interveniert Overweg selbst, befragt die Therapeuten nach ihren Wahrnehmungen: „Es gibt Paare, die sind so hochstrittig, da krieg ich kein Bein rein.“ Das Spiel mit dem Dokumentarischen, das Beziehungsweisen betreibt, leuchtet ein: Psychotherapie ist, so konkret der Leidensdruck sein mag, der den Einzelnen Alter schützt vor Ohrwurm nicht Die Sache mit dem Rock’n’Roll und John Cale ist ein großes Missverständnis. Dieser Irrtum rührt noch aus den Sechzigern und Siebzigern her, als Cale mit Velvet Underground das Verhältnis von Melodie und Verzerrung neu sortierte und später als Produzent von den Stooges und Nicos düsterem Kleinod The Marble Index den Punk um eine gutes Jahrzehnt vorwegnahm. So richtig nah ist Cale dem Rock’n’Roll wahrscheinlich nur in Konkurrenz zu seinem alten Weggefährten Lou Reed gekommen: damals ging es vor allem um Mädchen (bei denen Cale meist den Kürzeren zog) und Drogen. Cales beste Soloarbeiten hingegen traten in ihren vielgestaltigen Entwürfen aus dem Schatten des Pop hervor – das gilt gleichermaßen für sein unbestrittenes Meisterwerk Paris 1919 mit seinen grandiosen Tin-Pan-Alley-Gesten zu sparsamen Laurel-Canyon-Innerlichkeitsballaden wie für das neurotisch-sprunghafte Album Helen of Troy, das auch einen Schlussstrich unter seine kurze, fruchtbare Zusammenarbeit mit Island Records setzte. Cale war immer dann am Besten, wenn er seinen am New Yorker Minimalismus geschulten Erfindergeist in konventionelle Bahnen lenkte. Er will eigentlich nur spielen, auch wenn er nicht immer den Eindruck erweckte, er hätte Spaß dabei. Cales kindliche Neugier erklärt auch, warum er auf Shifty Adventures in Nookie Wood einen Autotune-Effekt über seinen markanten Bariton legt. Die Hookline von „Mothra“ ist ein echter Ohrwurm, trotzdem mutet das Stück innerhalb des JohnCale-Kosmos hochgradig bizarr an. Auf diesem Album, das sich munter an den unterschiedlichsten Stilen und den technischen Möglichkeiten des Studios versucht, erscheint es wiederum gar nicht einmal so deplatziert. Es fügt sich wunderbar in die anderen kleinen Absonderlichkeiten und Eigenarten auf Shifty Adventures in Nookie Wood ein. Erstmals seit Velvet-Underground-Zeiten setzt er die Violine als Drone-Instrument ein, so dezent allerdings, dass der einprägsame, leicht nervige Klang Cales Produktion eher Textur verleiht, als sich gegen die Harmonien zu stemmen. Ein wiederkehrendes Thema aber ist die Stimme, die Cale schon auf seinem 1974er Album Fear auf verschiedenste Weise verfremdete. Im Song „December Rains“ jagt er sie beispielsweise durch diverse Filter, was dem Stück einen FrenchHouse-Einschlag verleiht. Bei „Living With You“ weicht ein psychedelisches Reverb seinen warmen Bariton auf. Wenig überraschen sollte also, dass Cale für dieses Album mit dem Hip-Hop-Produzenten Danger Mouse zusammengearbeitet hat, der in der Vergangenheit mit Beatles-Mash-Ups und Italo-WesternSoundtracks Cales formativer Dekade, den Sechzigern, seine Reverenz erwiesen hat. „I Wanna Talk to U“ könnte mit seiner trockenen Bassdrum auch direkt aus Cales Solophase Mitte der Siebziger übrig gebliebe sein. Das gilt auch für die bittersüße „Mary“, das vielleicht konventionellste, aber auch schönste Stück auf Shifty Adventures in Nookie Wood, dem ein leicht synthetischer Rhythmus unterliegt, das ansonsten aber ein klassischer Cale ist: eine Hommage an die großen Frauenballaden auf Helen of Troy mit einer interessanten Wendung. Mit Shifty Adventures in Nookie Wood zeigt Cale, dass sein Gespür für Pop auch mit 70 noch immer auf der Höhe der Zeit ist. Zwar kein Meisterwerk, aber ein Album, das den Pop ernst nimmt. Andreas Busche Shifty Adventures in Nookie Wood John Cale Domino Records (Godtogo) Ausstellung „Schwarze Romantik“ im Städel in Frankfurt am Main F i l m s t i l l : F r i e d r i c h W i l h e l m M u r na u 1 9 2 2 Musik „Shifty Adventures in Nookie Wood“ von John Cale F o t o : s h aw n b r a c k b i l l m Ende muss noch einmal Michel Friedman ran, mit dem zwar nicht alles angefangen hat, dessen Streifzug mit Christoph Schlingensief durch Frankfurt 2003 aber ohne Zweifel der Urknall des Formats war. Seit nunmehr zehn Jahren schickt Arte in der Reihe Durch die Nacht mit … zwei Prominente, zumeist Künstler, in einer Limousine durch eine Stadt, ziemlich häufig durch Berlin oder Paris, aber auch durch entlegenere Orte wie Dubai, Nashville oder Münster. Es gibt keinen Moderator, keine Regieanweisungen und bestenfalls geschieht dann das, was Tocotronic einmal über einen Abend im Rotary Club sangen: „Man aß und trank und unterhielt sich / die Wertschätzung war gegenseitig / Und es herrschte ein Vertrauen/ Es war mir selbst ein wenig unheimlich“. Eben dies ist die Währung der Sendung: Der Zuschauer hofft, Zeuge ehrlicher, intimer Momente zu werden, die sich in einer klassischen Interviewsituation so nicht ergeben würden. Und natürlich war auch Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow einmal Gast des Formats, sein Berliner Abend mit dem Theaterregisseur René Pollesch – Folge 82 – zählt zu den leisen Höhepunkten der Reihe, eben weil sich im Laufe dieser Nacht ohne großes Remmidemmi vermittelte, was beide interessiert und umtreibt. Für die 100. Folge hat Arte entschieden, ein einziges Mal alles anders zu machen: Ein eingespieltes Moderatorenteam – die aktuelle Allzweck-Wunderwaffe Joko & Klaas, die auch Pro Sieben, ZDF Neo, die Sparkasse und die Bundeszentrale für Bildung einsetzen – wird zwei Tage lang in einem Tourbus auf eine Schnitzeljagd D‘Europe durch Berlin, Hamburg, Gent, London und Paris geschickt, in deren Verlauf sie alte Protagonisten treffen. Als erste klettert die Musikerin Peaches in den Bus (Folge 16: Mit Heike Makatsch in Berlin), der nichts Originelleres einfällt, als Klaas Heufer-Umlauf mit grünen Trauben zu bewerfen. Zwischenstop in einem Boxclub, wo Ralph Herforth zu erzählen weiß, dass sein Begleiter Dolph Lundgren „gar nicht wie in seinen Filmen so ein dummer, sondern ein ganz kluger Mann“ ist. Musste wohl gesagt werden, und in diesem Binsenmodus geht es weiter. Dabei hat die Gäste-Auswahl Potenzial: Bis Hamburg steigen unter anderem Lars Eidinger (Folge 70: Mit Oda Jaune in Sofia) und die als Über raschung angekündigte Nina Hagen (Folge 8: Mit Katharina Thalbach auf Ibiza) zu, dort angekommen sagt man Heinz Strunk Hallo (Folge 53 : Mit H.P. Baxxter eben dort), und in Gent zeigt der Künstler Wim Delvoye (Folge 39: Mit Ai Weiwei in Kassel) seine Sammlung. Dass Delvoye auf Heufer-Umlaufs Frage, warum Kunst so teuer geworden sei, nichts Sinnfälliges zu antworten weiß, ist ihm schwer zu verdenken, und auch dass Oda Jaune für Eidinger die zweitschönste Frau neben seiner eigenen ist, hätte man sich nach dem Einspieler ohne Moderatorennachfrage gedacht. So macht sich bei diesen Best-Of-Zusammenschnitten die blöde Nostalgie breit, die durch das AllzweckwaffenSchnitzeljagd-Manöver wohl hätte vermieden werden sollen. Und Michel Friedman? Der sitzt am hellen Nachmittag mit Joko und Klaas in einem der Uhrzeit entsprechend leeren Pariser Edelrestaurant und sagt mit dem Gestus des Elder Statesman sein „non, je ne regrette rien“ auf. Wie ein großkotziger Macker habe Friedman sich in der Schlingensief-Folge be nommen, tadelt ihn Heufer-Umlauf. Wenn ich so drauf war, dann war es so, antwortet Friedman mit einem über legenen Lächeln: „Lieber bizarr als Mainstream“. Sein Wort in den Ohren der Programmchefs. Christine Käppeler dazu motiviert, noch keine gesellschaftliche Fragestellung. Indem Overweg nun das Persönliche an den Geschichten ausstreicht, weil er sie Schauspieler sprechen lässt, summieren sich die drei Episoden (ein Paar in der Schwangerschaft, eines mit zwei kleinen Kindern, ein altes) zu einem Essay. Der handelt schließlich weniger von Therapie, sondern vielmehr von der Liebe – die, wie eine Therapeutin sagt, in den seltensten Fällen das Bindemittel von Beziehung ist (zumeist: „Schulden und gemeinsame Kinder“), und die er leichthändig, ja vergnügt sucht in den eigenartigen, arbeitsintensiven Erzählsituationen, die Therapie hervorbringt. Schönheit ist von anderer Gestimmtheit. Statt die Form aufzubrechen, wird hier verdichtet. An eine fulminante Eingangsszene, in der zwei Frauen in irrem Redefluss über eine Autoausstellung laufen – und dabei die Vorzüge von Marken und die Vorstellungen von Geschlechterfragen diskutieren –, schließen sich kommentarlose Selbstpräsentationen der namenlosen Protagonisten an. Carolin Schmitz‘ Film zeigt eine totalrationalisierte Welt, in der ein wohlständiger Hedonismus permanent mit allen Mitteln an der eigenen, körperlichen Optimierung arbeitet. Bei der Premiere auf dem Dokfilmfest Leipzig im vergangenen Jahr ist Schönheit vorgeworfen worden, seine Protagonisten vorzuführen. Dabei verlängert der Film kühl lediglich die Logik der neurotischen Selbstdarstellung in seine Erzählung, wenn er die Leute vor der Kamera sich mit drängenden, dichten Erklärungen präsentieren lässt. Schönheit zeigt eine Welt, die bei Günther Jauch nicht vorkommt und daher im schichtenbewussten Akademiker Verachtung hervorruft, wie das Privatfernsehen sie lehrt. Dabei ist Schönheit, wie das vielleicht eindrücklichste Zitat weiß, ein Film über Sucht: Wer einmal mit dem Verbessern angefangen hat, hört nicht wieder auf. Matthias Dell Wirklich, sie lebten in finsteren Zeiten In der Alltagssprache sind die Wörter „romantisch“ und „Romantik“ diffus positiv besetzt. Die Literatur- und Kunstwissenschaft hingegen kannte seit dem Beginn der romantischen Epoche um 1800 immer auch deren schwarze Kehrseite. Mit einer Studie von Mario Praz bürgerte sich 1930 dafür der Begriff „schwarze Romantik“ ein. Überhaupt war die Romantik eine Gegenbewegung zum Zeitalter der Aufklärung, zur Zeit des Lichts also, man denke nur an das französische „Siècle des Lumières“ und das englische „Age of Enligthenment“. Unter dem Titel Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst zeigt das Frankfurter Städel-Museum nun rund 200 Werke. Gleich der erste Raum wirkt wie ein Paukenschlag – sieben Werke von Johann Heinrich Füssli (1741-1825). Den Besucher begrüßt das berühmte Gemälde Der Nachtmahr. Es zeigt eine weiß gekleidete, lasziv ausgestreckt daliegende Frau, die schläft oder träumt. Sie wird beobachtet von einem brünstigen Pferd. Auf ihrem Bauch hockt ein schwarzer, affenartiger Gnom, dessen Augen auf ihren Schoß starren. Diese imaginierte Welt der Monster, Dämonen und Gespenster ist jedoch nur eine mögliche Kehrseite der Vernunft. Die andere ist die Absenz jeglicher Vernunft. Das demonstriert der zweite Raum mit 10 der 80 Caprichos von Francisco de Goya (1746-1828) sowie vier Radierungen aus dem Zyklus Die Schrecken des Krieges. Das berühmte Capricho Nr. 43 Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer bildet den Schlüssel zu den in ihrer Drastik und Brutalität unüberbietbaren Radierungen, die an die Schandtaten der napoleonischen Soldateska bei der Besetzung Spaniens 1808 erinnern. Goya selbst hat erklärt, was gefährlicher ist als die Traumwelt der schwarzen Romantik mit ihren Monstern und Gespenstern. Menschliches Handeln ohne Vernunft: „Ich fürchte keine Kreatur außer eine: den Menschen“, schrieb er. Neben den Werken bekannter Maler wie Delacroix, Géricault, Blake oder Böcklin werden verdienstvollerweise auch Werke unbekannter Künstler präsentiert. Das Bild Hunger, Wahnsinn und Verbrechen des belgischen Malers Antoine Joseph Wiertz (1806-1895) zeigt eine Frau mit verstörend irrem Blick, die auf ihrem Schoß ein blutendes, in Tücher gehülltes Baby trägt und in der rechten Hand ein blutiges Messer hält. Aus einem großen Kochtopf am Bildrand ragt gerade noch das Beinchen eines anderen Kindes heraus. Vor der Frau liegt der Steuerbescheid auf dem Fußboden. Das Bild übertrifft in seiner Direktheit Delacroix‘ Rasende Medea. In dessen Zentrum sitzt die fleischfarben-rötlich gemalte Medea mit dem Dolch in der linken Hand und zwei leblosen Kinderkörpern auf ihrem Schoß. Romantik ist ein Epochenbegriff, der kurioserweise zeitlos geworden ist. Das trifft insbesondere auf die schwarze Romantik zu, die Künstler vom Symbolismus Ende des 19. bis zum Surrealismus des 20. Jahrhunderts inspirierte. So zeigt der zweite Teil der Ausstellung Werke von Rodin (Der Schmerz – Erinnerung an Eleonora Duse), Odilon Redon, Franz von Stuck, James Ensor und Edvard Munch bis zu Dalí, Brassai, Magritte und Max Ernst. In die Räume sind Kabinette eingebaut, in denen Ausschnitte von Stummfilmen wie Frankenstein, Dracula, Vampyr und Nosferatu (Bild) gezeigt werden, die seit den Zwanzigern Motive der schwarzen Romantik aufgriffen. Eine hervorragende Ausstellung zu einem uferlosen Thema. Rudolf Walther Schwarze Romantik Städel-Museum Frankfurt, bis 20. Januar 2013, Katalog 34,90 € Kultur 15 F o t o S : P r i vat b e s i t z e r w i n j ö r i s , p r i vat b e s i t z a n d r e a s p e t e r s e n ( u n t e n ) der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Erwin Jöris mit Freunden bei einem Ausflug im Jahr 1931. Sechs Jahre später als Gefangener in Lubjanka und schließlich am Tag seiner Hochzeit 1949 vor dem Lichtenberger Standesamt. Mit Gerda Jöris Der Zeuge, der keiner sein durfte Schicksal Erwin Jöris saß in fast allen Lagern des 20. Jahrhunderts. Am 5. Oktober wird der Kommunist nun 100 Jahre alt. Über ein Ausnahmeleben ■■Andreas Petersen D ie Biografien deutscher Kommunisten im Sowjetexil wurden in den Terrorjahren 1937/38 entschieden. Damals nämlich wurden mehr von ihnen ermordet als unter Adolf Hitler. Diese Jahre waren eine Wasserscheide. Und auch Erwin Jöris, 1912 geboren und ein Berliner Urgestein, überlebte damals nur mittels eines hochriskanten Unterfangens. Der ehemalige Lichtenberger Unterbezirksleiter des Kommunistischen Jugendverbandes hatte kommen sehen, dass die sowjetischen Genossen ihn nach Sibirien bringen wollten und beantragte deshalb in der nationalsozialistischen Botschaft in Moskau einen Pass für Deutschland. In Berlin erwartete ihn ein Prozess wegen Hochverrats. Dieser Plan brachte ihm eine Verhaftung durch den sowjetischen Geheimdienst ein. Nach qualvollen Monaten im berüchtigten Untersuchungsgefängnis Lubjanka lieferte man ihn dann doch an die Gestapo aus. Die ließ ihn nach einem halben Jahr laufen, wohlwissend, dass ihm im mittlerweile braunen Lichtenberg des Jahres 1938 kaum einer mehr über den Weg trauen würde. Lubjanka, Sonnenburg Dennoch wollten einige der ehemaligen Jugendgenossen, mit denen er als Frontmann in die Straßenschlachten der untergehenden Weimarer Republik gezogen war, von ihm wissen, wie es in Moskau gewesen war. Aber Erwin Jöris schwieg. Er wollte ihnen nicht die Hoffnung nehmen und mit der Wahrheit über den Stalinismus den Nazis in die Hände spielen. Und er dachte dabei an seine erschossenen Freunde aus dem Untergrund, und an die SA-Keller, in denen er traktiert wurde, das Konzentrationslager Sonnenburg, wo er Carl von Ossietzky und Erich Mühsam begegnet war. Erst als 1939 der Hitler-Stalin-Pakt bekannt wurde, grinste er die an, die ihn für einen NS-Spitzel gehalten hatten: „Na, darf ich euch zur neuen Freundschaft gratulieren?“ Dann wurde Erwin Jöris eingezogen und musste mit der Wehrmacht gen Osten – in einen Krieg, gegen den er all die Jahre gekämpft hatte. Als LKW-Fahrer für ein Militärkrankenhaus in der West-Ukraine verbrachte er die Kriegsjahre und überlebte den Rückzug nur knapp. In den endlosen Gefangenenzügen nach der Kesselschlacht von Halbe humpelte er schwer verwundet Richtung Osten und landete schließlich in einem sowjetischen Gefangenenlager vor den Toren Moskaus. Den Ort kannte er von seiner Komintern-Zeit, als sie zu Sonntagsausflügen vom berühmten Hotel Lux auf- gebrochen waren. Aber die Zeit verschwieg er. Anfang 1946 stand er wieder in der Lichtenberger Kohlehandlung seines Vaters. Was sollte werden? Wieder trat er in die KPD ein und damit auch bald in die SED. Aber da waren seine Mitgenossen aus der Weimarer Zeit, Moskau-Überlebende wie er. Von der Parteispitze hatten nur drei Männer die Sowjetunion überlebt: Wilhelm Florin, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Im Chor der Rückkehrer sang man propagandistische Loblieder auf das „Vaterland der Werktätigen“ und schwieg über den Großen Terror von 1937/38. Man einigte sich auf eine „Verschwörung des Schweigens“. Sie wurde das Politikfundament des neuen Staates. Jöris arbeitete hart, suchte alte Genossen auf und ging mit ihnen zu den Parteiveranstaltungen. Aber die herablassende Art der nun zurückkehrenden stalinistischen AllesWisser, die die Kominternschulen durchlaufen hatten, ärgerte ihn. Jene, die zwölf Jahre im Untergrund ausgeharrt hatten, sollten nun nach ihrer Pfeife tanzen. Vor allem aber brachte ihn die schnelle Parteiaufnahme ihrer ehemaligen Feinde auf. „Und schon lief mancher von den alten Nazis mit dem SED-Parteibombel rum und stand als Kandidat auf der Einheitsliste.“ Da schwieg Jöris nicht mehr und erzählte von den Moskauer Schreckensjahren. Im Dezember 1950 wurde er in seiner Ost-Berliner Wohnung verhaftet, saß Monate in den unterirdischen Zellen des UBoots in Hohenschönhausen und wurde schließlich von einem russischen Militär- Weder in der DDR noch im Westen wollte man seine Geschichte hören Jöris im Alter von 90 Jahren tribunal unter den gleichen Anwürfen wie 1937 – konterrevolutionäre-faschistische Tätigkeit – zu 25 Jahren Gulag verurteilt. Wieder stand er gedrängt in einem Gefangenenwagen im Berliner Ostbahnhof. Diesmal ging es nach Workuta, ins Ewige Eis. Unter dem dauergefrorenen Boden im hohen Norden der Sowjetunion, in 900 Meter Tiefe, schlug er Kohle, zusammen mit einem der schlimmsten Wärter und Mörder aus dem KZ Sachsenhausen. Hohenschönhausen, Workuta Dann starb Stalin, der Lageraufstand in Workuta wurde zusammengeschossen, und Konrad Adenauer holte nach seinem Besuch 1955 alle deutschen Kriegsgefangenen heim. Ausgemergelt bis auf die Knochen stand Erwin Jöris fünf Jahre nach seiner Verhaftung auf der Berliner Stalinallee vor seiner Frau Gerda, die nicht gewusst hatte, ob er überhaupt noch lebte. Zwei Tage später flohen die beiden in der Straßenbahn nach West-Berlin und fanden sich schließlich in Köln in einem ehemaligen Tanzsaal mit 30 Familien wieder. Und seine Erfahrungen? Es war wenig Zeit zum Erzählen. Das Leben musste sich auch in Westdeutschland neu erfinden. Oft arbeitete er zwei Schichten hintereinander in einem Lebensmittelkühlhaus. „Aber eigentlich gab es mich gar nicht“, sagt er. „Es war immer nur die Rede von ‚den letzten deutschen Kriegsgefangenen’, den verurteilten Kriegsverbrechern. Die DDR leugnete die vielen Politischen unter den Verschleppten, und der Westen erwähnte sie nicht.“ Nur einmal, als im Betrieb das Gerücht aufkam, dass er wegen seiner vermeintlichen SS-Mitgliedschaft so spät entlassen worden war, stand er bei einer Betriebsversammlung auf. „Da musste ich mal ein paar Dinge zu meinem Lebensweg klar stellen“, erklärt Erwin Jöris. Es war Wirtschaftswunderzeit, Zeit des Vergessens, die Frontstadt Berlin weit weg, irgendwann kam der sogenannte Wandel durch Annäherung. „Für Stasi, Hohenschönhausen oder Workuta interessierte sich hier keiner“, sagt er. Und selbst unter denen, die auf das Unrecht im Osten aufmerksam machen wollten, blieb er ein Spezialfall. Jöris ging zwar zu den Treffen der Opferverbände oder erzählte auf antikommunistischen Tagungen seine Erlebnisse. Aber man blieb auf Distanz. Der ehemalige Kommunist war suspekt. Seine Geschichte störte die große Machtlosigkeitserzählung der Nachkriegsjahre mit ihren Ausflüchten, dem Gedruckse um politische Ahnungslosigkeit und den geschönten Familiengeschichten. Vom Widerstand wollte man nichts hören. Den kommunistischen verschwieg man. Und im Osten? Seine einstigen Genossen wucherten nach den Moskauer Überlebensjahren mit dem Pfand ihrer Biografien: kommunistische Jugend, Illegalität, Konzentrationslager, Komintern-Schulung. Sie allein hatten Hitler besiegt. Es war die Hochzeit der Polit-Legenden. Dabei war derjenige, der Jöris immer wieder denunziert hatte, nun auserkoren zum Botschafter in Nordkorea. Ein anderer stieg zum entscheidenden Mann der Volkspolizei in Görlitz auf, verantwortlich für viele politische Verhaftungen. Ein Dritter baute die Staatssicherheit in Sachsen auf, nachdem er in der Krankenbaracke des KZ Buchenwald in eigenmächtiger Selektion für den Tod von 176 Mithäftlingen verantwortlich geworden war. Erwin Jöris kommentierte dies in seiner Art: „’Hättste dich man gut gestellt mit der DDR, dann hättste heute einen hohen Posten’, hat mancher zu mir gesagt. Aber dann hätte ich ja alles runterschlucken müssen: den ganzen Verrat, die Verhaftungen, den Terror, die Lager. Wo wäre ich dann heute? Einer von diesen Verbrechern.“ Überlebt hat der heute Hundertjährige sie alle, in der kleinen Kölner „Rückkehrer“-Wohnung, die ihm 1956 zugewiesen worden war. Andreas Petersen ist Historiker und veröffentlichte soeben die Biografie von Erwin Jöris Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren Anzeige 16 Literatur der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Der treue Marxist Nachruf Eric Hobsbawm, der große Historiker des 20. Jahrhunderts, ist tot ■■Martin Kettle, Dorothy Wedderburn Martin Kettle und Dorothy Wedderburn sind Autoren des Guardian. Übersetzung der gekürzten Fassung: Zilla Hofman f o t o : K ata r i na S u n d e l i n / p h o t o a lt o / DPA W äre er vor 25 Jahren von uns gegegangen, hätte es in den Nachrufen geheißen, er sei der angesehenste marxistische Historiker Großbritanniens gewesen – und dabei wäre es geblieben. Nun ist Eric Hobsbawm mit 95 Jahren gestorben, und er hatte eine einzigartige Stellung erreicht. Er ist zum wohl geachtetsten britischen Historiker überhaupt geworden, der sowohl im rechten, als auch im linken politischen Lager Anerkennung, wenn nicht Zustimmung erfahren hat, auch international. Das ist nur sehr wenigen Historikern irgendeiner Zeit gelungen. 1917 als Sohn jüdischer Eltern in Ägypten geboren, verbrachte er seine Jugend in Wien, Berlin und London. In Deutschland kam er 1933 erstmals mit der KPD in Kontakt – wenige Tage vor der Machtergreifung Hitlers. „Es war unmöglich, sich von der Politik fernzuhalten, die Monate in Berlin machten mich zu einem lebenslangen Kommunisten“, sagte er einst. Über ein halbes Jahrhundert beseelte die sozialistische Idee sein Schreiben, und gerade als sie sich in historischer Verwirrung und schlimmeren Zustand befand, als ihm selbst bewusst war, begann Hobsbawms Renommee zu wachsen. Noch mit 94 veröffentlichte er Wie man die Welt verändert, eine energische Verteidigung der anhaltenden Relevanz Marx’ in den Nachwehen der Bankenzusammenbrüche zwischen 2008 und 2010. Seine wichtigste Arbeit war sicher die Zeitalter-Serie, die er mit dem 1962 mit dem Buch Europäische Revolutionen. 1789 bis 1848 begann. 1975 folgte Die Blütezeit des Kapitals, 1987 dann Das imperiale Zeitalter. Der vierte Band mit dem Titel Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts (1994), war zwar der eigenartigste und spekulativste, aber auch der bemerkenswerteste und großartigste von allen. Was an diesem Autoren so einzigartig war: Eric Hobsbawm konnte immer zum großen Schwung ausholen, kombinierte die Weite seiner Gedanken aber mit aufschlussreichen Anekdoten und statistischem Wissen. Er hatte Auge fürs Detail und die Bedeutsamkeit von Ereignissen und Worten, aber seine absolute Stärke war vielleicht, wie er all diese Beobachtungen zusammenführen konnte. Das machte seine Bücher schon bei Erscheinen zu Klassikern. Im Zweifel schnell ans Meer, dann schreibt man, was das Herz begehrt Für die Dame ein Roman Deutscher Buchpreis Egal, welcher Autor auf der Shortlist fehlt: Mit den üblichen Kriterien ist die Auswahl nicht zu erklären ■■Katrin Schuster I m Gegensatz zur Shortlist des Deutschen Buchpreises ist die Kritik an diesem Preis nur selten überraschend. Alle Jahre wieder lauten die Einwände: Der fehlt, die fehlt, der gehört da nicht hin, die gehört da nicht hin. Das Konzept als solches steht dagegen kaum mehr zur Diskussion. Vor vier Jahren, im Herbst 2008, brach sich noch ein fundamentaler Unmut Bahn. Daniel Kehlmann kritisierte in der FAS die Preisverleihung, bei der Autoren „nebeneinander vor die Kamera“ gesetzt würden „wie Schlagersänger in einer Castingshow“. Mehrere Schriftsteller, darunter die BuchpreisGewinnerin Julia Franck, pflichteten ihm bei. Eine Kritikerin erinnerte jedoch an „die Damen um die 60, deren Herzen & Portemonnaies mit dem Deutschen Buchpreis erobert werden sollen“. Und der Vorsteher des Deutschen Börsenvereins tröstete den Beschwerdeführer: Kehlmann sei doch das beste Beispiel, dass man, auch ohne Buchpreisträger zu sein, gut verdienen könne. Als sei es dem Autor ums Geld gegangen. Dass der Buchpreis, der sich stets als heiteres, fortgesetztes Aussortieren präsen- Anzeige edition text+kritik Zum 80. Geburtstag von Edgar Reitz Film-Konzepte 28 Herausgegeben von Thomas Koebner und Fabienne Liptay Edgar Reitz Edgar Reitz n e u 2012/9 edition text+kritik Von den jungen Filmemachern, die 1962 das Oberhausener Manifest unterschrieben, mit dem sie einen neuen deutschen Film und die Abkehr vom alten Kommerzbetrieb forderten, gehört Edgar Reitz zu den wenigen, die sich in der Praxis behaupten und neue Maßstäbe setzen konnten. Das Heft enthält unter anderem Beiträge von Weggenossen, die sich mit beharrlichem Interesse der Arbeit des großen deutschen Filmemachers widmen, der nach langer Pause in diesem Jahr, in dem er am 1. November seinen 80. Geburtstag feiert, den Kinofilm »Die andere Heimat« in deutsch-französischer Koproduktion inszenierte. Film-Konzepte 28 Film-Konzepte Herausgegeben von Thomas Koebner und Fabienne Liptay Heft 28 EDGAR REITZ etwa 100 Seiten, ca. € 20,– ISBN 978-3-86916-206-5 Levelingstraße 6 a 81673 München info@etk-muenchen.de www.etk-muenchen.de tiert, allein als nationale Produktprämierung taugt, bedeutet bereits sein Name, und am besten beweist dies der 2010 ausgezeichnete Roman Tauben fliegen auf der Schweizerin Melinda Nadj Abonji, der sich merklich schlechter verkaufte als die Bücher der bisherigen Gewinner. Mit den üblichen Kriterien ist der Shortlist des Deutschen Buchpreises mithin nicht beizukommen. Wer moniert, dass der oder die darauf fehle, misst mit den falschen Maßstäben. Um über die Shortlist zu sprechen, muss man nicht die Literatur, sondern die Tauglichkeit der Romane im Blick haben: als deutsche Produkte, als Eroberer der Herzen und der Portemonnaies der Damen um die 60. Ein Punkt extra Beginnen wir mit der einfachsten Kategorie, dem Geldbeutel. Das mit 29,90 Euro teuerste Buch auf der diesjährigen Shortlist ist Ursula Krechels Roman Landgericht (Jung & Jung). Es folgen Indigo von Clemens Setz und Fliehkräfte von Stephan Thome zu je 22,95 Euro (beide Suhrkamp). Die verbleibenden drei Bücher sind für je 19,95 Euro zu haben: Robinsons blaues Haus von Ernst Augustin (C.H. Beck), Sand von Wolfgang Herrndorf (Rowohlt) und Nichts Weißes von Ulf Erdmann Ziegler (Suhrkamp). Womit noch nichts entschieden ist, denn da wäre ja noch das Preis-Leistungs-Verhältnis. Das ist bei Sand dank der 475 Seiten am besten, da Robinsons blaues Haus und Nichts Weißes weniger verzeichnen (319 bzw. 257 Seiten) und vergleichbar dicke Bücher (Indigo mit 477 und Fliehkräfte mit 474 Seiten) drei Euro teurer sind. 60-jährige Damenherzen wiederum könnten vielleicht lyrisch klingende Frauenbeschreibungen wie „Sie hatte die Schwerelosigkeit von Aktmodellen, die nicht zögern, splitternackt am Jasmintee zu nippen“ und religiös aufgeladenen Figurennamen erobern: ein Punkt extra für Nichts Weißes. Leer in der Gefühlskategorie gehen in jedem Fall Indigo und Sand aus. Clemens Setz’ Roman dürfte die Zielgruppe sogar ordentlich verstören (genau darum geht es ja): Julia ist vor allem damit beschäftigt, ihren Freund, den stets Psychose-paraten Mathematiklehrer Clemens Setz, der sich auf der Spur einer Krankheit namens Indigo befindet, ins Lot zu bringen. Und Robert, ein ehemals an Indigo Erkrankter, lobt an seiner Beziehung gleich mehrmals, dass seine Freundin Cordula seit drei Jahren „gut eingestellt“ sei. In Wolfgang Herrndorfs Roman findet man zwar erotische Momente, doch denen 19,95 Euro sticht: Doch der Preis allein ist nicht entscheidend ist nicht zu trauen, da Sand – welch trefflicher Titel! – von der Zerstreuung der Zeichen und ihrer Bedeutung handelt, und menschliche Konstellationen deshalb lieber als literarische denn als herzergreifende Phänomene begreift. Ähnlich Robinsons blaues Haus, in dem der Ich-Erzähler – ein Mann mit vielen Namen, der sich ständig auf der Flucht befindet – plötzlich feststellen muss, dass sein ersehnter Freitag eine Frau ist, von der er allerdings nicht mehr erblickt als ihren Schritt. Auch Landgericht punktet nur auf den ersten Blick in der Herz-Kategorie. Im Zentrum steht die Ehe von Richard und Claire Kornitzer, die vom Nationalsozialismus auseinander gerissen wird, da Richard Jude ist und nach Kuba emigriert, während die beiden Kinder nach England verschickt werden. Auf ein Happy End wartet man vergeblich. Richard kehrt zurück, das Paar findet wieder zusammen, die Kinder aber sprechen kaum mehr Deutsch und wissen mit ihren Eltern nichts anzufangen. Die Frage nach Entschädigung und Gerechtigkeit, aus der Richard nicht mehr herausfindet und die das Nachkriegsdeutschland mit perfider Bürokratie beantwortet, stellt Krechel, mithilfe dokumentarischen Materials, auf poetisch kluge Weise. Probleme wegschwimmen Am besten geeignet für das Damenherz dürfte Fliehkräfte sein: Der Professor Hartmut Hainbach geht auf die 60 zu, als ihn Zweifel an seinem Leben ergreifen, weil seine Frau mittlerweile auf eigenen beruflichen Beinen steht und er im Job eine schwere Entscheidung treffen muss. Also begibt er sich auf eine Reise Richtung Süden, um endlich ans Meer zu gelangen: „Die Fliehkräfte ruhen. Er schwimmt.“ Sowieso kann Thome bei „Damen“ gleich welchen Alters punkten, denn ums Bürgerliche bemüht er sich redlich. Fliehkräfte spielt im akademischen Milieu (auch nicht mehr das, was es mal war!); die Probleme sind privater Natur (die Tochter ist lesbisch, der Seitensprung misslingt, im Eigenheim hallt die Leere, der Garten verwildert) und lassen sich folglich durch Reden, Schweigen oder eben Schwimmen lösen. Noch passgenauer trifft das Ansinnen des Deutschen Buchpreises, bedrucktes Papier als tolles Produkt vorzustellen, nur der Roman Nichts Weißes, da er von gedruckten Lettern und dem Lebensweg einer Typografin erzählt. Gegen dererlei Melancholien – wie der Buchpreis selbst eine ist, weil er sich so ausdrücklich an den Begriff „Buch“ klammert – kommen weder Landgericht noch Indigo noch Sand noch Robinsons blaues Haus an: Ursula Krechel zeichnet den von Rassisten eingeleiteten und Juristen verantworteten Abstieg des Richters Kornitzer nach; auch Setz und Herrndorf unterminieren die sozialen Konstrukte gründlich. Und Ernst Augustin gebraucht den Durchschnittsbürger als Einheitsmaske, die den Ich-Erzähler vor seinen Verfolgern verbirgt. Jede seiner vielen Behausungen gleicht der anderen: „Wenn ich jetzt den Kleiderschrank öffne, hängen dort Mantel und Hut, oh ja, der gleiche lehmgelbe Mantel und der gleiche lehmgelbe Hut, auf dem Küchenregal liegt das sehr schöne Eßbesteck aus Dresden, auf dem Sofa die Komfortdecke […], sogar die geliebte Flauschjacke befindet sich zusammengerollt auf dem Stuhl, wo sie hingehört.“ Und was ist mit dem Nationalen? Da kann Augustin jedenfalls nicht punkten, da die fortgesetzte Ortlosigkeit das literarische Prinzip von Robinsons blaues Haus ist. Auch Indigo und Sand gehen in dieser Kategorie leer aus, beide Romane spielen nicht in Deutschland. Landgericht, der die Behauptung der Stunde Null und der Entnazifizierung auf so klare wie bittere Weise widerlegt, darf eben deshalb kaum auf die Bestsellerliste hoffen. Bleiben Fliehkräfte und Nichts Weißes: gut fürs Herz, nie über den Tellerrand des Bürgerlichen hinaustretend und das Deutsche höchstens vorsichtig in Frage stellend, jedoch stets mit einem Hauch metaphysischen Begehrens überzuckert. Ach, wer wollte sich zwischen diesen beiden entscheiden? Am besten, man lässt es und liest stattdessen Sand, Indigo, Robinsons blaues Haus und Landgericht, denn diese Romane glauben gerade nicht, die Antwort schon gefunden zu haben, sondern sind weiterhin auf der Suche nach (und, wie Indigo, manchmal sogar auf der Flucht vor) dem, was Sprache sein und tun, was sie beweisen und bedeuten kann. Katrin Schuster ist Literaturwissenschaftlerin Literatur 17 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Apocalypse Anytime Mit Wucht Karl Marlantes, ein Veteran des Vietnamkrieges, hat einen historischen Kriegsroman geschrieben, der erschreckend gegenwärtig ist Grenze zum Wahn überschreitet. Eine Wut „auf die Felswand, die Verarschung, den Hunger, den Krieg – auf alles“. Denn schließlich wissen die Marines um den Betrug. Sie wissen, dass sie einen aussichtlosen Krieg kämpfen, in dem sie, wie es Marlon Brando in Apocalypse Now formuliert, die „Laufburschen von Kolonialwarenhändlern“ spielen. Sarkastisch fragt ein Soldat aus Mellas’ Platoon: „Sagen sie mir einfach, wo das Gold ist. Das Scheißgold, oder das Öl oder Uran. Irgendwas. Herrgott noch mal irgendwas, wegen dem wir hier draußen sind. Einfach irgendwas. Dann würde ich’s kapieren. Bloß irgendwelches Scheißgold, damit das alles irgendeinen Sinn ergibt.“ Doch Sinn ergibt auch die schlussendliche Rückeroberung des Matterhorns nicht – sondern nur noch mehr Tote. ■■Nils Markwardt B is heute ist der Vietnamkrieg eine offene Wunde im kollektiven Gedächtnis Amerikas. In den Debatten über Irak und Afghanistan wird er oft nur „the V-word“ genannt, als handle es sich um einen Dämon, dessen Namen man nicht aussprechen darf. Über 60.000 USVeteranen haben sich mittlerweile das Leben genommen – mehr Soldaten, als damals im Krieg gefallen sind. Doch nicht nur die Toten werfen einen langen Schatten auf Vietnam, auch die Pop- und Hochkultur wird nicht müde, an das Leid und die Lügen zwischen Hanoi und Saigon zu erinnern. Die unzähligen Protestsongs, Filme wie Full Metal Jacket, Platoon oder Apocalypse Now und die Texte Tim O’Briens und Denis Johnsons bilden einen Kanon gegen das Vergessen. In diesen reiht sich mit Matterhorn nun ein weiterer fulminanter Roman ein, der in quälender Präzision und geradezu hyperrealistischem Duktus davon erzählt, welches Grauen Menschen zu ertragen vermögen. Bevor man über diesen Roman sprechen kann, muss man jedoch ein paar Dinge über seinen Autor wissen. „Sagen Sie mir einfach, wo das Gold ist. Das Scheißgold. Oder das Öl“ Karl Marlantes, heute 67, studierte in Yale und Oxford, bevor er sich 1968 als 23-jähriger Zugführer der US Marines freiwillig nach Vietnam meldete. Dreizehn Monate später kam er ebenso hoch dekoriert wie gebrochen zurück. Gezeichnet vom Posttraumatischen Stresssyndrom ließ er seine zahlreichen Auszeichnungen im Keller verschwinden, um das erlebte Grauen fortan zu beschweigen. Doch Orden lassen sich wegpacken, Erinnerungen nicht. Bald suchten Marlantes Flashbacks und unkontrollierte Wutausbrüche heim. Vietnam wollte nicht vergehen. Er entschied sich für eine Therapie, in deren Zuge er 1977 das Schreiben begann. Nach über 30 Jahren liegt das fast 700-seitige Ergebnis vor: Matterhorn. Ein autobiografisch inspirierter VietnamRoman, der amerikanische Kritiker bei seiner Veröffentlichung 2010 begeisterte und nun in deutscher Übersetzung erscheint. Dabei ist Matterhorn zunächst verhältnismäßig konventionell erzählt, sprüht nicht gerade von sprachlicher Raffinesse und bedient sich allerlei genretypischer Klischees: ruppige Männerfreundschaften; kaltblütige Stabsoffiziere; die einförmige, mit Bourbon imprägnierte Etappe. Doch Marlantes rührt aus diesen üblichen Versatzstücken eben nicht die gängige Kolportage aus Heldenmut und Opfertod an, sondern dringt in einer überwälti- foto: Bettmann/CORBIS Orden lassen sich wegpacken Aufbauen, abziehen, zurückerobern: Marlantes schildert die ganze Sinnlosigkeit des Grauens genden und schonungslosen Wucht zum inneren Kern des Krieges vor. Die Sinnlosigkeit des Grauens dokumentiert bereits die Rahmenhandlung. Winter 1969, vietnamesischer Dschungel an der Grenze zu Laos: Man folgt dem jungen und unerfahrenen Offizier Waino Mellas, der mit der Bravo-Kompanie der 5. Marineinfanteriedivision eine Feuerunterstützungsbasis (FSB) auf einer Bergkuppe errichtet. Kaum ist das Matterhorn, wie die FSB von den Soldaten getauft wird, fertig gestellt, wird die Kompanie jedoch zu einer großangelegten Operation in den Süden verlegt. Wenige Wochen später lautet der Befehl, das mittlerweile von der nordvietnamesischen Armee besetzte Matterhorn wieder zurückzuerobern. Was zunächst wie eine militärstrategische Groteske erscheint, eröffnet sich bald als Modus Operandi eines Kriegs, dessen einziges Ziel die blutige Zermürbung ist. Zunehmend erkennt auch Mellas’ Kompanie, dass man sie als menschliche Manövriermasse verheizt: Sie werden so lange in den Busch geschickt, bis die Kill Ratio, das Verhältnis von eigenen und feindlichen Verlusten, befriedigend erscheint. Multirassistisches Milieu Darüber hinaus kämpfen Mellas’ Marines gegen zwei weitere Gegner. Zum einen gegen den unendlichen Dschungel, der die Soldaten mit seiner meterhohen Vegetation aus Bambus und Elefantengras regelrecht verschluckt, um sie Wochen später als knochige Gespenster wieder auszuspucken. Denn selbst ohne Feindkontakt entlässt diese grüne Hölle – in der Blutegel unaufhaltbar den Körper befallen, Dschungelfäule die Haut mit Eiter überzieht und Moskitos die zerebrale Malaria hinterlassen – nur „weggeworfene Lumpenpuppen“. Zum anderen führen sie aber auch einen Kampf gegen sich selbst. Die Marines sind nicht nur Exporteure des Todes, sie beliefern den Dschungel auch mit heimischem Rassismus. Fernab der offiziellen Rhetorik von treuer Kameradschaft offenbart sich das Marine Corps als multirassistisches Milieu, in dem Weiße Schwarze hassen, Schwarze Weiße hassen und Schwarze und Weiße gemeinsam die Gooks hassen. Unglaublich stark ist der Roman vor allem dann, wenn er den Krieg minutiös als steten Prozess psychischer Zerrüttung nachzeichnet. In mikroskopischen Nahaufnahmen illustriert Marlantes immer wieder, wie in den Sekunden bevor „weiches Fleisch gegen heißes Metall anrennt“ Panikattacken den Körper durchziehen, wie leere Mägen vor Angst erbrechen und zitternde Hände sich für die Ewigkeit in den nassen Lehmboden zu krallen versuchen. Er zeigt, wie im Angesicht des zu erklimmenden Matterhorns die Wut die Die GIs in Matterhorn firmieren aber nicht nur als Opfer machthungriger Politiker und seelenloser Generäle. Schließlich sind sie es, die in diesem „endlosen Tanz der Infanterie“ töten – aus Angst, aus Freude, auf Befehl. Deshalb entbehrt Matterhorn jedweder patriotischen Mythisierung. Der Krieg entlässt hier nur jene als Helden, die er zuvor zu „Tiermenschen“ gemacht hat. Matterhorn ist einerseits ein sehr amerikanischer Roman. Nicht nur, weil seine Sprache sich maßgeblich aus den Eigenheiten und Codes des Army-Slangs speist, sondern auch, weil die Erzählperspektive nicht über den Blick des US-Offiziers hinausgeht. Vietnamesen tauchen nicht als individuelle Charaktere, sondern lediglich als schablonenhafte Chimären auf. Und doch ist Matterhorn auch ein Roman, der etwas sehr Universelles erzählt. Wie der Journalist und Dokumentarfilmer Sebastian Junger, der mit War eine hoch gelobte Reportage über den Afghanistankrieg schrieb, bereits richtig in der New York Times bemerkte, ist Matterhorn nämlich nicht nur ein Buch über den Vietnamkrieg, sondern ein Buch über jeden Krieg. Es ist eine überwältigende und gleichsam verstörende Geschichte über Angst, Schuld, Hass, Wut, Wahn, Verzweiflung und Tod. Die ewige Geschichte des Krieges. Matterhorn Karl Marlantes Arche 2012, 672 S., 25,70 € Nils Markwardt besprach für den Freitag auch Jonathan Littells Notizen aus Homs Oksanen - freitag neues Format_320 - 112 27.09.12 16:59 Seite 1 Anzeige »Ein Roman von großer erzählerischer Kraft« taz Deutsch von Angela Plöger Gebunden 496 Seiten € (D) 22,99 © Toni Härkönen »Bulimie als Metapher für ein Leben in der Ost-West-Kluft« (taz) – ein furioser Roman über ein in der Literatur bisher nicht beachtetes Thema. Sofi Oksanen kommt nach Deutschland: 8.10. Stuttgart | 9.10. München | 10./11. Frankfurt / Buchmesse www.kiwi-verlag.de 18 Literatur der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Werkgenetische Isolierung Widerrede Céline war ein herausragender Schriftsteller – und Antisemit. Daran lässt sich nichts beschönigen, auch wenn Philippe Muray das versucht ■■Bettina Hartz L f o t o : S pa a r n e s ta d / R u e d e s A r c h i v e s / S Z P h o t o ouis-Ferdinand Céline ist einer der problematischsten Fälle der französischen Literatur: An ihm diskutieren unsere europäischen Nachbarn seit Jahrzehnten die Frage, ob ein Schriftsteller nach rein ästhetischen Kriterien beurteilt werden sollte, oder auch nach seinem Charakter, seiner Lebensführung und den von ihm geäußerten Ansichten. Die Frage also nach Leben und Kunst, Ästhetik und Moral. Wie Knut Hamsun, Carl Schmitt, Ezra Pound, Martin Heidegger und Ernst Jünger, gehört Céline zu den politisch kontaminierten Autoren. Sein Erstling Reise ans Ende der Nacht ist 1932 ein durchschlagender Erfolg. Céline erfindet darin ein neues Französisch, aus Bettlerjargon und Hochfranzösisch verschmolzen, mit Wortschöpfungen und Lautmalereien gespickt, den Satzbau zerhackt in einem Gestus von Hysterie und Paranoia, in dem sich die Brutalität, der Nihilismus, die Anarchie, die Angst von einem spiegelt, der durch die Hölle des Ersten Weltkriegs gegangen ist. Auf diesen Roman jedoch folgen zwischen 1937 und 1941 drei Pamphlete, Bagatelles pour un massacre, L’École des cadavres und Les Beaux Draps, die durch ihren extremen Antisemitismus und Rassismus schockieren. Die Tragödie als Farce Es folgt die Kollaboration mit den Deutschen während der Okkupation. 1944 flieht Céline nach Deutschland, dann nach Dänemark, um dem absehbaren Todesurteil zu entkommen. Jede Beschäftigung mit Céline, und sei es eine rein werkimmanente, sieht sich daher zu einer Positionierung gezwungen; selbst die Edition seiner Werke, über Jahrzehnte lückenhaft, zeugt von den Schwierigkeiten, jenseits des Entsetzens, ja Ekels, eine Form zu finden, die Rezeption zulässt. Die meisten Kritiker und Exegeten ziehen sich damit aus der Affäre, dass sie die verstörenden Fakten kurz erwähnen, die Pamphlete ästhetisch abwerten und das Werk auf die Romane reduzieren. Bevorzugt auf die Reise ans Ende der Nacht, das Werk „davor“, das man als noch unproblematisch sieht – eine Auffassung, die erst der französische Kulturkritiker Philippe Muray 1981 in seinem gut 260 Seiten starken Essay Céline demontiert. Jetzt, 31 Jahre später, ist diese umfangreiche Analyse auch auf Deutsch erhältlich. Muray unternimmt darin den Versuch, Werk, Werkphasen und Autor nicht auseinander zu dividieren, sondern zu fragen, welche Linien sich durch all das ziehen und ob Céline vor den Pamphleten tatsächlich frei von Antisemitismus war. Die deutsche Übersetzung erlaubt dabei nicht nur einen anderen Blick auf Céline, sondern auch einen ersten Blick auf Muray, der in Deutschland wenig bekannt ist und bislang kaum übersetzt wurde. Philippe Céline (1894 – 1961); hier in der Wohnstube seines letzten Domizils in Meudon Muray, 1945 geboren und vor sechs Jahren an Lungenkrebs gestorben, zählt mit seinen Thesen zur Herrschaft des Guten (L’Empire du Bien von 1991 ist eines seiner Hauptwerke) zur Posthistoire und mit dem von ihm geprägten „Homo festivus“ zu den „nouveaux réactionnaires“, einer Gruppe von Intellektuellen, die sich als Verfolgte der linken Konsenskultur inszenieren, in der Rolle des Außenseiters gefallen und dem vorgeblich siegreichen Geist von 68 den Krieg erklärt haben. Céline taugt hier als Identifikationsfigur, auch wenn das, etwa bei Michel Houellebecq, eher wie die Wiederkehr der Tragödie als Farce wirkt. Célines Literatur verkörpert die Grund erfahrung des 20. Jahrhunderts Muray immerhin bemüht sich darum, einmal den ganzen Céline in den Blick zu bekommen. Für ihn gibt es nicht drei Célines – den guten Schriftsteller, den bösen Pamphletisten und schließlich den Menschen –, sondern nur einen, ungeteilt. Der Bruch verläuft für Muray nicht innerhalb Célines, sondern zwischen Céline und allen und allem anderen. Ausgenommen von der Célinschen Negation sei allein das Schreiben, das es ihm erlaube, von dem Empfinden zu sprechen, dass der Krieg nie aufhört, und von der Angst vor dem Sterben, das immer weitergeht und in dem jeder total allein ist. Céline habe zwar überlebt, schreibt Muray, gleichwohl habe der Krieg, der vom Frieden ununterscheidbar geworden sei und unaufhaltbar auf einen neuen Krieg zusteuere, ihn in das Lager der Toten katapultiert. Céline schreibe von der „anderen Seite des Lebens“, von jenseits des Todes. Seine Literatur verkörpere die Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts: die totale Zerstörung. So weit kann man Muray trotz vieler dunkler Stellen in seinem Buch gut folgen; wenn er sich aber an die Erklärung des Célineschen Antisemitismus macht, beginnt er einerseits eine sexualisierende, psychologisierende Argumentation, die vollkommen krude ist, andererseits versucht er, die Gruppe der Pamphlete anhand werkgenetischer und stilistischer Kriterien zu isolieren; die gewählten Zitate sind in Stil und Gestus denen aus den Romanen aber so ähnlich, dass man seiner Differenzierung nicht zu folgen vermag. Den Verdacht, dass die unterschiedliche Beurteilung der Werkgruppen doch kontextbedingt ist, widerlegt Muray jedenfalls nicht. Grotesk wie Satire Vielleicht ist es so banal: Céline wird Antisemit, weil er einen Schuldigen sucht. Für den Krieg, für den erfolglosen zweiten Roman, für die von den Opernhäusern abgelehnten Ballette, seinen Nihilismus, sein – inszeniertes – Außenseitertum. Seine Anschuldigungen gegenüber der angeblichen jüdischen Verschwörung sind so grotesk, dass André Gide die Pamphlete für Satire, für eine exaggerierte Parodie des Antisemitismus nahm. Letztlich sind es aber nicht nur die Pamphlete, die ihren Autor als Antisemiten brandmarken, sondern dass er sich im Leben konform zu ihnen verhalten hat. Anders als in seinen Romanen macht Céline in den Pamphleten die Erfahrung seiner selbst als eines von Angst beherrschten Parias nicht produktiv, sondern verkehrt sie in den Wunsch, einmal selbst Täter und dadurch erlöst zu werden: indem er den anderen, der reine Projektionsfläche ist, zu vernichten wünscht. Das Schreiben ist nicht mehr Zweck in sich, frei in seiner Bewegung, es erstarrt zu Ideologie. Die in der Realität, in der Céline hoffte, sich nicht länger als Opfer fühlen zu müssen, millionenfach die Erfahrungen reproduzierte, von deren Brutalität er durchdrungen war. Céline Philippe Muray Übersetzung Nicola Denis, Matthes & Seitz 2012, 264 S., 29,90 € Bettina Hartz ist freie Literaturkritikerin Anzeige Freitag Bronski Teaser_Anzeige 01.10.12 11:12 Seite 1 Anzeige Max Bronski der tod bin ich Erfahren Sie mehr bei uns am Stand auf der Frankfurter Buchmesse: Halle 4.1, Standnr.: F123 Thriller 400 Seiten, Klappenbroschur Euro 16,95 (D) ISBN 978-3-88897-778-7 Ab 15.01.2013 im Handel! verlag antje kunstmann www.kunstmann.de zum Trailer: der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Monster der Herzen Kontextualisierung Der italienische Philosoph Domenico Losurdo untersucht die Legenden, die sich um Josef Stalin ranken ■ Sabine Kebir D omenico Losurdos Werke haben in den letzten Jahren weltweit Beachtung erfahren. Im Unterschied zu seiner 2009 auf deutsch erschienenen Nietzsche-Monografie handelt es sich bei dem in Italien bereits in der dritten Auflage gedruckten und nun auch hier vorliegenden Stalin-Buch nicht um eine Arbeit, die mit sensationellen Neuigkeiten aufwartet. Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende wirft vielmehr methodische Fragen für das Geschichtsverständnis auf, die für Historiker selbstverständlich sein sollten, es aber nicht sind. Die Verletzung gewisser Regeln hat erhebliche Auswirkungen auf die Vermittlung von Geschichte in Medien und Lehranstalten. Das Buch beschäftigt sich kritisch mit dem Reden über Stalin – und zwar weniger mit den sowjetischen Lobpreisungen zu seinen Lebzeiten als mit den Diskursen, die im Westen über ihn geführt wurden, und mit denen, die seine Nachfolger auf und nach dem XX. Parteitag produzierten. Es ist kein Zufall, dass aus Italien, wo es eine starke Hegel-Tradition gibt, vom dort führenden Hegelianer Losurdo der Appell ausgeht, an die verschiedenen Gesellschaftsformen und Persönlichkeiten in Geschichte und Gegenwart die gleichen Maßstäbe der Beurteilung anzulegen. Losurdo bekämpft bei der Popularisierung von Geschichte den beliebten Trick, die schlechten Taten des Gegners in Gegensatz zu den eigenen hehren Werten zu stellen. Verglichen werden sollten jedoch nur Taten einerseits und Wertesysteme andererseits, wobei der Vergleich des Tuns prioritär zu sein hat. Üblich ist es aber, die eigenen schlechten Taten vergessen zu machen – wie es zum Beispiel mit dem Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern oder den Kolonialverbrechen des Westens geschieht – und dem Gegner, in diesem Falle Stalins Sowjetunion, zu unterstellen, es verfüge über gar kein Wertesystem. Die so bewerkstelligte Dämonisierung führt im Falle Stalins dazu, dass die rationale Auseinandersetzung mit ihm von vornherein für abwegig erklärt wird. So aber wird aus der geschichtlichen Erfahrung nicht gelernt, sondern nur das Bedürfnis nach moralischer Bewertung befriedigt. Erschießung Berijas Losurdo erinnert an vergessene StalinBilder des Westens, die heute erstaunen. Wer weiß noch, dass Churchill 1943 in Teheran seinen damaligen Waffenbruder als „Stalin den Großen“ ansprach und später mehrfach äußerte: „I like that man.“ 1944 erklärte das amerikanische Time Magazine Stalin zum „Mann des Jahres“. Die Prozesse von 1937 fielen seinerzeit offenbar nicht weiter ins Gewicht, man kürte den Kremlchef sogar zum „genialen“ Feldher- ren. Genau das Gegenteil behauptete dann der XX. Parteitag der KPDSU. Und dieser ist – mehr noch als der Kalte Krieg – für Losurdo der Scheidepunkt in der Bewertung Stalins. Hier wurde er durch seine Weggefährten vom Halbgott zu jener „schwarzen Legende“ umgedeutet, als die er heute allgemein gilt: „ein enormes, finsteres, kapriziöses, degeneriertes menschliches Monster“. Im Nachspiel, das nicht mit rechtsstaatlichen Prozessen, sondern mit der Erschießung Berijas vor dem Zentralkomitee begann, deutete sich bereits an, dass die Nachfolger bei der Überwindung des strukturellen Stalinismus nicht demokratisch vorgingen. Sie benötigten das Monster vor allem, um sich selbst Legitimität zu verschaffen. War Stalin nun Genie, Halbgott oder Monster? Für eine Beurteilung sollten weder die ganz negativen noch die überschwänglich positiven Diskurse isoliert 1943 kürte das „Time-Magazine“ Josef Stalin zum „Mann des Jahres“ und verabsolutiert werden. Losurdo plädiert dafür, sie alle zu problematisieren und Stalin nicht nur im moralischem, sondern auch im historischen Kontext zu sehen – also die von ihm verantworteten Taten mit denen der Mächtigen seiner Zeit zu vergleichen. Skeptiker können fragen, ob man geschichtliche Fakten oder Persönlichkeiten – etwa das KZ-System und den Gulag oder eben Stalin und Hitler – überhaupt vergleichen dürfe. Führt das nicht in einen Relativismus, der erklärt und entschuldigt? Vergleichen muss weder Gleichsetzen noch Entschuldigen bedeuten. Losurdo wendet sich gegen die gängige Verschwisterung von Stalin und Hitler. So hatte sich die Lage der Juden in der Sowjetunion im Vergleich zum Zarenreich fundamental verbessert, Führungspositionen besetzten sie sogar überproportional. Die Lage änderte sich durch die antisemitischen Kampagnen an Stalins Lebensende – einer der vielen Punkte, die eine Idealisierung untersagen. Das dürfe man, so Losurdo, aber auch nicht mit Trotzki tun, der oft als Gegenpol gilt. Dessen Idee von der zu beschleunigenden Weltrevolution war außerhalb der russischen Welt illusorisch. Und sie hätte Russland selbst überfordert. Wie volontaristisches revolutionäres Vorpreschen in Korrekturen am Stalin-Bild gab es immer Katastrophen münden kann, offenbarte die Zwangskollektivierung, die Stalin nach dem radikalen Muster vorantrieb, das er kurz zuvor Trotzki vorgeworfen hatte. Interessant ist Losurdos These, dass der Trotzkismus mit der Ausweisung Trotzkis keineswegs aus der sowjetischen Geschichte verschwand. Er blieb eine Konstante bei allen, denen die Entwicklung zu langsam verlief. Das hielt das Land in einem schwelenden Bürgerkrieg und bestimmte immer wieder Entscheidungen der Führung – wie Chrustschows Versuch, Atomraketen auf Kuba zu stationieren oder Breschnews Einmarsch in Afghanistan. Auch die radikalsten Entscheidungen Stalins entsprangen dem Streben, revolutionäre Prozesse zu beschleunigen. Verdienste hat Stalin – laut Losurdo – eher in der Revision einiger Utopien, die auf Marx und Lenin zurückgingen, wie die Vorstellung, dass Staat, Familie, Markt und sogar das Recht abgeschafft werden könnten. Dass er in manchen linken Kreisen deshalb als Verräter galt und dass die Durchsetzung der Revisionen mit fehlerhaften, oft verbrecherischen Mitteln geschah, ändere nichts an ihrer grundsätzlichen Notwendigkeit. Seerechtsvertrag, den Hitler 1935 mit England in der Hoffnung schloss, dass es seine kontinentalen Expansionsansprüche anerkennen würde? Der heute als einziger inkriminierte deutsch-sowjetische Vertrag war der letzte, den ein Land mit Hitler vor Kriegsbeginn schloss. Losurdos Buch provoziert. Aber sein Anliegen ist es nicht, Stalin zu entschulden, sondern zu verhindern, dass in seinem Schatten Menschen- und Völkerrechtsver- Domenico Losurdo Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende Mit einem Essay von Luciano Canfora, Papyrossa 2012, 22,90 € Mehr über Sabine Kebir unter sabine-kebir.de ANZEIGEN Occupy – Wie geht der Protest weiter? Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer, Autoren des Buchs »Occupy. Räume des Protests«, diskutieren mit Aktivisten die Perspektiven einer globalen Kultur des Widerstands: Was hat sich mit den Besetzungen von »Occupy« verändert und wie geht der Protest weiter? Pakt Hitlers Um sich vom historischen Relativismus abzugrenzen, schlägt Losurdo eine komparatistische Methode vor, die weder für postmoderne Parallelisierung von allem und jedem plädiert, noch auf Bewertung nach den Maßstäben des Menschen- und Völkerrechts verzichtet. So findet Stalins Bombenkrieg gegen Finnland und die Besetzung Ostpolens einschließlich des Massakers von Katyn zwar eine Erklärung als Präventionsmaßnahme gegen den zu erwartenden deutschen Angriff. Dennoch waren es Verstöße gegen Menschen- und Völkerrecht. Eine solche Beurteilung müsste, so führt Losurdo aus, aber auch der Krieg der USA gegen Kambodscha Anfang der siebziger Jahre erfahren, bei dem mehr Bomben abgeworfen wurden als über Japan im Zweiten Weltkrieg – eine Präventionsmaßnahme im Krieg gegen Vietnam, bei der Hunderttausende Kambodschaner starben. Der sie verantwortende Außenminister Henry Kissinger ist Friedensnobelpreisträger. Für ein umfassenderes Verständnis von Losurdos Komparatistik sei darauf hingewiesen, wie der Autor das historische Umfeld des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts beschreibt. Zum historischen Kontext gehört, dass Polen damals nicht nur Opfer war. Es hatte sich 1938 durch das Münchener Abkommen ermutigt gefühlt, das zur Tschechoslowakei gehörende Teschener Olsagebiet zu okkupieren und war seit 1934 mit Deutschland durch einen gegen Russland zielenden Nichtangriffspakt verbunden. Ähnliche Verträge hatte Hitler mit etlichen europäischen, darunter auch den skandinavischen Ländern geschlossen. Mit dem Vatikan kam es zu einem Konkordat. Wer spricht noch davon? Oder vom brechen anderer verborgen oder verharmlost werden. Wer eine Welt von Gleichberechtigten anstrebt, sollte Geschichte unter Anlegung gleicher Maßstäbe diskutieren. Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Occupy Räume des Protest 2012, 200 S., kart., 18,80 € ISBN 978-3-8376-2163-1 Teilnehmer • Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer, Autoren von »Occupy. Räume des Protests« • Alexander Beck, konzipierte in Kassel das Projekt Occupy d13 • Thomas Seibert, Philosoph und Aktivist in der Interventionistischen Linken (IL) • Occupy Frankfurt (angefragt) • Moderation: Rainer Winter, Autor von »Widerstand im Netz« Weitere Informationen unter: www.transcript-verlag.de/fokus/occupy Am 12.10.2012, 11 Uhr, Buchmesse Frankfurt, Raum »ARGUMENT«, Halle 3.C, Westseite »Nonfiction, die sich so elegant, schillernd und abenteuerlich liest wie ausgedacht.« Johanna Adorján, ›Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung‹ Emmanuel Carrère erzählt in dieser dokumentarischen Romanbiografie die schillernde Geschichte Eduard Limonows, einer umstrittenen und widersprüchlichen Figur, er rekonstruiert ein Leben, das ihn fasziniert aber auch abstößt – und skizziert wie nebenbei seine eigene Annäherung an das heutige Russland. Matthes & Seitz Berlin www.matthes-seitz-berlin.de Emmanuel Carrère Limonow 414 Seiten, geb. mit SU A. d. Franz. von Claudia Hamm ISBN: 978-3-88221-995-1 24,90 € / 33,90 CHF F O T O : D I M I TA R D I L K O F F /A F P/ G E T T Y I M A G E S Literatur 19 20 Literatur der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Schmerzkillerkunst Cut-Up Durchschneiden und überkleben: Ein neuer Bildband bringt den Schriftsteller William S. Burroughs zurück in unser Gedächtnis planten, experimentellen Roman-Triologie, der Nova Triology, zusammenzufassen, von der einige Originalseiten im vorliegenden Buch zu sehen sind. Ihr Tun sprach sich rasch herum, und es ist überliefert, wie Sa muel Beckett auf Burroughs trockenene Bemerkung: „Wörter tragen keine Marken, wie Rinder es tun. Oder haben sie jemals von einem Wörter-Viehdieb gehört?“, auf gebracht erwiderte: „Das ist nicht Schrei ben, was sie tun, das ist Klempnern!“ 1961 tritt ein Mathematik- und Compu terwissenschaftsstudent aus Cambridge auf die Bildfläche und entwickelt gemein sam mit Gysin eines der ersten psychedeli schen Kunstwerke, die Dream-Machine. Ian Sommerville wird Burroughs Geliebter, ge meinsam erarbeiten sie nach der Cut-Up Technik erste Film- und Tonaufnahmen, bis Burroughs aufgrund einer drohende Klage wegen Drogenschmuggels die fran zösische Kapitale verlassen muss und zu rück nach Tanger flieht. Dort entstehen neue Serien von Foto-Collagen, die sich ebenfalls im Buch finden. ■■Corinna Koch A einem heißen Nachmittag des Jahres 1951 schoss ein Mann seiner Frau in Mexico-City eine Kugel in die Stirn, nach dem Alkohol, Amphetamine und Opiate die beiden zu einem WilhelmTell-Spiel verführt hatten. Und dann? Selt sam, aber der Lauf der Dinge wurde ange halten und das Treibgut der Moral im Krei se derer, die diesen Mann bedingungslos verehrten, namentlich die jungen Beat- Poeten Allen Ginsberg und Jack Kerouac, neu verteilt. William S. Burroughs kam frei, musste allerdings das Land verlassen. Er leichterung verschaffte nur das Schreiben: Sein Debütroman Junkie erschien 1953 und leuchtete mit kaltem Licht in Winkel der Nachkriegsgesellschaft, für die es bis dahin weder Bewusstsein noch Namen gab. Marokko, 1954: Burroughs geht durch die staubige Hitze von Tanger. Er trägt wie üblich Anzug, Krawatte und Hut. Um sei ne Lederschuhe neu zu binden, bückt er sich und als er sich wieder aufrichtet, ist es bereits Nacht. Der Drogenkonsum hatte ihm die Kontrolle über die zahlreichen Er zählstränge seines neuen Manuskripts so sehr entgleiten lassen, dass die treuen Freunde Ginsberg und Kerouac aus New York kommen mussten, um Ordnung in die vielen hundert Seiten zu bringen. Es war Kerouac, der schließlich den Titel Naked Lunch für ein Buch fand, dem es ge lungen war, die Agenten der Macht zu be nennen und ihre Strukturen zu durch leuchten. Geschrieben von einem Mann, den seine Drogensucht, seine Homosexu alität, seine Reputation als Frauenmörder und nicht zuletzt seine psychische Sensi bilität zum unmöglichsten Menschen sei ner Zeit gemacht hatten. Aber seine Freun de gaben ihm weiter Rückhalt, erst Gins berg und Kerouac, dann auch Brion Gysin, Ian Sommerville und Anthony Balch, de ren Wissen um darstellende Kunst, Ton technik und Informatik er aufsaugte. a b b . : L O s a n g e l e s c o u n t y m u s e u m O F A R T / e s tat e of w i ll i a m s . b u rro u g h s Ordnungsorgane aufzuschlitzen, bereitete Burroughs das größte Vergnügen Skizzenbücher In einem jetzt neu erschienen Buch CutUps, Cut-Ins, Cut-Outs: The Art of William S. Burroughs kann man verfolgen, wie der Künstler für seine Gedanken nicht nur eine textliche, sondern auch eine visuelle Spra che fand. Unter den Dokumenten befindet sich eine Reihe von bisher nicht gekannten Arbeiten, die Burroughs mit der Emsigkeit eines verrückten Professors zwischen 1951 und 1994 erstellte. Er durchschnitt, über klebte, übermalte und durchschoss vorge fundenes Bild- und Textmaterial und setze dieses in schier nicht enden wollenden Se rien von Skizzenbüchern und Collagen wie der zusammen. Diese Arbeit von Brion Gysin und Burroughs ist namenlos und um 1965 entstanden Brion Gysin war es, der an einem Nach mittag 1959 diese legendäre Cut-Up-Me thode zufällig entdeckte. Wie Burroughs hatte Gysin Tanger verlassen und sich in einem „Beat-Hotel“ in der Pariser Rue Gîtle-Cœur einquartiert. Sobald Burroughs die ihrer ursprünglichen Bedeutung ent hobenen Zeitungsnachrichten sah, erkann te er darin eine Methode, mit der er gleich sam an den Nullpunkt von Sprache und Wahrnehmung vordringen konnte. Der Gedanke, die Ordnungsorgane aufzuschlit zen, mit denen die Menschen gelernt hat ten, das Chaos im Zaum zu halten, bereite te Burroughs das größte Vergnügen, und mit Gysin machte er sich daran, sowohl seine eigenen, als auch die Texte anderer zu zerstückeln und, angereichert mit Foto grafien, neu zu collagieren. Fieberhaft erstellten die beiden immer neue Bild-Text Collagen, um sie in einer ge Burroughs war einer der ersten, der die Bewusstseinslage einer durchmedialisier ten Generation vorher gesehen hatte und ihr den Weg wies. Ihm folgte ein ganzer Schwarm von Künstlern wie Andy Warhol, Laurie Anderson, Ian Curtis, Kurt Cobain. William Burroughs selber, der trotz seines Lebenswandels 81 Jahre alt wurde, hatte am Ende die Geduld für diese sich endlos in die Zukunft fortsetzende Arbeit verloren und sich in seine eigene, schnarrenden Stimme, die im Alter noch ein leichtes Zischeln am Ende eines jeden Wortes entwickelt hatte, verkrochen. Einer seiner letzten Tagebuch einträge wurde nach seinem Tod 1997 im New Yorker veröffentlicht. Er lautetet: „Lie be? Was ist das? Der natürlichste Schmerz killer; den es gibt. LIEBE.“ William S. Burroughs: Cut-ups, Cut-ins, Cut-outs Kunsthalle Wien Verlag für moderne Kunst 2012, 176 S., 30 € Corinna Koch ist die Bildband-Expertin des Freitag Sachlich richtig Literaturprofessor Erhard Schütz beschäftigt sich diesmal mit Lebensläufen, die der Realsozialismus schrieb Honecker hasste Mundgeruch Günter Mittag vom ZK war der unangenehmste Esser und Trinker, den Lothar Herzog zu bedienen hatte. Herzog war nämlich „Perso nenschützer“ und Erich Honeckers Kellner, 22 Jahre lang. Darüber hat er jetzt ein Buch geschrieben. In all den Jahren hat Erich Honecker (EH) ihn wie Luft behandelt, weil der Proletenstaatsoberste keine Diener regieren, aber doch einen persön lichen haben wollte. Seine Säuer lichkeit hat er durch morgendlichen Zitronensaft trainiert, wenn’s süßer sein sollte, musste Langnese-Honig aus dem Westen her. Und Margot rauchte HB. Wer soll da nicht gleich in die Luft gehen? Mit Herzog zie hen wir von Wandlitz nach Drewitz über Hubertusstock und Döllnsee, fliegen staatsbesuchend immer mit in die weite, meist sozialistische oder Dritte Welt, wo – Höhepunkt! – Herzog aus Guinea eine Bananen staude illegal einführte. Hat den Kindern geschmeckt! Und EH? Einsam, einsam! Aber gern gejagt hat er und gegen Günter Gaus gewonnen: der hatte nur zwei, EH aber 18 Haserln erledigt! Und Mundgeruch hasste EH auch. Mundgeruch war für Erwin Jöris das Geringste, denn der hatte die Schnauze bald voll. Half ihm aber nicht; er musste mit seiner losen Klappe durch die rotbraune Mühle des Jahrhunderts. 1912 geboren als Prolet in Lichtenberg, KPD-Jugend funktionär, ’33 abgetaucht, in die Sowjetunion gegangen, dort 1938 vom NKWD als „faschistischer Hetzer“ verschleppt, an die Nazis ausgeliefert, als Soldat nach Russ land zurück, Kriegsgefangenschaft in Sibirien, zurück nach Berlin, bei den Genossen angeeckt, von den Russen neuerlich verschleppt und als Agent der Gestapo etc. zu 25 Jahren verurteilt, von denen sechs in Sibirien abgearbeitet, zu rückgekommen. Eine gar nicht so seltene Kommunistengeschichte. Eine Zeitzeugengeschichte des Jahr hunderts. Was sie von anderen aus der gewaltigen biografischen Welle unterscheidet – dies ist kein Privat gejammer, sondern von einem ver sierten Historiker aufgezeichnet und derart materialreich, zugleich so gut strukturiert, dass man eine plastische, komplexe Geschichte des Jahrhunderts erhält, einge spannt zwischen ideologischen Fronten und inhumanen Appara ten. Da sind 520 Seiten nicht zu viel. Nach Sibirien ist Erika Riemann nicht gekommen, auch wenn es ihr angedroht wurde. Aber acht Jahre in Bautzen, Sachsenhausen und Hoheneck sind kaum weniger menschenunwürdig, vor allem wenn man mit 14 Jahren inhaftiert wird. Keine 64 Gewaltdelikte wie Mehmet, sondern lediglich eine Schleife um Stalins Bart, gemalt mit Lippenstift, trug ihr das ein. Damit sie überhaupt eingesperrt werden konnte, wurde sie von den Sowjetbehörden zwei Jahre älter gemacht. Erika Riemanns Buch da rüber ist 2006 zuerst erschienen, nun als Taschenbuch zu haben. Es schildert, was man gedankenlos eine Odyssee zu nennen pflegt, aber hier gibt’s keine Kirke, keine Phäaken, sondern Hunger und Herabwürdigungen, Prügel und psychische Zusammenbrüche. Das ist ebenso beeindruckend dar gestellt wie schlimm. Aber damit hört das Buch nicht auf, sondern zeigt, wie ein Leben buchstäblich sich verläuft, das so beginnt und von dem anschließend nicht gesprochen wird. 45 Jahre dauert es, bis Riemann mit sich im Reinen ist. Mit 70 Jahren hat sie das auf geschrieben. Die Aufmerksamkeit darauf bekam ihr nicht nur gut. Sie wurde von Stefan Raab verhöhnt. Das steht auf einem anderen Blatt, kommt aber auch aus Menschen verachtung. Noch einmal Zeitzeugen. Doppelt – als Dokumentarfilmer Zeitbeglei ter der DDR, nun Rückblickende auf diese Begleitung. Für Filminter essierte eine wahrlich ehrfurchts gebietende Versammlung. 21 RegieAutoren, darunter, um wenigstens die zu nennen: Winfried und Bar bara Junge (Die Kinder von Golzow), Volker Koepp (Sommergäste bei Majakowski, Wittstock-Serie), Kurt Maetzig oder Konrad Wolf. Das Spektrum des Erzählten ist so groß wie das der Themen und Arbeits bedingungen, Jahrgänge und Tem peramente. Entstanden ist ein be merkenswertes Kompendium zum Dokumentarfilm der Defa, dessen Ruhm ja nun wahrlich nicht unbe gründet war, damit hoffentlich auch ein Stachel gegen das Vergessen. Dazu jedoch ebenso ein Kompendi um zu den künstlerischen Lebensund Arbeitsbedingungen in der DDR – und damit keineswegs nur für Cineasten interessant! Honecker privat. Ein Personen schützer berichtet Lothar Herzog Das Neue Berlin 2012, 191 S., 12,95 € Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren. Ein Jahrhundert diktat. Erwin Jöris Andreas Petersen marix 2012, 520 S., 24,90 € Die Schleife an Stalins Bart. Ein Mädchenstreich, acht Jahre Haft und die Zeit danach, Erika Riemann dtv 2012, 254 S., 9,90 € Das Prinzip Neugier. Defa-Dokumen tarfilmer erzählen. Ingrid Poss, Christiane Mückenberger, Anne Richter neues leben 2012, 639 S., 29,95 € Literatur 21 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Sebastian Dörfler über den Musiker und Lyriker Hans Unstern f o t o s : S o p h i e B r a n d s t r o m / P i c t u r e ta n k , j ü r g e n d a k a r ( RECHTS ) Anleitung zur Fremdverwirklichung Seltene Ruhe: Die dänische Freistadt Christiania ist längst ein Touristen-Magnet Der Legolandfaktor Utopia Zwei Autoren haben alternative Kommunen bereist. Findet dort unsere Zukunft statt? ■■Sebastian Triesch D ie Utopie hat als literarisches Genre ein grundsätzliches Dilemma. Einerseits sind Utopien im Wortsinn Bilder von Nicht-Orten, also Gedankenspiele, die nicht umgesetzt werden können, anderseits ist schon Thomas Morus’ Utopia ein Bericht über den „besten Zustand des Staates“ und damit doch eine Anleitung für eine angenehmere Zukunft. Davon abgesehen ist die Beschäftigung mit Utopien meist eine theoretische geblieben. So hat Ernst Bloch in seinem Prinzip Hoffnung einen Abriss der Sozialutopien seit Morus gegeben und als Kern aller Wunschbilder eine Mischung aus Christentum und Marxismus herausgestellt, ohne dass damit konkrete Handlungsaufforderungen verbunden gewesen wären. Während schön formulierte Gedankengebäude für eine lebenswertere Welt immer aufs große Ganze gingen, aber letztlich wirkungslos blieben, sind seit den siebziger Jahren in verschiedenen Regionen Europas Enklaven entstanden, die gegen alle Widerstände versuchen ein Utopia im Kleinen zu verwirklichen; irgendwie also das viel zitierte „richtige Leben im falschen“ zu führen. Zurück zur Scholle Die Aktivisten Isabelle Fremeaux und John Jordan haben solche Projekte für ihr Buchund Filmprojekt Pfade durch Utopia aufgesucht. Beide sind in der kapitalismuskritischen Bewegung verwurzelt, Fremeaux beschäftigte sich als Dozentin an der Londoner Universität mit antikapitalistischen Bewegungen und kreativen Formen des Widerstands, John Jordan ist als Mitbegründer der Clownsarmee bei allen großen Events der Globalisierungskritiker dabei. Wie sie schreiben, wollten sie auf der Reise Mikromodelle alternativer Gesellschaften ausfindig machen, bei denen soziale und ökologische Gerechtigkeit die entscheidenden Werte sind und keine hierarchischen Ordnungen oder sektenhafte Strukturen herrschen. Die elf Stationen ihrer Tour können grob in drei Kategorien unterteilt werden. Sie begegnen wie beim Projekt Landmatters radikalen Wachstumsskeptikern, die wieder im Einklang mit der Natur leben wollen, aber auch, wie im spanischen Marinaleda, Arbeitern, die vor allem die Eigentumsverhältnisse im Kapitalismus infrage stellen, sich von der industriellen Produktion aber nicht lösen wollen, sowie stark von ’68 geprägten Einrichtungen wie dem Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) in Belzig, wo vor allem Konzepte von „befreiter Liebe“ im Mittel- punkt stehen. Was alle Orte, die sie besuchten, verbindet, ist der Umstand, dass die Berichte von Fremeaux und Jordan wenig Lust auf diese Utopien machen. Gerade bei den ökologischen Projekten scheint allzu oft eine „Zurück-zur-Scholle“-Romantik durch, die sich verkürzt auf die Formel Mittelalter minus Feudalismus minus Kirche plus Sonnenkollektoren bringen lässt. Damit ist man erstaunlich nah an dem, was William Morris angesichts der Industrialisierung in Großbritannien schon 1890 in seiner Utopie News From Nowhere schrieb. Bereits damals war es in Mode, die Schönheit des Dorfes, das ehrliche Handwerk und die Landwirtschaft gegen den mechanisierten, entfremdenden Arbeitsalltag der Fabrik arbeit zu stellen. Es stimmt ja: Die technizistischen Träumereien des 20. Jahrhunderts haben die Zukunftsgestaltung bisher kaum weitergebracht und auch die Sache mit den „Grenzen des Wachstums“ hat sich in den vergangenen 40 Jahren rumgesprochen. Deshalb aber gleich die Moderne in Bausch und Bogen zu verdammen, ist sicher keine Antwort. Die Projekte, die sich in erster Linie als libertäre Einrichtungen sehen, wie eben das ZEGG oder Christiania in Kopenhagen, sind mit ganz anderen Problemen konfrontiert. Für sich genommen sind es vielleicht nette Orte, aber als Folie für ein Zusammenleben im größeren Maßstab erscheinen sie nicht geeignet, zu sehr sind sie auf die Alimentierung durch die Mehrheitsgesellschaft angewiesen. Sei es, dass Besucher im ZEGG teure Seminare belegen, oder dass die Freistadt Christiania in Kopenhagen wahrscheinlich mehr Touristen empfängt als das Legoland und so die eigene Folklorisierung betreibt. Diese Umstände tauchen im Buch am Rande auf, werden aber von der Begeisterung der Autoren recht schnell beiseite geschoben, die ihre Version der Zukunft lieber heute als morgen verwirklicht sähen. Bisweilen sind aber auch sie entnervt, vor allem dann, wenn es um das demokratische Prozedere der selbstverwalteten Einrichtungen geht. In der französischen Siedlung Longo Maï erleben sie eine ebenso freie wie ergebnislose Versammlung, in der Die Moderne in Bausch und Bogen zu verdammen, kann nicht die Antwort sein sich am Ende durchsetzt, wer am lautesten ist und die meiste Ausdauer hat. Ähnliche Erfahrungen machen sie in Christiania und so kommen auch sie nicht umhin zu erkennen, dass die Achillesferse solcher Projekte in der grundsätzlichen Schwierigkeit besteht, zu konsensualen Entscheidungen zu kommen. Auf nach Frankreich Wie es doch funktionieren kann, vermitteln ihre Erfahrungen aus Paideia, einer anarchistischen Schule im Südwesten Spaniens. Hier bilden die Schüler ihre eigenen, funktionierenden Kommissionen und Vollversammlungen, um den Schulbetrieb nach ihren Wünschen zu gestalten. Die Schule wird hier tatsächlich zum Ort einer Lerngemeinschaft und wirkt auf die menschliche Bildung, statt nur auf den Kampf um Arbeitsplätze vorzubereiten. Als Zugabe gibt es eine DVD zum Buch, die Impression der Reise einfängt und dem Projekt mit einem künstlerischen Anspruch begegnet. Von Zeit zu Zeit wird der Eindruck erweckt, die Aufnahmen aus Utopia seien in einer postapokalyptischen Zukunft des 22. Jahrhunderts entstanden, in der nur die wackeren Kämpfer für die bessere Welt vom Zusammenbruch verschont geblieben sind. Zurück bleibt Unbehagen. Nicht nur gegenüber der Zukunft, sondern auch angesichts der Gegenwart. Das Projekt, das Orte der Utopie zeigen will, zeichnet vor allem eine Dystopie, denn unausgesprochen steht immer im Raum, dass ein solcher Lebensstil nicht für alle zu haben ist. Und auch wenn die Zukunftsversprechen des Kapitalismus schon länger ihren Glanz verloren haben, nimmt die Annahme, dass eine menschliche Zukunft nur jenseits von technischer Weiterentwicklung und städtischen Räumen zu haben ist, nicht gerade für die utopischen Projekte ein. So wichtig es ist, die Chimäre vom „nachhaltigen Wachstum“ und die Annahme, dass der westliche way of life für die ganze Welt gelten könne, zu dechiffrieren: Buch und Film lassen den Leser ernüchtert zurück. Die Suche nach Wegen in die Welt von morgen geht weiter. Fremeaux und Jordan schlagen derweil ihren eigenen Pfad nach Utopia ein. Auf einem Hof in der Bretagne bauen sie jetzt selbst einen postkapitalistische Kommune auf. Was für eine kalte Welt. Und jetzt hat dieser Johann Holtrop auch noch das letzte wärmende Lagerfeuer, das der Literatur, ausgetrampelt. Hat die Welt eines asozialen Egomanen beschrieben, ganz ohne Empathie, nur Verachtung. So kann doch nur jemand schreiben, der längst ebenso kalt geworden ist, konnte man lesen. Ein Blick auf die herz erwärmenden Videos auf johannholtrop.de hätten gereicht, um von dieser Sichtweise abzurücken. Zum Beispiel das eine, in dem sich Rainald Goetz bei der Buchvorstellung in der Suhrkamp-Zentrale überschlägt mit Hinweisen an die Rezensenten, zum Beispiel dem, nicht mit jeder Buchkritik auch ein Porträt des Autors schreiben zu wollen. Um solche Kurzschlüsse zwischen Werk und Autor zu vermeiden, entwirft sich Hans Unstern einfach alle paar Jahr neu. Wollte man vor zwei Jahren etwas über den zotteligen Musiker und sein erstes Album schreiben, war nicht mehr zu erfahren, als dass er sich vor ein paar Jahren eben „Hans Unstern“ genannt habe, mehr gäbe es dazu nicht zu sagen. Vor ein paar Monaten gab er dann sein vorerst letztes Konzert. Und jetzt sitzt da einer, frisch rasiert, mit Sonnenbrille, weißem Anzug und blauen Haaren, vor dem Bücherregal des MerveVerlags (viel bunter als das bei Suhrkamp!) und stellt seinen ersten Gedichtband vor – mit den Worten „das ist nur ein Übergang“. Profi-Pose: Unstern vorm Verlagsregal mich / Für mich / Schämen sich sogar die Läuse“. Da fühlt sich jemand so ungenügend, dass er sich auf die Suche nach etwas anderem macht. Auf dem Buchumschlag sieht man, wie Hans Unstern versucht, sich aus einem Raster, das auf sein Gesicht projiziert ist, herauszusingen: „Kratz den Mann aus dir raus, verrat das Land deiner Väter“, lautete das Programm seines ersten Albums. Aber was heißt Programm? Eher müsste man von einer Fluchtbewegung vor dem Selbst sprechen. Wer will schon so sein, wie er oder sie eben ist? Dagegen hilft nur Fremdverwirk lichung. Hans Unsterns Ziel ist es: „Der Fremd verwirklichung / So nah wie möglich kommen“. Manchmal kommt man ihr sehr nah. Und manchmal verfolgt einem das alte Selbstbild noch („Jeden Morgen aufstehen / Immer in Sorge / Ich könnte schon auf dem Klo sitzen / Wenn ich ins Bad komme“). „Paris“, eines seiner schönsten Lieder, in dem Buch allein auf über 150 Seiten abgedruckt, mit meist nur mit einem Wort pro Seite. Und mittendrin die Frage: „Wann sehe ich ein Gesicht, das mich nicht an dich erinnern kann“? Das sind die Kollateral schäden der „Fremdverwirklichung“. Aber gibt es einen anderen Weg aus der Kälte, aus der Einsamkeit, als diesen? „Ich such die Teile zusammen die nicht passen / Ich stell mir vor ich bau mich zusammen / Ich stell mir vor du baust mich zusammen / Dann wird es eine Operation sein“. Das Leben ist eine Operation am offenen Herzen. Ein paar der Menschen, aus denen sich Hans Unstern auf seinem Weg zusammengesetzt hat, sind auf der letzten Seite gelistet. Unter diesen „Ghostwritern“ sind Sibylle Berg, Sarah Kane, Andreas Spechtl und viele andere. Wir hoffen, dass man von Hans Unstern nach dem nächsten Entwurf auch wieder Neues und Anderes hören kann. Bis es soweit ist, nehmen wir erst einmal die Ghostwriter mit auf unsere Flucht. Anzeige WIGLAF DROSTE Sprichst du noch oder kommunizierst du schon? Ein leidenschaftliches Plädoyer für Liebe und Schönheit in Sprache und Leben. 2 CDs, Autorenlesung MAX UTHOFF Oben bleiben Deutscher Kabarettpreis 2011, Deutscher Kleinkunstpreis 2012 Pfade durch Utopia Isabelle Fremeaux und John Jordan Aus dem Französischen übersetzt von Sophia Deeg, Buch (320 S.), DVD (109 min), Edition Nautilus 2012, 24,90 € Sebastian Triesch studiert Public History an der Freien Universität Berlin Nicht schon wieder, denkt man noch, und fängt an zu lesen. Das Buch heißt Hanky Panky Know How. Das „Know How“, um das es hier geht, ist das passende, um gegen diese verdammte Kälte anzu gehen. „Mit einem Strauß / Blattläuse / Stehe ich vor meiner eigenen Tür / Woher kommt diese Einsamkeit?“, heißt es im ersten Gedicht. Und im nächsten: „Ich schäme 1 CD, Live-Mitschnitt WIR HABEN HUMOR! freitag CS5.indd 1 www.wortart.de 28.09.12 15:14 22 Wissen der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Lässt sich Gefährlichkeit messen? Sicherungsverwahrung Ein neuer Gesetzentwurf soll Klarheit in die vielmals kritisierte „Haft nach der Haft“ bringen. Experten zeigen Mängel auf ■■Susanne Donner F o t o : O l i v e r B e r g / D PA S ex-Straftäter raus aus Chemnitz. Hau ab!“ Solche Parolen, aus denen Wut und Abscheu aufgebrachter Bürger sprechen, die sich gegen aus der Haft entlassene Straftäter richten, hat es in den vergangenen Monaten häufiger gegeben. Die Vorgeschichte: Im Mai 2011 beanstandete das Bundesverfassungsgericht die deutschen Regelungen zur Sicherungsverwahrung als verfassungswidrig, weil nicht mit den Menschenrechten vereinbar. Es folgte damit dem vorausgegangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der zentrale Kritikpunkt: Die Sicherungsverwahrung gleiche zu sehr der Haft und damit einer Strafe. Die aber hat der Täter zuvor bereits verbüßt. Die Verwahrung soll per Definition keine neuerliche Strafe sein, sondern in erster Linie die Bevölkerung vor einem gefährlichen Straftäter schützen. Ein kleiner Teil der rund 500 Verwahrten musste auf diese Urteile hin unvorbereitet entlassen werden – was zu den Protesten in den betroffenen Gemeinden führte. Diese Situation soll sich nun ändern. Bis Mai 2013 muss die Bundesregierung nun die Regelungen reformieren. Seit Juli liegt Leben mit dem Risiko: Gefährliche Straftäter bleiben unter Überwachung ihr Gesetzentwurf vor. Kann er eine Wende bringen? Nach der geplanten Neuregelung untergliedert sich die Sicherungsverwahrung künftig in eine kaum überschaubare Fülle. Da wäre die „vorbehaltene“, die „nachträgliche“ und die „primäre“ Sicherungsverwahrung und dann die „Therapieunterbringung“, auch sie nichts weiter als eine kaschierte nachträgliche Sicherungsverwahrung. Zwar stehen den Verwahrten nun ein Anspruch auf Therapie, mehr Platz in der Zelle und andere Privilegien zu. Aber die eigentlich heiklen Fragen, nämlich wie ein Gewalttäter in Verwahrung gelangt und wie er daraus freikommt, hat man weitgehend ausgeklammert. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht sogar die Frage aufgeworfen, ob der Gesetzgeber überhaupt an der Sicherungsverwahrung festhalten wolle. Wissenschaftler üben nun deutliche Kritik an der Halbherzigkeit der geplanten Anzeige Früher hast du viel riskiert, um weiße Flecken von der Landkarte verschwinden zu lassen. Heute bist du hier, um einen zu bewahren. Neuregelung. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) beschwerte sich im September sogar bei den Gesundheitsministern der Bundesländer. Denn in die nachträgliche Verwahrung können künftig weiterhin Täter gelangen, wenn sie „eine psychische Störung“ haben. Der Begriff der psychischen Störung „ist so vage, dass wir eine Flut von gesunden Straftätern mit angeblicher Störung in der Sicherungsverwahrung fürchten. Denen können wir nicht helfen, weil sie nicht krank sind“, erklärt der Vorsitzende der DGPPN Peter Falkai. Umgekehrt würden dadurch Kranke stigmatisiert. Wenn eine Schizophrenie Grund genug ist, einen Straftäter von der Gesellschaft auszuschließen, wachsen die Berührungsängste vor Schizophrenen im Allgemeinen. Tatsächlich stellten Gutachter in Bayern bei vier Inhaftierten einmal eine Schizophrenie, zweimal eine Psychose und einmal eine Störung der sexuellen Neigung fest – darunter Fetischismus. Alle vier kamen in die nachträgliche Sicherungsverwahrung. Auch eine gestörte Persönlichkeit taugt künftig als Argument fürs Wegschließen, kann man der Begründung des Gesetzentwurfes entnehmen. Aktuell begutachtet man den „Vanessa-Mörder“ in Bayern auf eine mögliche psychische Störung hin. Bei dem nun 29-Jährigen seien während der zehnjährigen Haft Tötungsfantasien offenbar geworden – in Briefen und Gesprächen, berichtet Psychologe Johann Endres vom kriminologischen Dienst des bayerischen Justizvollzugs in Erlangen. Die Gedankenwelt des Mannes bewertet Endres als triftigen Grund für eine Sicherungsverwahrung. Sein Wort hat Gewicht, denn er ist immerhin Gutachter für Fälle wie den Vanessa-Mörder. Pseudo-Gutachten Die andere Säule, auf die sich die Verwahrung seit langem stützt, sind Gefährlichkeitsprognosen. Auch ihr Status bleibt im Gesetzentwurf unangetastet. Gutachter leiten aus der Biografie, aus Persönlichkeitsmerkmalen und Befragungen ab, wie wahrscheinlich ein Rückfall ist. Wird ein Gewalt- oder Sexualstraftäter als gefährlich eingeschätzt, kann sich das Gericht zu einer Verwahrung entschließen. Endres, selbst Gutachter, hält die Prognosen für „sehr verlässlich“. „Anhand von Merkmalslisten und von Risikofaktoren etwa Pädophilie, Persönlichkeitsstörungen und einer Suchtproblematik kann man das gut einschätzen.“ Doch Jörg Kinzig, Direktor des Instituts für Kriminologie in Tübingen, widerspricht: „Viele Gutachten überschätzen die Gefährlichkeit.“ Nach einer seiner Studien wurden von 22 Verwahrten mit schlechter Prognose später nur zwei schwer rückfällig. Der eine beging einen Raubüberfall, der andere Brandstiftung. „Viele werden zu Unrecht auf Dauer inhaftiert“, urteilen die Bochumer Kriminologen Thomas Feltes und Michael Alex. Sie stützen sich auf eine eigene Untersuchung: Von 67 nachträglich Sicherungsverwahrten mussten sich 23 erneut vor Gericht verantworten. Drei wegen schwerer Taten, wie sie die Verwahrung verhindern soll. Von den rund 70 Männern, die seit 2010 vorzeitig aus der Verwahrung entlassen wurden, sind bisher zwei rückfällig geworden. Ein 55-Jähriger kam wegen Raubes und Körperverletzung für dreieinhalb Jahre er- Jede Expedition hat ihre Geschichte. Begleiten Sie uns, wenn wir die größten Abenteuer des Planeten entdecken, erleben und erzählen. www.nationalgeographic.de NG_LW_Abenteuer_Eisberg_187x265.indd 1 19.09.12 19:21 „Viele werden zu Unrecht auf Dauer inhaftiert“ neut in Haft und wird anschließend wieder sicherungsverwahrt. In Dortmund wurde im vergangenen Jahr ein 49-Jähriger festgenommen, der nach dem Ende der Polizeiüberwachung eine Siebenjährige missbraucht hat. Ein dritter steht unter Verdacht, trotz elektronischer Fußfessel ein Mädchen sexuell belästigt zu haben. Unstreitig geht von einigen Tätern eine Gefahr aus. Doch der Mehrzahl wird den Studien und Erfahrungen zufolge ein zu hohes Risiko unterstellt. „Aus Furcht, bei einem Rückfall an den Pranger gestellt zu werden, halten die meisten Gutachter und Gerichte die Täter für gefährlicher als sie sind“, glaubt Kinzig. Die Erfahrungen des Freiburger Bewährungshelfers Peter Asprion deuten jedoch noch auf ein anderes gravierendes Problem hin: Sechs aus der Sicherungsverwahrung Entlassene betreute er in den vergangenen Monaten persönlich. „Teils glichen sich die Gutachten aufs Wort und oft ist der Erstautor auch derjenige, der weitere Gutachten in den Folgejahren verfasst.“ Dabei gilt die Zweitbegutachtung in der Wissenschaft als das Maß aller Dinge, und das Plagiat ist höchst verpönt. Doch bei den Gefährlichkeitsprognosen scheint weder das Abschreiben noch die Einzelmeinung tabu zu sein. Darauf deutet auch ein Fall hin, über den die Süddeutsche Zeitung berichtete. Der Würzburger Psychiater Pantelis Adorf begutachtete jüngst den Vanessa-Mörder. Vor Gericht musste er jedoch einräumen, weite Teile seiner Einschätzung von anderen Wissenschaftlern übernommen zu haben, ohne dass diese Passagen in irgendeinem Bezug zum Täter standen. „Man kann nicht einmal sagen, ob mit dem neuen Gesetzentwurf nun weniger oder mehr Menschen als bisher sicherungsverwahrt werden“, analysiert Kinzig. Der vage Begriff der psychischen Störung und das flexible Instrument der Gefährlichkeitsprognose eröffnen Gutachtern, Richtern und den Bundesländern Spielräume, die Täter entweder von der Gesellschaft fernzuhalten oder eben nicht. Fairness und Gleichbehandlung kann man im Räderwerk der Verwahrung auch künftig nicht unbedingt erwarten. Darauf weist schon die Erfahrung mit dem Therapieunterbringungsgesetz von 2011 hin. Dem zufolge rechtfertigt eine psychische Störung erstmals das Wegsperren. Nirgendwo sind so viele Personen therapieuntergebracht wie in Bayern, legt Asprion in seinem Buch Gefährliche Freiheit? dar. Die bayerischen Täter sind aber weder psychisch gestörter noch rückfälliger als anderswo. Kinzig befürchtet gar, dass die Neuregelung in Teilen spätestens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gekippt wird. Kinzig warnt: „Möglicherweise müssen dann wieder Menschen unvorbereitet in die Freiheit entlassen werden. Und die Angst in der Bevölkerung wird erneut hochkochen.“ Susanne Donner berichtete im Freitag zuletzt über Sexualwissenschaft in der Krise Wissen 23 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Licht aus, bitte! F o t o s : C h r i s t o p h e r F u r l o n g / G e t t y I m a g e s , A l a n D o v e / u n i v e r s i t y o f o ta g o ( u n t e n ) Melatonin Wer vor dem Schlaf noch am Laptop sitzt, schläft schlechter, warnen Wissenschaftler. Stimmt’s? Was haben Hund und Hase gemeinsam? Wie Menschen auf diese Frage antworten, spielt eine Rolle für die Berechnung ihres IQs „Sie schneiden super ab“ Im Gespräch Unser IQ ist in den letzten 100 Jahren stark gestiegen. Warum, erklärt der Psychologe James Flynn J ames Flynn hat an der Universität von Chicago Mathematik und Physik studiert, bevor er sich der politischen Philosophie zugewandt hat. Heute lehrt der 78-Jährige als Professor für Politische Studien an der Universität von Otago in Neuseeland. Der Emeritus ist der Entdecker des „Flynn-Effekt“: dem Phänomen, dass der Intelligenzquotient im vergangenen Jahrhundert von einer Generation zur nächsten signifikant gestiegen ist. Ian Tucker: Was misst der IQ eigentlich? James Flynn: Das hängt davon ab, wofür er verwendet wird. Manchmal dient ein IQ-Test geradezu einem guten Zweck: Ein Schüler ist schlecht im Unterricht. Sie glauben aber, dass er eigentlich mehr kann und geben ihm einen IQ-Test – und das Ergebnis haut alle von den Socken! Auf diese Weise kann man den IQ-Test zur Diagnose von individuellen Lernproblemen verwenden. Einige Universitäten führen ihn aber auch im Rahmen von Eignungsprüfungen durch. In Ihrem Buch Are We Getting Smarter? schreiben Sie darüber, dass die IQs von Frauen in der jüngsten Vergangenheit besonders gestiegen seien. Frauen liegen heute mit Männern gleichauf – allerdings nur in Ländern, in denen sie gleichberechtigt sind. Besonders interessant ist etwa, dass der IQ von Frauen an Universitäten ungefähr zwei, vielleicht drei Punkte unter dem der Männer liegt. Viele Wissenschaftler behaupten dann, daraus würde hervorgehen, dass Frauen weniger klug seien. Doch was glauben Sie, woran das wohl liegt? Es hängt damit zusammen, dass ein Mädchen, das eine weiterführende Schule besucht und einen IQ von Hundert hat, bessere Noten bekommt als der typische Junge. Das bedeutet, dass das Mädchen mit so einem IQ wahrscheinlich studieren wird, der ähnlich intelligente Junge aber nicht. Die in der Stichprobe enthaltenen Männer an der Uni stellen also eher eine Elite dar. Sie haben eine höhere Schwelle überwinden müssen. Daran zeigt sich einer der verstörendsten Aspekte des britischen Bildungssystems: Die Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen, dass am Ende der weiterführenden Schule nur das obere Drittel der Jungen im Lesen so gut ist wie die obere Hälfte der Mädchen. In den USA ist nur das obere Viertel der Jungen im Verfassen von Texten so gut wie die oberen fünfzig Prozent der Mädchen. Wenn ich heute einen, sagen wir 20 Jahre alten IQ-Test machen würde, hätte ich dann Probleme mit den Fragen? Nein, Sie würden super abschneiden, weil die Leute, die die frühen Tests erstellt haben, ihrer Zeit voraus waren. Das waren hochprofessionelle Leute, die im wissenschaftlichen Ethos geschult wurden und nicht typisch für ihre Zeit waren. Eine Frage, die Sie richtig verstehen würden, eine intelligente Person aus dem Jahr 1900 aber eventuell nicht, wäre: „Was haben Hunde und Hasen gemeinsam?“ Es sind beides Säugetiere. Richtig. Damals hätte man gesagt: „Mit Hunden jagt man Hasen.“ Er hätte die Frage falsch verstanden. Damals, als eine formale Ausbildung noch nicht so üblich war, ging man viel mehr vom praktischen Nutzen aus. Wir heute hingegen sind in einer wissenschaftlichen Welt groß g eworden und wissen, dass es erst einmal notwendig ist, Dinge zu klassifizieren, um sie zu verstehen. Für uns sind ein Hund und ein Hase einfach Säugetiere. Es interessiert uns nicht, ob es sich bei dem Hund um einen Beagle handelt und ob die sich gut für die Hasenjagd eignen. Deshalb ist der Anstieg des IQs im Laufe der Zeit so faszinierend. Man muss ihn nur entsprechend interpretieren. Diese Beobachtungen zeigen also, dass der Intelligenzquotient eher von der Umwelt beeinflusst wird als von den Genen? Auf der individuellen Ebene sind die Gene ebenso wichtig wie für andere Eigenschaften wie etwa die Körpergröße. Etwas ganz anderes ist es allerdings, anhand des IQs Vergleiche zwischen Gruppen anzustellen und dann aus dem niedrigeren IQ einer Gruppe auf deren mutmaßliche genetische Unterlegenheit zu schließen. Es gibt sechs Schwellenländer, für die uns gute Daten über den IQ der Bevölkerung zur Verfügung stehen. In drei davon steigt der IQ schneller als bei uns Europäern: in der Türkei, in Brasilien und in Kenia. Meine Prognose ist, dass alle drei die gleichen IQWerte erreichen werden wie wir. Bei den anderen drei Schwellenländern, zu denen wir Daten haben, sind das Problem nicht die Gene, sondern die Umstände. Im Sudan herrscht immer wieder Bürgerkrieg. In Saudi Arabien sitzt ein großer Teil der Bevölkerung verwöhnt auf den Ölquellen herum. Und in der Domini kanischen Republik wird die Infrastruktur alle zehn Jahre von Hurrikans, Tsunamis und Tornados ausradiert. Ein niedriger IQ in diesen Ländern hat nichts mit den Genen zu tun. Würde die Infrastruktur Großbritanniens alle zehn Jahre zerstört, würden wir auch nicht so gut abschneiden. Was meinen Sie eigentlich, wenn Sie von „Intelligenzabgabe“ schreiben? Man hat immer angenommen, dass der Verstand kluger Leute ab dem 65. Lebensjahr weniger stark abnimmt. Ich habe herausgefunden, dass das zwar auf die verbalen Fähigkeiten zutrifft, aber nicht auf die analytischen, die dann umso schneller nachlassen, James Flynn, geboren 1934, wurde durch seine Untersuchungen im Bereich der Intelligenzforschung weltweit bekannt. Zuletzt erschien: How to improve your mind: 20 keys to unlock the modern world je schlauer man ist. Das wirft eine interessante Frage auf: Ist das analytisch gute Gehirn etwas, das wie ein Hochleistungssportwagen im hohen Alter mehr zur Instandhaltung braucht, als der Körper zur Verfügung stellen kann? Oder liegt es daran, dass wir unsere analytischen Fähigkeiten hauptsächlich bei der Arbeit einsetzen? Hat, wer klug ist, einen kognitiv anspruchsvollen Job – und beginnt in der Rente zu verkümmern? „Ein niedriger IQ hat nichts mit den Genen zu tun“ Wie kann man diesem kognitiven Abbau ab dem 65. Lebensjahr entgegenwirken? Soll man Kreuzworträtsel machen? Joggen? Oder etwa noch eine neue Sprache lernen? Denksport tut in jedem Alter gut. Selbst wenn das Hirn abbaut, tut es das langsamer, wenn es benutzt wird. Genau so, wie ich heute zwar nicht mehr so schnell meine zehn Kilometer laufen kann wie in meiner Jugend. Aber jemand, der in wirklich schlechter Form ist, wird es dennoch schwer haben, gegen mich 78-Jährigen anzukommen. Verraten Sie mir Ihre Zeit auf zehn Kilometer? Als ich jung war, waren es 32 Minuten – und der Weltrekord damals lag irgendwo bei 29 Minuten. Mit 66 bin ich die Strecke immer noch in 45,5 Minuten gelaufen. Seit ich die Siebzig erreicht habe, schaffe ich es aber kaum noch unter fünfzig Minuten. Warum laufen Sie – von den offenkundigen physischen Vorteilen einmal abgesehen? Es steht außer Frage, dass eine gute Blutversorgung auf die in den Frontallappen des Gehirns beheimatete Intelligenz förderlich wirkt und dass die Blutversorgung des Gehirns wiederum abhängig ist von der Stabilität des gesamten Kreislaufes. Das ist zwar nicht der Grund, warum ich laufe. Aber ich bin mir sicher, dass ich von dem beschriebenen Nutzen profitiere. Die OECD hat in einer wunderbaren Studie Tests zu Gedächtnisleistungen durchgeführt. Schade, dass sie keine analytischen Fähigkeiten getestet haben... Auf jeden Fall haben die Forscher die Länder aufgeteilt in solche wie Frankreich, wo achtzig Prozent der Bevölkerung zwischen 55 und 65 in Rente gehen, und solche wie Schweden oder die Schweiz, wo in diesem Alter achtzig Prozent der Leute noch arbeiten. Der Verlust an Gedächtniskraft in dieser Altersgruppe war in Frankreich doppelt so hoch. Das sagt uns, dass das Gedächtnis besser in Schuss bleibt, wenn man sein Gehirn bei der Arbeit in Übung hält. Sie haben in diesem Jahr vier Bücher geschrieben. Auch eins über den Klimawandel. Ein kleines Büchlein. Der Titel ist Climate Change and the Environment (Klimawandel und die Umwelt). Derzeit suche ich noch einen Verlag. Ich komme darin zu dem Schluss, dass die langfristig aussichtsreichste Hoffnung auf saubere Energie, die wir zur Eindämmung des von Menschen verursachten Klimawandels dringend benötigen, vermutlich die Laserfusion bietet. Dabei wird schwerer Wasserstoff beschossen und eine Interaktion in Gang gebracht, bei der mehr Energie erzeugt wird, als hineingegeben wurde. Die Forschung dazu ist aber noch um die siebzig Jahre davon entfernt, sich durchsetzen zu können. Die Zeit bis dahin müssen wir wohl mit einer Notlösung überbrücken. Das Gespräch führte Ian Tucker für den Guardian Übersetzung: Zilla Hofman ■■Alok Jha W er abends seinen Tablet-Computer mit ins Bett nimmt, sollte sich nicht über Schlafstörungen wundern. Den Zusammenhang wollen New Yorker Wissenschaftler vom Rensselaer Polytechnic Institute (RPI) nachgewiesen haben. Ein Team unter Leitung von Mariana Figueiro stellte bei Probanden ein erhöhtes Risiko von Schlafstörungen fest, nachdem sie dem Licht von selbstleuchtenden Displays ausgesetzt worden waren. Die Geräte würden optische Strahlen mit kurzen Wellenlängen aussenden. Genauer: einer Wellenlänge, die nahe an dem Wert liegt, welcher die größtmögliche Unterdrückung der körpereigenen MelatoninProduktion bewirkt, heißt es in einer aktuellen Studie der Gruppe, die im Magazin Applied Ergonomics erschien. Melatonin ist ein Hormon, das dem Körper als biologischer Indikator dient, um festzustellen, wie dunkel es draußen ist. Reisenden nützt das, wenn sie einen Jetlag überwinden müssen. Es hilft dem Körper, seinen Tag-Nacht-Rhythmus an die neue Zeitzone anzupassen. In Figueiros Experiment wiesen diejenigen der 13 Probanden, die vor dem Einschlafen zwei Stunden lang einen TabletComputer benutzt hatten, um bis zu 23 Prozent geringere Melatonin-Werte auf. Einer, der die Ergebnisse skeptisch beurteilt, ist Russell Foster, Professor für Tagesrythmische Neurowissenschaft an der Universität von Oxford. Zunächst einmal eigne sich der Melatonin-Spiegel nicht gut für eine Vorhersage, wie viel Schlaf ein Mensch bekommen wird. „Melatonin ist kein Schlafhormon – es leistet lediglich eine biologische Darstellung der Dunkelheit.“ Es gebe keinerlei empirische Hinweise darauf, dass geringere Melatonin-Werte eine direkte Auswirkung auf die Schlafachse hätten. „Die Einnahme von Melatonin kann die Wirkung des Lichts auf die innere Uhr beschleunigen und bei manchen Menschen eine leichte schlaffördernde Wirkung haben“, sagt der Wissenschaftler. „Von dem, was wir biologisch von Melatonin wissen, kann jedoch nicht auf die Wirkung geschlossen werden, die es auf die Menge an Schlaf hat.“ Die Lichtmengen, die erforderlich sind, um die Produktion von Melatonin zu unterdrücken, lägen um Größenordnungen niedriger als jene, die für die Umstellung der inneren Uhr eines Menschen gebraucht werden, so Foster. In Figueiros Studie wurden die Teilnehmer mit Lichtstärken von 5 bis 50 Lux ausgesetzt. Foster zufolge braucht es aber zwischen 500 und 1.000 Lux, um den TagNacht-Rhythmus eines Menschen umzustellen. Die Untersuchung könne deshalb keine empirischen Hinweise darauf liefern, welche Auswirkungen Licht auf die innere Uhr hat, resümiert Foster. Darum müsse man sich wegen der Studie keine unnötigen Sorgen machen. „Auf Grundlage dieser Daten können wir rein gar nichts Empirisches über den Schlaf aussagen.“ Die übergeordnete Frage nach dem Einfluss von Licht, insbesondere vor dem Zubettgehen, müsse man aber sehr ernst nehmen – Licht könnte durchaus einen Einfluss darauf haben, wie wach man ist. Von der Kritik abgesehen: Überraschend ist, dass ausgerechnet die von der Sharp Corporation geführte Forschungseinrichtung Sharp Laboratories of America die Studie mitfinanziert hat. Der TV- und PC-Hersteller brachte 2010 einen eigenen Tablet auf den Markt, ließ ihn aber 2010 wieder fallen. Im März diesen Jahres stellte das Unternehmen einen neuen vor. Das Tablet trägt den wenig eingängigen Namen RW-T110. Alok Jha schreibt für den Guardian Übersetzung: Holger Hutt 24 Post Rolf Gössner Tarnname „Verfassungsschutz“ Als Folge des NSU-Skandals soll der Nachrichtendienst gestärkt werden. Dabei kann er der Demokratie erst dienen, wenn er seine Privilegien verliert der Freitag 38 vom 20. September 2012 Rolf Gössner nennt den „Ver fassungsschutz“ beim Namen: Geheimdienst. Die Vorfälle um die NSU zeigen eine Duldung der Morde, wenn nicht sogar Ver strickung des „Verfassungsschutz“ mit der faschistischen NSU-Terror gruppe. Nicht nur die Linkspartei fordert die Auflösung des Inland geheimdienstes Verfassungsschutz. Es gibt in großen Teilen der Bevöl kerung eine deutlich gewachsene Ablehnung gegenüber diesen Machenschaften von staatlichen Behörden. Mal sehen, wie lange sich Innensenator Henkel noch halten kann. Die Trennung von Polizei und Geheimdienst ist eine historische Lehre aus dem deutschen Faschismus. Der Ver fassungsschutz muss deshalb aufgelöst werden und die NaziOrganisationen gehören verboten! Felix Weitenhagen, Freitag-Community Man sollte realistisch bleiben: Die Geheimdienste in Deutschland werden nicht aufgelöst. Eher das Gegenteil wird passieren, ein wei teres Amt (oder mehrere) wird not wendig sein, um die Verfassungs schutzbehörden zu kontrollieren. foolon, Freitag-Community Er ist uns fremd Gespräch „Klar kann ein Krüppel Kanzler“ Anlässlich des 70. Geburtstages von Wolfgang Schäuble hat der Journalist Hans-Peter Schütz ein Buch über den Finanzminister geschrieben. Jakob Augstein sprach mit ihm und Oskar Lafontaine der Freitag 38 vom 20. September 2012 Was für ein Mann ist Schäuble? Laut Interview ist er jemand, der sich an Schwächeren, eigenen Leuten und Angestellten massiv vergreift, ein gestörtes Rechtsemp finden hat, Schwarzgeld und Spen den annimmt. Für einen relativ geringen Betrag (wie sein Partei genosse, der Bundespräsident) verkauft er hoch gehaltene Prinzi pien, er lügt, ordnet sich Macht personen blind unter, und er er kennt nicht, dass er benutzt wird. Eine solche Person wurde als Kanzlerkandidat gehandelt und ist Die besten Zitate aus den Kommentaren auf freitag.de/community sich auf die westdeutschen Psycho logencouchs zu legen. Bei allen Ausnahmen, die es immer gibt. Schön, dass westdeutsche Psy chologen und Psychotherapeuten den einheitsgebeutelten Ost deutschen dabei helfen, den zum Trauma mutierten Traum von der deutschen Einheit zu verarbei ten und zu bewältigen. Hans Springstein, Freitag-Community „Mir ist egal, welcher SPD-Politiker im nächsten Jahr nicht Kanzler wird“ ratcreutz „Agenda 2010 und Schröder lassen grüßen“ seriousguy47 freitag.de/community zurzeit Bundesminister der Finan zen. Die buchhalterische Verar beitung klappt nun möglicherweise besser. Die unreflektierte Unter ordnung unter Machtpersonen verläuft geschmeidiger. Genau das qualifiziert ihn, bei der Zerstörung von Demokratie und Rechtsstaat aktiv mitzuwirken. Was schützt ihn? Ein Krüppel-Bonus? MopperKopp, Freitag-Community Unabhängig von seiner Behinde rung hat Schäuble zweifellos die intellektuelle Fähigkeit zur Kanz lerschaft. Aber ebenso hat er durch eine Reihe von Vorgängen (unter anderem im Parteispendenskan dal) bewiesen, dass ihm die ethischmoralischen Grundsätze, die dafür ebenfalls erforderlich sind, absolut fehlen. Insoweit können wir dankbar sein, dass uns ein Kanzler Schäuble erspart wurde. Vaustein, Freitag-Community Wolfgang Schäuble, das Mysterium der deutschen Politikerlandschaft: körperlich versehrt im Rollstuhl ausgerechnet in dem Gewerbe, das mehr als alle anderen auf kruden Behauptungen, Machtgebaren und animalischer Durchsetzungs fähigkeit begründet ist. Wie kann einer selbst betroffen und politisch aktiv sein, aber gleichzeitig die großen politischen Dimensionen seines persönlichen Schicksals so erfolgreich ausblenden? Beim Lesen des Interviews bekomme ich den Eindruck, dass der Autor sich nicht an die neuralgischen Punkte traut. Die große unbe antwortete Frage, die sich einem bei der Betrachtung von Schäuble immer von Neuem aufdrängt, ist doch: Wie ist es möglich, dass seine körperliche Einschränkung seine politische Haltung nicht grundlegend verändert hat? Wieso macht er keine fortschrittliche, soziale Politik? Woher kommt der tiefe Spalt zwischen seiner Wirklichkeit und dem, was er als politisch vertretbar und moralisch richtig empfindet? Das ist der Abgrund, den es auszuloten gilt. Lafontaine ist an dem Thema dran, das spürt man, wenn er von Ängsten spricht und davon, dass an ein Aufhören nicht zu denken ist. silvio spottiswoode, Freitag-Community Ich finde das Gespräch spannend, vor allem, was die Position von Oskar Lafontaine betrifft. Interes sant ist die Äußerung, dass eine große Koalition 1998 vielleicht besser gewesen wäre als die rotgrüne Regierung, die mit Hartz IV und anderen Maßnahmen den Sozialabbau in Deutschland einläu tete und damit zu dieser massiven Umverteilung von unten nach oben beigetragen hat, die aufs Neue im Reichtums- und Armuts bericht thematisiert werden soll. Die grüne Ignoranz der sozialen Frage gegenüber ist bislang leider viel zu wenig thematisiert worden. Seifert, Freitag-Community Der Zerstörer Man sollte realistisch bleiben: Die Geheimdienste in Deutschland werden nicht aufgelöst Gerhard Henschel Eine peinliche Qual Helmut Kohl wird wieder gefeiert. Habt ihr die grauenhaften Achtziger alle schon vergessen? Unser Autor erinnert sich noch gut an diese Zeit der Freitag 39 vom 27. September 2012 Nach 1945 sah es so aus, als würde sich, neben all den Nazis, Mit läufern und Schwindlern, in Politik und Medien auch ein bisschen ein Anspruch an Charakter und K a r i k at u r : K l a u s S t u t t m a n n F ü r d e r F r e i ta g Weg damit?! der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Wertorientierung einbürgern. Das führte zwar häufig zu oberlehrer haften Diskursen zum Zwecke demokratischer (Re-)Sozialisation, aber hin und wieder wehte auch ein Hauch von „Edlem“, von Würde durch die Luft, der Hoffnung auf Besseres machte. Manche verbanden das mit Brandt. Genau das beendete/zerstörte dann Kohl, bevor mehr wachsen konnte, und öffnete weit die Schleusen für Mittelmäßigkeit, Streber- und Duckmäusertum, Vetternwirtschaft, Korrumpierbar keit und Selbstbediener. Das Bild des Vereinsstammtisches trifft es gut. Und im Grunde ist die Wahl von Gauck zum Bundespräsidenten der erste Moment seit Kohl, wo der Bürger zumindest hoffen durfte, dass es auch anderes gibt als das, was mit dem System Kohl über ihn hereingebrochen war. seriousguy47, Freitag-Community Kohl ist der historisch bedeutends te Kanzler, denn er hat es zustande gebracht, kleinbürgerlichen Mief und intellektuelle Borniertheit als gesellschaftliche Konzession zu etablieren, die einen Fischer, Schröder und eine Merkel möglich gemacht haben. GEBE, Freitag-Community Schwarzes Schaf DDR Jana Hensel, Susanne Kailitz Born in the GDR Nach einem so tiefgreifenden Umbruch wie dem Mauerfall leiden viele Ostdeutsche an psychischen Langzeitfolgen der Freitag 39 vom 27. September 2012 Es sind keine neuen Erkenntnisse, dass sich Sozialisation und histo rische Ereignisse über Generationen hinweg manifestieren. Diskussions würdig ist die besondere Situation der Ostdeutschen allerdings schon. Denn sie tragen mehrfach an der Last der Vergangenheit und Gegenwart. Als Deutsche stehen sie natürlich in der historischen Verantwortung für die Greuel des Nationalsozialismus. Als Ostdeut sche müssen sie aber auch die Last des realsozialistischen Zusammen bruchs tragen. Da ist die Häme der vermeintlichen Sieger. Da sind aber auch die unausgesprochenen Be schuldigungen der westdeutschen Linken, dass die Ostdeutschen die Utopie von einer gerechteren Welt nicht nur vergeigt, sondern schließ lich für den billigen Konsum von Bananen, gebrauchte VW Golf und Mallorca-Reisen verraten haben. Sisyphos Boucher, Freitag-Community Ostdeutschland wurde nie als gleichbechtigter Teil der vereinheit lichten Bundesrepublik gebraucht, sondern nur als Absatzmarkt für die westdeutsche Industrie, mit allen Folgen für die Ostdeutschen, deren Arbeitskraft nicht gebraucht wurde und nicht mehr gebraucht wird. Dafür haben sie ja jetzt Zeit, Was mir im Artikel zu kurz kommt (wahrscheinlich ist das einer der Bereiche, die nur mitgedacht, aber nicht mitgeschrieben wurden), ist, welche Rolle das gegenwärtige Gesellschaftssystem bei der Genese psychologisch bedingter Er krankungen spielt. Dass die Gesell schaft, in der wir heute leben, ge nauso viel Druck ausübt, nur nicht mehr auf politischer, sondern auf wirtschaftlicher Ebene, taucht im Artikel nur schemenhaft auf, wenn es darum geht, vor welchen Herausforderungen die Ostdeut schen nach der Wende standen. Wollte man sehr einseitig argu mentieren, könnte man folgende Gedankenkette etablieren. Seit Jahren nehmen die psychischen Probleme in der gegenwärtigen Gesellschaft zu. Psychologen betrachten bei der Auseinander setzung mit psychischen Proble men des Einzelnen seine individu elle Biografie. Da ein Teil der Bevölkerung in der DDR sozialisiert wurde, spielt hierfür nun auch die DDR plötzlich eine Rolle, obwohl die akuten individuellen Probleme durch die gegenwärtige Gesell schaft verursacht/ausgelöst wurden. Dies nur einmal als Gegen these. ich, Freitag-Community Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Impressum Verleger Jakob Augstein Chefredakteur Philip Grassmann Stellv. Chefredakteurin Jana Hensel CvD Michael Pickardt Art Direction Janine Sack, Andine Müller (Beratung) Verantwortliche Redakteure Verena Schmitt-Roschmann (Politik), Michael Angele (Kultur), Susanne Lang (Alltag), Jan J. Kosok (Community) Redaktion Ulrike Baureithel, Max Büch, Matthias Dell, Maike Hank, Lutz Herden, Michael Jäger, Jörn Kabisch, Christine Käppeler, Steffen Kraft, Maxi Leinkauf, Jan Pfaff, Cara Wuchold, Kathrin Zinkant Layout Jana Schnell (stellv. AD), Max Sauerbier, Felix Velasco (Titel) Bildredaktion Niklas Rock, Kevin Mertens Redaktionelle Übersetzer Zilla Hofman, Holger Hutt Projektmanagement Nina Heinlein (Leitung), Stefanie Leimsner, Anna-Lena von Salomon Redaktionsassistenz Jutta Zeise, Ulrike Bewer Hospitanz Anna Fastabend, Myriam Schäfer (Redaktion), Benjamin Knödler, Cynthia Scholten (Community) Verlag und Redaktion der Freitag Mediengesellschaft mbh & Co KG, Hegelplatz 1, 10117 Berlin, Tel.: (030) 250 087-0 www.freitag.de Geschäftsführung Jakob Augstein Beratung Prof. Christoph Meier-Siem Verlagsleitung Dr. Christiane Düts Anzeigenleitung Johann Plank (johann.plank@freitag.de) Vertrieb Mareike Terjung (mareike.terjung@freitag.de) Marketing Oda Hassepaß (oda.hassepass@freitag.de) Franziska Liebchen (franziska.liebchen@freitag.de) Jahresbezugspreis € 161,20 Ermäßigter Bezugspreis für Schüler, Studenten, Auszubildende und Rentner: € 111,80 jeweils inkl. Zustellung Inland. Im Ausland zzgl. 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Und Jung-Friseure peppen mit Haareschneiden auf dem Dach den Beruf auf. Unser A–Z S. 32 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Alltagskommentar Jörn Kabisch Raus aus der Schulkantine: Tauscht eure Pausenbrote F O T O S : J E N N I F E R O S B O R N E F Ü R D E R F R E I TA G , E L E N AT H E W I S E / F O T O L I A ( O B E N ) D Come on, Guys! Michael Kimmel will, dass Männer zu Feministen werden. Und zwar aus reinem Eigennutz. Der amerikanische Männerforscher ist überzeugt: Mit mehr Gleichberechtigung haben alle mehr Spaß S. 27 ie besten Pausenbrote hatte immer der Christian. Und er wusste das. Also musste man was drauflegen, wenn man mit ihm tauschen wollte. Ein Nutellabrot gegen eine Schinkensemmel mit Gewürzgurken? Machte zwei Panini-Bilder extra. Ich war ein guter Kunde. Bis ich mir einmal von einer seiner Stullen den Magen verdarb. Am nächsten Tag suchte ich mir auf dem Schulhof einen anderen Zulieferer und entdeckte die dunklen Vollkornscheiben von Miriam, dick mit Vegetarier-Schmalz bestrichen. Sie liebte Nutella. Dreißig Jahre später ist an eine solche Art der Schulverpflegung nicht mehr zu denken. Und die Geschichte vom kindlichen Risiko-Management nach dem Try-and-Error-Prinzip mag sich für manche anfühlen wie bröseliges Karamell aus den guten alten Zeiten. Aber was ist das für ein Risiko-Management, wenn sich wie vergangene Woche mehr als 8.000 Kinder am Schulessen den Magen verderben? In mehreren Bundesländern blieben ganze Schulen für Tage geschlossen, das Bundesverbraucherministerium hat eine Task Force eingerichtet, wieder sind die Keim-Jäger und Epidemiologen unterwegs und sammeln Essensproben wie zu EHEC-Zeiten. Eine Schinkensemmel reicht heute auch längst nicht mehr als Schulspeisung. Viele Kinder bekommen inzwischen mittags in Schulen und Kitas ihre tägliche Hauptmahlzeit vorgesetzt, und je mehr Ganztags-Einrichtungen entstehen, um so mehr Kinder sitzen in den Schulkantinen. Diese Massenspeisung ist ein großer Markt, auf dem ein starker Preiskampf herrscht. Im Durchschnitt 2,43 Euro – mehr für das Schulessen auszugeben, sind Eltern, Schulen oder Kommunen heute nicht bereit. Gleichzeitig sollen die Gerichte alle Ernährungsziele erfüllen, ihre Zubereitung folgt schärfsten Hygieneregeln. So zu produzieren, das schaffen paradoxerweise nur noch Groß-Caterer wie Sodexo, aus dessen Töpfen das verdorbene Essen stammen könnte (die Erregerquelle war bis Anfang der Woche noch unbekannt). Sie kaufen in Massen ein, verarbeiten Lebensmittel mit viel Technik weiter und haben auch das Personal rationalisiert. Die Folge: Das Essen ist sicher wie nie, aber falls es doch mal verdorben ist, dann sind die Folgen weitreichend. Aber was machen Schüler, wenn sie dieses Essen nicht wollen? Sie haben leider keine große Wahl mehr. Die Berliner Schulverwaltung empfiehlt Eltern derzeit, ihren Kindern Essen mitzugeben. Sie sollten ihnen gleich ein paar Brote mehr einpacken. Wäre doch schön, wenn der Tauschhandel wieder blüht. ≫ Netz Schau Keimzelle der Gewalt „Soziale Brennpunkte“ heißt eine neue Satire-Reihe des Bloggers Frank Rawel. Im Auftakt geht es um langsame Senioren im Supermarkt, die Aggressionen auslösen, allerdings verdeckte. Zutage treten sie erst da, wo sie gesellschaftlich akzeptiert sind, im Fußballstadion oder beim Sadomaso. Oberham fühlt sich ertappt. In seinem Kommentar gibt er zu, auch die Schlange aufzuhalten. Aber aus einem ganz anderen Grund: Er unterhält sich gerne mit der Kassiererin. Mehr auf: freitag.de/Supermarkt ≫ freitag.de/community 26 Szenen & Bilder der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 I l l u s t r at i o n : S i m o n S c h wa r t z F ü r d e r F r e i ta g Storyboard Werbekritik Eventkritik Für den besten Freund: Der Glitzer-Designer Harald Glööckler will die Welt auch für Hunde glamouröser machen „Ein Hund ist kein Accessoire!“ Ein Schnappschuss vom diesjährigen Christopher Street Day zeigt den Regierenden Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit mit Innensenator Frank Henkel. Sie stecken ihre Köpfe zusammen, wirken aufgrund der körperlichen Nähe sehr vertraut. Dieses Bild nutzt die Werbeagentur Glow gerade für eine Anzeige des Reiseanbieters Adamare Singlereisen. Darüber prangt der Slogan: „Bessere Flirtpartner gibt’s bei uns!“ Nun wird im politischen Journalismus ja gern mit Beziehungsmetaphern um sich geworfen. Da ist die „Zweckehe“ nicht weit. Wenn es kracht, hat man sich „auseinandergelebt“, und natürlich wird mit anderen Parteien „geflirtet“. Auch dass die Große Koalition in Berlin mit Wowereit (Flughafendesaster) und Henkel (Pannen bei der NSU-Aufklärung) nicht gerade auf einer Erfolgswelle reitet, ist sicher richtig. Durch die offene Homosexualität des Regierenden Bürgermeisters und die offene Heterosexualität seines Innensenators bekommt das Spiel mit der körperlichen Anziehung aber einen unguten Beigeschmack. Wer soll sich hier einen anderen Flirtpartner suchen? Und was, bitteschön, heißt in diesem Kontext „besser“? Etwa heterosexueller? Die Anzeige ist kaum als Signal dafür zu lesen, wie selbstverständlich gleichgeschlechtliche Liebe bereits im politischen Raum ist. Vielmehr setzt die Agentur auf Provokation. Der Sprecher des Berliner Senats teilte bereits mit, dass man rechtlich dagegen vorgehen werde. Bilder von Wowereit lasse man in Werbung generell nicht zu, weder in negativem noch in positivem Zusammenhang. Sophia Hoffmann zu sich nach Hause bestellen. Von seinen Fans wird Glööckler, ein Meister der Selbstinszenierung, wie ein Popstar verehrt. Und wer sich die Frage stellt, wer diese Leute sind, bekommt im Futterhaus eine überraschende Antwort. Es sind die Leute, deren Leben mit Glamour überhaupt nichts zu tun hat, deren Leben in Wahrheit von dem Leben einer Prinzessin oder eines Prinzen nicht weiter entfernt sein könnte. Die aber genau deswegen danach lechzen. Darauf gründet sich Glööcklers Erfolg, auf dieser Erkenntnis hat er sein Modeimperium erbaut. An den Glööckler-Ankündigungsbannern am Futterhaus zerrt der Wind. Auf dem Parkplatz hat sich eine Schlange vor einem Glücksrad gebildet – vorwiegend Senioren mit kleinen Hunden, ein paar junge Frauen in Jogginghosen. Ein gelb-rot gekleideter Futterhaus-Mitarbeiter fragt die Wartenden nach den Namen ihrer Haustiere – Hund oder Katze? Er tanzt redend zu einer der Präsentkisten und holt Gratis-Probepackungen hervor. Im hinteren Teil des Ladens, hinter Futter und Spielzeug, ist eine schwarze Bühne aufgebaut. Darauf steht ein goldener Thron, eine mit goldenener Schleife verzierte Vitrine und Podeste, auf denen Hundenäpfe präsentiert werden. Die Fans stehen links und mittig zur Bühne oder blicken von der Galerie herab. Überall wuseln Hunde in allen Farben und Größen herum. Manche sind von ihren Frauchen oder Herrchen im Einkaufswagen verstaut worden. Im Pressebereich drängeln sich Fotografen und Kameramänner. Eine Fotografin fängt an zu pöbeln. Sie wirft einem jungen Mädchen vor, von der Schülerzeitung zu sein und im Pressebereich nichts zu suchen zu haben. Hat sie dann aber doch. Man solle sich doch mal die Hände reichen und vertragen, versucht ein Sicherheitsmann zu schlichten. Schwierig. Glööckler kommt eine halbe Stunde zu spät, eine lange halbe Stunde. Es ist stickig, es riecht nach Katzenstreu und viel zu süßem Parfüm. Überall sind Ellenbogen. Immer wieder fangen Hunde an zu jaulen. Schon mit sieben nur ein Ziel Glööckler selbst ist mit strassbesetzen Kreationen und durch Auftritte im Privatfernsehen bekannt geworden. Er verkauft seine Kollektionen über Teleshopping-Sender und erzählt gern, dass er schon als Siebenjähriger nur ein Ziel hatte: Er wollte die Welt glamouröser machen. In Glööcklers Reich gibt es alles, was es in der realen Welt auch gibt, nur eben wesentlich bunter, schriller, glitzender. Ringe, Ketten, Tapeten, Teppiche, Kissen, Möbel, Pflegeprodukte und Kunst. Und wenn der Glamour nach dem Kauf der Produkte immer noch nicht im eigenen Leben angekommen ist, kann man das Glööckler-Designerteam F o t o : D e r F r e i ta g Foto: Presse M an würde es nicht vermuten, aber an diesem Mittag findet im „Futterhaus“ im Berliner Außenbezirk Buckow tatsächlich eine Weltpremiere statt. Eingeladen hat der selbsternannte „Prince of Pompöös“, der Berliner TrashDesigner Harald Glööckler. Er will sich in einem neuen Marktsegment etablieren. Mit einem Hersteller für Heimtierzubehör hat er eine Dog-Couture-Kollektion entworfen. Inspiriert habe ihn sein Zwergspaniel Billy King, heißt es in der Broschüre. Die Kollektion besteht aus Kunstlederhalsbändern und Hundeleinen in Schwarzgold oder mit rosa Raubkatzenoptik. Und aus Spielzeug, Decken, Sitzkissen und Näpfen, auf denen die goldene Krone, das Markenzeichen Glööcklers, prangt. Die Kissen und Näpfe tragen Namen wie „Kampen“, „Las Vegas“ und „St. Tropez“. Es soll nach Luxus und großer weiter Welt klingen, und das ist ein bisschen schwer zusammenzubringen mit dem Futterhaus. In Buckow gibt es Wohnsiedlungen, Gasthäuser, Kleingewerbe, Kioske, Tankstellen. Als Maskottchen hat das Futterhaus einen Comic-Hund, der breit grinst und einen Daumen in die Höhe reckt. Die Tierhandlungskette hat ihre Filialen in ganz Deutschland. Und wie die Filialen von Ikea oder Hornbach sind auch sie in überdimensionalen Containern mit großen Parkplätzen drumherum untergebracht. Der „Prince of Pompöös“ ist präsent, auch wenn er noch gar nicht auf der Bühne ist Dann ist es soweit. „Who let the dogs out“ schallt blechern aus einer kleinen Box. Glööckler schreitet eine Treppe herab. Begleitet wird er von einer Frau in beigefarbenem Trenchcoat. Er trägt einen engen schwarzen Anzug, Cowboystiefel und riesige Ringe an der Hand, auf dem Arm einen kleinen Hund. Die Fans rufen „Harald, Harald“. Eine Frau hält eine selbstgebastelte Samttasche hoch. „Schön“, sagt Glööckler. Konservativer Hintergrund Die Fotografen rufen. Glööckler lächelt jetzt für die Presse. Er posiert im Stehen, kuschelt mit dem kleinen Hund, setzt sich auf den goldenen Thron. Während des Fototermins ist die beige Frau immer dort, wo sie nicht sein soll, neben oder hinter Glööckler im Bild. Das führt zu allgemeiner Verstimmung, ihr konservatives Auftreten passt nicht in Glööcklers Welt. Sie ist die Vertreterin des Halsbandherstellers. Zwei blondierte Models klettern in roten Kostümen auf die Bühne. Auch sie tragen Hündchen auf dem Arm. „Die eine kenn’ ich doch aus ’nem Porno“, ruft jemand. Dann bittet der Moderator nacheinander vier Hunde samt ihrer Normalo-Frauchen auf die Bühne. Sie stehen für das, worum es eigentlich gehen soll – eine Schau mit Hunden, die einzelne Stücke der Kollektion präsentieren. Zum Schluss reißen sich Glööckler und die beige Frau immer wieder gegenseitig das Mikro aus der Hand. Noch einmal berichten sie euphorisch von der Restaurantliege „Monte Carlo“, einem laptoptaschengroßen Sitzkissen mit Henkel. Statt auf eiskalten Fliesen soll der Vierbeiner auf ihr Platz nehmen, wenn Herrchen sich mal wieder zu lang im Restaurant aufhält. Schließlich würden wir den Tieren unseren Lebenswandel aufzwingen, sagt die beige Frau. Aber indem man dieses Kissen anschaffe, übernähme man im positiven Sinne dafür die Verantwortung. Zum Schluss möchte Glööckler noch etwas klarstellen: „Ein Hund ist und bleibt ein Hund und kein Accessoire.“ Dass das bloß keiner verwechselt. Anna Fastabend Porträt 27 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 „Ein gleichberechtigter Partner ist sexy“ M ichael Kimmel lächelt breit. Kein aufgesetztes Höflichkeits-Lächeln, es wirkt, als ob er sich wirklich über seinen Kurztrip nach Europa freut. Er steht in der Lobby eines Seminargebäudes in Berlin-Mitte, ein kleiner Mann mit dunklem Jackett und korrekt gebundener Krawatte. Das GundaWerner-Institut für Geschlechterdemokratie hat den New Yorker Soziologie-Professor mit dem Schwerpunkt Gender eingeladen, damit er mal erklärt, wie das zusammengehen soll: Feminismus und Spaß. Kimmel gilt als einflussreichster Männerforscher der USA. Zusammen mit seinem Kollegen Michael Kaufmann hat er den Guy’s Guide to Feminism geschrieben, in dem die Autoren erklären, warum Männer Feministen sein sollten. Vor seiner Lesung ist noch Zeit für ein Gespräch – von Mann zu Mann selbstverständlich. Der Freitag: Herr Kimmel, wenn ich als Mann zum Feministen werde, ist es dann nicht mit dem Spaß vorbei, weil ich mich stän dig selbst kontrollieren muss, ob ich mich auch korrekt verhalte? Michael Kimmel: Nein, ich glaube, das Gegenteil trifft zu. Was bedeutet es, ein Feminist zu sein? Zwei Dinge: Erstens muss man sich die Welt anschauen, dann sieht man, Männer und Frauen werden nicht gleichbehandelt. Und das Zweite ist eine moralische Position – nämlich die Forderung, dass das anders sein sollte. Es ist doch grotesk, wenn Männer glauben, dass sie umso weniger Spaß haben, je gleichgestellter Frauen sind. Das würde nicht gerade fürs männliche Selbstbewusstsein sprechen, wenn wir nur glücklich wären, wenn wir das Gefühl hätten, die Überlegenen zu sein. Es geht nicht nur um eine mora lische Haltung. Sie behaupten auch, Männer hätten selbst etwas davon, sich für Feminismus einzusetzen. Geschlechtergerechtigkeit ist kein Nullsummenspiel, das ist meine feste Überzeugung. Alle können davon profitieren. Das lässt sich sogar statistisch belegen. Studien mit amerikanischen Ehepaaren zeigen: Je gleichberechtigter eine Beziehung geführt wird, je gleicher die Lasten der Hausarbeit aufgeteilt sind, desto glücklicher sind die Frauen – und die Männer. Diese Männer sind allgemein zufriedener. Sie trinken weniger Alkohol, rauchen seltener, gehen regelmäßiger zum Arzt. Und vor allem: Sie haben auch mehr Sex. Überzeugt! Das ist doch logisch. Nichts hat mehr Anziehungskraft als die Auseinandersetzung mit einem gleichberechtigten Partner. Insofern ist Gleichberechtigung sexy. Wo fange ich an, wenn ich Feminist werden will? Am besten beginnen Sie klein. Gehen Sie in Gedanken Ihr bisheri- ges Verhalten durch und überlegen Sie, an welcher Stelle Sie von der Ungleichbehandlung der Geschlechter profitiert haben. Dann können Sie sich fragen, wie Sie das ändern können. Es ist übrigens als Mann leichter, zu einer Frau zu sagen: „Hey, ich bin jetzt für Geschlechtergerechtigkeit“ als zu einem Mann zu sagen: „Ich finde es nicht richtig, wie du diese Frau behandelst – hör’ damit auf!“ Man muss sich bewusst machen: Stillschweigen ist eine Form der Zustimmung. Männer machen abfällige Kommentare über Frauen, weil sie davon ausgehen, dass andere Männer diese billigen. Wenn eine Frau auf der Straße blöd angemacht wird, ist der Fall klar, aber es gibt ja viel subtilere Formen der Diskriminierung. Richtig, und es ist auch nicht einfach, da immer gegenzuhalten. Ein paar Männer sitzen zum Beispiel zusammen im Auto, und vor ihnen zieht ein Wagen quer über alle Fahrspuren. Dann sagt einer: „Ah, da fährt eine Frau, typisch Frau am Steuer ...“ Wenn man dann antwortet: „Die Statistiken zu rücksichtslosem Verhalten im Straßenverkehr besagen aber, dass meistens Männer …“, hat man schnell das Image eines Spaßverderbers. Das will keiner. Aber wenn wir Stereotype wirklich bekämpfen wollen, bleibt uns nichts anderes übrig. Was sollte ein Feminist noch tun? Die politischen Forderungen von Frauen unterstützen. Wenn Frauen heute mehr Teilzeitarbeit fordern, denken viele Männer im Stillen: „Lass sie mal machen. Wenn die Teilzeit arbeiten, steigen meine Chancen auf eine Beförderung, weil ich immer da bin.“ Stattdessen sollten Männer sich lieber fragen, ob sie nicht auch mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen wollen. Darf man als Feminist einer Frau eigentlich noch auf den Hintern schauen? Natürlich darf man das. Der weib liche Körper ist etwas sehr Schönes. Man kann das ästhetisch schätzen – völlig okay. Es bedeutet aber nicht, dass man sich zu irgendwas berechtigt fühlen darf. Es ist auch okay, einer Frau ein Kompliment über ihr neues Oberteil zu machen und ihr die Tür aufzuhalten. Nur „Natürlich darf man als Feminist einer Frau auf den Hintern schauen“ weil man Feminist ist, muss man nicht unhöflich sein. Es muss nur klar sein, dass es da endet. Kein Mann würde jemals so etwas anschauen, deswegen nur rein hypothetisch gefragt: Was ist als Feminist mit Pornos? Darf man die anschauen? Das Problem mit Pornos ist nicht, dass sie Sex zeigen, sondern dass sie Sex zu oft mit Sexismus vermischen – und diesen so sexy erscheinen lassen. Mein Vorschlag: Wir sollten nicht weniger Pornografie haben, sondern lieber mehr und bessere. Das heißt, wir brauchen Bilder, die uns zeigen, wie es wirklich aussieht, wenn Menschen F o t o : T h o m a s C a m p e a n / L NP/ D PA Michael Kimmel ist bekennender Frauenversteher. Und er will seine Geschlechtsgenossen auch zu solchen machen. Ein Gespräch unter Männern Seite an Seite: Frauen und Männer demonstrieren gemeinsam beim Slutwalk 2012 gegen sexuelle Gewalt Warum Feminismus auch Männer etwas angeht Hassen Feministinnen Männer? Was meinen Frauen, wenn sie von männlichen Privilegien sprechen? Warum ist für Paare eine gleiche Auf gabenverteilung im Haushalt besser als eine ungleiche? Und warum, zum Teufel, sollten einen Mann diese Fragen überhaupt interessieren? In kurzen, oft witzigen Einträgen, sortiert von A bis Z, gibt der Guy’s Guide to Feminism (Seal Press) von Michael Kimmel und dem Gleichberechtigungsaktivisten Michael Kaufmann Antworten darauf. Man erfährt, dass Feministinnen grundsätzlich Männer mögen – und ihnen auch einiges zutrauen, nämlich dass sie sich nicht nur um ihr eigenes Wohlergehen sorgen, sondern auch um sich begehren. Und wie wirkliche Menschen aussehen, wenn sie Sex haben. Stattdessen schleicht sich die stereotype Porno-Ästhetik in unseren Alltag. Wie meinen Sie das? Ein Beispiel: Viele junge Männer denken heute, dass Frauen sich die Schamhaare abrasieren sollten. Diese Vorstellung hat die PornoIndustrie geprägt. Sie fing damit an, nicht weil sie wollte, dass Frauen wie kleine Mädchen aussehen, sondern weil es sich am Set einfacher ausleuchten und filmen lässt, wenn keine Haare im Spiel sind. So wurde aus einem filmtechnischen Problem eine gesellschaftliche Mode. Aber gerade weil viele junge Männer das erste Mal in ihrem Leben Sex sehen, wenn sie Pornos schauen, ist es wichtig, dass wir den Klischees der Industrie andere Vorstellungen entgegensetzen. Wie könnte das gehen? Möglicherweise löst sich das Problem allein durch die technischen Veränderungen, durch Internet und Handykameras. Mittlerweile hat jeder die Produktionsmittel zu Hause, um eigene Videos zu drehen und übers Netz zu verbreiten. Die Demokratisierung der Produktionsmittel führt ja in vielen Bereichen zur Entwertung der Profis. Bei der Pornografie könnte das eine befreiende Wirkung haben. Wieso hat der Feminismus als Bewegung so ein spaßfreies Image, nicht nur bei Männern? Die Fragen, mit denen sich der Feminismus beschäftigt, sind oft sehr ernste: sexuelle Belästigung, Gewalt gegen Frauen, Lohndis kriminierung, Machtverteilung. Ich glaube allerdings, diese Fragen sind so ernst, dass man manchmal das ihrer Partnerinnen, Mütter, Töchter und Schwestern. Und dies sollte sie zu Unterstützern des Feminismus machen. Michael Kimmel beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit Geschlechterfragen. Der 61-Jährige ist Professor für Soziologie an der Stony Brook University in New York und begründete die akademische Teildisziplin etwas Humor braucht, sonst hört einem da überhaupt keiner zu. Das ist aber nur ein Teil der Antwort. Und der andere? Dieses spaßfreie Image hat auch mit einer selektiven Wahrnehmung zu tun. Die Medien haben oft Bilder und Interviews mit Feministinnen gezeigt, die gerade wütend waren. Weil man nicht viel mehr wusste, hatten viele den Eindruck: Feministinnen sind Frauen, die 24 Stunden am Tag wütend sind, die sich nicht um Körperpflege scheren und keinen Mann abbekommen, weswegen sie dann alle lesbisch werden. Diese Stereotype sind nach wie vor sehr mächtig. Wenn ich heute meine Studentinnen frage, wer von ihnen sich als Feministin bezeichnet, melden sich nur ganz wenige. Wenn man sie jedoch nach konkreten feministischen Zielen fragt, stimmen sie eigentlich allen zu. Sie kritisieren auch, dass sich die meisten Männer beim Thema Gender nicht zuständig fühlen. Ja, viele Männer denken, Geschlechterfragen haben nichts mit ihnen zu tun. Sie glauben, das sei eine reine Frauensache. Und das hat politische Konsequenzen. Inwiefern? Für die Privilegierten selbst sind Privilegien unsichtbar, sie nehmen sie nicht wahr. Und deswegen sehen sie auch keine Notwendigkeit, etwas zu verändern. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, in dem ich merkte, dass ich selbst die Bedeutung von Gender bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht richtig verstanden hatte. Wann war das? Vor etwa 30 Jahren. Ich war gerade dabei, meine Doktorarbeit in der Men’s Studies in den USA mit. Er gibt die Fachzeitschrift Men and Masculinities heraus und ist Sprecher der National Organization For Men Against Sexism. Kimmel ist verheiratet und hat einem 13-jährigen Sohn. Ein Videomitschnitt seiner Lesung in Berlin ist auf der Website des Gunda-WernerInstituts (tiny.cc/99lalw) zu sehen. jap Soziologie zu schreiben, und wir hatten eine Studiengruppe, in der wir neue feministische Texte lasen – elf Frauen und ich als einziger Mann. Eine weiße Studentin sagte da: „Frauen sind alle gleich, wir leiden alle unter den patriarchalen Strukturen dieser Gesellschaft.“ Eine schwarze Studentin schüttelte den Kopf: „Ich bin mir nicht so sicher, dass wir alle gleich sind. Was siehst du, wenn du morgens in den Spiegel schaust?“ Die Weiße antwortete: „Eine Frau.“ „Das ist der Unterschied“, sagte die Schwarze. „Ich sehe eine schwarze Frau.“ Das Unsichtbare der Privilegien ... Plötzlich wurde mir klar: Natürlich ist es ein Privileg, dass man als Weißer nicht dauernd über die Hautfarbe nachdenken muss. Und genauso ist es ein Privileg, dass man als Mann nicht dauernd über das Geschlecht nachdenken muss. Bis zu diesem Punkt hielt ich mich als weißer Mann aus der Mittelklasse für den Inbegriff wissenschaftlicher Neutralität. Das ging danach nicht mehr. Männer glauben oft, sie müssten sich schuldig fühlen, wenn es um Gleichberechtigung geht. Sie denken, dass Frauen – wenn sie diese Themen ansprechen – auf sie als Individuen sauer seien, nur weil sie Männer sind. Ich glaube aber, Frauen sind dafür zu klug. Sie können unterscheiden zwischen der Wut auf ein ungerechtes System und einzelnen Männern. In Familien engagieren sich Männer heute sehr viel stärker als noch vor 30, 40 Jahren. Sie warnen aber vor dem „Fun Dad“. Bei Umfragen geben Männer heute weit mehr Stunden an, die sie der Hausarbeit widmen. Das klingt toll, aber oft ist es so, dass sie die Zeit, die sie mit ihren Kindern verbringen, dazu zählen. Dann geht der Vater mit den Kindern in den Zoo, während die Mutter daheim staubsaugt. Papa ist für den Spaß zuständig, Mama für den Rest – so war das nicht gedacht. Väter, die Vollzeit arbeiten, sagen manchmal, sie würden die weni gen Stunden mit ihren Kindern besonders intensiv erleben. Ich glaube nicht an dieses Gerede von Quality Time. Ich bin für Quantity Time. Man kann emotionale Nähe nicht in einen Zeitplan zwängen. Als ich zusammen mit meinem Sohn zum 43. Mal Toy Story anschaute, kletterte er plötzlich auf meinen Schoß und sagte: „Oh Daddy, das ist so schön, das mit dir anzuschauen.“ Diesen Moment hätte ich nie erlebt, wenn ich nicht vorher schon 42. Mal diesen Film mit ihm angeschaut hätte. Bisher fühlten sich meist berufs tätige Mütter schuldig, dass sie weder Kindern noch Job richtig gerecht werden. Nun fangen auch Väter an, sich schuldig zu fühlen. Ist das wirklich ein Fortschritt? Ja, definitiv. Man muss das im g rößeren geschichtlichen Kontext sehen. Bisher hatten Männer wenig Stress, Karriere und Familie zu vereinen, nun steigt ihr Stresslevel. Das erhöht den Druck. Und nur so wird sich unsere Welt verändern. Das Gespräch führte Jan Pfaff Anzeige Postdemokratie Ist die Demokratie am Ende oder nur die Verkrustung, die sie gelähmt hat? Colin Crouch im Gespräch mit Carolin Emcke So 7.10., 12 Uhr schaubühne Kurfürstendamm 153 | 10709 Berlin www.schaubuehne.de | Tickets: 030.890023 2,50 Euro | Ermäßigungsberechtigte frei 28 Alltag der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Alltag 29 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 „Beim Fotografieren entsteht ein intimer Raum. Oft kommt es zu sehr privaten Gesprächen“ „Immer stellt sich die Frage: Wie nehmen sich Menschen wahr und welches Bild halte ich fest?“ Dazwischen Identität Ob wir eine Frau oder einen Mann sehen, ist keine rein biologische Frage. Diese Einordnung hängt von unserem Blick ab: Nehmen wir Gesichtszüge als weiblich oder männlich wahr? Die Porträtserie „ErSieEs“ lässt sich auf Zwischenräume ein und sucht deren Schönheit Text und Fotografie Yvonne Most W ir treffen uns an einem trüben Novembertag im Café in einer Stadt, aus der wir beide längst weggezogen sind. Es war mir klar, dass es eines Tages zu der Offenbarung kommen wird, und ich bin nicht überrascht. Es bewegt mich, denn sie möchte von nun an mit einem Männernamen angesprochen werden. Sie möchte als das wahrgenommen werden, als das er sich sieht. Der Schritt der körperlichen Angleichung ist die Konsequenz. Die Hormone ändern sich, die Stimme senkt sich, die Brüste verschwinden. Ich habe sie seither nie als Frau gesehen, welche sich als Mann verkleidet. Sie ist er, ein Transmann. Seitdem ist mein Bedürfnis geweckt, diesen Prozess der Angleichung fotografisch festzuhalten. Ich beschäftige mich mit Geschlechterentwürfen und Begriffen aus der Genderszene und erkenne, wie mich Sprache einengt. Überall sehe ich Gender. Beim Ausfüllen von Formularen mit den Kästchen für Frau und Mann fange auch ich an zu fragen, wo die fehlenden Kästchen sind. Mein bisheriges Bildergedächtnis ist geprägt von inszenierten Selbstdarstellungen, wenn es fotografisch um das Thema Geschlechterrollen geht. Eine Vorher-Nachher-Serie kommt nicht in Betracht, ich will das voyeuristische Element nicht bedienen. Am Anfang ist Irritation Bald ist er nicht mehr mein Hauptakteur, sondern wird der Anlass für die Porträtserie ErSieEs. Private sexuelle Vorlieben sind keine Kriterien für meine Auswahl der Porträtierten. Vielmehr stehen Irritation und Annäherung im Vordergrund. Immer stellt sich die Frage: Wie nehmen sich die Menschen wahr, und welches Bild halte ich fest? Anfangs hatte ich Bedenken andere mit meiner Anfrage zu verunsichern, doch ich bin immer wieder überrascht, wie offen und vertrauensvoll der Umgang miteinander ist. Denn für eine Frau kann es sehr kränkend sein, auf ihre maskulinen Züge hingewiesen zu werden. Oder sie an ihr wahrzunehmen. Umgekehrt ähnlich für einen Mann. Die meisten haben in meiner Wahrnehmung sowohl weibliche als auch männliche Gesichtszüge. Bei der Frage nach diesen Kategorien sind wir dazu verleitet, sie biologisch zu beantworten. Was sie aber in sozialer, psychischer und emotionaler Hinsicht als Antworten bereithalten, ist nur sehr komplex wiederzugeben, ich wage dies nicht. Beim Fotografieren entsteht ein intimer Raum – manchmal reden wir kaum, oft kommt es zu sehr privaten Gesprächen. Die Fotografien sind Zeugen einer Kommunikation, die gesucht und zugelassen wird. Manches bleibt verborgen, oder es gibt keine Worte dafür, was in den Gesichtern zu sehen ist. Es ist die verborgene Schönheit, die wir mit Blicken herausholen wollen. Etwas fordert unsere Aufmerksamkeit heraus, der wir uns nicht entziehen können. Was ist das? Jemand möch- te bekannte Anteile seiner und ihrer Selbst sehen, die nicht körperlich sind, vielmehr Teile der Persönlichkeit. Ich fotografiere Individuen, die sich im Zwischenraum bewegen, aber auch Charaktere, die diesen Raum an sich nicht vermuten, und den ich durch das Fotografieren erst geschaffen habe. In der Reflexion über Identität und Körperlichkeit ist das beladene Wort Heimat nicht abwegig: sich in der eigenen Haut wohlfühlen, einen Platz finden in sich und in der Umwelt, die Heimat im eigenen Körper. Das „Dazwischensein“ ist viel mehr Normalität, als es uns unsere Vor- stellung davon suggeriert. An den Männernamen und seine tiefe Stimme habe ich mich längst gewöhnt, an seinen weiblichen Geburtsnamen denke ich kaum noch. Er ist Teil der Serie und es ist nicht wichtig, wer der Transmann unter ihnen ist. Yvonne Most, geboren 1981, wuchs in Thüringen auf, hat B.A. Cultural Engineering, M.A. Fotografie und bei Sibylle Bergemann (Ostkreuz) studiert. Seit 2008 arbeitet sie als Dozentin für analoge und digitale Fotopraxis. Wer sich für ErSieEs porträtieren lassen möchte, ist eingeladen, sich zu melden: info@dokmost.de 30 Der, die, das der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Frauensache Männersache Warum hassen viele Männer nette Kerle wie Markus Lanz? Angelo D’Abundo hat sich vorgenommen, Markus Lanz bei seinem Wetten, dass..?Debüt eine Chance zu geben F o t o : P ETE R PA R K S /A F P/ G e t t y I m a g e s L eicht hat es Markus Lanz wirklich nicht. Der neue Wetten, dass..?Moderator soll am kommenden Samstag Europas größter Fernsehshow neues Leben einhauchen. Aber schon vorher sind sich viele einig, dass das nichts werden kann. Einer Umfrage einer TV-Zeitschrift zufolge trauen ihm 64 Prozent der Befragten nicht zu, damit Erfolg zu haben. Lanz kämpft aber wohl noch gegen etwas anderes. Er muss sich dem Kernprinzip der Evolution entgegenstemmen: der Herrschaft des Alpha-Tiers. Noch skeptischer als der Durchschnitt der Befragten war die Gruppe der Männer. Und es waren männliche Journalisten, die für die ätzendsten Angriffe auf den 43-jährigen Südtiroler verantwortlich zeichneten. So demontierte Stefan Niggemeier den Moderator im Spiegel derart drastisch, dass Zweifel daran aufkamen, dass die Abneigung gegen Lanz nur mit seinen journalistischen Qualitäten oder deren Fehlen zu erklären sei. Womöglich stößt jemand wie Lanz auf so viel Kritik, weil er nicht dem Typus des alpha males entspricht. Schließlich ist dieser nicht nur für die Hackordnung im Tierreich verantwortlich, sondern prägt nach wie vor auch den Umgang in Männergruppen. Das Alpha-Männchen zeichnen seine Aggressivität, seine körperliche Dominanz und sein Führungsanspruch aus. Vor allem aber redet ein Leitwolf nicht, sondern lässt Taten sprechen. Bei Politikern fallen einem als Beispiele gleich Altkanzler Gerhard Schröder („Wir machen jetzt Hartz IV, basta!“) oder Potenzprotz Silvio Berlusconi („Wir machen jetzt Liebe, basta!“) ein. Der TV-Moderator ist jedoch qua Beruf zu einem Dasein als beta male verdammt. Mehr als Reden soll er nicht, und vor allem auch bitteschön nicht zu viel. Schließlich sollen die Gäste zu Wort kommen. Auch auf Kraftmeierei à la Stefan Raab muss Lanz auf der öffentlich-rechtlichen Fernsehbühne verzichten, deren Gestalter peinlich darauf bedacht sind, gängige gesellschaftliche Konventionen einzuhalten und nicht zu viel zu riskieren. Scheitert Lanz in seiner neuen Rolle, mag das durchaus mit seinem soften Auftreten zu tun haben. Die testosterongetriebenen Gesetze der Natur könnte er sich allerdings zunutze machen: Bekann termaßen sterben Männer um einiges früher als Frauen, zumindest die harten Kerle. So gesehen könnte der weiche Lanz seine männlichen Kritiker dann einfach aussitzen. Angelo D’Abundo Viele Karaoke-Bars in Peking lassen mit ihrer Straßenwerbung keinen Zweifel aufkommen, dass dort nicht nur gesungen wird Sexpatriats China Prostitution ist illegal, aber trotzdem gesellschaftlich akzeptiert. Vor allem in der Wirtschaftswelt spielt sie eine große Rolle ■■Adrian Kummer I m Pekinger Botschaftsviertel liegt eine Bar namens Maggie’s. Gerhard*, der seit sieben Jahren für ein großes deutsches Unternehmen in der chinesischen Haupstadt arbeitet, steht lässig am Tresen und trinkt chinesisches Bier aus der Flasche. Er hat sich herausgeputzt – aus Respekt vor der Frau, die er gleich bezahlen wird. Das Maggie’s ist kein Bordell. Es ist ein Treffpunkt für Frauen, die in knappen Kleidern und mit eindeutigen Fragen um Freier werben. Und für westliche Männer, die sich werben lassen. „Wie heißt du?“ – „Woher kommst du?“ – „Willst du Spaß?“ Das Thema Prostitution sei unter chinesischen wie ausländischen Geschäftsleuten alltäglich, weshalb er keine Hemmungen habe, über seine Erfahrungen zu sprechen, sagt Expat Gerhard. „Ein hübsches Mädchen kann man ab 80 Euro bis zum nächsten Morgen mitnehmen.“ Wenn man weniger zahle, gingen die Mädchen am selben Abend wieder auf Männerfang. Gerhard kommt oft ins Maggie’s, obwohl er Frau © Erasmus Schröter Anzeige 05.10.2012–28.01.2013 GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT KÜNSTLERISCHE FOTOGRAFIE IN DER DDR 1949–1989 Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, 10969 Berlin, Mi–Mo 10–18h www.berlinischegalerie.de 120913_BG_DDR_Anz_Freitag_122x110_ET40-45-49_RZ.indd 1 13.09.12 15:11 und Kind hat. „Die meisten Männer hier sind verheiratet. Aber Nutten gehören für viele zum Expat-Lifestyle dazu.“ Auf der anderen Straßenseite stehen Soldaten vor den Botschaften. Das Treiben im Maggie’s interessiert sie nicht. Nicht nur, weil die Bar von ehemaligen Polizeioffizieren betrieben wird. Die Behörden stellen sich blind und taub. Nur während der Olympischen Spiele mussten Etablissements schließen, weil sich die Volksrepublik kurzzeitig um ihr Image sorgte. In Massage-Salons und Hotels In China ist trotz Verbots die gesellschaftliche Akzeptanz von Prostitution hoch, wesentlich höher als in Deutschland. Der deutsche Ergo-Skandal wäre hier kaum einer. Eine Umfrage unter Studenten ergab, dass sich die Hälfte vorstellen kann, sexuelle Dienste in Anspruch zu nehmen. Wo Studenten in Europa mit illegalen Drogen experimentieren, sehnen sie sich in China nach illegalem Sex. Vor allem in der Wirtschaft spielt Prostitution eine große Rolle. Mancher Kunde bekommt nach den Verhandlungen Frauen angeboten, spätestens beim gemeinsamen Karaoke. Man findet Prostitution nicht nur in Bars, sondern auch in Diskotheken, Massage-Salons, Hotels und Karaoke-Bars, von denen viele über stundenweise nutzbare Nebenräume verfügen. In Fünf-Sterne-Hotels lauern die Mädchen in der Lobby, in billigeren Unterkünften gehen sie von Tür zu Tür oder rufen auf dem Zimmer an. Sogar Flyer liegen mancherorts auf den Zimmern aus, dazu Kondome. Trotz der Allgegenwart ist Prostitution in China aber nicht so sichtbar wie in Thailand, Hamburg oder Amsterdam. Ob eine Massage nur eine Massage ist, erkennt man häufig nur am Preis. Denn über Sex wird nicht geredet. Alles, was mit Nacktheit und Sexualität zu tun hat, gehört ins Private. Die Aufklärung an den Schulen ist mangelhaft. Die meisten Jugendlichen klären sich selbst auf. Es gibt quasi ein stillschweigendes Abkommen: Prostitution ist eine akzeptierte Grenzüberschreitung. Verboten ist sie offiziell erst seit 1991, obwohl die Kommunisten sie seit ihrer Machtübernahme 1949 bekämpften. Unter Mao war sie durch Kontrollen und Bordellschließungen in den sechziger Jahren fast verschwunden. Mit Deng Xiaopings Liberalisierung der Wirtschaft kehrte sie in die Städte zurück. Trotz der Verschärfung der Gesetze ist sie heute im ganzen Land weit verbreitet. Die meisten Konkubinen leben in Shenzhen, der Hauptstadt der Prostitution. Dort verdient einer von 50 Bewohnern sein Geld mit Sex, auch Männer. Die Gesetze finden, auch wegen der Bedeutung für den Tourismus, häufig keine Anwendung. Was das für die Frauen heißt, steht auf einem anderen Blatt. „Bei den Mädchen hier im Maggie’s“, die alle aus der Mongolei kommen, „weiß man nicht, ob sie das freiwillig machen, ob sie eine Familie ernähren müssen, oder ob sie aus ihrer Heimat verschleppt wurden“, sagt Gerhard. Frauen in anderen Clubs kommen aber auch aus China, aus Thailand und anderen Teilen Südostasiens. Dass ein junges Mädchen aus Bangkok freiwillig nach China kommt, um seinen Körper zu verkaufen, scheint kaum nachvollziehbar. Ob eine Legalisierung der Prostitution die Zustände der Sexarbeiterinnen verbessern würde, ist strittig. Wegen Gewalt- und Missbrauchsdelikten drängen internationale Organisationen auf die Entkriminali- „Nutten gehören für viele hier zum Lifestyle“, sagt ein d eutscher Geschäftsmann sierung. Ob sich aber die Zahl der Prostituierten dadurch verringern würde, scheint angesichts des Geldes, dass eine Frau in China mit dem Verkauf ihres Körpers verdienen kann, zweifelhaft. Der Durchschnittslohn liegt bei umgerechnet 140 Euro im Monat. Im Club Manhattan in Shanghai kann man so viel in einer Nacht verdienen. Einige Frauen versorgen mit dem Geld ihre ganze Familie – wenn sie keine Familie haben, reicht es für ein gutes Leben. Ein Leben in wahrem Luxus darf man im Konkubinat mit einem Parteibonzen erwarten: Taschengeld, Autos, eine Wohnung. Hinzu kommt der Umgang mit den oberen sozialen Schichten. Viele ent- scheiden sich offenbar auch deswegen, als Sexverkäuferin zu arbeiten. Roger, Gast im Manhattan, ist wie Gerhard Abgesandter eines internationalen Unternehmens. Er sagt es so: „Manche sind für eine LouisVuitton-Handtasche zu allem bereit.“ Das Manhattan in Shanghai ist schicker als das Maggie’s in Peking. Die Männer hier sind jünger. Die wenigen Chinesen sind Geschäftsleute. Die Frauen kleiden sich elegant, wie in hippen Diskotheken. Sie wirken eher wie teure Escort-Damen. „Ich kenne einen Laden in Shanghai, wo man sich sauberer Prostitution sicher sein kann“, hatte Gerhard gesagt – und das Manhattan empfohlen. Es ist Donnerstag. Die Bar ist voll. Die Musik ist so laut, dass die Frauen die Köpfe der Männer zu sich ziehen müssen, wenn sie mit ihnen reden. Eine Bauchtänzerin posiert auf dem Tresen. Die Männer grölen. Das Manhattan liegt in einer ruhigen Seitenstraße, umringt von kleinen Wohnhäusern, aber die Anlieger beschweren sich nicht, und auch die Polizei scheint das Treiben nicht zu stören. Roger stimmt Gerhard zu: „Die meisten Mädchen, die man im Manhattan findet, machen das auf eigene Faust. Sie haben sich für diesen Beruf entschieden. So verdienen sie ein Vielfaches dessen, was sie in einem normalen Bürojob verdienen könnten.“ „Lässt sich mit Geld lösen“ Fragt man die Frauen hier, warum sie sich für Sex bezahlen lassen, erntet man verständnislose Blicke. „Ich mache das heute zum ersten Mal“, sagt etwa eine 18-Jährige aus Bangkok. Einen dicken, alten Chinesen hat sie schon abgelehnt. Auf die Frage, warum sie sich prostituiere, wendet sie sich ab. Die hohe Bezahlung scheint Rechtfertigung genug. Später verschwindet sie mit einem jungen Mann, einem Ausländer. Das Risiko für die Freier ist gering. Ob Roger in Shanghai Angst hat, von der Polizei erwischt zu werden? „Das kam noch nie vor. Und wenn, dann lässt sich das mit Geld lösen.“ Sorgen macht ihm etwas anderes: „Meine größte Angst ist es, versehentlich mit einem Ladyboy ins Hotel zu gehen.“ * alle Namen von der Redaktion geändert Adrian Kummer ist freier Journalist und beschäftigt sich für das Magazinprojekt 21China gerade intensiv mit Fernost Alltag 31 der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 Kein bisschen Frieden Checkpoint Charlie Der Grenzstreifen ist das Symbol des Kalten Krieges. Heute ist er ein modernes Schlachtfeld: Jetzt wird um Geld gekämpft ■■Florian Buchmayr Posen für die Authentizität Vor dem Museum ließ das „Haus am Checkpoint Charlie“ eine originalgetreue Kommandobaracke aufbauen. Authentizität soll Käufer anziehen. Im Kampf ist alles erlaubt. Auf der kleinen Verkehrsinsel zwischen dem Museum und einer McDonald’s-Filiale stehen als amerikanische Soldaten verkleidete Männer und posieren für Fotos. Man ist sich erst nicht ganz sicher, zu wem sie gehören, zum Museum oder zu McDonald’s. Doch die Tourismusshow vor dem Wachposten ist ein privates und eigenständiges Gewerbe, die sogenannte „Dance Factory“, ein Partyveranstalter aus Berlin. Museumsbesitzerin Alexandra Hildebrandt stören diese unechten Soldaten. Auf einen angeblichen Fußtritt von ihr folgte ein Gerichtsurteil. Jetzt ignoriert man sich gegenseitig. An den Soldatengürteln baumelt das Preisschild, der Wert eines Fotos mit ihnen: „2 Euro pro Person“. Meist kommunizieren die Soldaten nur durch das Vorzeigen des Schildes. Ihre Mienen sind ernst, manche wirken sogar böse. Das Gesetz: Bevor nicht gezahlt wurde, gibt es kein Foto. Bleiben die Touristen dennoch neben ihnen stehen, verdecken die Soldaten das Gesicht der Schummler mit der Flagge. Den ganzen Tag lang bilden sich immer wieder große Menschentrauben vor den Soldaten. Die Stimmung ist friedlich, das Geschäft mit dem früheren Krieg läuft gut. Es geht Schlag auf Schlag, Foto auf Foto. F o t o : D AV I D G A N N O N /A F P/ G e t t y I m ag e s D er ehemalige Todesstreifen ist heute voller Leben. Touristen laufen sich gegenseitig ins Bild. In der Luft hängt der Geruch von Currywurst. Imbissbuden stehen allerorten, auch eine Strandbar gibt es hier. An kleinen Ständen werden russische Wintermützen und Gasmasken verkauft. Wild gestikulierende Guides zeigen, wo Osten, wo Westen war, während Busse die Menschenmassen entladen und wieder aufnehmen. Dieser Ort, an dem sich russische und amerikanische Panzer gegenüberstanden, hat noch immer seinen Reiz. Und es wird noch Krieg gespielt, wenn auch im unsichtbaren. Der Berliner Senat ist ein Akteur unter anderen. In der provisorischen „Black Box Kalter Krieg“ dokumentiert eine neue Ausstellung die Konflikte zwischen den Großmächten von 1945 bis 1990. Der Berliner Senat hat das ehemals mit öffentlichen Geldern geförderte „Museum Haus am Checkpoint Charlie“ viele Jahre als unwissenschaftlich kritisiert. Streitpunkt war vor allem die „unprofessionelle Museumsarbeit“, wie der Senat auf seiner Homepage kritisiert. Die Interventionen scheiterten. Das Museum hat seine Gemeinnützigkeit abgemeldet und finanziert sich seitdem privat. Der Senat spricht nun von einer „Intransparenz des Geschäftsgebarens“. Die „Black Box Kalter Krieg“ fungiert als wissenschaftliche Konkurrenz zum Museum am Checkpoint Charlie. Eine Art Gegenschlag in der Schlacht um das richtige Gedenken. Es ist nicht der einzige Kampf, der hier ausgefochten wird. Der gesamte Checkpoint Charlie ist eine Krisenregion. Feindschaften werden gepflegt, Fronten laufen hier zusammen: Vor allem um Geld wird gekämpft. Das Museum kann schon kleine Siege verbuchen: Trotz 12 Euro 50 Eintritt strömen Woche für Woche Tausende Besucherinnen ins Museum, um sich Fluchtautos, NATO-Kriegsspielzeug, Gandhis Sandalen oder Reagans Motorsäge anzuschauen. Diese Schau, etwas wirr und konzeptlos, wirkt ziemlich beliebig. Im Erdgeschoss befinden sich vier Souvenir-Shops mit Buttons, T-Shirts, Streichholzschachteln, Schokolade, Kühlschrankmagneten. Alles checkpoint-charlifiziert. „Eine Welt ohne Mauern“, so die Botschaft des Museums am Ausgang. Die Mauer kann man dort stückweise erwerben. Motiv für Grenztouristen: Zwei Schauspieler lassen sich am Checkpoint Charlie in Westalliierten-Verkleidung fotografieren Wenn es ein Tourist wünscht, lassen sich die Soldaten auch zu verschiedenen Posen hinreißen, so als würden sie für ein AlbumCover posieren. Marcel hat heute seinen ersten Arbeitstag, bis jetzt sei er zufrieden, sagt er. „Man ist draußen und lernt nette Leute kennen. Bevor ich irgendwo auf meinen Knien herum schrubbe, weiß‘te? Da steh ich lieber hier.“ Er ist groß und breitschultrig. Seine silber glänzenden Ohrringe und die Solariumbräune in seinem Gesicht wirken ein bisschen wie aus den Neunzigern. In sein Englisch mischt sich sein Berliner Akzent. Und hinten an seinem Gürtel hängt ein schwarzes Täschchen. Hier hortet er das Geld. Das soll authentisch sein? such aus der DDR. Er lag dann angeschossen in der Zimmerstraße. Weder DDRGrenzer noch Alliierte halfen. Gesten der Ratlosigkeit Ein Name auf einem Straßenschild? Holzapfel weiß, dass sich die Stadt mit solchen symbolischen Gesten schwer tut. Es ist ein zäher Prozess. Ein einsamer Kampf. Und auch die „Black Box Kalter Krieg“ wirkt auf dem Checkpoint Charlie nur wie eine hilflose, symbolische Geste. Jahrelang ließ der Senat dort die Ballung absurden Geschäftstreibens zu. Nun hat er angekündigt, zumindest das finanzielle Überleben eines gemeinnützigen Museums zu garantieren, welches der provisorischen Black Box folgen soll. Aber was ändert das? Der Senat sollte nicht die Bedeutung des Ortes diktieren, sondern den Raum dafür schaffen, dass auch kritische Ansichten zur Vergangenheit und den Umgang mit ihr einen Platz bekommen. Ein Vorhaben, das bislang gescheitert ist. In dem kleinen Kubus erhält man viele Fakten, eine detaillierte Videoanimation des Todesstreifens, eine Collage der DDRMassenproteste, unterlegt mit pathetischer Filmmusik, und das deutsche Grundgesetz kann man gratis mitnehmen. Unter dem Titel „Die neuen Herausforderungen“ hängt ein riesiges Bild vom explodierenden World Trade Center. Im Informationstext wird die Staatengemeinschaft auf den Kampf gegen den internationalen Terror eingeschworen. So sehen hier kritische Perspektiven aus. Auf einer Hauswand hinter dem „Freedom Park“ am Checkpoint Charlie steht: „Sie betreten den Non-Profit-Sektor“. Eine Werbung des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen. Hinter welcher Linie soll der anfangen? Hinter dem Wachposten? So absurd und folkloristisch sich das kommerzielle Treiben an diesem Ort zeigt: Wenn die Fronten härter werden zwischen Akteuren und ihren Interessen, kann es leicht gewaltsame Ausmaße annehmen. Wie neue Panzer, die sich gegenseitig bedrohen. Florian Buchmayr ist 21 Jahre und studiert Sozialwissenschaften an der HU Berlin Anzeige Die „Black Box Kalter Krieg“ wirkt nur wie eine hilflose, symbolische Geste Die Soldaten stehen symbolisch weniger für die Vergangenheit des Ortes, als mehr für den gegenwärtigen Zustand des Checkpoints. Der ehemalige Grenzübergang ist ein napoleonisches Feld geworden, jeder kämpft hier um seinen Platz im Business der Vergangenheitsbewirtschaftung. Aber kein Kampf ohne Widerstand. Auch die Soldaten werden bekämpft. Bürger und Touristen haben sich bereits über das Schauspiel beschwert. So wie Carl Wolfgang Holzapfel. Der Vorsitzende der „Vereinigung 17. Juni 1953 e.V.“ hat mit einer Unterschriftenaktion gegen die Soldaten protestiert. Er konnte einen Teilfrieden aushandeln: Die Soldaten dürfen keine sowjetischen oder DDR-Uniformen mehr anziehen. „Es fände ja auch niemand geschmackvoll, wenn vor der Topographie des Terrors Männer in SS-Uniformen stehen würden!“ Holzapfel ist 68 Jahre alt. Er hat einen ruhigen Blick, wirkt als Veteran noch ziemlich agil und ist noch kriegstüchtig. Gelassen und mit Hörbuch-Stimme erzählt er Geschichten von einst. In West-Berlin aufgewachsen und politisiert, wusste er früh, dass der Feind im Osten sitzt. Seine Wut, die sich manchmal noch in einer geballten Faust sammelt, hatte ein Ziel. Auf die Mauer schrieb er eines Tages „KZ“. Große Teile seines politischen Kampfes hat Holzapfel am Checkpoint Charlie ausgefochten. Hungerstreiks, Demonstrationen, Kunstaktionen. Im Sommer 1989, kurz bevor die Mauer fiel, lag er stundenlang auf dem weißen Grenzstreifen, der die Welt spaltete. Inzwischen macht ihm dessen Kommerzialisierung Sorgen. Wüsste er, wann, von wem und welche feine Linie da überschritten wurde, Holzapfel würde sich hungerstreikend darauf legen. Im Moment kämpft er erstmal mit einer Unterschriftenaktion für die Umbenennung der Zimmerstraße in PeterFechter-Straße. Peter Fechter starb vor mehr als 50 Jahren bei einem Fluchtver- lt e W e i d r e d n i Wie K , n e l l e t s f p o K auf den and l g n E n i e i S n erlebe . W E I V n i r e d O IS SGABE GRAT PTEMBER-AU iPAD. JETZT SE RS FÜ E .D EW PP VI -A NEU! � UNTER VIEW ABE FÜR 2,99 SG AU RBE ODER OKTO view_1012_RZ_DER_Freitag.indd 1 So hab ich das noch nie gesehen 25.09.12 17:22 32 A – Z der Freitag | Nr. 40 | 4. Oktober 2012 A–Z Friseure finition meiner Oberarmmuskulatur, wenn man regelmäßig Veronica Ferres mit vier Rundbürsten die Mähne föhnt, geht das ganz schön in die Arme. Sah aber gut aus! Und ihr Trinkgeld war auch immer ganz okay ... Sophia Hoffmann Foto: Jens Rötzsch/ostkreuz M Haare lassen Udo Walz, der als Star-Coiffeur dem deutschen Friseurhandwerk Glamour gab, hört auf. Er hinterlässt eine schlecht bezahlte Branche, in der vor allem Frauen arbeiten, die sich aber mit In- und Outdoor-Events neu erfindet. Was man für den nächsten Haircut wissen muss, erklärt unser Lexikon A Abschied Als ich den Salon von Udo Walz am Ku’damm betrat, hörte ich als erstes seine Stimme. „Die Barbara rufe ich später zurück“, rief er durch den klimatisierten Raum, in dem Föhne dezent summten. Barbara Becker meinte er, wie ich erfuhr. Wollte ich mir hier wirklich vom Meister persönlich die Haare schneiden lassen? Als (eher) linke Medienfrau? Ja, ich wollte. Denn Walz hatte 2005 mein Interesse ja nicht etwa deshalb geweckt, weil er einen Hundesalon mit Frau Christiansen betrieben oder Alt-Kanzler Schröder die Haare nicht gefärbt hatte. Sondern weil er plötzlich in die CDU eingetreten war. Als homosexueller Promifriseur. Als ich den Laden verließ, trug ich Angie-Highlights und war um ein nettes Gespräch reicher. Jetzt hört Udo Walz auf. Geht in Rente. Sehr schade! Susanne Lang C Coen-Brüder Filme über Friseusen gibt es einige. Doris Dörrie drehte eine Komödie um eine arbeitslose Haarstylistin in BerlinMarzahn. Melancholisches aus Kanada lieferte Léa Pool mit dem Drama Mama ist beim Friseur. Und auch in Manta, Manta geht’s nur um schöne Haare. Ein Filmmeisterwerk aber gelang den Coen-Brüdern 2001 mit The Man who wasn’t there. Der Neo-Noir spielt in einem US-Kaff in den vierziger Jahren, wo Ed Crane als Friseur arbeitet. Der schweigsame Barbier will aus seinem monotonen Leben ausbrechen, was ihm bei allen Anläufen nicht gelingen will. Der Antityp des American Dream. Die Idee zum preisgekrönten Film hatten Ethan und Joel Coen beim Dreh einer Friseursalon-Szene für The Hudsucker Proxy. Ein Poster mit Vierziger-Jahre-Frisuren erregte ihre Aufmerksamkeit: Wie musste ein Typ nur ticken, der solche Haarschnitte beherrschte? Tobias Prüwer D Dauerwelle Es ist noch nicht lange her, da hatte jede über Sechzigjährige einen Helm auf dem Kopf. Friseure verdienten sich dumm und dämlich an diesem Dauerwelle genannten Aufbau, bei dem schönen glatten Haaren mit Säure und purer Gewalt der Wille gebrochen wurde. Allein schon die Bezeichnung „Dauerwelle“ war ein Witz: Nach manchmal schon vier Wochen glich die Welle einer einzigen Sumpflandschaft. Urheber dieser Geschmacksverirrung war übrigens ein Deutscher: Karl Ludwig Nessler. Er entwickelte um die Jahrhundertwende eine Apparatur, die einem Waffeleisen ähnelte. Seine Erfindung wurde zum Welthit. Und feiert nun offenbar nach Jahren der verdienten Ächtung ein Comeback. Trendbeobachter melden: Der Lockenschopf ist wieder in. Nur heißt die Mode jetzt: Permanent Curl. Mark Stöhr F Frauendomäne Nicht trendig, sondern sehr traditionell, zumindest was das Geschlechterverhältnis betrifft: Das Frisieren ist nach wie vor eine Frauendomäne. So waren 2010 exakt 89,7 Prozent aller haarschneidenden Frauen – was nur von wenigen anderen Berufen (Erzieherin, Kosmetikerin) getoppt wird. Das Friseurhandwerk war 2002 für sechs Prozent aller weiblichen Auszubildenden der Beruf ihrer Wahl, 1980 waren es zehn Prozent. Nur viel zitierte Top-Friseure sind Männer. Und diese Stylisten heben sich auch in punkto Bezahlung von ihren Kolleginnen ab. Denn sind weiblich dominierte Berufe generell die schlecht bezahlten, so trifft das besonders auf die Friseurin zu. Im Jahr 2010 betrug der Anteil von Beschäftigten mit Niedriglohn bei Friseurinnen und Friseuren krasse 85,6 Prozent. Knapp 16.000 Euro Jahreseinkommen bringt eine vollzeitbeschäftigte Friseurin brutto nach Hause. TP H Handwerk Mit Anfang 20 schmiss ich mein Studium und machte eine Friseurlehre. Gemäß dem Motto: „Was Kreatives, womit man überall auf der Welt Geld verdienen kann!“ Schnell merkte ich, dass schlechte Bezahlung, unbezahlte Überstunden und ständiges Kunden-in-denArsch-Kriechen mich nicht vollends befriedigten. Trotzdem zog ich es bis zum Gesellenbrief durch und muss sagen, dass ich während dieser Ausbildung viel fürs Leben gelernt habe: Ich kann perfekt und in jeder Situation Smalltalk betreiben, freundlich und professionell lächeln, selbst wenn mir zum Heulen zumute ist. Ich bin seitdem viel ordentlicher, da ein reibungsloser Salonbetrieb stets sofortiges Aufräumen erfordert. Auch Lektionen in Geduld wurden erteilt, einer Kundin mit wallend Haaren den ganzen Kopf mit Strähnchen in Fünf-Blond-Tönen zu tapezieren, erfordert einiges an Durchhaltevermögen. Toller Nebeneffekt war die De- Mentalität „Ich kann besser“, entgegnete mir der Friseur, nachdem ich mich etwas zögerlich dazu entschlossen hatte, die Bartrasur lieber meiner eigenen Geschicklichkeit zu überlassen. Also gut, sein Argument war simpel wie schlüssig. Auch wenn die an Pedanterie grenzende Genauigkeit der Linienführung nicht unbedingt meinen ästhetischen Vorstellungen entspricht und man hinterher nach unsäglich unmännlichem Babypuder duftet, muss man doch feststellen, was für eine Wohltat es ist, rasiert zu werden. Einmal diese unliebsame Angelegenheit nicht selbst machen zu müssen: Das fühlt sich grandios bis erhaben an. Ebenso erhaben ist die türkische und arabische Frisiermentalität, die einen deutlichen Unterschied zur hiesigen Zunft aufweist: nämlich ihr Eingeständnis männlicher Problemhaarzonen, derer sich viele deutsche Männer offensichtlich nicht einmal bewusst sind, der Nasenund Ohrenhaare. Mein Friseur hat recht: Die können besser. Max Büch Missverständnisse Eine Tortur ist ein Friseurbesuch ohnehin: Da wird man zwei Stunden lang mit seinem Konterfei konfrontiert, mit dem spitzen Kinn und dem Pickel am Hals, der wegen der nass zurückgekämmten Haare hervorsticht. Vielleicht ist es deshalb so schwer, seine Vorstellung von sich selbst zu vermitteln. Hinten einen Bob, vorne angeschrägt, der Scheitel leicht nach rechts ... und der Pony nicht zu lang! Sie schnippelt. Sieht schräg aus. Warten Sie doch, bis das trocken ist, beruhigt sie. Ich warte. Schnipp-Schnapp. Zuviel des Guten. Sehe aus wie angenagt. Der Föhn hilft da auch nicht mehr. Mit Friseuren ist es wie mit Ärzten: Wir hoffen auf Runderneuerung, sie werkeln in Möglichkeitsgrenzen. Vertrauen ist alles. Es dauert, bis man ein Goldstück gefunden hat. Ulrike Baureithel N Namen Waschen, Schneiden, Legen im „Salon Uschi“ oder im „Haarstudio Brigitte“ gibt es wahrscheinlich nur noch auf dem Land. Städter haben die Wahl zwischen einem schlechten und einem sehr schlechten Wortspiel über dem Eingang: „Hairreinspaziert“ steht dort oder „Haarmonie“ und „Haareszeiten“, gerne auch „Haargenau“, „Haarscharf “ oder „Haarakiri“. Doch Achtung: Hinter dem Kalauer verbirgt sich nicht selten die Uschi von früher mit der bunten Strähne im Haar, die einem eine Frikadelle ans Ohr quatscht. Wer einen diskreteren und exklusiveren Service wünscht, kann sich auch an der höheren Ambition der Namensgebung orientieren. Hier ist schlichte Eleganz Trumpf: „Hauptsache Haare“ klingt vielversprechend oder „Pony & Kleid“. Da gibt‘s zur 50-Euro-Frisur noch den 100-Euro-Rock dazu. MS O Outdoor-Friseur Mit dreißig hat man noch Träume, vor allem in Berliner Stadtteilen wie Neukölln und Kreuzberg. Dort versucht ein gewisser Semih Usta nun mit einer, nun ja, ungewöhnlichen Geschäftsidee sein berufliches Glück. Der Coiffeur schneidet an allen Orten und Plätzen, die Kunde oder Kundin wünschen. Zum Beispiel auf einem Dach eines Wohnhauses. Oder auf einer Brücke. Oder an einem der zahlreichen Seen im Brandenburger Umland (das kostet allerdings vier Euro Aufpreis, innerhalb der Kernkieze ist seine Anfahrt inklusive). Keine Ahnung, wer das aus welchen Gründen in Anspruch nimmt. Aber es reicht ja, wenn Usta selbst eine Ahnung hat, die er zum Glück der Berliner BZ auch verraten hat: „Wir sind halt in Berlin – in keiner anderen Stadt würden Menschen auf die Idee kommen, sich auf einem Hausdach die Haare schneiden zu lassen.“ SL S Schutzpatronin Über das Wohl des Friseurhandwerks wacht eine ganze Reihe von Heiligen. Katharina von Alexandria etwa, die auch bei Migräne hilfreich sein soll. Oder die Zwillingsbrüder Cosmas und Damian, die nicht nur im Falle einer misslungenen Dauerwelle angerufen werden können, sondern auch bei Pest und Pferdekrankheiten. Die schillerndste Schutzpatronin der Coiffeure ist aber Maria Magdalena, die Ex-Prostituierte und fleißigste Jüngerin von Jesus. Maria Magdalena war der biblischen Erzählung nach immer vorn mit dabei: bei der Kreuzigung und bei der Kreuzabnahme, sie war Zeugin des leeren Grabes und lief als erste Jesus nach seiner Auferstehung über den Weg. Warum sie das für die Friseurinnung prädestinieren soll, bleibt rätselhaft. Weil der ganze Heiligenkram ziemlich an den Haaren herbeigezogen ist? Daran darf man nicht einmal denken! MS W Werkzeugkult Ist Ihnen eigentlich bewusst, wie viel Geld professionelle Friseure für ihr Arbeitswerkzeug so auf den Tisch blättern? Richtig gute Scheren fangen erst bei 300 Euro an. Die Besten kommen aus Japan, wen wundert’s, auch die japanischen Friseure genießen weltweit das höchste Ansehen. Wer schnurgerades, störrisches asiatisches Haar akkurat in Form schneiden kann, der sieht einen zotteligen mitteleuropäischer Krautkopf als die geringste Herausforderung. Nach dem Erwerb einer neuen Schere verletzt man sich quasi bei jedem Schnitt, so scharf sind diese zu Beginn. An dieser Stelle sollte man auch mit einem weit verbreiteten Angst-Mythos aufräumen. Alle Kunden, die Angst vor Verletzungen durch den Friseur haben: In 99,9 Prozent der Fälle schneidet der Friseur sich selbst. Ist das nicht beruhigend? SH Z Zumutung Endlich etwas für den richtigen Mann: die Sportschau, eine Bar und hübsche Mädels. Wir befinden uns im Whistler, einem Männerfriseur in Hamburg. Der Boden ist grün, aufgemalt sind die Linien eines Fußballfeldes. An den Wänden verteilt hängen Fotos von Sportlern. In der Stellenausschreibung heißt es, dass männliche und weibliche Mitarbeiter gesucht werden. Doch im Laden sind, bis auf den dickbäuchigen Chef im Anzug, nur Frauen zu sehen, sie tragen ein Schiri-Outfit – hauteng – in Kleidergröße 36, versteht sich. Die Stammkundschaft kommt alle zwei Wochen hierher. Wegen der Mädels in den kurzen Höschen? Nein, natürlich in erster Linie wegen der Dienstleistungen: ein bisschen Frisieren, eine Handmassage und noch Augenbrauen zupfen. Ein Frisiersalon für richtige Männer eben. Myriam Schäfer