Klinische studien

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Klinische studien
Hilfe!
Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft
Klinische Studien
Ethisch: Wie sauber sind Arzneimittel-
tests in Schwellenländern? Seite 18
Problematisch: Wie kommen
Patienten mit sehr seltenen Krankheiten an
neue Arzneien? Seite 38
Optimistisch: Kann ein Berliner
Forscher mit Organchips Medikamententests
revolutionieren? Seite 74
Ein Magazin im AUftrag des BPI
Hilfe! --- Klinische Studien --- Vorwort --- 3
Geprüft
„Menschenversuche“ und „Versuchskaninchen“ – das sind nur zwei der Schlagworte, die im
Mai vergangenen Jahres in den Medien verwendet wurden, um über klinische Studien im
Auftrag westlicher Unternehmen in der DDR zu berichten. Die Berichterstattung hat gezeigt,
wie wenig die Öffentlichkeit über das komplexe Thema weiß. Und Nichtwissen schafft Misstrauen. Offenbar umso mehr, wenn die pharmazeutische Industrie beteiligt ist, eine Branche,
die im Spannungsfeld zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft agiert. Und die das Gros
der klinischen Studien in Auftrag gibt.
Tatsächlich sind klinische Studien eine zwingende Voraussetzung für die Entwicklung
und Zulassung eines Arzneimittels. Jeder Wirkstoff auf dem Weg von der Forschung bis zu
einem in der Versorgung von Patienten genutzten Medikament muss irgendwann beim Menschen zum Einsatz kommen. Das geschieht in klinischen Studien, in denen viel von dem Wissen generiert wird, das Grundlage für die Zulassung und Anwendung eines Arzneimittels ist.
Jede Studie beantwortet Fragen: Wie wirkt das Medikament, welche Nebenwirkungen hat es,
wem hilft es, und wie muss es dosiert werden? Klinische Studien prüfen Arzneimittel – deshalb werden sie rechtlich korrekt auch als klinische Prüfungen bezeichnet.
Diese Prüfungen sind vom Gesetzgeber vorgeschrieben, sie sind umfangreich reguliert
und kontrolliert: Keine Studie kann ohne Antrag, Bewertung und Genehmigung durch die
zuständigen Behörden und eine Ethikkommission begonnen werden. Menschen dürfen erst
an einer klinischen Prüfung teilnehmen, nachdem sie umfassend informiert wurden. Auch
Durchführung und Auswertung unterliegen strengen Auflagen. Doch ihre Ergebnisse sind die
Grundlage für Arzneimittel, die Leben retten, schützen, verbessern und manchmal erst ermöglichen. Das ist der Anlass für uns, sie in unserem zweiten „Hilfe!“-Heft zum Thema zu
machen. Unser Magazin will Hintergründe, Anforderungen und Praxis klinischer Prüfungen
aufzeigen. Und natürlich die Menschen vorstellen, die daran mitwirken.
Die Studien in der DDR sind in diesem Heft bewusst kein Thema: Ihr Umfang und die
Umstände ihrer Durchführung sind Gegenstand laufender Forschungsarbeiten*, zu denen
­erste Zwischenergebnisse im Laufe dieses Jahres veröffentlicht werden sollen.
Wir haben die zweite Ausgabe unseres Magazins wieder bei brand eins Wissen in Auftrag
gegeben und der Redaktion freie Hand gelassen: bei der Auswahl von Autoren, Gesprächspartnern, Inhalten, bei Umsetzung und Gestaltung. Wir selbst hätten auch dieses Magazin so
nie auf den Weg gebracht: Es zeigt Misserfolge, lässt kritische Stimmen zu Wort kommen,
diskutiert Ansätze, die wir sehr skeptisch betrachten, relativiert Fortschritte der pharmazeutischen Industrie und hinterfragt unser Geschäftsmodell. Aber die erste Ausgabe hat gezeigt,
dass gerade andere Meinungen und Sichtweisen zur differenzierten Auseinandersetzung mit
Herausforderungen und Dilemmata anregen. Davon gibt es auch bei klinischen Studien
­genug – mehr als genug für ein zweites Heft.
BPI – Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie
*Institut für Geschichte der Medizin und Ethik der Medizin der Charité in Berlin, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung
für die neuen Bundesländer, der Bundesärztekammer, den Landesärztekammern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg,
Niedersachsen, Saarland, Sachsen, dem Verband forschender Arzneimittelhersteller, dem Bundesverband der pharmazeutischen
­Industrie und der Bundesstiftung Aufarbeitung
Hilfe! --- Klinische Studien --- Editorial --- 5
Das Herzstück
Susanne Risch,
Chefredakteurin
Es ist ein weiter Weg vom vielversprechenden Wirkstoff bis zu einem neuen Medikament. Nur ein winziger Bruchteil aller Forschungsvorhaben der Pharmaindustrie meistert den Parcours vom Labor bis zur Zulassung: Kaum ein Prozent aller getesteten
Wirkstoffe schafft es jemals als Pille auf den Markt. Die überwältigende Mehrheit versandet irgendwo im Prozess zwischen Entdeckung und Vermarktung. Lange genug
dauert er ja: Es vergehen zehn bis fünfzehn Jahre, bis aus einer Idee ein Medikament
­geworden ist. In den Sechzigerjahren waren es im Schnitt noch acht.
Seitdem ist die Forschung komplizierter geworden, denn für viele Krankheiten
­kennen wir inzwischen die passende Medizin. Außerdem haben sich die Zulassungs­
bedingungen für neue Arzneien enorm verschärft, genau wie die Verfahren, in denen
sich jeder Wirkstoff beweisen muss, bevor er sich irgendwann Medikament nennen
darf. Ob eine neue Substanz wirksam ist, muss sie in klinischen Studien mit Menschen
belegen. Sie bilden das Herzstück der Arzneimittelentwicklung – und den Schwerpunkt
unseres Magazins.
Wir wollten wissen, was genau es mit den Verfahren zur Prüfung und Zulassung
auf sich hat. Weshalb das Prozedere so komplex ist; welche widersprüchlichen Erwartungshaltungen an den Ausgang einer Studie geknüpft sein können; wer sie nach welchen Kriterien designt; wie Ärzte, Patienten, Forscher, Hersteller und Ethiker darüber
denken und worauf wir Verbraucher uns verlassen können – oder eben auch nicht.
Wir haben im Zuge unserer Recherchen viel gelernt. Zum Beispiel über die enormen Fortschritte in der Behandlung von Aids-Patienten. Zwar ist die Krankheit bis heute nicht heilbar, aufgrund neuer Wirkstoffe ist die Lebenserwartung von HIV-Infizierten
inzwischen aber fast genauso hoch wie die von nicht infizierten Menschen (Seite 66).
Fast noch eindrucksvoller: die Therapieerfolge bei leukämiekranken Kindern in Deutschland, die weltweit als vorbildhaft gelten. Noch vor 40 Jahren starben hierzulande neun
von zehn kranken Kindern, heute liegen die Heilungschancen der kleinen Patienten bei
80 Prozent. Für den Onkologen Günter Henze eine große Erfolgsgeschichte – und
Resultat klinischer Studien (Seite 44).
Natürlich passiert immer wieder auch das Gegenteil. Patienten leiden, und Tests
müssen abgebrochen werden, wie etwa bei TGN1412, dem Wirkstoff des Würzburger
Unternehmens TeGenero, der als verstörendes Beispiel in die Geschichte klinischer Studien eingegangen ist (Seite 48). Er war eine tragische Ausnahme, sicher. Aber die Erprobung neuer Wirkstoffe bleibt eben auch bei sorgfältigster Planung ein Risiko. Ob ein
Mittel bei allen Menschen gleich wirkt, ist zunächst ebenso unklar wie die Fragen, ob
seine Nebenwirkungen kalkulierbar und tolerabel sind oder ob es überhaupt eine Verbesserung darstellt. Das mag uns gefallen oder nicht: Vernünftige Antworten lassen sich
nur mithilfe von klinischen Studien finden.
6
Hilfe! --- Klinische Studien --- Inhalt --- 7
Inhalt
22
08 Im Dickicht
Zwischen Risiken und Renditen, Hoffnungen und
Hürden: Der Prozess der klinischen Studie ist
komplex, auch wenn es letztlich stets um das Wohl
des Patienten geht. Sechs Akteure berichten.
58
22 Zehntausendmal probiert,
eines hat funktioniert
28 Weltweit im Test
Klinische Studien im internationalen Vergleich.
52 Was zählt, und was nicht zählt
58 Wer hat so viel Geld?
32 Das ist keine heile Welt
74
Wie verlässlich sind Medikamente, die in Indien oder
China getestet wurden? Professor Karl Broich über die
Sicherheit von Medikamententests in Schwellenländern
und die Globalisierung ethischer Standards.
Wer kann jenseits der Pharmaindustrie Studien
finanzieren? Der Staat? Krankenkassen? Die Crowd?
Und wer will das?
66 Glück, sehr viel Geld
und eine Revolution
38 Ausnahmsweise?
Die Suche nach einem Mittel gegen HIV war sehr
schnell sehr erfolgreich. Warum? Ein Rückblick.
Alina ist zwei Jahre alt und hat Progerie – eine sehr
seltene Krankheit. Wie kommt sie an Medikamente?
Ein extremes Beispiel für ein nicht seltenes Problem.
Die Heilungschancen krebskranker Kinder sind in der
Vergangenheit enorm gestiegen. Für den LeukämieExperten Günter Henze das Ergebnis kluger
Kooperation und klinischer Studien. Ein Gespräch.
Manchmal werden Tests abgebrochen. Weil Menschen
gefährdet sind – oder ein Medikament sehr gut wirkt.
Sie bewegen sich zwischen Korrelationen, Kausalitäten,
Standardabweichungen und Tödlichkeitsraten.
Und ohne sie ist eine klinische Studie nicht denkbar.
Zu Besuch bei einer Biostatistikerin.
Der Weg von einem neuen Wirkstoff zu einem neuen
Medikament ist lang und kurvenreich – ein Überblick.
44 Das geht besser
48 Abbruch!
74 Der Mensch auf einem Chip
66
Nie wieder Tierversuche! Der Berliner Wissenschaftler
Uwe Marx entwickelt künstliche Miniaturorgane, die
einen Teil der klinischen Forschung ersetzen könnten.
80 Glossar
82 Impressum
8
Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 9
Im Dickicht
Klinische Studien versprechen viel Gutes: medizinischen Fortschritt, neue
Wege der Heilung, wirtschaftlichen Erfolg. Zugleich bergen sie aber auch
beträchtliche Risiken. Das macht sie außergewöhnlich komplex.
Keine einfache Situation für die Beteiligten, die ihren Weg finden müssen.
Allein und gemeinsam.
Text: Christian Sywottek Foto: Elias Hassos, Michael Hudler, Julia Knop
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Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 11
Der Sponsor
Ulrike Gnad-Vogt, Chief Medical Officer, CureVac GmbH, Tübingen
„Studien sind Hoffnung und
Risiko zugleich.“
Setzt bei ihren Studien auf akribische Vorbereitung und genaue Abstimmung: Ulrike Gnad-Vogt
CureVac ist ein biopharmazeutisches Unter­
nehmen, das Wirkstoffe auf Basis der Ribo­
nukleinsäure (RNS) entwickelt. Wir engagieren uns
vor allem in der Krebstherapie – unsere Medikamente
sollen das Immunsystem zur Bekämpfung der Krebs­
zellen anregen. Darüber hinaus arbeiten wir an pro­
phylaktischen Impfstoffen, etwa gegen Grippe. Mit
120 Mitarbeitern und eigener Produktion ist CureVac
ein kleines Unternehmen auf dem Pharmamarkt, aber
ein recht großes im Feld der Biotech-Unternehmen.
Klinische Studien sind für uns Hoffnung und
­Risiko zugleich. Man muss sich klarmachen: Ich will
ein Medikament entwickeln, dessen Wirkstoff sich in
vielen Tierversuchen als vielversprechend gezeigt hat,
doch klinische Studien sind die entscheidende Prü­
fung, ob der ausgewählte Wirkstoff wirklich wert ist,
ein Medikament zu werden. Wirkt der Stoff tatsäch­
lich bei Patienten, kann er zugelassen werden? Für
Menschen, die jahrelang an einer Substanz geforscht
haben, ist das keine abstrakte Frage – sie ist existen­
ziell. Und es ist eine ungeheure Erleichterung, wenn
ein Wirkstoff klinische Tests besteht, man also eine
Chance zu seiner Weiterentwicklung bekommt.
Die Studien haben natürlich auch eine immense
wirtschaftliche Dimension. Sie sind unsere einzige
Chance, einen Wirkstoff auf den Markt zu bringen,
unsere Investitionen zu amortisieren und schließlich
Geld zu verdienen. Weil wir als kleiner Spezialist unser
Risiko kaum streuen können, potenziert sich das noch:
Wir arbeiten in einem begrenzten Wirkstoffgebiet und
setzen damit zwangsläufig alles auf eine Karte. Hinzu
kommt, dass klinische Studien viele Jahre dauern, und
wir währenddessen weiter an der Wirkstoffgruppe
­arbeiten. Bringt eine Studie dann ein negatives Ergeb­
nis, hat man eventuell jahrelang in die falsche Rich­
tung geforscht.
Scheitern ist schrecklich, egal, in welcher Phase
man sich befindet, aber besonders enttäuschend ist
es, wenn es erst in Phase III passiert. Zumal bis dahin
oft schon viele Millionen Euro in die Entwicklung
­geflossen sind.
Klinische Studien setzen uns enorm unter Druck,
auch weil wir auf ihre Durchführung nur begrenzt
Einfluss haben. Wir können unseren Wirkstoff nur so
gut wie möglich machen, die Studie so gut wie mög­
lich planen und überwachen – ihre Durchführung
aber müssen wir an Clinical Research Organisations
(CROs) delegieren. So gut wie möglich, heißt für uns:
Wir müssen Studien mit medizinisch relevanten Zie­
len planen und unseren Wirkstoff mit den besten
­verfügbaren Standardtherapien vergleichen. Natürlich
wäre es bisweilen auch möglich, die Wahrscheinlich­
keit eines positiven Studienergebnisses zu erhöhen –
etwa durch den Vergleich mit eher schwachen Thera­
pien oder auch durch die Wahl leichter zu erreichender
Studienziele. Das ist ja auch die Kritik an vielen Stu­
dien. Aber was bringt das? Formal positive, aber we­
nig relevante Studienergebnisse allein reichen später
oft nicht für eine Zulassung. Außerdem sollen die
Krankenkassen die Kosten für die Behandlung über­
nehmen – und die vorgeschaltete Zusatznutzenprü­
fung ist mittlerweile sehr streng.
Um erfolgreich zu sein, brauchen wir also quali­
tativ hochwertige Studien. Das ist eine Frage eines gu­
ten Studiendesigns – aber man muss die Studien auch
umsetzen können. Und das ist für einen kleinen Spon­
sor nicht einfach. Eine Studie vorzubereiten kann bis
zu zwei Jahre dauern. In dieser Zeit müssen wir uns
mit Behörden und Gremien abstimmen, mit Ärzten
und den CROs. Wir sind von ihnen abhängig, haben
aber keine Spezialabteilungen etwa für Behördenkon­
takte im Haus, so wie die großen Pharmaunterneh­
men. Stattdessen arbeiten wir mit externen Beratern.
Die Zusammenarbeit mit Behörden, den Ethik­
kommissionen und Zulassungsstellen klappt trotzdem
sehr gut. Ich finde es positiv, dass diese Kontroll­
instanzen unsere Studien nochmals unabhängig auf
Patientensicherheit und ethische Standards prüfen und
den wirtschaftlichen Interessen der Sponsoren etwas
entgegensetzen. Wenn sie lange mit einer Substanz
gearbeitet haben und von ihr überzeugt sind, werden
Sponsoren manchmal ein wenig betriebsblind.
Wir haben uns beispielsweise lange vor Beginn
einiger unserer ersten Studien mit dem Paul-Ehrlich-
Institut über die Prüfpläne beraten und sie durch die
genaue Abstimmung verbessern können – das sorgte
neben glatten Genehmigungsverfahren auch für qua­
litativ hochwertige Studien.
Eine mitunter nicht ganz konfliktfreie Abhängig­
keit besteht eher zu den CROs. Probandenrekrutie­
rung, die Betreuung der Studienzentren, das Monito­
ring der Patienten – das können wir als kleiner
Sponsor nicht selbst leisten und müssen diese Auf­
gaben delegieren. Da kann es mitunter zu Problemen
kommen, etwa wenn aufgrund von Personalknapp­
heit bei der CRO die Projekte großer Pharmafirmen
bevorzugt werden. Dann müssen wir die Arbeit der
CRO an den Studienzentren mit einem deutlich grö­
ßeren Aufwand als geplant unterstützen und überwa­
chen. Zum Glück passiert das nicht dauernd. Meis­
tens können wir die auftretenden Probleme im Dialog
lösen, und mit der Zeit spielen sich die Teams ein.
Jedes unserer Studien-Projekte ist schließlich auch für
eine CRO neu.
Das Risiko des Scheiterns – das bleibt freilich be­
stehen. Aber wer in der klinischen Forschung arbeitet,
darf nicht ständig an dieses Risiko denken. Vielmehr
sollte er die Chancen sehen, mit der eigenen Arbeit
deutliche Therapieverbesserungen für Patienten erzie­
len zu können. Wenn ich mich für eine Tätigkeit in
diesem Bereich entscheide, muss ich eine gewisse
­Unsicherheit schlichtweg aushalten.“
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Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 13
Die Ethikkommission
Joerg Hasford, Vorsitzender der Ethikkommission der Bayerischen Landesärztekammer
„Entscheidungen sind immer
ein Gang auf dünnem Eis.“
Eines ist klar: Wir sind ein Nadelöhr für die
Pharmaindustrie, die ihre Medikamente auf
den Markt bringen will, denn wir müssen zwei Grund­
rechte in Einklang bringen: das Grundrecht auf Wür­
de und Unversehrtheit der Teilnehmer in klinischen
Studien und das Grundrecht auf Forschungsfreiheit.
Eine Studie ethisch zu beurteilen heißt, die Risi­
ken für die Teilnehmer abzuwägen gegen den erwar­
teten Nutzen für sie selbst, aber auch für Patienten,
die in Zukunft von diesem Medikament profitieren
könnten. Das ist immer eine Einzelfallentscheidung.
In einer Ethikkommission sind unterschiedliche Professionen und Risikoperspektiven vertreten – Ärzte,
Statistiker, Juristen, Pharmakologen, Theologen, Phi­
losophen, Männer und Frauen – aber die Entschei­
dungen sollen im Einvernehmen fallen. Der Weg des
geringsten Widerstands kann bei dermaßen wichtigen
Fragen jedoch nicht das geltende Prinzip sein, daher
werden oft harte Diskussionen geführt. Es wäre aber
unklug, einzelne Fachkompetenzen zu überstimmen.
Denn wenn später ein Sponsor oder ein Teilnehmer
wegen eines erlittenen Schadens klagt, könnten die
Überstimmer haftbar gemacht werden.
Die Entscheidung, ob eine Studie ethisch vertret­
bar ist, gleicht einem Gang auf dünnem Eis. Zwar
weiß man in einigen Fällen gut Bescheid über die
­Effekte bestimmter Wirkstoffgruppen und kann Ana­
logieschlüsse ziehen oder sich Zell- und Tierversuche
anschauen. Außerdem kann man beim Test ganz
­euer Wirkstoffe eine besonders niedrige Anfangs­
n
dosierung und ein schrittweises Vorgehen vorschrei­
ben, etwa, dass an den Tests jeweils ein Proband nach
dem anderen teilnimmt und nicht mehrere gleichzei­
tig – aber ein Risiko bleibt immer.
Wann wir ein Risiko als zu hoch einschätzen? Das
hängt davon ab, wie wahrscheinlich es mit welchem
Schweregrad eintritt und ob die Schädigung reversibel
ist. Auch die Erkrankung und die Frage, ob ein Wirk­
stoff an gesunden oder kranken Menschen getestet
wird, sind wichtige Gesichtspunkte. Bei einem Impf­
stofftest an Gesunden sind weit geringere Risiken
­akzeptabel als bei einem Krebsmitteltest an Schwerst­
kranken. Entscheidend ist zudem, ob ein Patient ein­
willigungsfähig ist. Wirklich schwierig wird es, wenn
der Patient selbst von einer Studie keinen Nutzen ha­
ben kann, wohl aber zukünftige Patienten. Wenn etwa
die Aufnahme, Verteilung, Verstoffwechselung und
Ausscheidung eines Wirkstoffs zunächst an Gesun­
den getestet wird, darf wirklich nichts schiefgehen.
Das sind schwierige Entscheidungen, aber alles
abzulehnen, weil ein Restrisiko nicht ausgeschlossen
werden kann, wäre auch keine Lösung. Zwar votieren
wir im Zweifel für den Teilnehmerschutz und gegen
die Durchführung einer Studie, aber damit liegt man
ethisch nicht automatisch richtig. Denn unethisch
wäre es ebenso, Kranken eine mögliche Hilfe zu ver­
weigern, nur weil man es sich bei der Risikobewer­
tung zu einfach macht.
Entscheidet sich nach sorgfältiger Abwägung im Zweifel für
den Teilnehmerschutz: Joerg Hasford
Deshalb diskutieren wir oft intensiv mit den Sponso­
ren und zeigen Lösungswege auf, sodass beide Grund­
rechte zusammenfinden. Von allen beantragten Arz­
neimittelstudien gehen weniger als fünf Prozent ohne
Beanstandungen durch, etwa gleich viele werden
­definitiv abgelehnt. Die überwältigende Mehrheit der
Anträge aber wird so modifiziert, dass wir zustimmen
können. Dabei geht es oft um eine bessere Patienten­
aufklärung, denn das ist kein Papierkram, sondern die
Grundlage, auf der sich ein Mensch für oder gegen
eine Studienteilnahme entscheidet. Oder es werden
zu risikoreiche Patientengruppen gewählt. Manche
Sponsoren wollen sich auch gern enge Intervalle bei
den Nachuntersuchungen sparen, die der Sicherheit
der Teilnehmer dienen. Es kann aber genauso um Ver­
sicherungsfragen gehen.
Die Sponsoren sind in der Regel sehr kooperativ.
Schwierig kann es werden, wenn die Therapie in der
Kontrollgruppe an dem hierzulande in der Kranken­
versorgung üblichen Standard ausgerichtet werden
soll. Schließlich möchten Sponsoren, dass ihr Produkt
wie ein Phönix aus der Asche steigt und brilliert. Da­
bei ist das Problem, dass viele Studien multinational
durchgeführt und die Prüfpläne in den USA erstellt
werden. Da liegt es für Sponsoren dann nahe, die
vielerorts oft niedrigeren Versorgungsstandards für
­
die Kontrollgruppe zu übernehmen.
Es ist auch unethisch, Patienten einen übertriebe­
nen Nutzen vorzugaukeln – Medikamente, die in
auch nur annähernd hundert Prozent der Fälle wirken
oder frei von unerwünschten Nebenwirkungen sind,
gibt es nicht.
Trotzdem kann ich über die Zusammenarbeit mit
den Sponsoren nicht klagen. Versuche der unlauteren
Einflussnahme kommen äußerst selten vor. Wenn
mich jemand kontaktiert, um was zu ‚drehen‘, sage
ich gleich, dass ich darüber einen schriftlichen Ver­
merk für die Geschäftsstelle mache – dann wird das
Gespräch in der Regel sofort beendet.
Den Vorwurf, ein bürokratischer Haufen zu sein,
hören wir eher aus medizinischen Fachgesellschaften
und von Patientenvertretern, die meinen, wir würden
die Kranken zu sehr schützen und den medizinischen
Fortschritt bremsen. Viele Patientenorganisationen
werden von Pharmaunternehmen unterstützt – viel­
leicht zeigt sich da deren Einfluss? Dennoch prüfe ich
die Kritik und Anregungen von Patientenvertretern
sehr ernsthaft, denn sie vertreten oft legitime und be­
rechtigte Anliegen.
Aber es ist unsere Aufgabe, genau hinzuschauen
und gegebenenfalls nachzufragen. Wer sollte es denn
sonst tun, wenn nicht die Ethikkommission? Eine ge­
wisse Unsicherheit bleibt ohnehin, denn es passieren
nun mal Fehler.
Jede Kommission ist in einem ständigen Lernpro­
zess. Doch wir könnten noch mehr lernen, wenn wir
wüssten, ob es bei den genehmigten Projekten bei den
Teilnehmern studienbedingte Schäden gegeben hat.
Aber die Versicherer halten die exakten Daten über
entschädigungspflichtige Vorfälle trotz intensiver Dis­
kussionen unter Verschluss. So bleiben studienbedingte, entschädigungspflichtige Vorkommnisse für
uns eine Blackbox – das darf eigentlich nicht sein.“
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Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 15
Die Zulassungsbehörde
Jan Müller-Berghaus, Klinischer Assessor, Paul-Ehrlich-Institut
„Wir wollen Dinge möglich
machen.“
Das Paul-Ehrlich-Institut ist neben dem Bun­
desinstitut für Arzneimittel und Medizinpro­
dukte (BfArM) die zweite Zulassungsstelle für klini­
sche Prüfungen – ohne unser positives Votum darf
keine stattfinden. Im Mittelpunkt steht die Sicherheit
der Patienten, daneben legen wir aber auch Wert auf
den Erkenntnisgewinn. Dabei prüfen wir, ob eine Stu­
die so angelegt ist, dass sie die darin formulierten Zie­
le und Erkenntniszuwächse wirklich generieren kann.
Unsere Arbeit ähnelt der einer Ethikkommission,
doch im Unterschied zu ihr schauen wir uns auch
alle präklinischen Daten, den Herstellungsprozess und
die pharmazeutische Qualität eines Wirkstoffs an. Das
macht die Entscheidungen noch komplexer. Eine ge­
wisse Unsicherheit bleibt immer, sie hängt stark von
der jeweiligen Entwicklungsphase eines Medikaments
ab. In frühen Studienphasen ist unser Wissen naturge­
mäß begrenzt, doch je weiter die Entwicklung voran­
schreitet, desto umfassender werden die Dossiers. Bei
Erstanwendungen am Menschen sind wir in den
­vergangenen Jahren restriktiver geworden, etwa bei
Dosierungen oder der Steigerung der Probandenzahl,
was viele Diskussionen mit Sponsoren nach sich zog.
Aber zurücklehnen können wir uns nicht: Studien
machen nur Sinn, wenn sie offene Fragen beantwor­
ten. Gefahren kann man vorab abzuschätzen versu­
chen, aber nicht mit letzter Sicherheit kennen.
Wir können deshalb nie sicher sein, richtig zu
entscheiden. Das gilt auch für die Frage nach dem Er­
kenntnisgewinn. Kann eine Studie einen Erkenntnis­
gewinn liefern? Natürlich schauen wir uns die Proban­
denauswahl an, die Dosierung, die Vergleichstherapie,
außerdem haben wir umfangreiches Hintergrund­
wissen und diverse Behandlungsrichtlinien. Allerdings
überschauen wir bei der Bewertung einer klinischen
Studie nicht das gesamte Entwicklungsprogramm
­eines Sponsors. So stimmen wir wohl auch Studien
zu, deren Wirkstoffe nicht unbedingt einen bislang
unbekannten Therapieerfolg versprechen. Was ich
aber auch sinnvoll finde, denn vielleicht haben diese
Mittel dafür weniger Nebenwirkungen.
Aufgrund der Komplexität der Aspekte, die zu
berücksichtigen sind, fällt unser Votum in einem
Team aus Medizinern, Biologen und Statistikern im­
mer im Konsens. Wir lehnen selten Studien rundher­
aus ab, sondern versuchen, mit den Sponsoren Lösun­
gen zu finden. Oft geht es um die Überwachung der
Probanden, um statistische Verfahren und Analyse­
methoden bei der Studienauswertung oder um Dosie­
rungen bei Erstanwendungen. Manchmal auch um
die Frage, ob eine Nachsorge ambulant oder stationär
stattfindet. Einfach ist das nicht, denn unser Verfahren
ist sehr reglementiert: Der Sponsor darf nur einmal
nachbessern, dann müssen wir entscheiden. Wenn es
dann nicht passt, müssen wir ablehnen.
Deshalb fände ich es gut, wenn mehr Sponsoren
vor der Einreichung in unsere Beratung kämen. Ge­
rade kleine Sponsoren aus der Biotech-Szene haben
wenig Erfahrung mit Genehmigungsprozessen und
ihr Budget ist knapp – da sollte es keine Fehler geben.
Mit unserem Innovationsbüro geben wir Rat für die
Erstellung des Dossiers: Welche präklinischen Daten
sind erforderlich, welches Tier muss man für die Ver­
suche nehmen, wie anspruchsvoll müssen Studien­
ziele und Vergleichstherapien sein? All das kann man
im Vorfeld klären.
Doch dieser Schritt fällt nicht jedem Sponsor
leicht. Nicht wenige begreifen uns als Stolperfalle
oder haben irrationale Ängste, sich bei uns eine Blöße
zu geben. Dabei haben wir auch eine Peer-Funktion,
wir wollen Dinge möglich machen. Der wirtschaft­
liche Druck eines Sponsors darf unsere Entscheidung
aber nicht beeinflussen.
Wir haben unterschiedliche Rollen und müssen
das akzeptieren. Jeder Sponsor hat das Recht, von sei­
nem Produkt überzeugt zu sein und schnell klinische
Prüfungen in den gewünschten Dosierungen machen
zu wollen. Es ist aber unsere Pflicht, vorsichtig zu sein
und gegebenenfalls das Tempo zu drosseln. Das ist
der Grundkonflikt unserer Beziehung.
Doch im Grunde kommen wir gut miteinander
zurecht. Was vielleicht auch daran liegt, dass meine
Kollegen und ich uns um eine angemessene Balance
zwischen Antreiben und Bremsen bemühen. Denn
wir sind schließlich auch Ärzte, wir wollen neue
Medikamente. Aber zugleich sind wir Prüfer. Ich
fühle durchaus eine gewisse Verpflichtung gegen­
über Sponsoren. Die Sicherheit steht über allem,
doch zugleich möchte ich niemandem eine Therapie
vorenthalten.
Bisweilen führt das zu einem ganz beträchtlichen
inneren Druck. Umso wichtiger sind die Entscheidun­
gen im Team. Was bleibt, ist die zwangsläufige Restunsicherheit, ob man richtig liegt. Da muss man sich
mental wappnen. Ich kann nicht sagen, wie ich das
mache. Es ist wohl eine Charakterfrage.“
Weiß, dass trotz aller Vorsicht ein Risiko bleibt: Jan Müller-Berghaus
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Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 17
Die Clinical Research Organisation
Veronique Larsimont, Senior Director Clinical Operations, PRA International, Mannheim
„Wir sind die UNO der
klinischen Forschung.“
Moderiert, verhandelt und sucht für alle Beteiligten nach gangbaren Lösungen: Veronique Larsimont
PRA ist eine Full-Service-CRO mit etwa
10 000 Mitarbeitern in mehr als 80 Ländern.
Wir kümmern uns im Auftrag von Sponsoren um die
Abwicklung von klinischen Studien: Wir entwickeln
mit ihnen den Prüfplan, führen Gespräche mit Behör­
den und Kommissionen, identifizieren und betreuen
Prüfzentren, machen das Monitoring und die Doku­
mentation, werten die Ergebnisse statistisch aus und
schreiben den Abschlussbericht – wir kümmern uns
also von Anfang bis Ende. Der Sponsor ist der Spe­
zialist für den Wirkstoff, wir sind die Experten für den
Studienprozess.
Dieser Prozess ist mit seinen vielen Regularien
und Beteiligten ausgesprochen komplex, was unsere
Aufgabe sehr anspruchsvoll macht. Wir brauchen me­
dizinische Fachkenntnisse, Prozesswissen, Organisati­
onstalent. Wichtig ist auch eine klare Kommunikation
zwischen allen Beteiligten. Obwohl alle Protagonisten
dasselbe wollen – so schnell wie möglich kranken
Menschen wirksame und sichere Medikamente zu­
gänglich machen – verfolgen sie im verschachtelten
Studienprozess kurzfristig mitunter verschiedene Inte­
ressen. Wir stecken dazwischen, müssen moderieren,
verhandeln, Lösungen finden. Im Grunde sind wir so
etwas wie die UNO der klinischen Forschung – und
manchmal auch die Prügelknaben.
Dabei geht es meist um klassische Konflikte zwi­
schen Qualität, Zeit und Kosten – egal, in welcher
Studienstufe man sich gerade befindet. Sponsoren
wollen möglichst zügig durch die Studie kommen:
Behördenanträge sollen schnell gestellt, Probanden
schnell gefunden, Daten im Eiltempo ausgewertet
werden. Die Ungeduld ist groß. Doch zugleich verlan­
gen sie Qualität, die natürlich Zeit und Geld kostet.
Es ist ein Trugschluss zu glauben, ein möglichst
schnell eingereichter Antrag würde Zeit sparen: Ist er
fehlerhaft, kommt es zu Nachfragen, die den Prozess
später verzögern.
Für uns als CRO ist klar, dass es nur mit Qualität
geht, schon weil die Behörden Validität verlangen und
weil es um Menschenleben geht. Der Sponsor weiß
das im Grunde auch, aber er steht unter Druck, und
das führt in der Praxis durchaus zu Diskussionen.
Dennoch begreifen sich beide Seiten zum Glück als
Partner und finden meist eine gemeinsame Lösung.
Wir sind schließlich voneinander abhängig: Immer
weniger Pharmaunternehmen beschäftigen heute noch
eigene Prozessexperten – deren Expertise ist zu den
stetig wachsenden, international agierenden CROs
abgewandert. Andererseits leben CROs von stabilen
Kundenbeziehungen. Entscheidend ist, dass jeder
Sponsor die für seine Bedürfnisse passende CRO fin­
det, sonst funktioniert eine solche Partnerschaft nicht.
Das ist wie in jeder anderen Beziehung auch.
Für uns ist das Beharren auf Qualität schlicht Teil
der professionellen Arbeit, weil wir wissen, dass der
Sponsor sonst Nachforderungen von den Behörden
erhält und sich dadurch die Zulassung verzögern
kann. Wir denken grundsätzlich langfristig und bis
zum Ende des Prozesses, der Gesamtzeitraum ist für
uns entscheidend. Dafür müssen die einzelnen Schrit­
te zügig, aber mit Bedacht gemacht werden – was
auch für uns wichtig ist, denn wenn es im Genehmi­
gungsprozess zu unnötigen Verzögerungen kommt,
stehen wir in der Kritik. Und wenn ein Sponsor
unseren Rat partout nicht annehmen will? Dann
­
­machen wir ihn auf die möglichen Folgen aufmerk­
sam, setzen seine Vorgaben um, reichen etwa einen
Antrag bei der Ethikkommission ein, auch auf die
Gefahr von Nachforderungen. Aber so etwas kommt
eher selten vor.
Die Studien werden immer spezieller, bei gleich­
zeitig wachsenden Probandengruppen. Das macht es
nicht leicht, schnell und hochwertig zu arbeiten. Die
größte Herausforderung aber ist, dass wir Anforde­
rungen erfüllen und stellen müssen, die wir nicht
selbst formulieren.
Wir müssen gemäß den Regularien liefern, die
von den Ethikkommissionen und Zulassungsbehör­
den vorgegeben werden. Das ist etwas, das nicht alle
Beteiligten sofort verstehen, etwa die Prüfzentren und
Studienärzte, denen wir mit unserem strengen Moni­
toring durchaus lästig werden können. Denn die Me­
diziner stecken in ihrem eigenen Konflikt zwischen
Tagesgeschäft und Studien – sie haben wenig Zeit.
Wenn wir bei denen wiederholt anrufen, weil wir
­bestimmte Dokumente oder Unterschriften brauchen,
macht ihnen das zusätzlich Arbeit. Wir können gut
verstehen, dass wir ihnen mitunter wie Nervensägen
erscheinen. Doch wenn die Zulassungsbehörde eine
Unterschrift haben will, ist das eben so. Und die
Sponsoren haben ebenfalls Ansprüche an uns, die wir
nicht ignorieren können. Aber die Position zwischen
allen Stühlen gehört nun mal zu unserem Job.“
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Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 19
Die Studienteilnehmerin
Anonyma (48), Brustkrebspatientin
„Ich möchte auch Patientin
sein dürfen.“
Ich habe seit 15 Jahren Brustkrebs, habe viele
Ärzte gehabt und Therapien ausprobiert und
musste dabei immer viel selbst entscheiden. Irgend­
wann habe ich mich regelrecht nach einer intensiven
Betreuung gesehnt, nach jemandem, der mich an die
Hand nimmt.
Das Gefühl, dass sich keiner wirklich um mich
kümmert, war ein wichtiger Grund dafür, dass ich ab
2009 an einer klinischen Studie teilgenommen habe.
Ich erhoffte mir auch eine stärkere Krebskontrolle,
­zudem wollte ich etwas für den medizinischen Fort­
schritt tun. Brustkrebs liegt bei uns in der Familie. Die
Chemotherapie bei meiner Mutter hatte noch starke
Nebenwirkungen, sie hat sich die Seele aus dem Leib
gekotzt. Seitdem hat sich viel geändert, ich selbst pro­
fitiere von wirklich guten Medikamenten. Nun wollte
ich meinen Teil zur Weiterentwicklung beitragen.
Trotzdem habe ich die Studie nach anderthalb
Jahren vorzeitig abgebrochen. Nicht wegen des Medi­
kaments oder seiner Nebenwirkungen, sondern wegen
des schlechten Umgangs mit mir. Ich musste abwägen,
was belastender für mich ist: die Studienbedingungen
oder die Gefahr der Metastasenbildung aufgrund des
Verzichts auf ein möglicherweise hilfreiches Medika­
ment. Und ich empfand das als sehr eindeutig.
Es handelte sich damals um eine kombinierte
Phase-II-Studie aus einer etablierten Chemotherapie
und einem neuen Antikörper-Wirkstoff, mit dem zu­
vor bei Prostatakrebs Erfolge erzielt worden waren.
Innerhalb eines Tages habe ich mich zur Teilnahme
entschlossen, ich hatte großes Vertrauen zu den Ärz­
ten. ,Wir betreuen Sie ganz eng‘ lautete das Verspre­
chen, und mit gravierenden Nebenwirkungen hätte
ich nicht zu rechnen. Ich fühlte mich gut aufgeklärt.
Ob ich das Placebo oder den Wirkstoff bekommen
würde, war mir ziemlich egal, die Chemotherapie gab
mir Sicherheit. Ohne sie hätte ich niemals mitgemacht,
denn eventuell ganz ohne Behandlung dazustehen ist
für mich zu risikoreich. Ich habe täglich bis zu zehn
Tabletten geschluckt, bin alle drei Wochen zur Unter­
suchung, alle sechs Wochen zur Computertomografie,
alle zwölf Wochen zur Knochenzintigrafie – das war
eine Riesenfahrerei, aber es musste eben sein. Ich habe
auch täglich Tagebuch geführt über meinen Zustand
und die Nebenwirkungen. Da ist man immer in Kon­
takt mit seiner Krankheit, was nicht einfach ist. Und es
traten diverse Nebenwirkungen auf: Übelkeit, Durch­
fall, Geschmacksstörungen – da schmeckt die Schoko­
lade nach Leberwurst. Vor allem aber entwickelte ich
ein Hand-Fuß-Syndrom, hatte offene Hände, die wie
verbrannt schmerzten, sodass ich meine Rollläden zu
Hause nur mit Handschuhen hochziehen konnte.
Aber selbst das hätte ich bei guter Betreuung
­akzeptiert, zumal mein Onkologe sagte, diese Reak­
tionen seien womöglich ein Zeichen dafür, dass mein
Körper die wichtigen Antikörper bildet. Aber von den
Studienärzten fühlte ich mich mit meinen Problemen
allein gelassen – und das war entscheidend. Ich hatte
mir eine gewisse Empathie erhofft, doch die Ärzte
wechselten ständig, ich hatte insgesamt fünf. Und
wenn ich sie um Rat bat, hieß es nur: ,Bei anderen
Studienteilnehmern ist es noch viel schlimmer, wir
können auch nichts machen.‘ Kontinuität? Ernst neh­
men? Fehlanzeige.
So musste ich mir alles erkämpfen. Die Chemo­
therapie wurde auf meinen Vorschlag hin reduziert.
Aber es ist doch nicht der Job der Patientin, Vor­
schläge zur Therapie zu machen. Hilfe gegen Neben­
wirkungen? Ich habe mir selbst eine Akupunktur
­besorgt. Eine enge Kontrolle der Krebsprogression?
Laut Prüfplan wurden die Befunde alle sechs Wochen
verglichen, was aber bei einem langsam wachsenden
Tumor keine Erkenntnisse bringt. Ich wollte Verglei­
che mit dem Erstbefund, was die Ärzte erst nach Dis­
kussionen mit dem Sponsor zuließen, der das übri­
gens selbstverständlich fand. Oder das Kontrastmittel
bei der Knochenzintigrafie: Ich vertrug es nicht und
ließ mir wegen einer Armvenenthrombose einen Port
legen – nach Absprache! Doch die Radiologen woll­
ten ihn nicht nutzen, weil ich dadurch sterben könnte.
All die Diskussionen, der Streit – ich fand das un­
menschlich. Die Studie wurde für mich immer mehr
zur Belastung, zumal nicht eindeutig war, ob sie mir
half. So habe ich sie nach vier Monaten intensiven
Nachdenkens abgebrochen. Ich war heilfroh, als es
vorbei war. Seitdem hangle ich mich wieder von The­
rapie zu Therapie. Im Griff habe ich den Krebs nicht.
Die Studie damals war eine Chance – und es ist
schade, dass es nicht geklappt hat. Aber bei einer
­guten Betreuung würde ich mich wieder darauf ein­
lassen. Es ist einfach so: Als Teilnehmerin möchte ich
trotzdem Patientin sein dürfen, der es mal schlecht
geht, die Fragen hat zu ihrem Zustand. Ich denke,
auch Studienärzte können da etwas leisten. Empathie
kostet keine Zeit – man muss es nur wollen und kön­
nen. Vielleicht sollte der eine oder andere Arzt einen
Kurs in Patientenkommunikation belegen.“
20
Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 21
Der Arzt
Carsten Bokemeyer, Direktor Medizinische Klinik II (Onkologie, Hämatologie),
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
„Studien sind Teil der
Behandlung.“
Weiß, dass für Studienteilnehmer nicht nur die gute medizinische Behandlung, sondern auch
die persönliche Betreuung wichtig ist: Carsten Bokemeyer
Wir führen ständig eine Vielzahl von Stu­
dien der Phase I bis III durch, für privat­
rechtliche und akademische Sponsoren, aber auch
selbst initiierte von Prüfärzten. So können wir un­
seren Patienten als Teil der Behandlung neue The­
rapien anbieten, die sonst nicht verfügbar wären.
Außerdem wollen wir als Wissenschaftler, dass
neues Wissen entsteht. Studien haben gerade in
der Krebsmedizin zu einer erheblich besseren Pa­
tientenversorgung geführt.
Eine große Herausforderung ist es für uns, die
Studien in den Klinikalltag zu integrieren, denn die
aufwendigen Regularien führen zu enormen Kosten
und einem riesigen Administrationsaufwand. Deshalb
haben wir uns professionalisiert: durch eine eigene
Studienzentrale, mit der Ausbildung von Dokumen­
taren, mit der Identifizierung von Spezialisten. Und
wir haben betriebswirtschaftliche Expertise aufge­
baut, um zu beurteilen, ob die angebotenen Studien
kostendeckend durchführbar sind – bei etwa einem
Drittel ist das nicht der Fall.
Einfach enthusiastisch und ohne Beachtung des
Umfelds Studien zu machen geht nicht mehr. Heute
stellen sich viele Fragen: Haben wir die richtigen Pa­
tienten für diese Studie? Ist die Studie andernorts
­bereits gemacht worden? Verspricht sie überhaupt ei­
nen Nutzen, etwa durch geringere Nebenwirkungen
oder eine Verlängerung der Überlebenszeit? Rein sta­
tistische Effekte wie etwa eine um zwei Wochen ver­
längerte Überlebenszeit sind klinisch nicht relevant, so
etwas bekommt man oft schon durch eine hohe Zahl
von Probanden nachgewiesen. Wenn es aber um ein
halbes Jahr mehr an Überlebenszeit geht – das wäre
schnell ein neuer Standard.
Auf statistische Beschreibungen allein können
wir uns nicht verlassen und auch nicht nur auf die
­Voten vorgeschalteter Institutionen. Ist eine geplante
Studie medizinisch sinnvoll? Ist sie realistisch durch­
führbar? Darüber entscheiden wir am Ende in einem
Gremium von Oberärzten in unserer Studienzentrale
am Ende selbst. Und dabei fallen zwei Drittel mögli­
cher Studien durchs Raster.
Entscheidend ist für uns die Qualität, auch weil
wir die Balance halten müssen zwischen der Hilfe,
die wir Patienten mit einer Studie eventuell anbieten
können, und den Risiken, denen wir sie damit aus­
setzen. ,Würde ich das selbst tun?‘ – diese Frage
stellt sich mir jedes Mal. Gerade bei Phase-I-Studi­
en, wenn ein Wirkstoff erstmals am Menschen ein­
gesetzt wird, sind wir viel vorsichtiger und aufmerk­
samer als bei späteren Studien. Und wenn starke
Nebenwirkungen auftreten, ist das auch für hartge­
sottene Krebsmediziner belastend – da muss man
sich ausbalancieren zwischen einem großen Maß an
Empathie und der notwendigen Professionalität.
Zum Glück machen wir oft überraschend gute Er­
fahrungen bei Studien, die die Rückschläge wieder
aufwiegen, auch emotional.
Dieses Ausbalancieren spiegelt sich ebenso in
den Motiven der Patienten für eine Studienteilnahme
wider. Es gibt da eine Mischung aus Altruismus, der
individuellen Hoffnung auf eine bessere Behandlung
und eine innere Zerrissenheit, wenn es nicht funktio­
niert wie erhofft – ganz ähnlich ergeht es auch dem
Behandler. Allerdings natürlich mit dem entscheiden­
den Unterschied, dass es bei ihm nicht um das eigene
Leben geht.
Deshalb erwarten Probanden von uns Ärzten
nicht nur eine medizinische Behandlung, sondern
auch eine gute Betreuung. Das bedeutet viel Kommu­
nikation, nicht nur über ihren individuellen Zustand,
sondern auch über die medizinischen Erkenntnisse
rund um Therapie und Krankheit und neue Möglich­
keiten, die sich daraus ergeben können. Die Patienten
sind keine Versuchskaninchen: Sie sind Menschen,
denen es auch mental einmal schlecht gehen kann.
Darauf müssen wir uns einstellen. Studienärzte sind
auch behandelnde Ärzte – dieses Selbstverständnis
halte ich für enorm wichtig.
Durch eine gute Organisation lässt sich Zeit für
Gespräche schaffen, aus denen Vertrauen entstehen
kann. Doch dafür müssen Studienärzte Aufgaben auf­
teilen, etwa durch das Einbeziehen des Pflegeperso­
nals. Dabei hilft zum Beispiel eine für jeden Mitarbei­
ter nutzbare Datenbank mit Studieninformationen,
sodass auch die Nachtschwester antworten kann,
wenn ein Patient eine Frage zu seiner Studie hat. Und
in einem guten Prüfplan sind oft bereits vorab be­
stimmte Reduktionen bei der Wirkstoffvergabe fest­
gelegt, wenn es zu Nebenwirkungen kommt.
Auch deshalb entwickeln wir Studienprotokolle
gern aktiv mit, selbst wenn das mitunter zu Debatten
führt. Zu wenige Nachuntersuchungen aus Kosten­
gründen, zu viele Röntgenaufnahmen zur maximalen
Demonstration des Nutzens – das sind Punkte, die
wir immer wieder diskutieren. Denn gute Studienpro­
tokolle gehören für uns zur Patientenbetreuung.
Wir agieren immer in einem Spannungsfeld zwi­
schen Sponsoren und Patienten, Risiko und Nutzen,
Aufwand und eigener Leistungsfähigkeit. Aber wir
machen das, weil es sich medizinisch lohnt. Und wir
würden gern noch mehr tun, würden gern mehr
­Ideen verfolgen, die wir Mediziner immer wieder ent­
wickeln. Doch das wird schon aus Kostengründen
immer schwieriger. Deshalb hoffen wir sehr auf Er­
leichterungen für akademisch initiierte Studien, etwa
im Zuge der europäischen Harmonisierungen bei
Vorgaben und Finanzierung.“
22
Hilfe! --- Klinische Studien --- Ablauf --- 23
Schritt für Schritt
Wie aus einem Wirkstoff ein Medikament wird.
Text: Julia Groß Illustration: Christina Gransow
Der Weg, den ein Wirkstoff zurücklegt, bis er in einem Medikament eingesetzt werden kann, ist lang: Er muss sich als wirksam erwiesen haben, soll möglichst geringe Nebenwirkungen
und höchste Qualität aufweisen. Um all dies sicherzustellen,
werden Wirkstoffkandidaten vor ihrer Zulassung in einem
mehrstufigen Verfahren systematisch untersucht. Die Kriterien
für diese Tests, ihren Ablauf sowie ihre Auswertungen sind
gesetzlich exakt festgelegt. Verläuft alles nach Plan, steht am
Ende eines mehrjährigen Prozesses die Zulassung eines neuen
Medikaments. Das ist allerdings eher die Ausnahme: Das Gros
der Kandidaten besteht den Prüfprozess nicht.
Die wichtigsten Stationen zwischen Labor und Markt in Kürze:
Forschung und Präklinik
In der Grundlagenforschung und in präklinischen Tests wird
ein Wirkstoff identifiziert, optimiert, charakterisiert, produziert und außerhalb des Menschen erprobt.
Am Anfang der Entwicklung eines Medikaments steht
die grundlegende Forschung zum besseren Verständnis einer
Krankheit. Sie findet oft in wissenschaftlichen Institutionen
und Universitäten statt, die in der Regel nicht über die Ressourcen verfügen, die Entwicklung eines Stoffes bis zum Arzneimittel zu finanzieren und zu begleiten. Deshalb kooperieren sie meist mit der anwendungsorientierten Forschung der
Pharma-Industrie – eine Win-win-Situation.
Die Forscher identifizieren ein „Target“, einen potenziellen Ansatz für ein Arzneimittel auf molekularer Ebene, und
suchen einen dazu passenden Wirkstoff. Dafür werden mehrere Tausend Substanzen überprüft. In Tests mit Zellkulturen
und in Tierversuchen wird anschließend untersucht, wie die
vielversprechendsten Kandidaten auf lebendes Gewebe und
Organismen wirken. Dabei stehen Aufnahme, Verteilung,
Verstoffwechselung, Ausscheidung und Nebenwirkungen des
Wirkstoffs im Mittelpunkt, auch für eine spätere Dosierung
werden Daten ermittelt. Alle Eigenschaften und Reaktionen,
die ein Wirkstoff dabei zeigt, werden in der „Investigator’s
Brochure“, der Prüferinformation, zusammengefasst.
Verlaufen die Tests positiv, wird für die
anschließende klinische Prüfung ein
Präparat mit dem Wirkstoff hergestellt,
das man den Prüfungsteilnehmern verabreichen kann. Für die Herstellung dieses Präparats wird eine Erlaubnis bei der
zuständigen Landesbehörde eingeholt.
Nicht alle neuen Medikamente beruhen auf neuen Ideen. 2012 hatten von
39 in den USA erstmals zugelassenen
Arzneien 18 einen völlig neuen Wirkmechanismus. Der Rest griff auf bekannte
Targets und Reaktionen zurück.
Dauer: 3 bis 5 Jahre
Kosten: 121 Millionen Dollar
Erfolgswahrscheinlichkeit: 7,1 Prozent*
*Alle Angaben zu Zeiten, Kosten und Erfolgswahrscheinlichkeiten sind Durchschnittswerte. Sie
können im Einzelfall erheblich abweichen. Quelle:
DiMasi, Hansen, Grabowski: The Price of Innovation:
New Estimates of Drug Development Costs
Planung der klinischen Prüfung
Prüfprotokoll oder Prüfplan
In der klinischen Prüfung wird ein Wirkstoffkandidat erstmals
an Menschen getestet. Dabei werden seine Wirksamkeit erprobt, die optimale Dosierung gefunden und Nebenwirkungen ermittelt. In der Regel initiiert die klinische Prüfung das
Unternehmen, das den Wirkstoff entwickelt hat oder mit der
betreffenden Forschungseinrichtung kooperiert. Es tritt als
„Sponsor“ der Studien auf: Es beauftragt sie, finanziert sie –
und ist für sie verantwortlich. Durchgeführt werden klinische
Studien meist von spezialisierten Dienstleistern, sogenannten
Contract Research Organisations (CRO), also Auftragsforschungsinstituten.
Eine andere Form sind die „Investigator Initiated Trials“:
Sie werden meist von Ärzten angeregt und organisiert, die
damit Fragestellungen angehen, die sich aus der klinischen
Tätigkeit ergeben. Oft ist das Ziel, vorhandene Therapien
und Behandlungskonzepte zu verbessern.
Grundlage für das Prüfprotokoll ist das Studiendesign: Es
legt sowohl das Ziel einer Studie fest als auch das Verfahren.
Im Prüfprotokoll wird die Vorgehensweise exakt festgehalten. Dazu stimmen sich Ärzte, Chemiker, Biochemiker, Biostatistiker und Pharmazeuten des Sponsors sowie eventuell
Mitarbeiter der CRO ab. Bei der Bundesoberbehörde kann
dazu eine wissenschaftliche Beratung beantragt werden.
Zum Prüfprotokoll gehört das Ziel der Studie: der Endpunkt. Er bezeichnet ein Kriterium, an dem sich der Erfolg
einer Studie messen lässt. Ein Endpunkt kann die Remission
sein, also das temporäre oder dauerhafte Nachlassen von
Krankheitssymptomen, aber auch der Tod des Patienten –
etwa wenn es darum geht, ob ein Wirkstoff die Lebenszeit
signifikant verlängert.
Oft gibt es einen primären Endpunkt, wie die Überlebensdauer im Vergleich zur Standardtherapie, sowie einen
sekundären Endpunkt, etwa die Lebensqualität während der
Behandlung. Außerdem finden sich im Prüfprotokoll die Auswahlkriterien für die Studienteilnehmer (Alter, Geschlecht,
Vorerkrankungen, Vorbehandlungen), die vorgesehene Behandlung inklusive genauer Dosierungen des zu testenden Wirkstoffs sowie alle Begleituntersuchungen.
24
Hilfe! --- Klinische Studien --- Ablauf --- 25
Überprüfung der Machbarkeit
Anmeldung der klinischen Prüfung
Studien in Phase I
Studien in Phase II
Studien in Phase III
Nicht jedes Krankenhaus hat die Patienten und die Ausstattung, die der Sponsor für eine Studie braucht. Deshalb
überprüft der Sponsor oder die CRO,
ob es genug Kliniken oder Arztpraxen
gibt, die Interesse haben und die Voraussetzungen für eine Teilnahme an der
klinischen Prüfung erfüllen.
Sind genügend Mitwirkende gefunden, werden alle, die an der Durchführung der Studie direkt beteiligt sind,
ausführlich informiert und geschult.
Der Sponsor muss die Erlaubnis für seine klinische Studie bei
der zuständigen Behörde und der Ethikkommission beantragen. In Europa ist die zuständige Oberbehörde die European
Medicines Agency (EMA) in London. In Deutschland sind
das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
(BfArM) oder – bei Impfstoffen und Seren – das Paul-EhrlichInstitut (PEI) zuständig, die zum Teil auch für die EMA die
Bearbeitung übernehmen.
Die Ethikkommission besteht üblicherweise mehrheitlich aus Medizinern, hinzu kommen Theologen, Naturwissen­
schaftler und Juristen. Kommission und Behörde bewerten
das Prüfprotokoll und die Qualifikation der Prüfärzte, kon­
trollieren alle Informationen über den Produktkandidaten, die
Einwilligungserklärungen der Teilnehmer sowie den Datenschutz und entscheiden innerhalb einer definierten Frist, ob
eine Studie genehmigt oder abgelehnt wird.
Zulassungsbehörde und Ethikkommission verfolgen und
begleiten jede Studie bis zu ihrem Ende. Wird das Prüfprotokoll nachträglich verändert, müssen neue Genehmigungen
für die gesamte Studie eingeholt werden.
Bei der ersten Anwendung eines Wirkstoffs an Menschen geht es vor allem
um die Frage, ob der Produktkandidat
allgemein verträglich ist. Die Probanden
sind gesunde Freiwillige. Ausnahme:
Gesundheitsschädliche Präparate wie
etwa Krebstherapeutika, die als Zellgifte
wirken, werden von Beginn an von
­betroffenen Patienten getestet.
Der Sponsor will in dieser Phase
herausfinden, wie der Körper den Wirkstoff aufnimmt, im Organismus verteilt
und ausscheidet. Bei steigenden Dosierungen überprüfen die Studienärzte
­außerdem, wann sich bei den Probanden welche Nebenwirkungen zeigen.
Pro Dosierungsgruppe nehmen etwa
ein Dutzend Personen teil, insgesamt
rund 50 bis 80 Probanden.
In einer kleinen, etwa 100 bis 300 Personen umfassenden, möglichst homogenen Gruppe wird die Wirkung der
Prüfsubstanz auf die jeweilige Krankheit untersucht. Ab dieser Phase nehmen keine gesunden Probanden mehr
an der Studie teil – die Substanz wird
ausschließlich an Patienten getestet.
Ist die Wirkung nachgewiesen und
die Prüfsubstanz in die endgültige Darreichungsform gebracht – zum Beispiel als Tablette, Saft oder Ähnliches –,
­suchen die Studienärzte die bestmögliche Dosierung. Am Ende der Phase entscheidet der Sponsor, ob und in welcher Dosierung der Wirkstoff in der
nächsten Phase geprüft wird.
Hier geht es um die statistisch belastbare
Bestätigung der Phase-II-Ergebnisse in
einer vielfältigen, der Realität möglichst
nahe kommenden Patientengruppe mit
meist mehreren Hundert bis mehreren
Tausend Teilnehmern: Patienten verschiedenen Alters und aus verschiedenen Regionen, davon eventuell einige
mit weiteren Erkrankungen.
Phase-III-Studien sollten – wie in
der Regel auch die Studien der Phase II
– kontrolliert (mit einer Kontrollgruppe,
die ein Placebo oder die Standardtherapie erhält), randomisiert (die Zuordnung zu den Gruppen erfolgt zufällig)
und doppelblind (weder Arzt noch Pa­
tient wissen, wer die Prüfsubstanz, wer
das Placebo oder die Standardtherapie
erhält) durchgeführt werden.
Dauer: 2 Jahre
Kosten: 15,2 Millionen Dollar
Erfolgswahrscheinlichkeit: 9,5 Prozent*
Dauer: 2 bis 3 Jahre
Kosten: 23,5 Millionen Dollar
Erfolgswahrscheinlichkeit: 17 Prozent*
Dauer: 2 bis 3 Jahre
Kosten: 86,5 Millionen Dollar
Erfolgswahrscheinlichkeit: 68,5 Prozent*
26
Hilfe! --- Klinische Studien --- Geschichte --- 27
Wirkungsweisen
Die Geschichte der klinischen Forschung
Was kostet die Entwicklung
eines Medikaments?
Zulassung
Nach dem Ende der dritten Phase kann
der Sponsor die Zulassung eines Wirkstoffs als Medikament beantragen, um
ihn auf den Markt zu bringen. Dafür
werden sämtliche Untersuchungsergebnisse aus der Entwicklung, der präklinischen sowie der klinischen Forschung
in einem Zulassungsantrag von häufig
weit mehr als 100 000 Seiten zusammengefasst, den die zuständige Behörde (in Deutschland das PEI oder das
BfArM) überprüft.
Eine Zulassung wird erteilt, wenn
die Behörde zu der Schlussfolgerung
gelangt, dass der Nutzen für die betroffenen Patienten größer ist als die Risiken durch Nebenwirkungen.
Wird ein Wirkstoff als neues Arzneimittel durch die EMA zugelassen,
darf es im gesamten europäischen
Wirtschaftsraum vertrieben werden.
Bis 1995 mussten für jedes Land Genehmigungen bei der nationalen Zulassungsbehörde eingeholt werden.
Dauer: bis zu 2 Jahre
Kosten: nicht verlässlich bezifferbar
Erfolgswahrscheinlichkeit: 90 Prozent*
Studien in Phase IV
Auch nach der Zulassung sammeln Hersteller Daten und führen weitere Stu­
dien (post-authorisation safety studies)
durch, vor allem, um seltene Nebenwirkungen zu erfassen.
Weitverbreitet ist eine Berechnung von
Joseph DiMasi von der Bostoner TuftsUniversität, der mit 800 Millionen USDollar pro zugelassenem Medikament
kalkuliert. Der Ökonom geht von gut
400 Millionen US-Dollar reinen Entwicklungskosten aus, auf die er sowohl
die Ausfälle anderer Produktkandidaten
aufschlägt als auch die Opportunitätskosten, also den Gewinn, den man mit
dem eingesetzten Kapital in der langen
Entwicklungszeit zum Beispiel am Ak­
tienmarkt hätte erzielen können.
Weil DiMasis Studie schon elf Jahre alt ist, wird aufgrund der steigenden
Kosten und der Inflation inzwischen
von mehr als einer Milliarde US-Dollar gesprochen. Die Zahl ist allerdings
Gegenstand intensiver akademischer
Debatten. Kritiker wie die Gesundheitsökonomen Donald Light und Rebecca
Warburton halten DiMasi eine Reihe –
aus ihrer Sicht übertriebener – Schätzungen und Annahmen vor. Sie kommen in ihren Berechnungen auf Beträge
von 43 Millionen US-Dollar bis hin zu
wenigen Hundert Millionen US-Dollar
pro Medikament.
Eine andere Rechnung macht der
US-Branchenexperte Bernard Munos
auf: Er teilte schlicht die Forschungsetats verschiedener Pharmafirmen in
einem Jahrzehnt durch die Zahl der
­
Zulassungen, die sie in diesem Zeit­
raum erhielten. Munos kam je nach
­Firma auf Beträge zwischen rund 350
Millionen und fünf Milliarden US-Dollar pro Arzneimittel.
Um 1023
Der persische Arzt und Gelehrte Avicenna spricht in seinem
Lehrbuch „Kanon der Medizin“ detailliert von bestimmten
Regeln und Prinzipien, die beim Test neuer Heilmittel zu
­beachten seien. Zum Beispiel müsse die Wirkung eines Medikaments bei vielen Patienten zu beobachten sein, nicht nur
bei einem, denn das wäre Zufall.
1747
Der schottische Arzt James Lind beweist mit einem Test an
zwölf Matrosen, dass die Vitamin-C-Mangelkrankheit Skorbut durch die Gabe von Zitrusfrüchten geheilt werden kann.
Die Untersuchung, bei der je zwei Matrosen verschiedene
Nahrungszusätze erhielten, ist die älteste existierende Dokumentation einer kontrollierten klinischen Interventionsstudie
(Vorher-nachher-Studie).
1834
Der Franzose Armand Trousseau etabliert das Konzept verblindeter, placebo-kontrollierter Studien.
1847
Ignaz Semmelweis zeigt an einem Wiener Krankenhaus, dass
sich die Fälle von Kindbettfieber durch einfache Hygienemaßnahmen wie Händewaschen bei den Ärzten und Krankenschwestern deutlich reduzieren lassen. Seine Ergebnisse
werden nicht allgemein anerkannt.
1961:
Der Skandal um das Schlafmittel Contergan, das Missbildungen bei Ungeborenen verursacht, führt zu weitreichenden
Änderungen des Arzneimittelrechtes. Für eine Zulassung
müssen Pharmafirmen neben der Herstellungsqualität und
der Unbedenklichkeit nun auch die therapeutische Wirksamkeit eines Produktes nachweisen und kontrollierte klinische
Studien durchführen. Alle beobachteten Nebenwirkungen
müssen dokumentiert werden. Zusätzliche präklinische Untersuchungen werden Pflicht.
1964
Die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes formuliert
ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am
Menschen. Sie betont die besondere Sorgfalt, mit der vorgegangen werden muss, und die Pflicht zur Information und
Aufklärung der Probanden und Patienten.
1995
Die European Medicines Agency (EMA) wird gegründet. Sie
bearbeitet und koordiniert Anträge von Unternehmen, die
Arzneimittel im europäischen Wirtschaftsraum verkaufen
wollen und stellt die Genehmigungen hierfür aus.
2005 – 2008
Die Pharmaverbände Europas, der USA und Japans beschließen, die Studienergebnisse für jedermann zugänglich im Internet zu veröffentlichen. Auch geplante beziehungsweise
laufende klinische Studien sollen dort auffindbar sein.
1922
Dem 14-jährigen Kanadier Leonard Thompson wird als erstem Menschen Insulin gegen seine Erkrankung an Typ-1-­ 2013
Die 64. Generalversammlung des Weltärztebundes verabDiabetes-gespritzt. Er ist der einzige Testkandidat.
schiedet eine Revision der Deklaration von Helsinki: Der
Schutz der Probanden wird weiter gestärkt, bei Schäden müs1947:
Der amerikanische Militärgerichtshof formuliert als Reaktion sen Kompensationen gezahlt, Zugang zum neuen Medikaauf die Menschenversuche im Nationalsozialismus den Nürn- ment muss den Teilnehmern auch nach Studienende ermögberger Kodex. Wichtigster Grundsatz: Versuchspersonen licht werden. Placebos sind in Studien aus ethischen Gründen
nur erlaubt, wenn dadurch für den Patienten kein zusätzliches
müssen Tests freiwillig zustimmen.
Risiko entsteht. Alle Untersuchungen am Menschen sollen
veröffentlicht werden.
1947
Der British Medical Research Council führt die erste große
randomisierte, kontrollierte Studie durch: Es geht um die 2014
Die Offenlegung klinischer Studien wird Pflicht.
Behandlung von Tuberkulose mit Streptomycin.
2 090 37,0 49 960 44,2 55 667 44,142 024
8,6
51 628im
42,1
Weltweit
Test66 220 41,6 44 590 3 1 , 2
42 179 38,1 3 477 4,0 3 919 3,5 6 231 4 , 9
454 3,0 9 581 7,8 6 811 4,3 5 0783,639 551
,4 33 640 38,8 29 470 26,1 35 579 28,2
0
711
4 905
4
,5
32
688
26,7
44
214
27,7
3
9
9 0 9 2397864, 9
342 179
897
891
66 211 29,6 523 0,6 1 938 1,72 061 1 , 6
962 6,8 3 431 2,8 2 9521,02 298 1,6 23 165
2,6
1
694
2,0 9 925 8,87 801 6,2 17 458 1 1 , 9
39 551 18 243 12,8 84 055 9,4
627 7,9 19 307 12,1
560 1,8 1 892 1,7 2 663 2,1 1 219 0,8 1 344
211 1 905 1,3 13 904 1,5 664 0 , 8
1 3 3212662,1
939 6,12 731 2,2 6 677 4,5 5 653 4,6 6 463
862
0,8
,1 10 737 7,5 39 864 4,4 69 0,1
84 055
84
057
202 1,01 370 0,9 539 0,4 121 0,1 742 0 , 5
905 0,513 075 15,1 8 08123 1657,2 12 170 9 , 7
904
84 057
3 262 9,0 8 069 ,6 9 941 6,2 19 4591313,6
9,4
86
792
100 112 986 100 126 105 1 0 0
47 137 100 122 560 100 159 350 1 0 0
28
Hilfe! --- Klinische Studien --- Studienteilnehmer --- 29
Zahl der Teilnehmer an klinischen Studien nach Regionen (von 2005 bis 2011)
Westeuropa* (38,1 %)
Studienteilnehmer insgesamt, weltweit (100 %)
Osteuropa,
Nicht-EU-Mitgliedstaaten (0,5 %)
Kanada (4,4 %)
USA (29,6 %)
Mittlerer Osten /
Asiatisch-Pazifischer Raum
(9,4 %)
Zentral- und Südamerika (9,4 %)
Afrika (2,6 %)
Quelle: European Medicines Agency, 2013
*EU / EWR / EFTA
Australien / Neuseeland (1,5 %)
GUS (4,4 %)
2 090 37,0 49 960 44,2 55 667 44,142 024
8,6
51 628im
42,1
66 220 41,6 44 590 3 1 , 2
Weltweit
Detail
42 179 38,1 3 477 4,0 3 919 3,5 6 231 4 , 9
454 3,0 9 581 7,8 6 811 4,3 5 0783,639 551
,4 33 640 38,8 29 470 26,1 35 579 28,2 0 711
4
,5 32 688 26,7 44 214 27,7 3 9 9 0 9 2 7 , 9
66 211 29,6 523 0,6 1 938 1,72 061 1 , 6
962 6,8 3 431 2,8 2 9521,02 298 1,6 23 165
2,6
1
694
2,0 9 925 8,87 801 6,2 17 458 1 1 , 9
627 7,9 19 307 12,1 18 243 12,8 84 055 9,4
560 1,8 1 892 1,7 2 663 2,1 1 219 0,8 1 344
1 3 321 2,1 1 905 1,3 13 904 1,5 664 0 , 8
939 6,12 731 2,2 6 677 4,5 5 653 4,6 6 463
,1 10 737 7,5 39 864 4,4 69 0,1 862 0,8
202 1,01 370 0,9 539 0,4 121 0,1 742 0 , 5
905 0,513 075 15,1 8 081 7,2 12 170 9 , 7
3 262 9,0 8 069 ,6 9 941 6,2 19 459 13,6 84 057
9,4
86
792
100 112 986 100 126 105 1 0 0
47 137 100 122 560 100 159 350 1 0 0
30
Hilfe! --- Klinische Studien --- Studienteilnehmer --- 31
Zahl der Teilnehmer an klinischen Studien nach Region und Jahr
2005
Patienten
%
2006
Patienten
%
2007
Patienten
%
2008
Patienten
%
2009
Patienten
%
2010
Patienten
%
2011
Patienten
%
Westeuropa*
32 090
37,0
49 960
44,2
55 667
44,1
42 024
28,6
51 628
42,1
66 220
41,6
44 590
31,2
Kanada
3 477
4,0
3 919
3,5
6 231
4,9
4 454
3,0
9 581
7,8
6 811
4,3
5 078
3,6
USA
33 640
38,8
29 470
26,1
35 579
28,2
50 711
34,5
32 688
26,7
44 214
27,7
39 909
27,9
Afrika
523
0,6
1 938
1,7
2 061
1,6
9 962
6,8
3 431
2,8
2 952
1,8
2 298
1,6
Mittlerer Osten / Asiat.-Pazif. Raum
1 694
2,0
9 925
8,8
7 801
6,2
17 458
11,9
9 627
7,9
19 307
12,1
18 243
12,8
Australien / Neuseeland
1 560
1,8
1 892
1,7
2 663
2,1
1 219
0,8
1 344
1,1
3 321
2,1
1 905
1,3
GUS
664
0,8
6 939
6,1
2 731
2,2
6 677
4,5
5 653
4,6
6 463
4,1
10 737
7,5
69
0,1
862
0,8
1 202
1,0
1 370
0,9
539
0,4
121
0,1
742
0,5
Zentral- und Südamerika
13 075
15,1
8 081
7,2
12 170
9,7
13 262
9,0
8 069
6,6
9 941
6,2
19 459
13,6
insgesamt
86 792
Osteuropa (Nicht-EU-Staaten)
112 986
126 105
*EU / EWR / EFTA; Quelle: European Medicines Agency, 2013. Abweichungen zu 100 % sind rundungsbedingt.
147 137
122 560
159 350
142 961
32
Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Karl Broich --- 33
Herr Professor Broich, wir wollen über Transparenz und ethische Standards in der
Pharmaindustrie sprechen. Fast hätte ich unser Gespräch wegen eines Hexenschusses absagen müssen, aber dank eines Medikaments – dem Antirheumatikum Arcoxia
– sitzen wir jetzt doch hier. Kann ich davon ausgehen, dass mein Medikament auf
ethisch einwandfreie Weise getestet wurde?
Broich: Ja, das können Sie. Damit Arzneimittel bei uns zugelassen werden, müssen
die in Europa gültigen Standards eingehalten worden sein, selbst wenn ein Teil der
klinischen Studien in anderen Ländern durchgeführt wurde.
Die Pharmabranche erlebt derzeit eine ähnliche Entwicklung wie viele andere Industrien: Medikamente werden häufig in kostengünstigen Schwellenländern in Asien
oder Südamerika getestet. Warum sollte es bei Arzneimittelstudien ethischer zugehen als in Sweatshops für Hemden oder Schuhe?
„Das ist
keine
heile Welt“
Professor Karl Broich, Vizepräsident des Bundesinstituts für Arzneimittel
und Medizinprodukte (BfArM) über medizinische Studien in Schwellenländern,
­Pharma-Skandale und das unterschiedliche Körpergewicht von
Deutschen und Indern.
Interview: Bernhard Bartsch
Foto: Albrecht Fuchs
Natürlich beobachten wir diese Entwicklung genau und nicht ohne Sorge. Das
hat mit den ethischen Standards ebenso zu tun wie mit den wissenschaftlichen,
denn Studienergebnisse aus Asien sind nicht immer ohne Weiteres auf Europa
übertragbar. Aber weil uns die Herausforderungen bewusst sind, prüfen wir mit
Blick auf die Patientensicherheit sehr genau und arbeiten eng mit anderen Ländern
zusammen.
Kann ich als Verbraucher nachvollziehen, wo und wie mein Medikament getestet
worden ist?
Bisher ging das nicht ohne Weiteres, aber neuerdings haben wir gesetzliche Rege­
lungen, die genau das ermöglichen. Pharmakonzerne müssen jetzt innerhalb von
sechs Monaten nach der Zulassung eines Medikaments alle klinischen Studien in
einer Datenbank veröffentlichen. Dort kann jeder einsehen, wo die Tests gemacht
wurden, wie viele Patienten teilgenommen haben, nach welchen Kriterien getestet
wurde und wie die Ergebnisse waren. Das ist ein großer Fortschritt, um Transpa­
renz und Vertrauen zu schaffen.
Das ist auch nötig, denn dass sich Schwellenländer wie Indien, China, Russland
und Brasilien als Pharmastandorte etablieren, ist vielen Verbrauchern nicht geheuer.
Immer wieder gibt es Berichte über Arzneimittel-Skandale. Warum geht die Pharmaindustrie dieses Risiko ein?
In den Schwellenländern entstehen derzeit große neue Märkte. Die pharmazeuti­
sche Industrie investiert natürlich dort, wo das größte Wachstum ist. Wirkstoffe
werden heute schon überwiegend in Asien produziert.
Länder wie Indien und China knüpfen die Zulassung von Medikamenten an die Bedingung, dass auch ein Teil der klinischen Tests in ihren Ländern stattfindet.* In westlichen
Gesellschaften wird es schwieriger, Menschen für Tests zu gewinnen. Menschenrechtsgruppierungen sprechen von „Pharmakolonialismus“. Ist das angemessen?
Nein, das hat mit der Realität wenig zu tun. Zunächst einmal sind die USA und
Europa noch immer die größten Märkte der Pharmaindustrie, und viele Tests wer­
den nach wie vor hier gemacht. Das verlangen wir als Zulassungsbehörde auch,
denn um eine Arzneimitteltherapie beurteilen zu können, müssen wir natürlich
sicher sein, dass sie auch bei unserer Bevölkerung wirksam ist.
3
* Zahl der Teilnehmer an klinischen Studien
nach Regionen und Jahr siehe Seiten 28–31.
34
Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Karl Broich --- 35
Funktioniert der menschliche Körper nicht überall gleich?
Im Prinzip ja, aber trotzdem gibt es Unterschiede. Zum Beispiel das Gewicht: Ein
Inder ist im Durchschnitt viel leichter als ein Deutscher. Auch Ernährungs­
gewohnheiten oder andere Behandlungsbedingungen spielen eine Rolle. Schon
zwischen Patienten in den USA und Deutschland können erhebliche Unterschiede
auftauchen.
Zum Beispiel?
Für Fibromyalgie, eine sehr schmerzhafte Erkrankung des Muskel- und Skelett­
systems, sind in den USA Medikamente auf dem Markt, die wir in Europa nicht
zugelassen haben. Denn als wir uns die Ergebnisse der klinischen Studien genau
angeschaut haben, stellte sich heraus, dass die Tests von US-Patienten dominiert
wurden. Bei denen konnte man eine positive Wirksamkeit nachweisen, bei euro­
päischen Patienten dagegen nicht. Unsere Abwägung von Nutzen und Risiken für
europäische und deutsche Patienten war deshalb negativ.
Wenn immer weniger Amerikaner und Europäer an Testreihen teilnehmen, werden
solche Unterschiede in Zukunft vielleicht gar nicht mehr auffallen.
Bisher sind bei uns zum Glück noch genügend Patienten zu Studien bereit. Aber
wir müssen daran arbeiten, dass das so bleibt. Dafür muss man Patienten erklären,
wo der Nutzen von medizinischen Anwendungstests liegt, nicht nur für die Allge­
meinheit, sondern auch für sie selbst. Sie haben die Chance, eine neue, bessere
Behandlung zu bekommen. Und unsere Sicherheitsstandards sind so hoch, dass
dabei niemand ein großes Risiko eingeht.
Sehr sicher heißt allerdings auch sehr teuer. In Schwellenländern sollen die Kosten
für Testreihen rund 40 Prozent niedriger sein. Bei drei- bis sogar vierstelligen Millionenbeträgen, die in die Entwicklung eines neuen Medikaments fließen können, bedeutet das enorme Ersparnisse.
Dass man in Asien oder Südamerika viel preiswerter testen kann, liegt auf der
Hand. Deswegen werden etwa Tests für Generika inzwischen überwiegend in
Schwellenländern gemacht. Denn da geht es nicht mehr um die primäre klinische
Wirksamkeit, sondern um die Frage, ob Wirkstoff A genauso verstoffwechselt wird
wie Wirkstoff B.
Das bringt uns zurück zu den ethischen Standards. Zulassungsstudien sind heute
weltweite Unternehmungen mit gewaltigen Budgets und Dutzenden Dienstleistern.
Gibt es da nicht jede Menge Möglichkeiten für Korruption und Manipulation?
Gerade weil es um viel Geld geht, haben die pharmazeutischen Unternehmen ein
hohes Eigeninteresse, unsere strengen Zulassungsanforderungen zu erfüllen. Dazu
gehören einerseits die wissenschaftlichen Standards, etwa die richtige Auswahl von
Patienten und Beurteilungsinstrumenten für die jeweiligen Krankheitsbilder, und
andererseits die Einhaltung der ethischen Standards, die in der Deklaration von
Helsinki festgehalten sind.
Die Deklaration von Helsinki schreibt vor, dass im besten Interesse der Testpatienten
gehandelt und diese über mögliche Risiken adäquat aufgeklärt werden müssen.
3
3
36
Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Karl Broich --- 37
Ist das in Ländern wie Indien, wo viele Menschen Analphabeten sind, überhaupt zu
gewährleisten?
Ja, das muss in jedem Fall sichergestellt sein. Die World Medical Association passt
die Deklaration von Helsinki auch immer weiter an, um diesen Umständen Rech­
nung zu tragen. Medikamente kommen bei uns nur nach einer intensiven Prüfung
durch die Zulassungsbehörde und eine Ethikkommission auf den Markt.
hat es ein Abkommen mit Brasilien gegeben, auch nach China haben wir viele
Kontakte. Wenig Austausch gibt es bisher leider mit Indien, aber über die Europäi­
sche Arzneimittelagentur (EMA) treiben wir auch das gerade voran.
Indien stand in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik, zum Beispiel wegen
eines Impfskandals der gemeinnützigen Organisation Path. Die hat 2009 mit Geld der
Bill und Melinda Gates Stiftung eine Beobachtungsstudie gestartet, bei der Tausende
„Wir wünschen uns,
dass klinische
Prüfungen wieder
verstärkt in Europa
durchgeführt und
nicht weiter
verlagert werden.“
Wie muss ich mir das vorstellen? Ein Wirkstoff wird im Labor eines Pharmaunter-
Mädchen gegen die Gebärmutterhalskrebs verursachenden Papillomaviren geimpft
nehmens entwickelt, beispielsweise in Deutschland. Dann wird er in aller Welt
wurden. Sieben Probandinnen starben, und obwohl kein direkter Zusammenhang zu
­getestet, und nach mehreren Jahren liegt beim BfArM ein riesiger Stapel mit Unter-
der Impfung hergestellt werden konnte, kam heraus, dass Ärzte und Behörden ethi-
lagen in der Post. Wie können Sie nachvollziehen, was auf dem Weg dorthin alles
sche Richtlinien grob missachtet hatten. Die minderjährigen Mädchen wurden etwa
passiert ist?
ohne Zustimmung ihrer Eltern geimpft. Ist es da nicht verständlich, dass Menschen-
Wir sehen die Studien nicht erst am Ende, sondern begleiten sie von Anfang an.
Jede Testreihe wird von uns oder einer anderen nationalen Behörde genehmigt.
Und unsere Prüfer können den Verlauf vor Ort kontrollieren.
rechtsorganisationen Alarm auslösen?
Doch, das ist natürlich ein Skandal. So etwas darf einfach nicht passieren.
Indiens Regierung hat nie einen vollständigen Untersuchungsbericht vorgelegt, an-
Wie häufig finden Sie Regelverstöße?
geblich aus Angst um den Ruf des „Pharmastandorts Indien“. Internationale Medizin-
Das ist keine absolute Ausnahme. Kleinere Probleme gibt es häufiger, zum Beispiel
falsch geführte Protokolle. Das kann dann zum Abbruch einer Studie führen. Tat­
sächliche Fälschungen, etwa erfundene Patienten, sind aber sehr selten.
konzerne investieren dort besonders gern, weil es gut ausgebildete, Englisch spre-
Wie viele Prüfanträge bearbeitet das BfArM im Jahr?
In den vergangenen zehn Jahren sind in Deutschland mehr als 10 000 Studien durch­
geführt worden. Damit ist Deutschland eines der aktivsten Länder in der Durchfüh­
rung klinischer Studien. Für uns im BfArM heißt das um die 1000 Anträge zu neuen
und 800 bis 900 Sicherheitsberichte aus laufenden Prüfungen pro Jahr.
chende Ärzte gibt und viele Millionen Menschen, die für sehr wenig Geld zu Studien
bereit sind.
Natürlich sind sich auch die großen Pharmaunternehmen dieser Probleme be­
wusst. Sie haben deshalb eigene Auditoren, die ihre Studien genau überwachen
und dokumentieren. Aber das Vertrauen, das durch solche Skandale verspielt wird,
lässt sich nur schwer zurückgewinnen.
Was lässt sich daraus lernen?
Dass es gut ist, dass wir in Europa strenge Regelungen haben. Unser Arzneimittel­
recht ist auch aus Fehlern entstanden, etwa dem Contergan-Skandal. Auf unsere
heutigen Standards können wir sehr stolz sein, deswegen müssen wir dafür sorgen,
dass sie eingehalten werden.
Wie viele Prüfer haben Sie dafür?
Etwa 30.
30 Prüfer für fast 2000 Anträge und Sicherheitsberichte? Und da soll man sich keine
Sorgen machen?
Wenn Sie zehn Jahre in die Zukunft blicken: Was wäre Ihr Wunschszenario?
Wir wünschen uns durchaus Verstärkung. Die Studien werden regional komplexer,
deshalb werden auch die Inspektionen immer aufwendiger. Da müssen wir in der
Tat hinterher sein, das ist keine heile Welt.
Volle Transparenz bei der Durchführung und Auswertung klinischer Studien nach
unseren wissenschaftlichen und ethischen Prinzipien und ein weltweit funktionie­
rendes Netzwerk von Inspektoren der unterschiedlichen Behörden, die sich eng
austauschen und sicherstellen, dass unsere hohen Standards überall eingehalten
werden.
Sie brauchen also mehr Personal.
Das wäre das eine – und das gilt eigentlich für alle europäischen Behörden. Das
andere ist, dass wir uns wünschen, dass klinische Prüfungen wieder verstärkt in
Europa durchgeführt und nicht weiter verlagert werden. Wir haben hier sehr hohe
Standards, die wir schützen sollten.
Prof. Dr. Karl Broich, 54, ist Vizepräsident
des Bundesinstituts für Arzneimittel und
­Medizinprodukte (BfArM) in Bonn. Der
Was ist Ihre Horrorvorstellung?
Mediziner arbeitete 15 Jahre als Arzt für
Dass klinische Prüfungen nur noch an den kostengünstigsten Standorten durchge­
führt werden.
Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie
an Universitätskliniken in Bonn und Halle.
2000 wechselte er zum BfArM, der medi­
Der Wunsch, dass Arbeit zurück in die teuren Industrienationen verlagert wird, hat
Und was ist realistisch?
zinischen Zulassungs- und Kontrollbehörde
sich bisher in keiner Branche erfüllt. Um die Standards global zu sichern, müssen die
Wie immer wird die Realität am Ende dazwischenliegen. Deshalb engagieren wir
uns so sehr, damit unsere Patienten auch in Zukunft auf Wirksamkeit und Sicher­
heit gut geprüfte Arzneimittel erhalten. 7
des Bundesministeriums für Gesundheit.
Schwellenländer am gleichen Strang ziehen. Wie gut ist die Zusammenarbeit?
Mit den westlichen Behörden und der WHO arbeiten wir schon lange sehr eng
zusammen. Mit den Schwellenländern bauen wir das gerade aus. Vergangenes Jahr
3
Seit 2009 ist Broich stellvertretender
Institutsleiter.
38
Hilfe! --- Klinische Studien --- Seltene Erkrankungen --- 39
Ausnahmsweise?
Strenge Gesetze machen Medikamente wirksamer
und sicherer. Doch Regeln sind immer nur so gut wie
der Umgang mit den Ausnahmen. Patienten mit
extrem seltenen Erkrankungen wissen das am besten.
Text: Sascha Karberg
Geduldig und ein wenig schüchtern
sitzt Alina* auf dem weißen Tisch im
kleinen Behandlungszimmer der Uniklinik Münster. „5,3 Kilo haben wir schon
geschafft“, sagt der Vater stolz, obwohl
das für ein zweijähriges, 67 Zentimeter
großes Mädchen alles andere als ein gesundes Gewicht ist. Aber Alina ist nur
auf dem Papier zwei Jahre alt. Sie ist ein
Kleinkind mit dem Körper eines Greises. Rot und blau scheinen die Adern
durch die dünne Haut des kahlen Schädels, die kleinen Finger sind wie nach
langer Gicht gekrümmt, jeder Atemzug
scheint ein Kraftakt für den zerbrechlich
wirkenden Körper zu sein. Alina hat
Progerie, eine Erbkrankheit, die Kinder
so schnell altern lässt, dass sie, von
wenigen Ausnahmen abgesehen, bes­
tenfalls das Teenager-Alter erreichen.
Weltweit leben nur rund 100 Kinder mit Progerie. Für eine so extrem
­seltene Krankheit stehen die Chancen
auf Diagnose oder Heilung besonders
schlecht. Weder Forschungsinstitutionen
noch Pharmafirmen stecken nennenswerte Ressourcen in ihre Erforschung
oder gar in die Entwicklung von Medikamenten. Und das nicht etwa wegen
des zu kleinen Marktes: Es finden sich
schlicht nicht genug Patienten für aussagekräftige Therapiestudien.
Zwar sind in Deutschland insgesamt
etwa vier Millionen Menschen von seltenen Krankheiten betroffen, doch es
sind schätzungsweise 7000 bis 8000
verschiedene, unter denen sie leiden –
darunter solche, bei denen nur alle paar
Jahre ein Fall diagnostiziert wird. Zu
den bekanntesten „Orphan Diseases“,
den Waisenkrankheiten, gehört etwa
die Mukoviszidose, eine lebensbedroh­
liche Stoffwechselkrankheit. Obwohl sie
mit etwa 8000 Fällen hierzulande deut*Name von der Redaktion geändert
lich häufiger vorkommt als eine „Ultra
Orphan Disease“ wie Progerie, werden
selbst diese Patienten mit ihren Leiden
weitgehend allein gelassen: Ärzte kennen
sich zu wenig aus, die Pharmaindustrie
kennt kaum heilende Medikamente, die
Krankenkassen übernehmen nicht alle
Pflege- oder Therapiekosten. Und die
Gesetze, die in Deutschland klinische
Studien und den Einsatz von Arzneien
definieren, machen kaum Ausnahmen
vom strengen Regelwerk. Etwa für den
Fall, dass Mediziner zur Behandlung
Medikamente einsetzen wollen, die noch
nicht zugelassen sind.
Eine unter vier Millionen
Dass irgendetwas nicht stimmt, ahnt
Alinas Vater schon kurz nach ihrer Geburt. Die lederartige Haut am Bauch
des Säuglings, die kleinen, dünnen Ohrmuscheln, das vogelartig spitze Gesicht
mit großer Stirn, schmaler Nase und
fliehendem Kinn. Und dann Alinas Mühe,
auch nur ein paar Gramm zuzunehmen.
Immer wieder muss das Mädchen ins
Krankenhaus und per Magensonde ernährt werden. „Keiner konnte uns sagen,
was mit ihr los ist“, sagt der Vater. Ratlos googelt er Hunderte von Krankheitsbildern, durchsucht das Netz nach
irgendeiner hilfreichen Idee. Dort liest
er auch das erste Mal von Progerie.
Aber warum sollte ausgerechnet seine
Tochter eine Krankheit haben, mit der
nur eines von vier Millionen Kindern
geboren wird?
Als die Ärzte nach sechs Monaten
noch immer keine Diagnose stellen können, drängt der Vater zu einem Gentest
auf Progerie. Er fällt negativ aus. Der
Vater lässt nicht locker, zahlt 1400 Euro
für einen zweiten, deutlich aufwendi-
Weltweit leben nur
rund 100 Kinder
mit Progerie. Für eine
so extrem seltene
Krankheit stehen die
Chancen auf Diagnose
oder Heilung
besonders schlecht.
40
geren und präziseren Test. Und tatsächlich: „Alina hat eine ungewöhnliche, besonders schwere Genmutation, wodurch
die Progerie beschleunigt wird“, sagt
Thorsten Marquardt, Spezialist für seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Münster und seit der Diagnose
Alinas Arzt. „Normalerweise wird Progerie so früh noch gar nicht diagnostiziert, aber Alina sah schon im ersten
Lebensjahr aus wie andere ProgerieKinder erst mit sechs Jahren.“
Für die meisten seltenen Krankheiten kennt die Wissenschaft die Ursachen noch nicht. Anders bei der Progerie, deren Auslöser vor gut zehn Jahren
ein Team von Forschern herausfand,
dem die Bostoner Biologin Leslie Gordon angehörte, selbst Mutter eines –
jüngst verstorbenen – Progerie-Kindes:
Ein Gendefekt lässt ein fehlerhaftes Protein entstehen, Progerin genannt, das
den Zellkern brüchig macht, sodass die
Zellen schneller sterben als neue nachwachsen können.
Mithilfe dieses Wissens fand Gordon ein Präparat, das die Entstehung
des Progerins in Tierversuchen hemmen konnte: Lonafarnib. Merck & Co.,
in Deutschland MSD Sharp & Dohme,
hatte den Wirkstoff in den Neunzigerjahren erfolglos gegen Krebs getestet
und eigentlich schon eingemottet. Unterstützt von einer Stiftung, der Proge­
ria Research Foundation, und großem
Medienrummel sammelte Gordon einige Millionen Dollar für einen Test des
Medikaments an immerhin 25 Progerie-Kindern. Seit Ende 2012 steht fest:
Lonafarnib kann die Entstehung von
Progerin drosseln und die Krankheitssymptome zumindest lindern.
Thorsten Marquardt wollte seiner
kleinen Patientin das Medikament so
Hilfe! --- Klinische Studien --- Seltene Erkrankungen --- 41
schnell wie möglich verabreichen: „Die
Krankheit schreitet so schnell voran,
dass wir keine Zeit zu verlieren haben.“
Aber Lonafarnib hat keine Zulassung,
weder in den USA noch in Deutschland. Darf also MSD die Substanz überhaupt an Marquardt herausgeben? Oder
muss Alina warten, bis die Wirksamkeit
und die Nebenwirkungen so gründlich
untersucht sind, wie es das Arzneimittelgesetz vorschreibt, damit die Behörden grünes Licht geben können?
Keine Lösung ohne Problem
„Patienten mit
seltenen Erkrankungen
werden ganz
klar benachteiligt.“
Thorsten Marquardt,
Uniklinik Münster
Um unvorhergesehene Nebenwirkungen
zu verhindern, dürfen in Deutschland
Arzneimittel nur verschrieben werden,
wenn sie nach einem strengen Prüfverfahren vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zugelassen
wurden. Eine sinnvolle Praxis und bit­
tere Lehre unter anderem aus den
schweren Missbildungen Neugeborener
aufgrund – nach heutigem Stand der
Wissenschaft – ungenügender Tests des
Contergan-Medikaments Thalidomid.
Das weiß auch Thorsten Marquardt,
aber er weiß ebenso: „Patienten mit seltenen Erkrankungen werden von diesem Verfahren ganz klar benachteiligt.“
Sie bewegen sich in einem Vakuum.
Meist gibt es für sie kein Medikament,
weil die Entwicklung angesichts der geringen Fallzahlen viel zu teuer und langwierig wäre. Und wo eine existierende
Arznei eventuell Linderung verschaffen
könnte, ist sie im Zweifel nicht zugelassen,
weil für die angestrebte Anwendung die
nötigen klinischen Tests fehlen.
Eine Ausnahmeregelung im Arznei­
mittelrecht soll Patienten wie Alina den
Zugang zu solchen Medikamenten ermöglichen. Entschließt sich ein Arzt,
„Der Gesetzgeber
quält sich mit
dem Abwägen von
­Gesamtsicherheit
und extremem
Einzelschicksal.“
Robert Gastpar, MSD
e­ inen individuellen Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament durchzuführen, kann er sich beim
Hersteller um eine Ausnahmeregelung,
den „compassionate use“ (also eine Anwendung aus Mitgefühl) bemühen,
­vorausgesetzt, es handelt sich um eine
lebensbedrohliche oder zu einer schweren Behinderung führende Erkrankung.
Anfang Januar 2013 wendet sich
Thorsten Marquardt an MSD Deutschland, schildert Alinas Fall und bittet um
die Bereitstellung von Lonafarnib. Für
die Firma ist das eine ungewöhnliche,
recht komplizierte Situation, da die
Substanz in keinem Land der Welt zugelassen und damit „nicht verkehrsfähig“
ist. Während die Abgabe von Arzneimitteln durch Gesetze bis ins Detail
­geregelt ist, sei die Freigabe von Lona­
farnib nicht ohne Weiteres möglich,
sagt Robert Gastpar, Clinical Research
Manager bei MSD.
Tatsächlich existieren in Deutschland erst seit dem 14. Änderungsgesetz
zum Arzneimittelgesetz aus dem Jahr
2009 und der Arzneimittelhärtefallverordnung von 2010 Vorschriften, wie
sich die Hersteller von Medikamenten
in solchen Fällen verhalten sollen. Das
zeige, dass sich auch der Gesetzgeber
sehr schwer damit tue, Ausnahmen zu
definieren, sagt Gastpar. „Er quält sich
mit dem Abwägen von Gesamtsicherheit
und extremem Einzelschicksal.“
Dass Alinas Fall die Grundvoraussetzung
für ein „compassionate use“-Programm
erfüllt, ist schnell klar. Aber Gastpar
muss prüfen und dokumentieren, ob ein
Einsatz dieses Medikaments bei dem
Mädchen wirklich sinnvoll ist. „Und die
Datenlage ist ziemlich dürftig.“ Zwar sei
die Bostoner Studie mit Lonafarnib
positiv verlaufen. Aber die Krankheitsbilder der dort behandelten Patienten
seien sehr unterschiedlich gewesen, sodass die Ergebnisse bestenfalls als Hinweis zu verstehen seien, dass Lonafarnib funktionieren könnte. Daneben ist
der Wirkstoff bisher vor allem an erwachsenen Krebspatienten getestet worden. „Deshalb ist es unsere Pflicht zu
fragen, ob wir dem Kind tatsächlich
etwas Gutes tun, wenn wir ihm dieses
Medikament zur Verfügung stellen“,
sagt der Forscher.
Nicht nur bei MSD, auch bei anderen Herstellern landen immer wieder
Anfragen nach Medikamenten, von denen sich verzweifelte Patienten Heilung
versprechen. Nicht selten geht es um
Arzneien, für die es keine Hinweise gibt,
dass sie ein Leiden lindern könnten,
sondern, ganz im Gegenteil, die Wahrscheinlichkeit recht hoch ist, dass es zu
gefährlichen Nebenwirkungen kommt.
„Die Regularien sollen Patienten davor
schützen, dass sie aus falscher Hoffnung
oder aufgrund falscher Versprechen Medikamente bekommen, die ihnen mehr
schaden als nützen“, sagt Gastpar.
Nach Rücksprache mit den Entwicklern des Medikaments und gründlicher
Sichtung aller zur Verfügung stehender
Daten entscheidet sich MSD, Lonafarnib für Marquardts Patientin aus den
USA nach Deutschland zu schicken.
Auch der Transport ist mühsam und
dauert. Bis die Einfuhr der fremden che-
mischen Substanz beim Zoll geregelt ist,
vergehen Wochen. Dann endlich, im
September 2013, wird in der Uniklinik
Münster ein umzugskartongroßes Paket
mit zwölf Flaschen à 30 Kapseln Lona­
farnib angeliefert – neun Monate nach
Thorsten Marquardts erster Anfrage.
Sträflich lange für ein Kind, das ungeheuer schnell altert und eine Lebenserwartung von 14 Jahren hat? So lange,
wie es eben dauert, nach bestem Wissen und Gewissen zu prüfen und abzuwägen? „Ob Arzt, Ethikkommission des
Krankenhauses, Pharmafirma oder Zoll:
Alle brauchen Zeit, um den Einzelfall zu
prüfen“, sagt Gastpar. Denn was passiert, wenn die riskante Behandlung nicht
anschlägt oder gar schadet? „Dann ist
man ganz schnell in der Defensive und
muss seine Entscheidung gut dokumen­
tieren und begründen können.“
Die Rollen sind klar verteilt
In welche Situation ein Unternehmen
geraten kann, das sich gegen die Herausgabe eines noch experimentellen
Medikaments entscheidet, zeigt ein aktueller Fall aus den USA: „Firma verweigert sterbendem Kind Medikament“
titelt CNN. „Firma weigert sich, siebenjährigem Jungen lebensrettende Arznei
zu geben“, heißt es bei FoxNews. Dutzende andere titelten ähnlich.
Der Hintergrund: Die Biotech-Firma
Chimerix aus North Carolina entwickelt
ein Medikament namens Brincidofovir,
das sich gerade in der letzten, dritten
Phase der klinischen Prüfung befindet.
­
Die zuständige US-Behörde hat den
Wirkstoff noch nicht zugelassen, obwohl
die bisherigen Studienergebnisse eine
gute Verträglichkeit und eine Wirkung
gegen Virusinfektionen nahelegen.
42
Der siebenjährige Josh Hardy aus Virginia leidet an einer schweren Virusinfektion, weil sein Immunsystem aufgrund
einer Knochenmarktransplantation und
Chemotherapie gegen eine Krebserkran­
kung geschwächt ist. Die verzweifelten
Eltern hoffen seitdem auf Chimerix’
Brincidofovir – und haben die Medien
mobilisiert. Die Firma soll das Medikament unter „compassionate use“ herausgeben, auch wenn es noch nicht
­zugelassen ist. Das lehnt CEO Kenneth
Moch ab, mit ausdrücklichem Bedauern, nur spielt das in der öffentlichen
Aufregung keine Rolle, schließlich lässt
sich in diesem Drama allzu deutlich Gut
und Böse imaginieren.
Die Grenzen verschwimmen
Den Schwarzen Peter hat das Unternehmen, doch wenn Chimerix für Josh eine
Ausnahme macht, gibt es Hunderte
weiterer Patienten mit ähnlichem Schicksal, die der Hersteller ebenfalls versorgen müsste. Auf eigene Kosten. Aber
hier handelt es sich nicht um einen
milliardenschweren Konzern, sondern
­
um ein junges Unternehmen mit gut 50
Angestellten, das seit seiner Existenz
noch keinen Cent Gewinn gemacht hat.
Und abgesehen davon, geht es auch
CEO Moch um den Schutz eines Menschenlebens.
Natürlich mag niemand von Geld
oder Regeln reden, wenn er ein sterbendes Kind vor Augen hat. Dass verzweifelte Patienten und Angehörige nach
jedem Strohhalm greifen, ist ebenso
­
verständlich. Gerade deshalb existieren
die Regeln für das Testen und Zulassen
von Medikamenten. Denn der todkranke Patient würde auch die Arznei wollen, die nur im Tierversuch getestet
Hilfe! --- Klinische Studien --- Seltene Erkrankungen --- 43
wurde. Oder von der sich Grundlagenforscher nach Laborexperimenten viel
versprechen. Wo es um derart komplizierte Entscheidungen geht, verschwimmen die Grenzen von Gut und Böse.
Auch Thorsten Marquardts Anfragen nach eventuell lebensrettenden,
noch nicht zugelassenen Medikamenten werden gelegentlich abgelehnt. Der
Mediziner hat dennoch Verständnis für
das Dilemma der Pharmaunternehmen.
„Wenn überall auf der Welt Ärzte mit
unterschiedlicher Expertise Patienten
mit Medikamenten aus dem Teststadium behandeln, kann das dazu führen,
dass Nebenwirkungen auftreten, die
dann die Zulassung des Medikaments
gefährden oder schwieriger machen.“
Was natürlich auch nicht im Interesse
des Gros der Patienten wäre. Ganz abgesehen davon, dass die Folgen für den
Einzelnen nicht abzusehen wären.
Wie viele Ausnahmen also kann
sich das System leisten? Wie weit darf
ein Arzt gehen im Versuch, ein Patientenleben zu retten? Schwierige Frage,
­findet Marquardt und erzählt von einer
seltenen Krankheit, die Kinder fast vollständig lähmt und ans Bett fesselt: Multipler Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel. In Deutschland werde alle zwei Jahre
ein Kind mit dieser Erkrankung geboren.
Keine Chance also, jemals „ordentliche“
Medikamentenstudien durchzuführen.
Deshalb entschieden sich vor einigen Jahren die besten Stoffwechselmediziner Europas zu einem höchst
­ungewöhnlichen Schritt: Sie kauften die
Chemikalie BetaHydroxybuttersäure
und verabreichten sie den Kindern.
Nach einer Woche, erzählt Marquardt,
der die Geschichte nur aus der Fachliteratur kennt, konnten die kleinen Patienten die Finger bewegen, dann den Arm,
Das Dilemma
zwischen Individuum
und Allgemeinwohl
lässt sich nicht auflösen.
Nicht von Forschern,
nicht von Ethikern,
nicht von Herstellern,
nicht von Gesetzgebern
und nicht von Ärzten.
bald sind sie Dreirad gefahren und gelaufen. „Das war gegen alle Regeln, es
war keine kontrollierte Studie und hätte
auch schiefgehen können“, sagt der
Mediziner. Als er die Geschichte bei
­einer Veranstaltung des Medizinischen
Dienstes der Krankenversicherung Westfalen-Lippe erzählte, empörten sich die
Zuhörer. Wie könne man nur? Marquardt hielt dagegen. Soll er wirklich
ein Kind sterben lassen, ohne eine risikoreiche Behandlung zu versuchen?
Das Dilemma zwischen Individuum
und Allgemeinwohl lässt sich nicht auflösen. Nicht von Forschern, nicht von
Ethikern, nicht von Herstellern, nicht
von Gesetzgebern und nicht von Ärzten. Auch die besten Experten können
ohne klinische Studien nicht voraussehen, ob ein Medikament wirklich helfen
kann und welche Risiken mit seiner Einnahme verbunden sind. Ob Josh Hardy,
der auf Brincidofovir hofft, oder Krebskranke, die sich Rettung von neuen
Wirkstoffen in den Pipelines der Pharmafirmen versprechen – das System
nimmt in Kauf, dass sie sterben, bevor
der Prüfprozess abgeschlossen ist. Damit Tausende Patienten nach ihnen geprüfte und hoffentlich sichere Medika-
mente bekommen. Was das im Einzelfall
bedeutet, wird erst durch Schicksale wie
Joshs deutlich – der das Medikament
am Ende übrigens doch noch von Chimerix bekommen hat. Ob es hilft oder
schadet, wird sich zeigen.
Die Regel ist verbesserbar
Der Fall von Alina ist anders, denn sie
leidet an Progerie – und fällt als Patientin mit einer so seltenen Krankheit von
Anfang an aus dem System. Es gibt
kaum Studien, an denen sie teilnehmen
könnte, es werden kaum Forschungsprogramme initiiert. Und es ist zynisch,
wenn der Gesetzgeber diesen Patienten
ein Medikament verweigert, weil es
seine Unbedenklichkeit und Wirksam­
keit noch nicht in Tests bewiesen hat –
Tests, die niemand durchführen wird,
schon weil es viel zu wenige Patienten
zum Testen gibt.
Die „compassionate use“-Regelung
löst den ethischen Konflikt nicht auf.
Im Gegenteil, der Gesetzgeber lässt die
Betroffenen weitgehend allein. Er stellt
den Chef einer Biotech-Firma vor die
Wahl, entweder ein Kind sterben zu lassen oder sein Unternehmen zu riskieren
– und damit die Entwicklung von Medikamenten zu gefährden, die kranken
Kindern helfen sollen. Einem Arzt wie
Thorsten Marquardt bürdet er alles
­ isiko auf, das mit dem notgedrungen
R
unkonventionellen Einsatz experimenteller Medikamente einhergeht. Und
den Patienten überlässt er mehr oder
weniger zufälligen Entscheidungen von
Firmen, Ärzten und Krankenkassen. Es
ist der Umgang mit den Ausnahmen,
der zeigt, wie gut eine Regel ist.
Alina hatte Glück. Sie hat das Medikament bekommen, und es scheint
zu wirken. „Sie ist deutlich aktiver geworden“, sagt der Vater. Sie hat angefangen zu krabbeln und kann sich länger auf den Füßen halten. Ein Jahr lang
war ihr Gewicht unverändert – seit
Therapiebeginn hat sie gut 500 Gramm
zugenommen.
Seltene Waisen
einen nationalen Aktionsplan
tenen Krankheit zu suchen,
rund 69 (Stand November
10 000 Menschen eine Krank-
Wenn weniger als fünf von
für Menschen mit Orphan
ist damit noch keine Therapie
2013) Orphan Drugs zugelas-
heit haben, gilt sie als selten.
­Diseases verabschiedet. Darin
auf den Weg gebracht. Des-
sen worden.
Nach dieser Berechnung lei-
werden Maßnahmen zu einer
halb hat der Gesetzgeber in
den allein in Deutschland vier
besseren und schnelleren
der EU im Jahr 2000 (in den
heiten wie Progerie, Ultra-
Millionen Menschen an einer
­Diagnose versprochen und bis
USA schon 1983) die soge-
Orphan-Diseases, bei denen
der etwa 7000 bis 8000 selte-
2018 bis zu 27 Millionen Euro
nannte Orphan-Drug-Regelung
es mitunter nur eine Handvoll
nen Erkrankungen, die in
für Forschung bereitgestellt.
geschaffen: Mit ihr werden
Patienten pro eine Million
der Regel schwer bis lebens-
Zum Vergleich: Für die Erfor-
Arzneimittelherstellern ein
­Einwohner gibt, werden mit
bedrohlich sind.
schung der Zuckerkrankheit
­erleichtertes und je nach Un-
diesem Programm jedoch
Diabetes hat das BMBF einem
ternehmensgröße gebühren­
nicht erreicht – schon weil aus
einiges für Patienten mit
einzigen Münchener Institut
reduziertes oder -freies Zulas-
Mangel an Patienten und For-
­seltenen Erkrankungen getan.
bis 2018 fast 400 Millionen
sungsverfahren und exklusive
schungsdaten keine statistisch
Ende August 2013 hat zum
Euro an Forschungsmitteln zur
Vermarktungsrechte für das
aussagekräftigen Studien
Beispiel das Bundesministeri-
Verfügung gestellt.
ausgewiesene therapeutische
­aufgesetzt werden können, die
Anwendungsgebiet für zehn
über Einzelfallstudien hinaus-
Auf den ersten Blick wird
um für Gesundheit (BMG)
Aber selbst wenn For-
So extrem seltene Krank-
unter Einbindung des Bundes-
scher Geld bekommen, um
Jahre in Aussicht gestellt. Seit
gehen und eine reguläre Zu-
forschungsministerium (BMBF)
nach den Ursachen einer sel-
Inkrafttreten sind in der EU
lassung ermöglichen würden.
44
Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Günter Henze --- 45
Das geht besser
Die Behandlung von Blutkrebs bei Kindern ist eine deutsche Erfolgsgeschichte.
Kaum ein anderes Land der Welt erzielt so hohe Heilungsraten wie wir; in einigen
Bereichen ist Deutschland weltweit Spitze. Für den Kinderonkologen und
Leukämie-Experten Günter Henze ist das auch ein Resultat klinischer Studien.
Interview: Ralf Grötker
Foto: Anne Schönharting
Henze: Nein, leider nicht. Die Diagnose ist für die kleinen
Patienten und ihre Familien der Beginn einer sehr schlimmen
und schweren Zeit. Wir können heute auch noch nicht jede
Krebsart heilen. Aber es stimmt: In der Behandlung von Leukämien sind wir sehr weit vorangekommen.
ren, als die Chemotherapie immer öfter zusätzlich zu den
ausschließlich lokalen Maßnahmen wie Chirurgie und Strahlentherapie eingesetzt wurde, handelten wir nach dem sehr
simplen Prinzip „Mehr hilft mehr“. Aber wir merkten bald,
dass unsere Therapien einen hohen Preis hatten: Die Nebenwirkungen waren in Teilen enorm und die Spätfolgen für die
kleinen Patienten weitgehend unbekannt. Außerdem brauchte offenbar nicht jedes Kind die gleiche intensive Therapie.
Wir mussten unser System also verfeinern.
Ein Erfolg der Pharmaforschung?
Warum konnten Sie nicht einfach von bekannten Größen und
Natürlich spielen immer auch neue Wirkstoffe eine Rolle. Die
großen Fortschritte in diesem Bereich haben wir allerdings
fast ausschließlich mit Medikamenten erreicht, die schon
­lange auf dem Markt waren.
bewährten Verfahren für Erwachsene ausgehen? Die Dosie-
Herr Professor Henze, noch vor 40 Jahren starben neun von
zehn leukämiekranken Kindern, heute liegen ihre Heilungschancen bei mehr als 80 Prozent. Hat die Diagnose Krebs
­ihren Schrecken verloren?
Wie war das möglich?
Wir haben einfach gelernt, sie besser zu nutzen, was Timing,
Dosierung und die Aufeinanderfolge von Therapie-Elementen anging. Wir wissen heute schlicht mehr. Vor 30, 40 Jah-
rungen für Kinder ließen sich doch kalkulieren.
Das lassen sie sich eben leider nicht. Man muss sich nur einmal vor Augen halten, dass ein Kind, das mit 50 Zentimetern
Länge auf die Welt kommt, im ersten Lebensjahr 25 Zentimeter wächst. Das sind 50 Prozent! Die Anforderungen an
den Stoffwechsel eines Babys sind deshalb völlig andere als
bei einem Grundschulkind oder einem Teenager. Außerdem
sind die Unterschiede im Organismus nicht statisch. Manche
Substanzen verstoffwechselt ein Kind schneller als ein Erwachsener, andere langsamer. Es kann auch sein, dass bestimmte Medikamente bei Kindern die Blut-Hirn-Schranke
passieren, die Wirkstoffe also das Gehirn erreichen, und bei
Erwachsenen nicht mehr. All dies sind medizinische Gründe
dafür, dass man die Wirkung von Medikamenten auf Kinder
in bestimmten Altersgruppen sehr genau untersuchen muss.
Zur Person
Professor Günter Henze war über Jahrzehnte in der Kinderkrebsforschung und -behandlung tätig. Von 1985 bis zu seiner
Emeritierung 2011 leitete er die Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt
Onkologie und Hämatologie zunächst an der FU Berlin, später
an der Charité. Er ist Mitglied in etlichen Fachgremien und erhielt
zahlreiche Preise, darunter den Kind-Philipp-Preis für Leukämieforschung, den Deutschen Krebspreis, den Wilhelm-Warner-Preis für
Aber klinische Studien mit Kindern sind heikel. Zu Recht.
Krebsforschung und das Bundesverdienstkreuz.
Schließlich können die Patienten nicht selbst entscheiden und
Zusammen mit Silvia Hedenigg hat Henze vor Kurzem den Sammel-
ihre Einwilligung zu Tests erteilen.
band „Ethik im Gesundheitswesen. Steuerungsmechanismus
Deshalb hat der Gesetzgeber Studien, in denen es um die Zulassung von Medikamenten geht, vor einigen Jahren für die
Pharmahersteller sehr klar in einer EU-Verordnung geregelt.
Die dort definierten Zulassungsstudien haben das Ziel, ein
Medikament in den Handel zu bringen. Wir in der Kinder­
onkologie hingegen testen vor allem Behandlungskonzepte,
bestehend aus Diagnostik und verschiedenen Therapiemodalitäten – vor allem die Chemotherapie kombiniert mit Chirur­
gie und Strahlentherapie. Diese „Therapieoptimierungs­ 3
für die Medizin der Zukunft“ (Kohlhammer, 2013) herausgegeben.
46
studien“ führen wir an Kindern durch, von denen wir hoffen,
dass sie ein normales Leben führen können, nachdem sie ihre
Krankheit überwunden haben.
Führen Sie die enormen Fortschritte bei den Heilungserfolgen
auf diese Studien zurück?
Absolut. Wir haben in Deutschland mehr als 90 Prozent der
Kinder im Rahmen von klinischen Studien behandelt, was
weltweit übrigens ziemlich einmalig ist. Wir haben hierzu­
lande früh eingesehen, dass der einzelne Arzt nicht viel ausrichten kann, weil er aufgrund der geringen Patientenzahlen
zu wenig fundierte Erkenntnisse gewinnen kann. 2000 Neuerkrankungen von Kindern und Jugendlichen pro Jahr klingt
nach viel, ist für die medizinische Forschung aber sehr wenig.
Für wirklich relevante Resultate muss man sich also intensiv
austauschen und sehr eng mit Kollegen und anderen Kliniken
kooperieren.
Welche Einsichten in neue Therapieformen und Behandlungskonzepte gewinnen Sie über diesen Weg?
Nehmen Sie nur die Spätfolgen von Therapien. Zum Beispiel
bei der Behandlung von Morbus Hodgkin, einer bösartigen
Erkrankung des Lymphsystems. Wir haben herausgefunden,
dass eine Bestrahlung im Brustbereich bei Mädchen im Pubertätsalter 30 Jahre später zu einem Brustkrebsrisiko von
30 Prozent führt.
Oder die Schädelbestrahlung bei Leukämiepatienten.
Früher galt sie als Meilenstein, weil mit der Bestrahlung überhaupt erst erreicht worden war, dass 30 Prozent der von Leukämie betroffenen Kinder überlebten. Erst später hat man
gesehen, dass sie deutlich nachteilige Auswirkungen auf die
körperliche und geistige Entwicklung der Patienten hatte –
und dass fünf von hundert der behandelten Kinder irgendwann einen Hirntumor entwickelten. Heute ist die Bestrahlung nicht mehr Bestandteil der Therapie.
Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Günter Henze --- 47
Auflagen ein Ausmaß angenommen, das fast nicht mehr zu
bewältigen ist.
Mittlerweile brauchen wir fünf Jahre, um eine Studie
überhaupt erst an den Start zu bringen. Mein Kollege, der
nach mir die internationale Leukämiestudie leitet, ist hier an
der Charité durch ein Stipendium sogar zwei Jahre lang von
seiner regulären Arbeit freigestellt worden, um sich ausschließlich der Planung einer Studie zu widmen. Wie soll das
denn funktionieren? Normalerweise machen das die Oberärzte und leitenden Ärzte neben ihrer Regelarbeitszeit.
Hinzu kommen die Kosten: Wenn heute im Rahmen einer von der EU finanzierten internationalen Studie Mittel in
Höhe von sechs Millionen Euro bereitgestellt werden, fressen
allein die vorgeschriebene Administration und die Dokumentationspflichten die Summe mehr oder weniger auf.
Es kommt aber noch ein weiterer Faktor hinzu. Wenn Patientendaten lediglich in einem Register gesammelt werden, sagen einige Kliniken: „Uns ist der Meldeaufwand für all die
komplizierten Einzelfälle viel zu hoch.“ Schließlich erhalten
die Häuser für die Meldungen auch keine Vergütung, so wie
es im Rahmen der Teilnahme an einer klinischen Studie üblich ist. Insofern ist zu befürchten, dass mit dem Rückgang
der Zahl klinischer Studien das in Deutschland bewährte
Prinzip einer flächendeckenden Behandlung entsprechend
dem aktuellen Stand der Wissenschaft nicht aufrechtzuerhalten ist. Und dass damit auch die Behandlungsqualität sinkt.
Aber die gesetzliche Regulierung ist doch keine Schikane. Sie
soll helfen, ethische Probleme zu vermeiden. Wo führt die
Beteiligung von Kindern an Therapieoptimierungsstudien aus
Ihrer Sicht auf fragwürdiges Terrain?
War das früher anders?
Die administrativen Hürden von damals sind mit den heutigen nicht zu vergleichen. Zudem hat es die Koordinationszentren für klinische Studien nicht gegeben. Das Gros der
Studiengelder wandert heute in die Verwaltung – für Arbeiten, die wir früher einfach mitgemacht haben.
Ich persönlich finde es unmöglich, dass Gesetze mit
weitreichenden Vorgaben erlassen werden, aber keiner dafür
sorgt, dass die zusätzlichen Anforderungen auch finanziert
werden. Für die große internationale Studie zur Behandlung
von Kindern mit einem Rückfall der Leukämie, die wir aktuell an der Charité durchführen, tritt finanziell neben der EU
maßgeblich die Deutsche Kinderkrebsstiftung ein. Die wiederum erhält Spenden von der Oma, die in ihren Sparstrumpf
langt und fünf Euro beisteuert. So sollte das nicht sein. Meiner Ansicht nach wären die Regierung und die EU hier in der
Pflicht, für eine angemessene Finanzierung zu sorgen.
Welche Auswirkung hat die Entwicklung Ihrer Ansicht nach auf
die Therapien und den medizinischen Erkenntnisgewinn?
Ich fürchte, das alles wird uns zurückwerfen. Das gesamte
System ist fürchterlich schwerfällig geworden. Und wir sehen
die Folgen ja jetzt schon: In bestimmten Situationen, in denen
es um Fragen geht, die vielleicht als nicht so vordringlich erachtet werden, führt man heute hauptsächlich ein sogenanntes Register anstelle einer Therapieoptimierungsstudie.
Eine typische und schwierige Situation, mit der wir es in Kliniken zu tun haben, sind Placebo-Studien. Bei klinischen Studien mit Erwachsenen ist es durchaus üblich, die Wirksamkeit von Therapien oder Medikamenten auszutesten, indem
man den Behandlungserfolg einer Maßnahme mit dem Erfolg
der Verabreichung eines Placebos vergleicht. Wenn Kinder
beteiligt sind, ist das kein gangbarer Weg, insbesondere wenn
die Placebo-Behandlung mit einer körperlichen Belastung
verbunden ist – zum Beispiel mit einer Spritze. Einem Kind
im Rahmen einer Studie ein Placebo mit einer Spritze zu geben ist verboten – die damit verbundene physische und psychische Belastung ist ihm nicht zumutbar.
Ein im Grunde noch viel größeres Problem ist jedoch die
Verwendung von nicht zugelassenen Medikamenten. Das ist
ein echtes Dilemma. Wenn wir unsere Patienten behandeln
wollen, müssen wir Medikamente einsetzen, die für diesen
Einsatz nicht wirklich sorgfältig geprüft wurden. Immerhin
soll sich das jetzt ändern. Vom Gesetzgeber wird ausdrücklich gefordert, dass Kinder nur noch mit Medikamenten
behandelt werden, die für Kinder und die entsprechende
Indikation auch ­geprüft und zugelassen sind. Das setzt allerdings voraus, dass die Medikamente in Zulassungsstudien
geprüft werden …
… und schafft im Zweifel neue Dilemmata. Randomisierte Studien zum Beispiel – also Studien, bei denen Patienten unter
Verwendung eines Zufallsmechanismus entweder einer Expe-
Wie ist angesichts dieser Erfolge die aktuelle Zurückhaltung
Was ist der Unterschied?
rimental- oder einer Kontrollgruppe zugeordnet werden – sind
zu erklären? Einer europäischen Untersuchung zufolge ist die
Eine Studie verfolgt eine ganz spezifische Fragestellung, ist
breit angelegt, sehr aufwendig und vom Erkenntnisgewinn
der Wissenschaft zum Wohle der Patienten getrieben. Registerstudien dienen eigentlich nur noch dem Sammeln von Patientendaten, eine zentrale Kontrolle findet nicht mehr statt.
Auch Referenzuntersuchungen und Konsile, also Fremdgutachten, sind nicht finanziert. Also fließen die Daten auch nicht
mehr in die individuelle Behandlung des Patienten zurück.
vermutlich nicht unproblematisch. Wer will angesichts der ohne-
Zahl der nicht kommerziellen Studien in den vergangenen Jahren um 25 Prozent gesunken.
Ganz einfach: Die Anforderungen an die Durchführung von
klinischen Studien sind inzwischen derart gestiegen, dass wir
uns den Aufwand immer seltener leisten können. Durch die
Direktive, die 2001 im Zuge der Novellierung des Arzneimittelgesetzes in Kraft getreten ist, haben die administrativen
hin dürftigen Datenlage schon riskieren, dass kranke Kinder
nicht die bestmögliche Therapie erhalten?
Ethische Probleme bestünden jedenfalls dann, wenn sich
schon früh herausstellte, dass eine der beiden Gruppen deutlich bessere Ergebnisse erzielt als die andere. Dann müsste die
Studie natürlich sofort abgebrochen und allen Beteiligten die
bessere Therapie zur Verfügung gestellt werden. Eine ganze
Reihe von Kollegen verzichtet deshalb gleich ganz auf randomisierte Studien. Das ist nachvollziehbar, aber auch nicht
unproblematisch. Schließlich dienen Studien ja auch dazu,
herauszufinden, ob die Verabreichung eines Medikaments im
Rahmen der Therapie überhaupt sinnvoll ist – oder überflüssig. Es kann sein, dass einzelne Patienten auf die Arznei gar
nicht ansprechen. Wenn wir nun ohne Studie, quasi aus Gründen der Vorsorge, allen die Behandlung zukommen lassen,
richten wir damit möglicherweise auch großen Schaden an.
Dann verabreichen wir heute also auch Medikamente, die im
Zweifel eher schaden als nützen, weil sie – über welche Stu­
diendesigns auch immer – in Therapiepläne eingegangen
sind?
Dazu kann ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Wir
haben 1990 eine Studie mit leukämiekranken Kindern in
Russland begonnen. Damals herrschten dort noch Zustände,
in denen ich nicht guten Gewissens intensive und schwer beherrschbare Therapiemaßnahmen empfehlen konnte, wie wir
sie in Deutschland seinerzeit praktizierten. Also kombinierten
wir weniger riskante Elemente aus Therapieprotokollen, die
wir schon aus Publikationen kannten, einfach neu.
Wir verzichteten auf einige der uns bekannten Wirkstoffe in hohen Dosen. Und weil die Möglichkeiten für eine gut
kontrollierte Strahlentherapie fehlten, haben wir bei der
Mehrzahl der Patienten auch keine Bestrahlung des Zentralnervensystems durchgeführt.
Inzwischen haben wir in Russland in fast 50 teilnehmenden Kliniken mehr als 5000 Kinder behandelt – mit fantastischem Ergebnis: Wir haben Überlebensraten von etwa 80
Prozent erzielt! Wenn man die Infrastruktur berücksichtigt,
die langen Transportwege und die viel schlechtere medizinische Versorgung auf dem Land, dann ist das ein unglaubliches Ergebnis. Praktisch genauso gut wie bei uns.
Heißt das, wir hätten uns alle unsere Studien sparen können? Natürlich nicht! Nur weil wir deren Ergebnisse kannten,
konnten wir uns dafür entscheiden, auf einzelne etablierte
Maßnahmen zu verzichten.
48
Hilfe! --- Klinische Studien --- Studienabbruch --- 49
Abbruch!
Laufend werden neue Medikamente in klinischen Prüfungen getestet. Manche
müssen vorzeitig gestoppt werden, weil die Nebenwirkungen des Mittels zu
schwer sind – oder weil es zu gut wirkt.
Text: Lydia Gless
Oakley war der erste: Ihm wurden 0,1
Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht injiziert, das entsprach etwa einem Fünfhundertstel der MakakenDosis. Zehn Minuten später war der
nächste Proband an der Reihe, dann
­immer so weiter.
Gegen halb neun setzten bei Oakley die ersten Symptome ein: Kopfschmerzen, die immer schlimmer und
schließlich unerträglich wurden. Dazu
Übelkeit mit massivem Erbrechen, hohes Fieber, starke Schmerzen im ganzen
Körper. Kurz darauf ging es allen Männern schlecht. Obwohl die ersten Probanden bereits über massive Beschwerden klagten, spritzen die Ärzte auch
noch dem letzten das Mittel.
Probanden in Lebensgefahr
3David Oakley erinnerte sich später
noch gut an den 12. März 2006, einen
Sonntag. Er war nachmittags im Northwick-Park-Krankenhaus im Nordwesten Londons angekommen, wo er und
fünf weitere Männer am nächsten Tag
an einer klinischen Studie teilnehmen
würden. Der damals 34-Jährige sah der
Prozedur gelassen entgegen: Er hatte
schon an zwei solcher Testreihen teil­
genommen, als er knapp bei Kasse war,
und so war sie für ihn fast Routine. In
einigen Wochen würde er seine Hochzeit feiern – mit dem Geld, das er hier
verdiente. „Es war wie in einer Jugendherberge“, erzählte er später. „Wir waren entspannt und hatten Spaß.“ Oakley spielte Billard, die jungen Männer
aßen Käse und Kräcker, dazu gab es
Wasser – die übliche Diät vor Studienbeginn. Es war ein schöner Abend. 24
Stunden später kämpften David Oakley
und die anderen Probanden auf der
­Intensivstation um ihr Leben.
Das Medikament, das die sechs
Männer am nächsten Tag ab acht Uhr
morgens injiziert bekamen, hieß
TGN1412. Der Wirkstoff war vom
Würzburger Biotech-Startup TeGenero
zur Behandlung von Multipler Sklerose,
rheumatoider Arthritis und Blutkrebs
entwickelt worden. Die Tierversuche
waren gut verlaufen: Bei Ratten hatte
der Antikörper TGN1412 den Verlauf
von Autoimmunerkrankungen positiv
beeinflusst, bei Makaken zeigte er keine
unerwünschten Nebenwirkungen – und
das Immunsystem der Primaten ist dem
des Menschen sehr ähnlich. In Großbritannien hatte TeGenero eine Genehmigung für die Studie bekommen, genau
wie in Deutschland, wo dafür das PaulEhrlich-Institut (PEI) in Langen zuständig ist. Weil es hier noch ein paar Rückfragen gab, verzögerte sich die deutsche
Studie. In London konnte man starten.
Die Ärzte im Northwick-Krankenhaus klärten ihre Probanden auf: Sie
hätten höchstens mit leichten Problemen zu rechnen, Kopfschmerzen vielleicht und Übelkeit, die jedoch nach ein
paar Stunden abklingen würden. David
Später rekonstruierte man, was passiert
war: Die Testpersonen durchlitten einen sogenannten Zytokin-Sturm mit
heftigsten Entzündungsreaktionen, der
schließlich zum multiplen Organversagen führte. Das Blut klumpte, das Immunsystem entgleiste komplett – die
Probanden waren in akuter Lebensgefahr. Sie kamen gegen Mitternacht auf
die Intensivstation, wo sie tagelang mit
dem Tod rangen. Es versteht sich, dass
das PEI in Deutschland die Genehmigung für die Studie sofort zurückzog.
Es vergingen Wochen, bis die sechs
Männer aus der Klinik entlassen werden konnten. Ryan Wilson, ein 20-jähriger Klempner, musste vier Monate
stationär behandelt werden, seine Organe waren besonders schwer betroffen. Mehrere seiner Zehen und Fingerkuppen waren wie nach Erfrierungen
abgestorben und mussten amputiert
werden. Alle Probanden litten lange
unter Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen und Erschöpfung. Nur wenige Monate später wurden bei David
Oakley erste Anzeichen von Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert.
Der Fall TGN1412 ist der Worst
Case. Er ist berühmt geworden, weil er
eine extreme Ausnahme darstellt. Eine
Ausnahme, aus der Medizin und Forschung lernten.
Die bis dahin gängige Praxis, mehreren Probanden einen neuen Wirkstoff
kurz nacheinander zu verabreichen,
wurde sofort aufgegeben – seitdem ist
ein größerer zeitlicher Abstand vorgeschrieben, sodass die sogenannten
First-in-man-Studien jederzeit ohne
Schaden für die anderen Probanden
abgebrochen werden können. Außer­
dem verabschiedete der Ausschuss für
Humanarzneimittel (CHMP) an der
Europäischen Arzneimittelagentur neue
Richtlinien für die erstmalige Anwendung am Menschen, an denen das
deutsche Paul-Ehrlich-Institut intensiv
­
mitwirkte.
Dort hat man auch das eigene Vorgehen überarbeitet: „Die Anträge auf
Genehmigung einer klinischen Prüfung,
die eine Erstanwendung beim Menschen beinhalten, werden jetzt in einem
internen Kreis von Experten in einer
spezifisch dafür einberufenen Sitzung
explizit diskutiert“, sagt Jan MüllerBerghaus vom PEI. Fragen nach dem
am besten geeigneten Tiermodell oder
der minimal möglichen Erstdosis für
den menschlichen Probanden haben
massiv an Bedeutung gewonnen.
Daneben wollten die Wissenschaftler aber natürlich auch wissen, warum
die Wirkung von TGN1412 beim Menschen so verheerend war. Wieso hatten
die Versuchstiere keinerlei Nebenwirkungen gezeigt, obwohl ihnen sogar
eine viel höhere Dosis verabreicht worden war?
Es dauerte Jahre, bis die Ursache
für die Katastrophe gefunden war, ein
winziges Detail: CD28-Antigen, das
Molekül, an dem TGN1412 andockte,
weicht beim Makaken von der menschlichen Version minimal ab. Deshalb
überstand das Tier problemlos, was die
Menschen fast tötete.
Auch wenn die Studie von TeGe­
nero als tragischer Einzelfall in die Geschichte der Wissenschaft einging: Die
Erprobung neuer Wirkstoffe am Menschen bleibt selbst bei sorgfältigster 3
Der Fall TGN1412
ist der Worst Case. Er
ist berühmt geworden,
weil er eine extreme
Ausnahme darstellt.
Eine Ausnahme,
aus der Medizin und
Forschung lernten.
50
Planung ein Risiko. Ob ein Mittel bei
allen Menschen gleich wirkt, ist ebenso
ungeklärt wie die Fragen, ob seine Nebenwirkungen kalkulierbar und tolerabel sind oder ob es überhaupt eine Verbesserung darstellt.
Millionen-Flops
Immer wieder muss nach jahrelangen
Versuchsreihen eine dieser Fragen mit
Nein beantwortet werden – womit sich
millionenschwere Entwicklungen der
Pharmafirmen als Flop entpuppen können. Erst im vergangenen Jahr beispielweise musste der amerikanische Konzern Merck & Co. eine Großstudie mit
mehr als 25 000 Patienten abbrechen
und den Verkauf seines Cholesterin­
mittels Tredaptive beenden, weil es
schwere Nebenwirkungen verursachte
und nicht besser wirkte als andere Medikamente. Konkurrent Roche brach im
Mai 2012 seine Studie für den Cholesterinsenker Dalcetrapib ab, von dem sich
der Konzern rund zehn Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr versprochen hatte
– das Präparat war kein Fortschritt gegenüber der Standardtherapie.
Das kann im ungünstigsten Fall
nicht nur zu potenziellen Umsatzein­
bußen führen oder der Abschreibung
von Millionen-Investitionen, die in die
Wirkstoff-Entwicklung und Studien
­geflossen sind: Das Scheitern eines Medikaments kann ruinöse Ausmaße annehmen, wie der Pharma-Riese Pfizer
erleben musste. Sein Cholesterinsenker
Torcetrapib war lange vor dem offiziellen Start als Heilsbringer angekündigt
worden, als eine der wichtigsten Neuerungen seit Jahrzehnten im Kampf gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die
Arznei sollte das meistverkaufte Medikament aller Zeiten werden – und
endete als teuerster Flop. Ende 2006
­
musste eine weltweite Studie mit 15 000
Patienten gestoppt werden, weil sich
die Todesfälle häuften. Der Börsenwert
des Konzerns sank in der Folge innerhalb einer Woche um sagenhafte 28
Milliarden Dollar.
Hilfe! --- Klinische Studien --- Studienabbruch --- 51
Manchmal scheitern Studien aber auch
am Erfolg. So war es beispielsweise mit
Lapatinib. Der Wirkstoff des britischen
Pharmaunternehmens GlaxoSmithKline
(GSK) war für den Einsatz bei HER2positivem Brustkrebs entwickelt worden, einer besonders aggressiven Krebsform. Durch seine winzige Größe hatte
er einen neuen Ansatzpunkt: Im Gegen­
satz zum großen Antikörper Trastuzu­
mab, der an der Oberfläche eines Tumors wirkt, kann das kleine Molekül
Lapatinib durch die Zellwand in den
Tumor eindringen und dort die Zell­
teilung stoppen. Trastuzumab war ein
Durchbruch in der Krebstherapie, doch
zahlreiche Patientinnen entwickelten
dagegen Resistenzen. Für sie war Lapatinib ein neuer Hoffnungsschimmer.
Weltweit sollte der neue Wirkstoff an rund 400 Patientinnen mit
fortgeschrittenem oder metastasiertem
Brustkrebs getestet werden, bei denen
Trastuzumab oder bestimmte ChemoTherapien versagt hatten. Die GSKStudie war zweiarmig angelegt: Die
Patientinnen des Monotherapie-Arms
bekamen Capecitabin, eine Chemotherapie in Tablettenform; die des Kombinationsarms erhielten außerdem Lapatinib, ebenfalls als Tablette.
Verblüffende Zwischenanalyse
Vor dem Studienstart wurde ein „primärer Endpunkt“ festgelegt, also das Ziel
einer klinischen Studie, der Parameter,
an dem sich ihr Erfolg oder Misserfolg
messen lässt. Bei Lapatinib sollte es die
Zeit bis zur Tumorprogression sein: Im
besten Fall, so die Hoffnung der Forscher, würde sich im Kombinationsarm die Zeit bis zum Tumorwachstum
um die Hälfte verlängern – ein Tumor
würde also zum Beispiel erst nach
sechs Monaten weiter wachsen statt
nach vier.
Die Studie begann am 1. März
2004 – und erbrachte in der Zwischenanalyse anderthalb Jahre später ein verblüffendes Ergebnis: Die Zeit bis zur
Tumorprogression hatte sich bei den
Probandinnen im Kombinationsarm nahezu verdoppelt. Bei den Patientinnen,
die Lapatinib einnahmen, begann der
Tumor nach achteinhalb Monaten wieder zu wachsen – die Tumoren, die
nicht mit dem neuen Wirkstoff behandelt wurden, wuchsen bereits nach viereinhalb Monaten. „Dass das Molekül so
stark bei so intensiv vorbehandelten
Patientinnen wirkt, war eine Riesen­
überraschung“, sagt Jürgen Dethling,
der bei GSK den medizinischen Fachbereich Onkologie leitet. Außerdem
kam es unter Einnahme von Lapatinib
zu weniger Hirnmetastasen, ein Zeichen dafür, dass die Arznei die BlutHirn-Schranke überwindet, was dem
Antikörper Trastuzumab nicht gelingt.
Abbruch aus ethischen Gründen
Der große Erfolg warf allerdings ethische Fragen auf: Durfte man den Frauen
im Monotherapie-Arm den neuen
Wirkstoff vorenthalten? Und durfte
man weiterhin Frauen in den Monotherapie-Arm aufnehmen? Musste man die
Studie nach diesen Erkenntnissen nicht
vielmehr abbrechen? Das unabhängige
Expertenkomitee, das die Studie überwachte, war in seiner Empfehlung einstimmig: Die Behandlung mit Lapatinib
sollte allen beteiligten Frauen ermöglicht werden, weitere Patientinnen sollten die Forscher nicht mehr in die Studie aufnehmen. GSK bot allen Frauen
im Monotherapie-Arm einen Wechsel
in den Lapatinib-Arm an, ein sogenannter Crossover, und brach die weitere
Rekrutierung ab.
Für die betroffenen Frauen war diese Entscheidung richtig – aber auch für
die Forschung hatte sie Konsequenzen.
Durch den Crossover gab es kein statistisch aussagekräftiges Material für einen
Vergleich zwischen den beiden Studienarmen. Außerdem verwischte die frühe
Zwischenanalyse die Aussagekraft der
Studie, denn es nahmen am Ende weniger Patientinnen an ihr teil als geplant.
Der Konzern hat daraus gelernt: „Heute
achten wir darauf, die erste Zwischen-
analyse erst dann zu machen, wenn alle
Patienten in die Studie aufgenommen
sind“, sagt Jürgen Dethling.
Verändert hat sich inzwischen aber
auch der Blick auf den primären Endpunkt. Setzten die Forscher bei Lapatinib noch auf die Zeit bis zur Tumor­
progression, zielen sie heute in ihren
Definitionen verstärkt auf die Überlebenszeit. Denn auch wenn das makaber
klingt: „Um endgültig die Wirksamkeit
eines onkologischen Medikaments zu
erfassen, muss man im Grunde warten,
bis ein großer Teil der Probanden verstorben ist“, sagt der Mediziner. „Erst
dann kann man statistisch nachweisen,
ob und wie sich die Überlebenszeit
durch das Medikament verlängert hat.“
Genau das war bei der Lapatinib-Studie
nicht mehr möglich.
Das ethische Dilemma hinter dieser
Geschichte ist universell – und ungelöst: Soll bei schnell sichtbarer Wirksamkeit eines Präparats das Leben der
Patienten verlängert werden, auch wenn
dadurch die Studienergebnisse verwässern? Oder nimmt man Todesfälle in
Kauf, um belastbares Zahlenmaterial zu
erzielen, weil das hilft, später eine Vielzahl von Patientenleben zu retten? „Das
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und der Gemeinsame Bundesausschuss legen bei
ihrer Nutzenbewertung einen immer
größeren Wert auf die Überlebenszeit“,
weiß Dethling. Und auch die Krankenkassen forderten heute einen solchen
Beleg.
Ob Lapatinib den Beweis antreten
kann, wird sich zeigen. Das Medikament ist in Kombination mit anderen
Therapien weiter getestet worden, die
Ergebnisse der Studie werden für diesen
Sommer erwartet. Für Frauen mit
HER2-positivem Brustkrebs hat sich
das kleine Molekül bereits als Standardmedikament etabliert. Weil es eben
wirkt. 7
„Um endgültig die
Wirksamkeit eines
onkologischen Medikaments zu erfassen,
muss man im Grunde
warten, bis ein großer
Teil der Probanden
verstorben ist.“
Jürgen Dethling, GSK
52
Hilfe! --- Klinische Studien --- Die Biostatistikerin --- 53
Was zählt,
und was nicht zählt
Biostatistiker haben entscheidenden Anteil am Design klinischer Studien.
Und einen exponierten Platz: zwischen allen Stühlen.
Text: Andreas Molitor
Foto: Oliver Helbig
500>
450
Manchmal reicht es nicht, dass schädliche Bakterien einfach
nur tot sind. Für ein neu entwickeltes Antibiotikum beispiels­
weise ist das Ableben der winzigen Krankheitserreger eine
notwendige, aber längst keine hinreichende Bedingung. So
auch bei der Behandlung der Bronchiektasie, einer chroni­
schen, irreversiblen Ausweitung der Bronchien, die fast immer
von einer eiternden bakteriellen Infektion begleitet wird. Eine
dauerhaft wirksame Therapie gegen die immer wieder wüten­
den Bakterienstämme war lange Zeit nicht in Sicht – bis die
Pharmakologen und Mediziner des Arzneimittelherstellers
Bayer HealthCare Pharmaceuticals ein neues Antibiotikum
zum Inhalieren entwickelten. In Experimenten mit Tieren und
ersten klinischen Tests an Patienten hatten die Forscher die
Wirksamkeit des Präparats unter Beweis gestellt: Die Bakte­
rien in der Lunge waren nach der Behandlung mit dem Medi­
kament nicht mehr nachweisbar.
Auch wenn das nicht bedeutet, dass sie nicht wiederkom­
men: Es war ein vielversprechendes Resultat – und Beginn
einer langjährigen Arbeit für Katrin Roth, die sich bei Bayer
HealthCare Pharmaceuticals in Berlin im Reich der Korrela­
tionen, Kausalitäten, Standardabweichungen, Tödlichkeitsraten
und Signifikanzniveaus bei klinischen Studien bewegt. Als die
33-Jährige die Ergebnisse der Tests im vergangenen Jahr sah,
war ihr sofort klar, dass für die nun anstehende mehrjährige
Studie an Hunderten von Patienten in Europa, den USA und
Japan ein völlig neuer Ansatz entwickelt werden musste. Denn
das ist der Unterschied zwischen der ersten wirksamen Sub­
stanz und dem möglichen späteren Medikament: „Entschei­
dend ist nicht nur, was mit den Bakterien passiert, sondern wie
es den Patienten, die das Medikament einnehmen, auf lange
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105,0
54
Hilfe! --- Klinische Studien --- Die Biostatistikerin --- 55
sind ihrem Arbeitgeber verpflichtet, der das bestmögliche
Präparat auf den Markt bringen will, aber gleichzeitig daran
interessiert ist, dass die Entwicklungskosten nicht aus dem
Ruder laufen. Vonseiten der Bevölkerung schallt ihnen der
Ruf nach wirksamen, neuen und gut verträglichen Medika­
menten auf aktuellem Stand der Forschung entgegen, wäh­
rend Gesetzgeber und Gesundheitsbehörden auf strikte Ein­
haltung ihrer Normen und Richtlinien pochen. Und nicht
zuletzt sind die Biostatistiker auch den Studienteilnehmern
verpflichtet: Zwar erhöht sich die Ergebnissicherheit einer
Studie mit der Größe der Stichprobe – aber niemand will
auch nur einen Patienten mehr als unbedingt nötig einer noch
nicht geprüften Medikation mit weitgehend unbekannten
Nebenwirkungen aussetzen.
Biostatistiker wie Katrin Roth, die bei
Was genau wollen wir herausfinden?
Bayer HealthCare Pharmaceuticals
an klinischen Studien arbeitet, haben
Die Arbeit der Zahlenexperten beginnt in der Regel in der
Phase II einer klinischen Prüfung, wenn erstmals die Wirk­
samkeit an meist 100 bis 300 Patienten getestet und die opti­
male Dosierung gesucht wird. Nicht selten begleiten sie die
Studien über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren – bis
weit über die Zulassung hinaus.
Der Test des Antibiotikums gegen die bei der Bronchi­
ektasie einfallenden Bakterien war insofern untypisch: Katrin
Roth stieg erst nach Abschluss der Phase II in das Projekt ein.
Entsprechend schnell verdichteten sich ihre Überlegungen
zur Frage nach dem eigentlichen Ziel der nun anstehenden
keinen leichten Stand. Patienten,
Öffentlichkeit, Zulassungsbehörden
und natürlich der Arbeitgeber
haben hohe Erwartungen an die Antwort auf die alles entscheidende Frage:
Wie gut wirkt das Präparat?
Versuche: „Was genau wollen wir herausfinden?“ Zielgröße
heißt der Untersuchungsgegenstand im Fachjargon. Aus der
Perspektive der Biostatistikerin ist es essenziell, dass die Ziel­
größe messbar ist.
Besonders kompliziert ist das bei einem Medikament,
das den Verlauf einer chronischen Krankheit lindern oder ver­
langsamen soll. In manchen Fällen müssen die Parameter, an
denen sich Erfolg oder Scheitern des Projektes bemessen las­
sen, erst mühsam herausgearbeitet werden. Beim LungenAntibiotikum kristallisierten sich nach intensiver Diskussion
mit den Medizinern zwei Zielgrößen heraus: Wie lange dau­
ert es im Schnitt bis zur ersten akuten Verschlimmerung nach
Beginn der Behandlung? Und: Wie viele solcher Verschlim­
merungen pro Jahr erleben die Patienten während der Thera­
pie? Vor dem Start der Studie musste außerdem definiert
werden, was als „deutlicher Effekt“ im Vergleich zu einer Pla­
cebo-Behandlung zu werten wäre. „Wenn die durchschnitt­
liche Zahl der Krankheitsschübe durch die Behandlung bei­
spielsweise von 2 auf 1,9 sinken würde, wäre das wohl kaum
eine deutliche Verbesserung“, sagt Roth.
All diese Anforderungen an die Studie werden in inter­
disziplinären Teams aus Medizinern, Biostatistikern, Pharma­
kologen, Datenmanagern und Study-Managern – den Ver­
antwortlichen für Organisation und Durchführung – diskutiert
und festgezurrt, lange bevor der erste Studienteilnehmer das
Medikament verabreicht bekommt. Ein solides medizinisches
Grundwissen über Krankheiten, Präparate und ihre Neben­
wirkungen sollten auch die Statistiker mitbringen, Detailwis­
sen beispielsweise über biochemische Reaktionsketten und
Formeln von Wirkstoffen ist dagegen nicht notwendig. Um­
gekehrt verlangt auch niemand von den Medizinern im Team,
dass sie die Formel des Korrelationskoeffizienten nach Pear­
son herunterbeten können.
Wie viele Patienten brauchen wir?
Sicht geht“, sagt die promovierte Statistikerin. Müssen die
Patienten in der Folgezeit weniger häufig ins Krankenhaus?
Kommt es seltener zu Neuerkrankungen? Solche Fragen
rückten jetzt in den Fokus. Roth scannt ihr Methoden-Ins­
trumentarium darauf ab, welche Tests gerechnet werden
könnten, damit sich am Ende der Studie aus Zigtausenden
von Einzeldaten eine klare Antwort auf die alles entscheiden­
de Frage herausdestillieren lässt: Wie gut wirkt das Präparat?
Biostatistiker wie Katrin Roth gehören zu den unver­
zichtbaren Akteuren bei der Planung und Durchführung kli­
nischer Arzneimittelstudien. Ohne sie hätte kein Medikament
eine Chance auf Zulassung. Aber mit ihrer Unterstützung ist
der Erfolg der aufwendigen Arbeit leider keineswegs garan­
110,0
115,0
120,0
125,0
130,0
Das finale Studiendesign ist Resultat eines Bündels gewissen­
hafter Diskussionen im Team, bei denen natürliche Gebiets­
hoheiten existieren. „Bei der richtigen Anfangsdosis sind vor
allem die Pharmakologen und Mediziner gefragt“, sagt Katrin
Roth, „während bei der Größe der Stichprobe eher die Sta­
tistiker das Sagen haben.“ Je mehr Patienten an der Studie
teilnehmen, desto größer ist beispielsweise die Chance, dass
auch seltene Nebenwirkungen erfasst werden. Außerdem
tiert, obwohl sie bereits die Grundlagen mit definiert. Die
Biometrie-Profis sind von Anfang an dabei, wenn es darum
geht, die großen Linien der Architektur einer Studie zu ent­
werfen: Was wollen wir herausfinden? Wie viele Patienten
werden wir benötigen, um die therapeutische Wirksamkeit
des neuen Medikaments zu testen? Wie erfüllen wir die stren­
gen Anforderungen der Zulassungsbehörden? Wie können
wir die Patienten auf die Testgruppen aufteilen, damit der
Einfluss von Störfaktoren wie Nikotin- oder Alkoholkonsum,
Alter und Vorerkrankungen, die das Ergebnis verfälschen
könnten, minimiert wird?
Bei ihrer Arbeit bewegen sie sich ständig in einem Span­
nungsfeld divergierender Interessen und Erwartungen. Sie
135,0
140,0
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205,0
210,0
2
215,0
56
Hilfe! --- Klinische Studien --- Die Biostatistikerin --- 57
erlauben große Stichproben Aussagen auf einem höheren
­Sicherheitsniveau als Tests mit vergleichsweise wenigen Teil­
nehmern.
Selbstverständlich kann Katrin Roth bei der Bemessung
der Stichprobengröße nicht nach Belieben schalten und wal­
ten. Sie muss mit den Medizinern aber auch nicht um jeden
Patienten feilschen. Die Zahl der Teilnehmer ergibt sich näm­
lich manchmal schon weitgehend aus den einschlägigen Be­
stimmungen der Genehmigungsbehörde. Maßgeblich für die
Europäische Union, die USA und Japan sind vor allem die
„Statistical Principles for Clinical Trials“, auf die sich for­
schende Arzneimittelhersteller und Gesundheitsbehörden in
der ICH verständigt haben – der International Conference on
Harmonisation of Technical Requirements for Registration
of Pharmaceuticals for Human Use. Die dort definierten Vor­
gaben – unter anderem für den Stichprobenumfang, die
­Auswahl der Zielgröße, den Umgang mit den gesammelten
Patientendaten sowie die statistische Auswertung – sind für
Katrin Roth und ihre Berufskollegen in anderen Pharma­
unternehmen absolut verbindlich.
Wo steht die Konkurrenz?
Manchmal stutzt auch das Budget die Wünsche der Biosta­
tistiker zurecht. Ziel ist es dann, ein effizienteres Studien­
design mit möglicherweise weniger Patienten zu finden, ohne
dass die Aussagekraft der Untersuchungen leidet. „In solch
einem Fall überlegen wir beispielsweise, welche Zielgröße
uns einen größeren Behandlungseffekt zeigen könnte.“ In der
Onkologie zum Beispiel testet man häufig zwei Zielgrößen in
einer Studie statt in zwei getrennten. Die Wirksamkeit des
Medikaments wird dann sowohl an der Gesamtüberlebens­
dauer des Patienten als auch an der Zeit bis zur Verschlech­
terung seines Zustands gemessen.
220,0
225,0
230,0
235,0
Und als wäre das alles nicht schon komplex genug, haben
Katrin Roth und ihre 20 Kollegen von der Statistik-Crew bei
Bayer HealthCare Pharmaceuticals auch noch ständig die
Konkurrenz im Blick. Schließlich entscheidet der Zeitpunkt
für die Zulassung eines neuen Medikaments im Zweifel über
Umsätze oder Verluste in Millionenhöhe. Wo also stehen
die Wettbewerber? Welche Phase-II-Ergebnisse präsentieren
Novartis oder Pfizer auf medizinischen Kongressen? Welche
Daten haben sie? Haben wir die Nase vorn, oder müssen wir
das Tempo anziehen? An welchen Stellschrauben des Studien­
designs könnten wir noch drehen?
teren Umsätzen stehen. Bayer hat in den vergangenen Jahren
fünf neue Medikamente auf den Markt gebracht. Sie verspre­
chen ein Umsatzpotenzial von insgesamt 7,5 Milliarden Euro
jährlich, aber sie haben auch das Budget für klinische Studien
nachhaltig geschröpft. Allein das Anti-Thrombose-Mittel
Xarelto wurde an 60 000 Patienten getestet. So ein Aufwand
geht – zumindest vorübergehend – zulasten der nächsten
Projekte in der Pipeline.
Das Lungen-Antibiotikum befindet sich jetzt in Phase III
der klinischen Studie. Ob die ersten Ergebnisse vielverspre­
chend sind? „Wie soll ich das wissen?“, antwortet Roth sehr
bestimmt. „Wir können nicht zwischendurch die Decke lüf­
ten und schon mal ein bisschen auswerten.“ Die Statistikerin
hat zwar Einsicht in sämtliche von den Ärzten eingegebene
Daten, aber diese sind „verblindet“. Sie weiß also nicht, wel­
cher Patient welche Behandlung erhalten hat – das Medika­
ment, ein Placebo oder das Vergleichspräparat eines anderen
Herstellers. Und sie hat auch keine Möglichkeit es herauszu­
finden.
Was messen wir zuerst?
Der Lackmustest für die Arbeit des Projektteams ist die Ver­
teidigung des Studiendesigns bei den Gesundheitsbehörden.
Da Bayer mit dem Lungen-Antibiotikum, wie bei den meisten
Arzneimitteln, auf die Märkte in Europa, den USA und Japan
abzielt, reiste Katrin Roth zunächst nacheinander nach Lon­
don, Washington und Tokio. Dort saß sie den Biostatistikern
der European Medicines Agency, der Food and Drug Admi­
nistration sowie der Pharmaceuticals and Medical Devices
Agency gegenüber und diskutierte Stichproben, Randomisie­
rung, Zielgrößen und statistische Testverfahren. Besonders die
Verhandlungen in Tokio sind ihr bis heute in Erinnerung: Sie
liefen auf Japanisch, mit Simultanübersetzung.
Anders als zu den Patienten, die sie nie zu Gesicht be­
kommt, wahrt Katrin Roth zu den Medikamenten auf ihrem
Prüfstand stets eine gewisse emotionale Distanz. Man dürfe
schließlich nie vergessen, dass es bei all dem um die Erpro­
bung an Menschen gehe, die nicht selten schwer oder unheil­
bar krank sind. „Wenn wir nicht zeigen können, dass das Prä­
parat wirkt, werden wir nicht weitermachen“, stellt sie klar.
Sie selbst hadert eher mit den Fällen, in denen trotz viel­
versprechender Resultate ein Projekt nicht weiterverfolgt
wird – etwa weil die Kosten einer groß angelegten klinischen
Studie nicht im sinnvollen Verhältnis zu den erwarteten spä­
240,0
245,0
250,0
255,0
260,0
Wird sich die Arbeit gelohnt haben?
Beim Test einer Substanz, mit der sich die für Alzheimer spe­
zifischen Ablagerungen im Gehirn nachweisen lassen, hatte
Katrin Roth auch keinerlei Information darüber, welche der
teilnehmenden Patienten tatsächlich an Alzheimer litten oder
an anderen Formen von Demenz. „Sonst hätte man zwi­
schendurch die Testgruppen neu zuschneiden und die Studie
so manipulieren können, dass auf jeden Fall ein schönes Er­
gebnis herauskommt“, sagt sie und nimmt damit eine häufig
vorgebrachte Kritik an den Arzneimittelherstellern auf. Dabei
würde eine derartige Manipulation letztlich auch dem Her­
steller nicht nützen: „Wenn wir in einer frühen Phase die
Ergebnisse schönredeten, um dann in Phase III doch zu
­
265,0
270,0
275,0
280,0
285,0
290,0
295,0
scheitern, hätten wir Millionen ausgegeben – und am Ende
trotzdem kein zugelassenes Medikament.“
Geht hingegen alles gut, kommt irgendwann, zumeist
nach Jahren, jener Moment, auf den alle gespannt warten: die
Auswertung der Daten. Zuvor wird die Datenbank geschlos­
sen; niemand kann jetzt mehr Änderungen vornehmen. Auch
die Ärzte können keine Eintragungen mehr nachschieben.
Und wenn Daten fehlen, weil Patienten zwischendurch die
Studie abgebrochen oder vergessen haben, zum vereinbarten
Zeitpunkt zur Untersuchung zu gehen, oder weil ein Rea­
genzglas mit einer Laborprobe versehentlich verunreinigt
wurde? All das passiere, aber auch dafür gebe es rigide Vor­
schriften der Gesundheitsbehörden, erklärt die Statistikerin.
Und betont, dass sie auf keinen Fall nur vollständige Daten­
sätze auswerten dürfe, weil auch das zu Verzerrungen der
Ergebnisse führe.
Erst jetzt, nach der Versiegelung der Datenbank, erhält
Katrin Roth in anonymisierter Form Informationen darüber,
wie die einzelnen Patienten behandelt wurden. Jetzt endlich
kann sie die Daten durch die statistischen Testverfahren lau­
fen lassen – Varianzanalyse, Log-Rank-Test, Cochran-Man­
tel-Haenszel-Test – und sieht in den meisten Fällen sehr
schnell, ob sich eine Wirksamkeit des Medikaments nachwei­
sen lässt oder nicht.
Das ist nicht immer ein erhabener Moment, vieles wird
im Laufe der Jahre Routine. Aber hin und wieder wachsen
beim „Proof of the pudding“ auch Rosen aus dem Asphalt,
so wie damals bei den finalen Tests des Alzheimer-Diagnos­
tikums Florbetaben. Es war kurz vor Weihnachten, die meis­
ten Kollegen waren schon im Urlaub, als Katrin Roth in
ihrem Büro in Berlin-Wedding die ersten Auswertungen der
Phase-III-Studie vornahm. Sie sah die Ergebnisse und wusste:
Ja, es funktioniert. Das neue Diagnostikum war ein Volltref­
fer. Für ihren Arbeitgeber. Vor allem aber für die erkrankten
Menschen und ihre Angehörigen. „Es war eines meiner abso­
luten Highlights“, sagt Roth. „Schließlich ging es dabei ja
nicht um Kopfschmerzen, sondern um Alzheimer.“
300,0
305,1
310,0
315,0
320,0
58
Hilfe! --- Klinische Studien --- Alternativen --- 59
Wer hat so viel
Geld?
Gute Medikamente gibt es nur mit guten Studien.
Und die kosten eine Menge Geld.
Gut, dass es längst nicht mehr nur von Pharmafirmen kommt.
Vielleicht sogar besser für alle.
Text: Sascha Karberg
Foto: Andreas Pufal
3 Die Zahl ist mittlerweile rund zehn Jahre in der Welt. Damals schätzte eine Studie
des Tufts Center for the Study of Drug Development die Kosten für die Entwicklung eines einzigen neuartigen Medikaments auf rund 800 Millionen Dollar – die
Investitionen für Fehlentwicklungen inklusive. Inzwischen haben sich die Schätzungen in die Höhe geschraubt, neuerdings ist die Rede von fünf Milliarden Dollar.
Realistisch oder überzogen? Fest steht jedenfalls, dass die Entwicklung ­eines neuen
Medikaments teuer ist, die Kosten seit Jahrzehnten steigen und das herkömmliche
Finanzierungsmodell der Medikamentenentwicklung wackelt.
In der Vergangenheit konnten Biotech- und Pharmafirmen genügend Finanzinvestoren davon überzeugen, dass sie ihr Geld nach der Entwicklung eines Medikaments über seinen Verkauf zurückbekämen – plus einem sattem Gewinn als
Entschädigung für das hohe Investitionsrisiko. Inzwischen geht diese Kalkulation
nur noch selten auf, denn die Preise halten mit den steigenden Kosten nicht mehr
mit: Überall auf der Welt greifen mittlerweile Regierungen in die Preisgestaltung
von Medikamenten ein, um die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung zu 3
60
Hilfe! --- Klinische Studien --- Alternativen --- 61
deckeln. Damit sinken die Renditen, Pharma verliert für Investoren an Reiz, weniger Investitionen führen zu weniger Produkten – ein Teufelskreis.
Die Industrie hat auf diese Entwicklung längst mit Konsolidierung und unzähligen Fusionen reagiert. Doch das Grundproblem des steigenden Finanzbedarfs für
Medikamentenentwicklungen ist damit nicht gelöst. Woher also könnte in Zukunft das Geld für neue Arzneien kommen, wenn nicht von Pharmafirmen und
gewinnorientierten Investoren? Eine Suche rund um die Welt.
I. Internet-Forschung
Kopf- und Muskelschmerzen, Konzentrations- und Schlafstörungen, allergische
und grippeähnliche Symptome – seit 30 Jahren quält sich Maria Gjerpe mit einer
schweren Krankheit, der Myalgischen Enzephalomyelitis (ME), auch Chronisches
Erschöpfungssyndrom (CFS) genannt. Hilfe für sich und zwei Millionen weitere
ME/CFS-Patienten in Europa
suchte die Norwegerin jedoch
nicht bei einer Pharmafirma, sondern im Internet: Maria Gjerpe
sammelte per Crowdfunding
Spenden für eine klinische Studie
mit einem neuen Medikament
gegen ME/CFS.
Gjerpe, selbst Ärztin, hatte
das Glück, an einer Pilotstudie in
Oslo teilnehmen zu können, in
der ihr das sonst nur als Krebsmedikament bekannte Rituximab
verabreicht wurde. Nach sechs
Monaten fühlte sie sich nahezu
gesund. Doch um zu beweisen,
dass die Arznei tatsächlich wirkt,
ist eine Studie mit mindestens
140 Patienten nötig, die 1,8 Mil­
lionen Dollar kostet. Roche, der
Hersteller dieses Medikaments,
zeigte bislang kein Interesse an
einer Entwicklung von Rituxi­
mab für die Behandlung von
ME/CFS. Und der norwegische
Staat wollte nur gut ein Drittel
der Kosten übernehmen. Die
fehlenden knapp 1,2 Millionen
­
Dollar wollte Gjerpes mit ihrer
Crowdfunding-Kampagne „MEandYou“ einsammeln.
Solche Initiativen sind längst
keine Einzelfälle mehr. Auf der
Crowdfunding-Website Consano.org finden sich unter anderem
Spendenaufrufe für Studien, die
den Einfluss von Vitamin D auf
Die Entwicklung eines neuen Medikaments
ist teuer, die Kosten steigen seit Jahrzehnten,
und das herkömmliche Finanzierungsmodell
der Medikamentenentwicklung wackelt.
Darmkrebs, neue Therapieansätze gegen Typ-1-Diabetes oder neue Behandlungsformen bei Lungenkrebs untersuchen wollen. Und auf MedStartr.com kann man
die Entwickler einer Smartphone-App für die Erste Hilfe bei Herzinfarktopfern
unterstützen.
Doch welche dieser Websites man auch anklickt: Die angepeilten Spendensummen liegen bestenfalls im fünfstelligen Bereich. Gjerpes 1,2 Millionen-DollarKampagne war von der Größenordnung her eine Ausnahme – und brachte in der
gesetzten Frist von 90 Tagen auch „nur“ gut ein Drittel der Summe zusammen.
Dafür erzeugte sie aber so viel Medienresonanz, dass sich die norwegische Regierung inzwischen entschlossen hat, den fehlenden Betrag beizusteuern, sodass die
Studie nun vollständig finanziert ist.
Enorme Zeit- und Kostenvorteile
Auch auf der Website PatientsLikeMe.org, auf der sich Patienten mit gleicher Diagnose zum Informationsaustausch vernetzen, wurden schon Studien organisiert.
So testeten beispielsweise 348 Patienten mit der nervenzerstörenden Krankheit
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) den eigentlich für andere Krankheiten zugelassenen Wirkstoff Lithium-Karbonat, weil es Hinweise gab, dass er den Verlauf
von ALS verzögern könne. Zwölf Monate lang meldeten die Patienten ihre Erfahrungen über die Website und fanden so heraus, dass das Medikament die erhoffte
Wirkung – wenn überhaupt – nur bei wenigen Erkrankten zu zeigen scheint. Hohen wissenschaftlichen Standards hält eine solche Studie nicht stand, räumt James
Heywood, Mitgründer der Website ein. Dafür habe die webbasierte Studie enorme
Zeit- und Kostenvorteile: Die Patienten erfahren schnell, ob ein Medikament Potenzial hat – und falls nicht, werden unnötige und teure Tests verhindert.
Ob die im Internet organisierte Masse zur Medikamentenentwicklung beitragen kann, muss sich noch zeigen. Denn selbst wenn man dem Crowdfunding
­zugesteht, dass es ein noch recht junges Instrument zum Geldsammeln ist, fällt es
doch schwer zu glauben, dass sich in der unverbindlichen Welt des Internets die
nötigen Strukturen schaffen lassen, um eine Medikamentenentwicklung inklusive
klinischer Studien sinnvoll zu begleiten.
Als Ergänzung zu Strukturen in der analogen Welt hingegen ist die Selbst­
organisation im Netz aber schon heute sinnvoll. Schließlich gibt es auch Crowdfunding-Plattformen, die junge Gründer unterstützen. Über die französische Website WiSeed.com sind in fünf Jahren 35 Start-ups mitfinanziert worden, davon vier
im Bereich Pharma/Biotechnologie. Sowohl bei WiSeed.com als auch bei ihrem
britischen Pendant SyndicateRoom.com werden die Geldgeber Teilhaber der jewei­
ligen Firmen. Allerdings sind auch hier die eingesammelten Summen überschaubar.
II. Staats-Spritzen
Mehr Geld hätte der Staat. Dass Medikamentenentwicklung in der Hand der Regierung nicht funktionieren kann, wird gern am Beispiel der DDR belegt, in deren
vierzigjähriger Geschichte trotz hoher Bildungsstandards so gut wie keine neuartigen Wirkstoffe entwickelt wurden. Doch vielleicht ist das einfach nur kein gutes
Beispiel. Und Kuba ein besseres. Das sozialistische Land hat vor gut 30 Jahren
begonnen, in die biotechnologische Forschung zu investieren und ist inzwischen
der größte Arzneimittelexporteur Lateinamerikas. Mit rund 40 selbst entwickelten Produkten ist Kubas Pillen-Pipeline durchaus vergleichbar mit der großer USBiotechfirmen.
3
62
Hilfe! --- Klinische Studien --- Alternativen --- 63
Allein zwischen 2001 und 2006 hat das Centro de Ingenieria Genética y Biotecnologia 30 neue Produkte auf den Markt gebracht, darunter Quimi Hib, den ersten
synthetischen Impfstoff der Welt gegen Hirnhautentzündung. Sogar das US-Fachmagazin Science nannte den auf Zucker basierenden Wirkstoff anerkennend einen
„süßen Sieg der kubanischen Wissenschaft“. Impfstoffe wie Heberbiovac HB gegen Hepatitis B werden heute sogar von der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
gekauft und weltweit eingesetzt, was Kuba jährlich etwa 70 Millionen Euro einbringt. Die Erlöse aus den Exporten fließen zurück an den Staat, der damit nicht
nur die Medikamentenentwicklung weiter ausbaut, sondern sich auch eines der
besten Gesundheitssysteme in Lateinamerika leisten kann. Die Patienten werden
kostenlos versorgt, dafür wandern ihre Daten in nationale Register, die wiederum
die Suche nach geeigneten Probanden für klinische Studien erleichtern.
Staatliche Zwangsabgabe und engagierte Forscher
Systembedingt ist das kubanische Modell wohl kaum eine Vorlage für Europa.
Doch es gibt durchaus Ansätze, öffentliche Interessen und den Einfluss des Staates
in der Medikamentenentwicklung zu stärken. In Italien beispielsweise sammelt die
Regierung Geld für unabhängige klinische Studien mithilfe einer Zwangsabgabe,
die alle Pharmafirmen zahlen müssen, die im Land Medikamente verkaufen – da­
rüber kommen immerhin 40 Millionen Euro pro Jahr zusammen. Damit werden
unter anderem Studien finanziert, die klären sollen, ob Medikamente, die Zehntausende von Euro pro Jahr und Patient kosten können, tatsächlich so lange wie vom
Hersteller angegeben verabreicht werden müssen.
Hierzulande ist das staatliche Engagement nicht besonders groß, wenn es
­darum geht, neuartige Wirkstoffe in die Klinik zu bringen. Weil es uns Deutschen
aber auch an Kapitalgebern mangelt, die in Ideen von Grundlagenforschern investieren, um dann Biotechfirmen zu gründen und Medikamente zu entwickeln,
­engagieren sich die Forscher jetzt selbst. Die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) beispielsweise, eine der größten Grundlagenforschungsinstitutionen in Deutschland,
hat in Dortmund ein Lead Discovery Center (LDC) eingerichtet. Bislang erforschten MPG-Wissenschaftler in ihren Labors nur die Funktionen und molekularen
Strukturen in der Zelle, die Krankheiten entstehen lassen und sich als Angriffspunkte für neue Wirkstoffe eignen. Im LDC suchen und entwickeln sie jetzt auch
Wirkstoff-Kandidaten, sogenannte Leads, die in der Zelle die Ursprünge von
Krankheiten angehen können.
Eine Allianz der Forscher und Konzerne
Das ist eine mühsame und langwierige Arbeit, bei der oft jahrelang zahllose Moleküle getestet werden müssen und die bislang Aufgabe von Pharmakonzernen war
– kleine Start-ups können sich so etwas in der Regel nicht leisten. Die Forscher
kommen dem Markt jetzt ein Stück weit entgegen, indem sie den Firmen nicht
mehr nur Ideen, sondern Wirkstoff-Kandidaten zur weiteren Prüfung anbieten. Die
teuren klinischen Studien allerdings übernimmt das LDC nicht. Noch nicht. Denn
bisher wird das Center hauptsächlich durch Aufträge der MPG, Spenden und
­öffentliche Fördergelder finanziert.
Im vergangenen Jahr ist Merck Serono, die biopharmazeutische Sparte von
Merck, Partner des Centers geworden. Langfristig soll sich das LDC durch Lizenzeinnahmen aus Verkäufen von Medikamenten finanzieren, an deren Entwicklung
es beteiligt ist. Ähnliche Wege gehen auch die National Institutes of Health in den
USA, das schwedische Karolinska Institutet oder die belgische Universität Leuven.
III. Kassen-Pillen
In den USA hat sich schon vor gut zehn Jahren eine weitere Finanzierungsquelle
für Medikamentenentwickler aufgetan: die Krankenkassen. So hat beispielsweise
der kalifornische Versicherer und Gesundheitsdienstleister Kaiser Permanente eine
Investitionsgesellschaft gegründet, die gezielt Firmen unterstützt, die neue medizinische Geräte, EDV-Lösungen und Pflegedienstleistungen, aber auch innovative
Medikamenten-Therapien entwickeln. Der katholische Gesundheitsdienstleister
Ascension investiert über seine Tochtergesellschaft Ascension Health Ventures
550 Millionen Dollar in drei Innovations-Fonds. Und der Venture-Arm des
Versicherers BlueCross Blue Shield hat
immerhin 300 Millionen Dollar zur Verfügung. 18 Prozent aller US-Investitionen in Medizintechnik-Unternehmen
stammen inzwischen von solchen strategischen Investoren – mehr als je zuvor in den vergangenen fünf Jahren.
Bei den Entwicklern von Biopharmazeutika und Medizintechnik-Startups ist das Geld der Versicherer nicht
nur willkommen, weil es das schwindende Risikokapital kompensiert – die
Investoren bringen auch wertvolle Informationen mit. Schließlich sorgen sie
dafür, dass nur solche Entwicklungen
vorangetrieben und finanziert werden,
die auch eine Chance haben, in den
Leistungskatalog aufgenommen und
bezahlt zu werden.
Anders als klassische Risikokapitalinvestoren haben Versicherer nämlich
nicht allein die Rendite ihrer Investments im Fokus, sondern auch den Sinn
und Zweck des Produktes in der Praxis.
Für einen Krankenversicherer kann sich
auch ein kostenintensives medizinisches
Gerät oder ein diagnostischer Test für
eine seltene Krankheit rentieren – wenn
damit hohe Folgekosten in der Therapie oder Pflege verhindert oder zumindest reduziert werden können. „Wir
sind ganz zufrieden mit der finanziellen
Leistung unserer Unternehmungen“,
sagt Chris Grant, der Vizepräsident von
Kaiser Permanente. „Viel interessanter
und der primäre Grund für unsere Investitionen ist aber der Einfluss, den
diese Technologien auf unsere Gesundheitsversorgung haben können.“
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64
Hilfe! --- Klinische Studien --- Alternativen --- 65
Die Allianz zwischen
Entwicklern und
Versorgern bringt
Bewegung in die
verkrusteten
Strukturen der
Gesundheitssysteme.
Die Allianz zwischen Entwicklern und
Versorgern bringt Bewegung in die verkrusteten Strukturen der Gesundheitssysteme. Denn während Pharmaunternehmen mit einem neuen Medikament
in jedem Fall Geld verdienen müssen,
um die stetig steigenden Entwicklungskosten einzuspielen, ist die Gewinnspanne für einen Versorger zweitrangig,
solange sich das Produkt im gesamten
Krankheitsverlauf rechnet – zum Beispiel indem es hohe Pflegekosten einspart. Das hat Einfluss auf die Art neuer
Medizintechnik oder Medikamente, in
die investiert wird. Und es kann sich
schnell rechnen, weil der Investor weiß,
was gebraucht wird.
Kasseninnovationen
Die kalifornische Medizingeräte-Firma
MindFrame etwa entwickelte eine neuartige Katheter-Technik gegen Schlaganfall. Nicht nur stammte das Geld
­dafür von CHV Capital, dem VentureArm der Indiana University Health,
dem größten Gesundheitsversorger im
US-Bundesstaat Indiana. MindFrame
hatte auch Zugang zu den Neurowissenschaftlern an der Indiana University
und dem Indiana Clinical and Transla­
tional Sciences Institute. Davon profitierte die Entwicklung offenbar so sehr,
dass die Firma, gegründet mit zwölf
Millionen Dollar Startkapital, einem
neuen Besitzer mittlerweile 75 Millionen Dollar wert war.
Auch in Europa hat das Modell der
innovierenden Krankenkassen inzwischen Fuß gefasst. In den Niederlanden
haben die Versicherer Achmea und
Menzis 60 Millionen Euro allein in den
Health Economics Fund (HEF) der Investmentfirma LSP investiert, der sich
an Firmen mit Fokus auf Medizingeräten, Diagnostika und Gesundheits-EDV beteiligt. „Seit Kurzem
investiert auch ein deutscher Krankenversicherer in unseren Fonds“, sagt Fundmanager Rudy Dekeyser
aus der Amsterdamer LSP-Niederlassung. Doch es sei noch zu früh, um Namen zu nennen. Denn ein
solches Investment ist juristisch durchaus heikel. „In Deutschland schreibt das Sozialgesetzbuch (SGB)
den Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts vor, wie sie ihr Geld investieren dürfen“,
erklärt Roman Rittweger, Münchner Berater im Bereich Gesundheitswesen. Dass Investitionen in innovative Start-up-Unternehmen von den Regelungen des Sozialgesetzbuchs gedeckt sind, bezweifelt Rittweger. „Bislang legen deutsche Krankenkassen ihr Geld bestenfalls auf Festgeldkonten an.“
Das ließe sich natürlich ändern. Doch dazu bräuchte es politischen Willen, denn
ohne einen „Innovationsparagrafen“ werden Versicherer kaum zum Motor des
Fortschritts werden. Ein einzelner Paragraf böte dafür allerdings noch keine Garantie, fürchtet Rittweger. „Die Unternehmen selbst müssen sich wandeln – Investment ist nicht gerade das Kerngeschäft der Krankenkassen.“
Mehr Vielfalt in der Finanzierung ist wünschenswert
Doch es könnte sich lohnen. Investoren wie Patienten können profitieren, wenn
Krankenkassen Studien finanzieren, die überprüfen, ob neue Medizingeräte oder
Medikamente tatsächlich besser als die bisherigen helfen. Das nütze auch dem Gesundheitssystem, sagt Rittweger. „Wenn zehn Krebsmedikamente für eine Indikation auf dem Markt sind, haben die Krankenkassen einen höheren Anreiz, deren
Effizienz zu vergleichen, als jedes Pharmaunternehmen.“ Außerdem könnten die
Kassen in ihren Studien die Wirksamkeit von Therapieformen überprüfen, mit
­denen ein Pharma- oder Medizintechnikunternehmen kein Geld verdienen kann.
Da könnte es um Fragen gehen wie: Kann eine physiotherapeutische Behandlung
ein künstliches Gelenk ersetzen? Oder Lichttherapie Antidepressiva?
Im Grunde sind solche Studien schon seit einiger Zeit möglich – über die
­sogenannte Erprobungsregelung im Sozialgesetzbuch, die seit Anfang 2012 in
Kraft ist. Danach kann der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Krankenhäuser und
Krankenkassen, Studien beauftragen, um den Nutzen von neuen Diagnose- oder
Therapiemethoden zu überprüfen. Seit 2011 führen drei Krankenkassenverbände
– der Verband der Ersatzkassen, der AOK-Bundesverband und die Knappschaft –
eine gemeinsame Studie durch, die sowohl den Nutzen als auch die Wirtschaftlichkeit der Unterdruck-Wundtherapie klären soll. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hatte bemängelt, es sei bislang nicht
hinreichend belegt, dass die Technik den Patienten tatsächlich besser hilft als die
bisherige Standardtherapie.
Vielleicht kommt über all das tatsächlich Bewegung in das starre Gesundheitssystem. Eine größere Vielfalt in der Finanzierung von Innovation im Gesundheitswesen wäre jedenfalls durchaus wünschenswert. Weil die rund fünf Milliarden
Euro, die forschende Pharmaunternehmen jedes Jahr in die klinische Medikamentenentwicklung in Deutschland investieren, auf Dauer nicht reichen. Weil mit jeder
neuen Finanzquelle auch andere Interessen verbunden sind. Und weil es nur mit
ihnen möglich ist, dass neue Therapieformen in die Praxis gelangen, die nicht allein
im Interesse des privatwirtschaftlichen Finanzierungsmodells stehen. Zum Nutzen
aller Beteiligten. 7
66
Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Norbert Brockmeyer --- 67
Glück, sehr viel Geld
und eine Revolution
Aids ist bis heute nicht heilbar. Doch mittlerweile ist die durchschnittliche
Lebenserwartung von HIV-Infizierten fast genauso hoch wie die
anderer Menschen – zumindest in den Industrienationen.
Wie das gelang, beschreibt Professor Norbert Brockmeyer, Sprecher des
Kompetenznetzwerks HIV/Aids.
Interview: Christiane Sommer
Foto: Albrecht Fuchs
1981 tauchten die ersten Aids-Fälle auf. Die meisten Patienten starben damals an ihrer Erkrankung. Mit AZT wurde nur
sechs Jahre später ein bis heute erfolgreich eingesetzter Wirkstoff
zur Therapie zugelassen. Professor Brockmeyer, warum ging
bei HIV-Infektionen so schnell, was bei anderen Krankheiten
bis heute viel länger dauert?
Norbert Brockmeyer: Die Entwicklung wirksamer HIV-Therapien ging tatsächlich verhältnismäßig schnell. Es kamen
mehrere Faktoren zusammen. Nach dem ersten Auftauchen
der Krankheit hat man zunächst nach dem Versuch-und-Irrtums-Prinzip gearbeitet: Sehr schnell wurden Medikamente
mit antiretroviraler* Wirkung ausprobiert in der Hoffnung,
dass sie wirken. Eines davon war Azidothymidin, kurz AZT.
Es war in den Sechzigerjahren eigentlich als Krebsmedikament entwickelt worden, weshalb die Funktionalität des
Moleküls gut bekannt war. Es zeigte sich: Das Medikament
hat tatsächlich eine Wirkung, sogar eine relativ gute. AZT ist
noch heute, 30 Jahre später, im Rahmen von Kombinationstherapien im Einsatz. Wenn Sie so wollen, war das damals
das Glück des Tüchtigen: Durch die akribische Suche fand
man ein bereits bekanntes Medikament, das auch gegen
HIV wirkt.
Professor Norbert Brockmeyers
Die Besorgnis in der Öffentlichkeit war enorm, erst recht als
sich herausstellte, dass Aids keine Krankheit ist, die vor allem
Homosexuelle betrifft. Hat das den Fokus auf HIV verstärkt?
Der öffentliche Druck hat die Entwicklung ganz sicher wesentlich vorangetrieben. In den Industrieländern herrschte
Hysterie – zunächst waren nicht mal die Übertragungswege
eindeutig geklärt. Außerdem engagierten sich gerade in den
Fachgebiet sind sexuell
übertragbare Krankheiten.
*Eine gegen Retroviren gerichtete Wirkung. Beim Menschen
sind bisher fünf Retroviren bekannt. Eines davon ist das HIVirus. Das erste Retrovirus konnte 1980 beim Menschen beschrieben werden.
USA sehr frühzeitig Prominente und wohlhabende Menschen für HIV-Infizierte, sie forderten und förderten die Entwicklung von Wirkstoffen. Dazu gehörte zum Beispiel die
Schauspielerin Elizabeth Taylor, die ihr Netzwerk in der Politik nutzte, um auf die Krankheit aufmerksam zu machen. In
England war es der Popstar Elton John, der sich bis heute für
HIV-Infizierte einsetzt. Diese Menschen haben viele Mittel
eingeworben und selber hohe Summen für die Forschung zur
Verfügung gestellt. Damit waren sie Vorbild für andere.
Darüber hinaus hat auch der Umgang der Infizierten mit
der Krankheit dazu geführt, die Entwicklung zu beschleunigen: Sie haben sich nicht versteckt, sondern sind an die Öffentlichkeit gegangen. Denken Sie an den Schauspieler Rock
Hudson oder den Sänger Freddie Mercury von Queen, die
ihre Erkrankung bekannt machten. All das ließ die Politik
nicht unbeeindruckt. Es führte schließlich dazu, dass US-Präsident Bill Clinton viel Geld für die Aids-Forschung zur Verfügung stellte. George W. Bush finanzierte die Bekämpfung
von Aids in Afrika über eine Präsidenteninitiative mit 15 Milliarden US-Dollar.
68
Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Norbert Brockmeyer --- 69
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass vor allem das Geld
die Forschung treibt.
Ausreichend finanzielle Mittel helfen natürlich. Aber im Fall
von Aids kam noch ein Aspekt dazu: In den Neunzigerjahren
erlebten wir eine Revolution in der Labortechnik. Und mit
den neuen Techniken hatten wir plötzlich die Möglichkeit,
Analysen auf Genomebene und molekularer Ebene durchzuführen. Wir konnten Viren erstmals in dreidimensionalen
Darstellungen abbilden – auch das HI-Virus. Das eröffnete
die Möglichkeit, Medikamente quasi passgenau zu schneidern. Danach gab es immer noch viel „trial and error“ – aber
zielgerichteter und damit erfolgreicher als vorher.
Dieser Durchbruch ist von seiner Tragweite vergleichbar
mit dem Übergang ins 20. Jahrhundert. Damals war man
durch die Entwicklung von Färbetechniken und Mikroskopen auf einmal in der Lage, Bakterien zu identifizieren und
damit Infektionen bestimmten Krankheitsbildern zuzuordnen. Das war ein enormer Fortschritt für die Medizin. Ähnlich war es Anfang der Neunziger. Wie erfolgreich die Entwicklung war, lässt sich auch an den vielen Patenten ablesen,
die im Rahmen der HIV-Forschung erteilt worden sind. Vieles, was wir bei der Behandlung von Aids gelernt haben, lässt
sich auf andere Erkrankungen übertragen. Hepatitis C zum
Beispiel ist jetzt zu einem hohen Prozentsatz heilbar. Ich sehe
diesen Erfolg auch als ein Ergebnis der HIV-Forschung.
Norbert Brockmeyer hält eine Impfung gegen Aids für realistisch.
„Vieles, was wir bei der
Behandlung von Aids gelernt
haben, lässt sich auf andere
Erkrankungen übertragen.“
Das zunächst so vielversprechende AZT allein wirkt auf Dauer
nicht gegen Aids, weil sich Resistenzen bilden. Wann wurde
dieses Problem gelöst?
Wir haben relativ schnell erkannt, dass bei der HIV-Therapie
Resistenzen auftreten. Aber das ist nicht nur beim HI-Virus
der Fall, wir haben auch bei der Therapie von Bakterien große Probleme mit Resistenzen. Deshalb begannen wir in den
Neunzigerjahren, andere Wirkstoffe mit AZT zu kombinieren. Zunächst waren das ddI und ddC, die wie AZT einem
DNA-Baustein ähneln. Damit konnten wir deutliche Verbesserungen in der Therapie beobachten. Den Durchbruch
brachte der Einsatz von Proteasehemmern.* Die Kombina­
tion mit bislang verwendeten antiretroviralen Medikamenten
zeigte sich als hochpotent. Der Aids-Forscher David Ho, der
1995 als Erster die herkömmlichen Therapien mit Protease­
inhibitoren kombinierte, sagte damals: „Wir können HIV-Infektionen mehr oder weniger heilen, wenn wir das HI-Virus
sehr schnell und konsequent mit einer Kombinationstherapie
bekämpfen.“ „Hit hard and early“ ist seitdem das Gebot.
­Tatsächlich war es ab da möglich, das Virus so weit zu unterdrücken, dass sich bei den behandelten Patienten die Menge
der vorhandenen HI-Viren erheblich verringerte. Auch das
Resistenzproblem ist dadurch deutlich kleiner geworden. Bei
vielen Patienten haben sich unter dieser Therapie selbst nach
zehn Jahren nachweislich keine Resistenzen entwickelt.
Unter AZT wurden gravierende Nebenwirkungen beobachtet,
darunter eine erhöhte Infektionsanfälligkeit und Anämien. Ist
das bei einer Kombinationstherapie anders?
Verschiedene Studien belegen, dass sich die Nebenwirkungsrate der Medikamente in den vergangenen 20 Jahren deutlich
verbessert hat. Auch die Lebensqualität unter der Therapie
hat sich erheblich gesteigert. Allerdings leiden Patienten am
Anfang einer Therapie immer noch häufig an Nebenwirkungen. In den meisten Fällen klingen sie im Verlauf aber langsam ab. Auch die Lebenserwartung ist beeindruckend: Wir
kommen in den Bereich von nicht mit HIV-Infizierten. Das
ist großartig.
Vergangenes Jahr zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine
wirksame Impfung. Ist die Bekämpfung des Virus schwieriger
als gedacht?
Wir haben auch aus diesem Misserfolg gelernt. Natürlich
­waren die Ergebnisse nicht ermutigend – aber wir haben
­dadurch Hinweise für neue Forschungsansätze erhalten. Sowohl die präventive als auch die therapeutische Impfung
werden kommen. Und gerade bei der Entwicklung der therapeutischen Impfung werden uns die Erkenntnisse aus dem
vergangenen Jahr helfen.
Unsere Therapiemöglichkeiten entwickeln sich stetig
weiter. Mittlerweile können wir von einer sogenannten funktionellen Heilung sprechen: Wenn wir ganz früh, nur Tage bis
Wochen nach einer Infektion, mit der Therapie beginnen,
kann eine erhebliche Zahl von Patienten das Virus langfristig
auch ohne Therapie kontrollieren. Das sind Ansätze, die wir
in den vergangenen Jahren erprobt haben. Unser Ziel ist
­natürlich nach wie vor die Heilung. Aber auch der Weg dahin
ist entscheidend, und auf diesem Weg haben wir relativ
schnell sehr große Fortschritte gemacht.
Professor Norbert Brockmeyer ist neben seiner Tätigkeit für das
­Kompetenznetz HIV/Aids auch Präsident der Gesellschaft zur
Nach wie vor ist die Krankheit nicht heilbar. Für eine Entwarnung ist es also zu früh, dennoch ist Aids längst nicht mehr so
im Fokus wie noch vor ein paar Jahren.
Richtig, HIV ist nicht heilbar. Wichtig ist, dass im Rahmen
einer HIV-Infektion andere Erkrankungen – Herz-Kreislauf-,
Tumor-, Nerven-Erkrankungen – viel häufiger auftreten und
auch zum Tode führen. Zudem bekommen Menschen mit
einer HIV-Infektion leichter andere sexuell übertragbare Infektionen, erkranken an Gonorrhoe, Syphilis oder an Hepa­
titis-C. Insbesondere die Behandlung der Gonorrhoe ist
schwierig, da viele Antibiotika nicht mehr wirken.
­Förderung der sexuellen Gesundheit (DSTIG) und Direktor der
­Forschung und Lehre an der Klinik für Dermatologie, Venerologie
und Allergologie der Ruhr-Universität in Bochum. Er leitet dort
­außerdem das Zentrum für sexuelle Gesundheit.
Aids in Zahlen
In Deutschland steckten sich im Jahr 2012 nach den Schätzungen des Robert-Koch-Instituts
3400 Menschen mit dem HI-Virus an. Die Epidemiologen gehen von insgesamt 78 000 Erkrankten
hierzulande aus.
Weltweit sind inzwischen rund 34 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert. In einigen
­Regionen der Erde, etwa im südlichen Afrika, haben sich mehr als 25 Prozent der Menschen im
Alter von 15 bis 49 Jahren mit dem Virus angesteckt oder sind bereits an Aids erkrankt.
Trotz der inzwischen auch global besseren Versorgung mit Medikamenten verläuft die
­Krankheit in vielen Fällen tödlich. Experten schätzen, dass weltweit nach wie vor zwei Millionen
*Moleküle, die Proteine spaltende Enzyme hemmen
Menschen pro Jahr an Aids sterben.
70
Hilfe! ---Hilfe!
Klinische
--- Klinische
StudienStudien
--- Interview
--- Aids-Chronologie
Brockmeyer ------ 71
Aids – eine Chronologie
1984
Die amerikanische Gesundheitsministerin Margaret Heckler gibt zu Protokoll: „In
ein paar Jahren wird es eine Impfung gegen Aids geben. Wir werden innerhalb der
nächsten beiden Jahre Heilungsmethoden gefunden haben.“ In Deutschland kommen die ersten HIV-Antikörper-Tests zum Einsatz. Ende 1984 gibt es in den USA
7699 gemeldete Erkrankungen, die Zahl der Toten ist auf 3665 angestiegen.
um 1900
Inzwischen gilt als gesichert, dass bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein Urtyp des
HI-Virus von Affen auf den Menschen übertragen wurde. Als Vorgänger des Erregers wurde das bei Schimpansen vorkommende SI-Virus identifiziert. Experten gehen davon aus, dass seine Verbreitung vermutlich in der Region Westafrika begann.
Die Gesundheitsbehörde der USA lässt den ersten HIV-Antikörper-Test zu. In
­Atlanta findet die erste internationale Aids-Konferenz statt. Der erste HIV-Patient
erhält im Rahmen einer Studie den Wirkstoff AZT. Die Substanz blockiert das
­Enzym Reverse Transkriptase, das für die Umschreibung der Virus-Erbinformation
in menschliche DNA wichtig ist.
Im Kongo wird einem Mann Blut abgenommen. Untersuchungen der Blutprobe
ergeben Jahrzehnte später, dass sie HIV-Antikörper enthält. Es handelt sich um die
erste nachgewiesene HIV-Infektion bei einem Menschen.
Antikörper.
Er hatte seine AidsErkrankung öffentlich gemacht:
Am 2. 10. 1985
starb Rock Hudson.
Der amerikanische Kongress beschließt die Gründung eines Netzwerks für AidsForschungseinrichtungen und stellt dafür rund 50 Millionen Dollar zur Verfügung.
Bei 29 003 US-Bürgern ist Aids diagnostiziert, die Zahl der Toten steigt auf 16 301.
In Deutschland wird bei einem Patienten eine rätselhafte Erkrankung festgestellt.
Wie sich bei späteren Analysen herausstellt, war der Patient mit dem HI-Virus
­infiziert. Es ist der erste dokumentierte Aids-Fall hierzulande.
1987
1981
Die amerikanische Gesundheitsbehörde lässt AZT unter dem Namen Retrovir als
erstes Medikament gegen Aids zu. Die Behandlungskosten betragen rund 10 000
Dollar im Jahr. Damit ist die Therapie die bis dahin teuerste der Medizingeschichte. Die Wirksamkeit des Medikaments hängt von einer akribischen Verabreichung
ab: Es muss rund um die Uhr exakt alle vier Stunden genommen werden.
47 743 Aids-Erkrankte leben mittlerweile in den USA, 27 909 sind gestorben.
Humanes Immundefizienz-Virus,
abgekürzt H IV
1989
1982
Robert Gallo
Luc
Montagnier
Foto: www.cdc.gov, US National Library of Medicine)
Der Vertrieb des neuen Medikaments ddl, das ebenfalls antiretroviral wirkt, wird
in den USA bereits vor der Zulassung genehmigt.
Die Zahl der registrierten Aids-Fälle in den USA liegt jetzt bei 117 781.
1983
Dem Team um den Wissenschaftler Luc Montagnier gelingt in der virologischen
Abteilung des Institut Pasteur in Paris der Nachweis eines Retrovirus. Im Mai veröffentlicht Luc Montagnier ein Bild des neuen Erregers im Fachmagazin Science.
Zudem schickt er Proben des Virus an Robert Gallo in die USA.
In den USA steigt die Zahl der gemeldeten Erkrankungen auf 3064, davon sind
sieben Prozent Frauen. Die Zahl der Todesfälle steigt auf 1292.
aller Blutprodukte auf H IV-
1986
1978
Das neue Krankheitsbild wird jetzt auch in Europa beobachtet. Die Erkrankung
erhält einen Namen: Auf einer Konferenz in den USA einigen sich die Fachleute
auf Acquired Immune Deficiency Syndrome, kurz Aids. Der Wissenschaftler Robert Gallo, der am amerikanischen National Cancer Institute forscht, stellt die Hypothese auf, dass Aids durch ein Retrovirus ausgelöst wird. Es stellt sich heraus,
dass Aids auch bei heterosexuellen Frauen und bei Drogenkonsumenten auftritt.
Erstmals wird die Infektion bei einem Patienten in Deutschland diagnostiziert.
Mitte 1982 sind in den USA 452 Erkrankungen gemeldet und 177 Todesfälle.
eine Pflicht zum Test
1985
1959
Ein Wissenschaftler der University of Los Angeles (UCLA) berichtet in einem
Fachartikel über eine ungewöhnliche Konstellation von Pilzinfektionen und speziellen Lungenentzündungen. Betroffen sind fünf offenbar sonst gesunde, homo­
sexuelle Männer. Wenig später erscheint in der New York Times ein Artikel über
eine Reihe ähnlicher Krankheitsfälle bei Homosexuellen mit Kaposi-Sarkomen.
Seit dem 1. 10. 1984 besteht
1990
Die amerikanische Gesundheitsbehörde erlaubt bereits vor der Zulassung die Verschreibung von ddC, einer weiteren antiretroviralen Substanz. Es soll Patienten
­helfen, bei denen AZT keine Wirkung zeigt und die an keiner klinischen Studie teilnehmen können. Die Zahl der an Aids Erkrankten in den USA liegt bei 161 073,
insgesamt sind seit Juni 1981 bereits 100 813 Patienten gestorben.
1992
Die FDA genehmigt den sogenannten Parallel Track. Damit bekommen HIV-Patienten die Möglichkeit, auch noch nicht zugelassene Medikamente zur Bekämpfung der Krankheit einzusetzen. Voraussetzung dafür ist, dass die herkömmliche
Therapie bei ihnen keinen Erfolg zeigt.
Aids ist für US-Männer zwischen 25 und 44 Jahren die Todesursache Nummer 1.
Retrovir – das erste zugelassene
Medikament gegen Aids. Bis
heute Teil der Standardtherapie.
72
Hilfe! --- Klinische Studien --- Aids-Chronologie --- 73
1993
2000
Die über mehrere Jahre laufende europäische Concorde-Studie kommt zu dem
­Ergebnis, dass AZT in der Monotherapie keinen zusätzlichen Nutzen bringt. Die
Hälfte der Patienten hat sofort nach der Diagnose AZT bekommen, die andere
zunächst ein Placebo und erst später AZT. Bei den früh mit AZT behandelten
­Patienten kam es zu mehr Todesfällen und wegen schwerer Nebenwirkungen weit
öfter zum Abbruch der Therapie. Die ursprünglich empfohlene Dosierung wird
nach Veröffentlichung der Untersuchung stark gesenkt.
361 164 Aids-Diagnostizierte in den USA, 220 736 Tote.
Die Europäische Union erteilt die Zulassung für eine Dreier-Kombinations-Pille.
Das neue Medikament Trizivir besteht aus AZT, 3TC und Abacavir. In den USA
sind zum Jahresende 774 467 Erkrankungen und 448 060 Todesfälle registriert.
Hochwirksam,
aber zunächst
stark über­
dosiert: AZT.
1994
Eine Pilotstudie zeigt die Überlegenheit der Kombinationstherapie zur Monotherapie.
Aids ist die Haupttodesursache für alle US-Amerikaner zwischen 25 und 44 Jahren.
1995
2003
Ein erster Fusionshemmer erhält die Zulassung. Der Wirkstoff Enfuvirtid verhindert, dass das HI-Virus mit der menschlichen Zellmembran verschmelzen und in
sie eindringen kann.
Die WHO startet am 1. Dezember die „3 by 5 Initiative“. Sie soll bis Ende 2005
drei Millionen HIV-Infizierten den Zugang zu antiretroviralen Medikamenten
verschaffen.
Die US-Seuchenbehörde schätzt, dass 27 000 der jährlich 40 000 Neuinfektionen
in den USA durch Ansteckungen von Infizierten zustande kommen, die nicht
wissen, dass sie das Aids-Virus in sich haben.
Studien zeigen endgültig, dass der Einsatz von AZT in Kombination mit ddI oder
ddC gute Ergebnisse bringt. Ein erster Proteasehemmer wird von der FDA zur
Kombinationstherapie zugelassen. Zum Jahresende ist bei 513 486 US-Bürgern
Aids diagnostiziert, 319 849 Menschen sind bislang gestorben.
2005
1996
2006
Zwei weitere Proteaseinhibitoren werden von der FDA zugelassen. Die hochaktive
antiretrovirale Therapie HAART (Highly Active Anti-Retroviral Therapy), in der
AZT, ddI oder ddC mit einem Proteasehemmer kombiniert werden, wird zum
Behandlungsstandard. Sie verhindert die bis dahin immer wieder auftretenden
­
­Resistenzen. Der erste Vertreter einer neuen Medikamentenklasse, der nicht-nukleosidale Reverse Transkriptase-Hemmer, wird zugelassen. Tests ermöglichen erstmals die Bestimmung der Viruslast im Blut.
Die Zahl der Aids-Diagnosen sinkt in den USA zum ersten Mal seit Ausbruch der
Epidemie.
In den USA wird die erste Dreier-Kombination in einem Medikament zugelassen,
das nur einmal täglich genommen werden muss.
1997
Nach Angaben der Seuchenbehörde sinkt in den USA erstmals die Zahl der AidsToten. Es werden neue Kombinationspräparate zugelassen.
Das Robert-Koch-Institut teilt mit, dass die Zahl der HIV-Neuinfektionen in
Deutschland im ersten Halbjahr drastisch angestiegen ist.
Die Vereinten Nationen schaffen mit
U NAI DS ein spezielles Programm, das
Maßnahmen gegen die H IV-Epidemie
international abstimmt.
2008
Françoise Barré-Sinoussi und Luc Montagnier erhalten den Nobelpreis für Medizin
für die Entdeckung des HI-Virus.
2009
Der Verwaltungsrat von UNITAID gibt grünes Licht für einen Patentpool für AidsMedikamente.
2010
1998
Die FDA lässt einen HIV-Schnelltest in den USA zu.
Mit einer ergänzenden Zulassung wird ein Test auf den Markt gebracht, dessen
untere Nachweisgrenze der Viruslast nicht bei 400, sondern bei 50 Kopien liegt,
also hochempfindlich und verlässlicher ist.
2011
1999
Ein weiterer Proteasehemmer (Handelsname Agenerase) erhält in den USA die
­beschleunigte Zulassung.
Nach Schätzungen der WHO leben weltweit 33 Millionen Menschen mit Aids.
14 Millionen sind gestorben.
Das Robert-Koch-Institut errechnet, dass die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland seit 2007 sinkt.
2013
Die Hoffnungen auf eine Impfung werden nach erfolglosen Tests vorerst enttäuscht.
74
Hilfe! --- Klinische Studien --- Organ-Chips --- 75
Der Mensch
auf einem Chip
Tierversuche sind unbeliebt.
Umstritten.
Und ihre Ergebnisse begrenzt.
Doch bald könnte es eine Alternative geben:
Medikamententests auf Organ-Chips
Text: Sascha Karberg
Ein wesentlicher Schritt bei der Herstellung eines Multi-Organ-Chips ist
seine Behandlung mit physikalischem Plasma in der Plasmakammer.
74
Foto: Felix Brüggemann
3 Nach Zukunft sieht es hier nicht aus.
Der Glanz des backsteinernen AEGGebäudes aus der Jahrhundertwende in
Berlin-Wedding ist längst verblasst, der
Fahrstuhl altersschwach. In dem Labor
im fünften Stock, in dem eine neue Ära
von Medikamententests beginnen soll,
essen Uwe Marx und seine Mitarbeiter
gerade Quark mit Pellkartoffeln, Butter
und Salz – ein Berliner Klassiker. „Wir
machen dit hier reihum, jeda is mal dran
mit Kochen“, berlinert der Biotechno­
loge kauend. Der für einen Kopfarbeiter
recht muskulöse Forscher redet viel und
schnell. Hin und wieder streut er einige
Scherze ein und lacht darüber schallend.
Doch der erste Eindruck täuscht: Hier
findet Spitzenforschung statt.
Ob Lunge, Leber, Niere, Muskel,
Haut oder Darm – weltweit versuchen
Forscher derzeit, die Organe des Menschen in Miniaturversionen künstlich
nachzuahmen. Spätestens 2017 sollen
zehn solcher Mini-Organe auf einem
Chip einen menschlichen Metabolismus
simulieren. Das wäre ein enormer Fortschritt für die Medikamentenentwicklung, denn bislang sind Forscher, die
Wirkungen und Nebenwirkungen neuer
Substanzen zumindest erahnen müssen,
bevor sie sie am Menschen testen, auf
Tierversuche angewiesen. Und diese 3
76
Hilfe! --- Klinische Studien --- Organ-Chips --- 77
das menschliche Genom war bekannt,
und vor allem hatte sich die Mikrosystemtechnik so schnell entwickelt, dass
Miniatur-Labore in Chip-Format möglich waren“, sagt der Biotechnologe
und Unternehmer. Schnell sei man auf
den Gedanken gekommen, nicht nur
Flüssigkeiten auf Chips miteinander rea­
gieren zu lassen, sondern auch Zellen in
die winzigen Kammern zu stecken.
„Von dort ist der Schritt zu Mini-Organen nicht mehr weit.“
Um seine Vision zu erden, lud
Marx 2008 auf eigene Kosten 14 Experten zu einem privaten Workshop zu
sich nach Hause ein, 60 Kilometer östlich von Berlin, von wo aus er jede Woche mit dem Fahrrad in die Stadt radelt.
Das Ergebnis des Brainstormings verarbeitete er zu einem Konzept für einen
Organ-Chip, der v­ erlässliche Aussagen
über Medika­
mentenwirkungen und
-nebenwirkungen erlauben sollte. Doch
der Europäischen Union war das Projekt, das er im Rahmen des Forschungsförderungsprogramms Framework vorschlug, „zu a­mbitioniert“. Auch sonst
erntete Marx eher skeptische Kommentare.
Etwas ganz Großes schaffen
Geht nicht, gibt’s nicht – Uwe Marx ist Berliner, fährt jede Woche 60 Kilometer mit dem
Fahrrad zur Arbeit und hat auch sonst einen langen Atem: Er will Imitate von menschlichen
Organen auf einem Chip nachbilden. Und zwar schneller als die Amerikaner.
vorklinischen Testreihen führen leider
häufiger zu falschen Prognosen. Weil
viele biologische Prozesse, die von
medizinischen Wirkstoffen beeinflusst
­
werden können, in Tieren nicht vorkommen oder anders ablaufen. Das hat
gravierende Folgen: Von zehn Medi­
kamenten-Kandidaten, die bei Tieren
wirken, scheitern neun bei Tests an
Menschen. Auch deswegen liegen die
Entwicklungskosten für ein zugelassenes, neuartiges Medikament heute bei
rund 800 Millionen Euro – der erfolgreiche Kandidat muss die Kosten der
Fehlentwicklungen mittragen.
Uwe Marx hatte als einer der ersten Forscher weltweit die Idee, Imitate
von Organen wie der Leber, der Lunge
oder der Haut auf einem Chip nachzubilden und diese wie im Menschen miteinander zu verbinden. Seine Idee des
„Lab-on-a-chip“-Systems war auch ein
Kind ihrer Zeit. „2007 war die Stammzellforschung weit genug entwickelt,
Das war für den Fünfzigjährigen nichts
Neues – er hatte schon früher gehört,
dass dieses oder jenes „nicht geht“. Und
später dann doch ging. Etwa als er 1994
die Berliner Firma ProBioGen mitgründete, für die er als Forschungschef über
zehn Jahre einen künstlichen Lymphknoten entwickelte, den vorher kaum
jemand für machbar hielt. Oder als er
die Leipziger Firma Vita 34 mitgründete,
die Stammzellen aus Nabelschnurblut
für spätere Stammzellbehandlungen einfriert und als Zellersatzquelle vorhält –
gegen Gebühr versteht sich.
Nun will er noch einmal „etwas
ganz Großes“ auf den Weg bringen. Dafür hat er mit eigenem Geld und Hilfe
von ProBioGen das Start-up TissUse
gegründet, das von Anfang an eng mit
der TU Berlin verbunden war. Durch
den Wettbewerb „GO-Bio“ des Bundes­
ministeriums für Bildung und Forschung erhielt das Unternehmen 2009
seine Anschubfinanzierung, weitere 1,5
Millionen Euro kamen von Investoren.
Marx kann bereits einen Multi-­
Organ-Chip vorweisen, der Haut und
Leber – die beiden Organe, die für die
Pharma- und die Kosmetikindustrie am
interessantesten sind – mit Blutgefäßimitaten kombiniert. Auch Leber- und
Nervengewebe verbindet sein Team
schon miteinander. Doch mittlerweile
ist der Berliner mit seiner Idee nicht
mehr allein. In den USA arbeiten rund
zwei Dutzend Forschungsstätten an
ähnlichen Chips. Wie groß dort das Interesse ist, zeigt eine bislang einzigartige
Zusammenarbeit zwischen den Nationalen Gesundheitsforschungsinstituten
(NIH), der Medikamentenzulassungsbehörde FDA und der Defense Advanced Research Projects Agency DARPA;
diese Initiative soll im Auftrag des Verteidigungsministeriums den technologischen Fortschritt der USA sichern. Mit
jeweils gut 70 Millionen Dollar finan­
zieren DARPA und NIH rund 20 Forschungsgruppen im ganzen Land.
Marx scheint die Konkurrenz allerdings eher zu beflügeln als abzuschrecken. „Wir glauben, dass wir schneller
sein werden als die Amerikaner“, sagt
er und lehnt sich demonstrativ entspannt zurück. Schließlich habe TissUse
einen jahrelangen Entwicklungsvorsprung. Und die US-Kollegen haben
nicht unendlich Zeit: 2017 sollen sie
etwas Brauchbares vorweisen – egal,
­
woher die beste Technologie kommt.
„Auch das ist für uns eine Chance“,
sagt Marx. Wenn sich die Investoren
weiterhin nicht trauen, in sein Zukunftsprojekt zu investieren, wird er
­seine Forschungsergebnisse eben in die
USA verkaufen.
„Bevor die Amis ihr Programm gestartet haben, hieß es, dass Multi-Organ-Chips unmöglich seien. Jetzt sagen
die gleichen Leute, dass wir tolle Sachen machen, aber die Amerikaner bestimmt schneller sein werden“, erzählt
der Forscher mit spöttischem Grinsen.
Rund 20 Millionen Euro fehlen, um den
Zehn-Organ-Chip entwickeln zu können. Das ist nicht viel für solch ein Projekt, zumal laut Marx die Pläne fertig
sind bis zum Design der etwa daumengroßen Chips, in denen die Miniaturorgane in mehreren Schichten übereinander gelagert und miteinander verbunden
sein werden.
Dem Geld folgen?
Das Wyss Institute der Harvard University in Cambridge, USA, das bereits
Lunge, Leber, Darm und andere Organe auf Chips nachgebildet hat, kennt
solche finanziellen Engpässe nicht. Der
Schweizer Milliardär und Harvard-Absolvent Hansjörg Wyss hat 250 Millionen Dollar in die Gründung des Instituts gesteckt – die größte Spende einer
Privatperson an die Elite-Uni. Da drängt
sich die Frage auf, warum Marx mit
s­einer Idee nicht einfach dem Geld in
die USA gefolgt ist. „Die würden mich
und meine 15 Leute sofort nehmen“,
antwortet er, „aber es gibt keinen
Grund für mich zu gehen.“ Nur in
Deutschland, glaubt Marx, könne er die
richtigen Gerätetechnik-Ingenieure und
Gewebezucht-Experten zu einem offenen und kreativen Gedankenaustausch
zusammenbringen, um seine Idee zu
verwirklichen.
So oder so wird es noch einige
­Jahre dauern, bis Organ- und Multi-Organ-Chips in der klinischen Forschung
zum Einsatz kommen. Denn selbst
wenn sie funktionieren, müssen sie erst
noch ihre Zuverlässigkeit beweisen.
„Will man mit solchen Systemen die
­Sicherheit der Patienten und Freiwilligen verbessern, die ein neues Medikament bekommen, dann müssen sie
wirklich getestet sein“, sagt der Toxikologe Thomas Hartung, der lange das
Europäische Zentrum für die Validie- 3
An einer Reinraum-Werkbank setzen Mitarbeiterinnen Zellen und Gewebe in die MultiOrgan-Chips ein. Danach können die Experimente im Brutschrank beginnen.
78
Hilfe! --- Klinische Studien --- Organ-Chips --- 79
rung alternativer Testmethoden geleitet
hat und jetzt an der Johns Hopkins University in Baltimore forscht und lehrt.
Mittlerweile gebe es Tests ohne
Tiere, die vorhersagen könnten, ob eine
Substanz Haut oder Auge reizt. „Aber
sobald es um komplexe Fragen geht,
etwa ob eine Substanz Krebs auslöst,
wird es schwierig“, erklärt Hartung.
Auch Tierversuche können darüber keine hundertprozentigen Aussagen machen, und so hält der Forscher neue
Testsysteme für dringend nötig. „Der
Körper ist mehr als die Summe einzelner Gewebe oder Organe“, erklärt Hartung. „Nur komplexe Systeme können
uns sagen, wie die Organe zusammenspielen.“
Erster Schritt einer langen Reise
Das Problem ist bloß,
dass es schwierig
genug ist, einzelne
Organe nachzubauen –
ungleich schwieriger ist
es, solche Organe
zu kombinieren.
Das Problem ist bloß, dass es schwierig
genug ist, einzelne Organe nachzubauen – ungleich schwieriger ist es, solche
Organe zu kombinieren. Denn dafür
müssen unter anderem die relativen Organgrößen und die Stoffflüsse perfekt
abgestimmt sein. Was ist, wenn ein
Chip zum Beispiel eine schädliche Substanz auf dem Weg von der künstlichen
Leber zur Mini-Niere im Kunstblut zu
stark verdünnt und die Nierenzellen
nicht wie beim Patienten reagieren? Bislang hätten Forscher wie Marx nicht
bewiesen, dass eine größere Zahl bekannter Medikamente auf den Organoder Multi-Organ-Chips wie im Menschen wirkt, so Hartung. „Bisher wurden
nur einzelne Substanzen getestet, da ist
noch viel Arbeit zu leisten“, kritisiert er.
„Aber jede lange Reise beginnt mit dem
ersten Schritt.“
Kurzfristig, glaubt Hartung, werde
man Multi-Organ-Chips wohl zumindest dort einsetzen können, wo man
Tierversuchen nicht traut oder wo sie
keinen Sinn machen. „Heute sind die
Hälfte aller neu zugelassenen Medikamente Proteine, zum Beispiel Antikörper, sogenannte Biologics. Bei denen
sind Tierversuche so sinnvoll wie ein
Kropf.“ Antikörper sollen menschliche
Moleküle abfangen, nicht tierische –
trotzdem ist es bislang vorgeschrieben,
sie an Tieren zu testen, bevor sie Menschen verabreicht werden.
Entsprechend groß ist der Bedarf
an Alternativen zu Tierversuchen – und
jenseits der Organ-Chips gibt es zurzeit
keine andere innovative Technologie,
die diesen Platz einnehmen könnte.
„Die Pharmaindustrie ist an den Chips
sehr interessiert“, sagt Lewis Kinter, der
beim Pharmakonzern AstraZeneca die
Toxikologie und Medikamentensicherheit leitet. Es gebe allerdings zwei Sichtweisen unter den Forschern: „Die einen
hoffen, dass die Chips die vorgeschriebenen Tierversuche ablösen könnten.“
Die andere Gruppe, zu der sich Kinter
zählt, denkt, dass „die Chips lange vor
den regulären Tierversuchen helfen
können, bessere Entscheidungen darüber zu treffen, welche Wirkstoffe weiterentwickelt werden sollten und wie
deren Effizienz und Sicherheit verbessert werden können.“
In der frühen Entwicklungsphase,
so Kinter, sei der Bedarf für die Chips
viel größer. Denn während zumindest
einer von zehn Kandidaten nach den
klinischen Studien zugelassen wird,
schafft es bis zur Zulassung nur einer
von 5000 oder gar 10 000 Wirkstoffen,
die am Anfang der Medikamentenentwicklung als Kandidaten galten – also
noch vor den regulären toxikologischen
und pharmakologischen Zellkultur- und
Tierversuchen. „Wenn wir die Fehlentwicklungsrate von 9:10 auf 8:10 senken,
können wir die Zahl neuer Medikamentenzulassungen verdoppeln“, sagt Kinter. AstraZeneca ist Ende vergangenen
Jahres eine Kooperation mit dem Wyss
Institute eingegangen.
Langfristig könnte es für OrganChips noch ein Einsatzgebiet geben: in
der individualisierten Medizin. Denn für
die Chips werden menschliche Zellen
benötigt, die bisher aus Resten von
Operationen gewonnen werden – Marx
verwendet für seine Haut-Chips Gewebe, das bei Beschneidungen übrig bleibt.
Später aber sollen die Chips mit Stamm-
In einem Langzeitversuch werden die Multi-Organ-Chips im CO2-Brutschrank beobachtet.
zellkulturen bestückt werden – die im
Idealfall von betroffenen Patienten
stammen. Damit könnten möglicherweise Erkrankungssituationen einzelner
Patienten beziehungsweise Patientengruppen auf Chips nachgestellt werden,
zum Beispiel, wenn Patienten unterschiedlich auf Medikamente reagieren:
So kann etwa die Wirkung von Warfarin gegen Blutgerinnung bei Menschen
reduziert sein, deren Leberenzyme das
Medikament besonders schnell abbauen, während bei anderen die Enzyme so
langsam arbeiten, dass sich im Blut eine
gefährliche Überdosis ansammelt. Wären die Chips mit Zellen von Patienten
mit unterschiedlicher genetischer Kon­
stitution bestückt, ließe sich frühzeitig
herausfinden, welche Medikamente bei
welchen Patienten wirken und welche
zu starke Nebenwirkungen haben.
Das hätte auch Auswirkungen auf die
Zulassung neuer Medikamente. In den
USA konnte die FDA Wirkstoffe bislang nicht zulassen, die beispielsweise
bei 40 Prozent der Patienten schwere
Nebenwirkungen auslösen. Wenn jedoch mithilfe von Organ-Chips erkannt
werden könnte, was diese 40 Prozent
anfällig macht, und die Patienten danach getestet werden, könnten die übrigen 60 Prozent von dem Wirkstoff
­profitieren. Um diesem Ziel näher zu
kommen, plant Uwe Marx einen Diabetes-Chip, auf dem Medikamente gegen
Zuckerkrankheit an Gewebe von Diabetes-Patienten getestet werden sollen.
Am Wyss Institute wird ein ähnlicher
Chip mit Zellen von Asthma-Patienten
entwickelt.
Organ-Chips könnten die Medi­
kamentenentwicklung revolutionieren.
Ob Marx und seine Kollegen ihre Vision realisieren können, ist angesichts
vieler technischer Detailfragen offen.
Doch in Berlin sieht man der Zukunft
gelassen entgegen. „Das ist wie mit der
Eisenbahn“, sagt Marx. „Achtzehnhundertirgendwas wusste auch niemand,
ob man Eisenbahnschienen mitten
durchs Indianerland vom Osten in den
Westen der USA legen kann.“ Bis es
schließlich jemand tat. 7
80
Glossar
Hilfe! --- Klinische Studien --- Glossar --- 81
EMA (European Medicines Agency):
Agentur der Europäischen Union mit Sitz in London. Beurteilt die von den Arzneimittelherstellern für den Gebrauch in
der EU gestellten Zulassungsanträge für Medikamente nach
wissenschaftlichen Grundsätzen, soweit dafür nicht Behörden der Mitgliedstaaten zuständig sind. Darauf basierend
lehnt die Europäische Kommission die Anträge ab oder genehmigt sie.
Endpunkt:
BfArM
(Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte):
Eine der beiden Bundesoberbehörden, die in Deutschland für
die Genehmigung von klinischen Prüfungen für Humanarzneimittel zuständig sind. Gehört zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Gesundheit.
BMG (Bundesministerium für Gesundheit):
Zu seinen Aufgaben zählt es, die Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung sowie der Pflegeversicherung
zu erhalten und fortzuentwickeln. Dabei konzentriert sich die
Arbeit auf die Erarbeitung von Gesetzesentwürfen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften. Es erarbeitet
­unter anderem die Rahmenvorschriften für Herstellung, klinische Prüfung, Zulassung, Vertrieb und Überwachung von
Arzneimitteln und Medizinprodukten, beziehungsweise wirkt
daran mit, soweit die Vorgaben auf europäischer Ebene entstehen.
CRO (Clinical Research Organisation / Contract Research
Organisation):
Auftragsforschungsinstitut, das klinische Studien plant, organisiert, begleitet und durchführt. Fungiert als Dienstleistungsunternehmen für die pharmazeutische Industrie. Seine Tätigkeiten können sich vom Erstellen des Prüfplans bis zur
statistischen Auswertung erstrecken.
Deklaration von Helsinki:
Vom Weltärztebund 1964 in Helsinki verabschiedete Deklaration zu „ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen“. Wird auf Generalversammlungen
­immer wieder den neuesten Entwicklungen angepasst, zum
letzten Mal 2013 im brasilianischen Fortaleza, wo der Probandenschutz noch einmal verstärkt wurde. Weitere wichtige
Punkte sind die Freiwilligkeit an der Teilnahme und die Genehmigung nach ethischen Grundsätzen. Gilt als ethischer
Standard für klinische Studien, obwohl sie nicht bindend ist.
Richtet sich an Ärzte, aber auch an alle anderen, die im Bereich der klinischen Forschung arbeiten.
Vor Durchführung festzulegendes Ziel, das mit einer Studie
gemessen werden soll. So sind sogenannte primäre Endpunkte Parameter für Erfolg oder Misserfolg. Beispiele: Heilung
oder Zeit bis zum erneuten Tumorwachstum.
G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss):
Höchstes Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen im
deutschen Gesundheitswesen. Legt fest, welche medizinischen
Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet
werden. Entscheidet auf Grundlage von klinischen Studien
(nach der Zulassung) und mithilfe des IQWiG auch über den
Zusatznutzen von neuen Arzneimitteln.
Hit:
Wird auf der Suche nach Wirkstoffen für Arzneimittel bei der
Testung Tausender Substanzen eine Molekülstruktur gefunden, die eine Wirkung verspricht, spricht man von einem
„Hit“ – einem Treffer. Ein Hit ist aber nur der Ausgangspunkt der Entwicklung, selten bleibt ein solches Molekül
­unverändert.
Lead:
Aus einem Hit kann eine Leitstruktur, ein „Lead“, werden.
Als Leitstruktur bezeichnet man ein Molekül, das als Ausgangspunkt der Entwicklung eines Wirkstoffs durch chemische Veränderungen verbessert werden kann. Die Leitstruktur zeigt in Tests bereits die erwünschte biologische Wirkung,
hat aber in der Regel noch nicht die für einen Wirkstoff erforderlichen Qualitäten, was Wirkung, Nebenwirkungen oder
Verstoffwechselung angeht. Die Leitstruktur erzeugt einen
Effekt am Target, einer chemischen Struktur im Patienten.
Die Interaktion zwischen Lead und Target muss genau charakterisiert werden.
PEI (Paul-Ehrlich-Institut):
Die zweite Bundesoberbehörde für die Genehmigung von
klinischen Prüfungen. Das PEI ist zuständig für Impfstoffe
und biomedizinische Arzneimittel. Gehört zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Proband / Patient:
Als Proband bezeichnet man nur die gesunden Teilnehmer
einer Studie in Phase I. Ab Phase II sind die Teilnehmer
­Patienten und heißen auch so.
_ Kontrolliert: Eine Teilnehmergruppe bekommt das neu zu
testende Medikament, eine Kontrollgruppe ein etabliertes
Medikament. So werden Wirkung und Verträglichkeit mit­
einander vergleichbar.
_Randomisiert (Englisch: random, zufällig): die Zuordnung
der Teilnehmer in die einzelnen Gruppen erfolgt nach dem
Zufallsprinzip.
_Verblindung: Verfahren, bei dem die Teilnehmer einer oder
mehrerer Gruppen in Unkenntnis über die Behandlungszuordnung gelassen werden. Einfachblind bedeutet, dass die
Teilnehmer nicht wissen, welche Therapie sie bekommen.
Bei einer Doppelblindstudie wissen weder Teilnehmer noch
Arzt, wie die Zuordnung erfolgt ist. In offenen Studien wissen dagegen sowohl Teilnehmer als auch Ärzte, wer welche
Therapie bekommt.
_Placebokontrolliert: Eine Teilnehmergruppe bekommt ein
Scheinmedikament ohne pharmakologisch wirksame Sub­
stanzen.
_Crossover: Jeder Proband erhält erst das Prüfpräparat und
später die Kontrollsubstanz. Aber auch: Wechsel von Teilnehmern aus dem einen Studienarm in den anderen.
Target:
Ansatzpunkt im Körper, der im Zusammenhang mit einer
Krankheit steht und an dem ein Wirkstoff eingreifen könnte,
um den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen. Kann zum
Beispiel ein Rezeptor sein, also eine Andockstelle für ein Signalmolekül. Targets sind Moleküle oder biochemische Strukturen. Die Identifikation von Targets ist der erste Schritt bei
der Suche nach neuen Wirkstoffen.
Prüfarzt:
IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen):
Wissenschaftliches Institut in Trägerschaft einer vom G-BA
errichteten Stiftung privaten Rechts. Der Stiftungsrat ist zur
Hälfte mit Vertretern der Kassen und zur anderen Hälfte mit
Vertretern der Ärzte und Krankenhäuser besetzt. Das IQWiG
bewertet im Auftrag des G-BA wissenschaftliche Studien und
deren Aussagefähigkeit unter medizinischen und statistischen
Aspekten, vor allem auch über den Zusatznutzen neuer Arzneimittel und Behandlungsmethoden.
Der für die Durchführung der klinischen Studie an einem
Prüfzentrum verantwortliche Arzt.
Wirkstoffkandidat:
Sponsor:
Zusatznutzen:
Auftraggeber einer klinischen Studie, meist der Hersteller des
Prüfmedikaments, das getestet werden soll. Trägt für die Studie die Verantwortung und das unternehmerische Risiko. In
einer industrieunabhängigen Studie kann der Sponsor auch
ein Prüfarzt, ein Institut oder eine Organisation sein. Kann
seine Aufgaben als Auftraggeber ganz oder teilweise an eine
CRO abgeben.
Der medizinische Zusatznutzen eines neuen Medikaments im
Verhältnis zu einer gängigen Vergleichstherapie, die der G-BA
bestimmt. Um ihn festzustellen, muss das Pharmaunternehmen in Deutschland gleichzeitig mit der Markteinführung
­eines neuen Medikaments oder bei der Zulassung neuer Anwendungsgebiete ein Dossier zum Nutzen vorlegen. Da zu
diesem Zeitpunkt noch keine über die Zulassungsstudien
­hinausgehenden Anwendungserfahrungen vorliegen können,
spricht man auch von früher Nutzenbewertung. Hat der
G-BA einen Zusatznutzen per Beschluss zuerkannt, muss der
Hersteller mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen über die Höhe der Vergütung des Medikaments durch
alle Krankenkassen, einschließlich der privaten, verhandeln.
Klinische Prüfung:
Offizielle Bezeichnung für die Untersuchung von Arzneimitteln am Menschen, um Wirkung und Verträglichkeit festzustellen oder zu bestätigen. Umgangssprachlich – und seit
Kurzem auch in der EU-Rechtsprechung – findet der Begriff
klinische Studie Verwendung.
Studiendesign:
Das Vorgehen, nach dem die Prüfung durchgeführt werden
soll. Richtet sich nach der Prüfsubstanz, dem Krankheitsbild
und der Zielsetzung. Verschiedene Studientypen und Kombinationen sind möglich, zum Beispiel:
Lead, der in die präklinische Phase übergehen kann.
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