Klinische studien
Transcription
Klinische studien
Hilfe! Zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft Klinische Studien Ethisch: Wie sauber sind Arzneimittel- tests in Schwellenländern? Seite 18 Problematisch: Wie kommen Patienten mit sehr seltenen Krankheiten an neue Arzneien? Seite 38 Optimistisch: Kann ein Berliner Forscher mit Organchips Medikamententests revolutionieren? Seite 74 Ein Magazin im AUftrag des BPI Hilfe! --- Klinische Studien --- Vorwort --- 3 Geprüft „Menschenversuche“ und „Versuchskaninchen“ – das sind nur zwei der Schlagworte, die im Mai vergangenen Jahres in den Medien verwendet wurden, um über klinische Studien im Auftrag westlicher Unternehmen in der DDR zu berichten. Die Berichterstattung hat gezeigt, wie wenig die Öffentlichkeit über das komplexe Thema weiß. Und Nichtwissen schafft Misstrauen. Offenbar umso mehr, wenn die pharmazeutische Industrie beteiligt ist, eine Branche, die im Spannungsfeld zwischen Krankheit, Versorgung und Geschäft agiert. Und die das Gros der klinischen Studien in Auftrag gibt. Tatsächlich sind klinische Studien eine zwingende Voraussetzung für die Entwicklung und Zulassung eines Arzneimittels. Jeder Wirkstoff auf dem Weg von der Forschung bis zu einem in der Versorgung von Patienten genutzten Medikament muss irgendwann beim Menschen zum Einsatz kommen. Das geschieht in klinischen Studien, in denen viel von dem Wissen generiert wird, das Grundlage für die Zulassung und Anwendung eines Arzneimittels ist. Jede Studie beantwortet Fragen: Wie wirkt das Medikament, welche Nebenwirkungen hat es, wem hilft es, und wie muss es dosiert werden? Klinische Studien prüfen Arzneimittel – deshalb werden sie rechtlich korrekt auch als klinische Prüfungen bezeichnet. Diese Prüfungen sind vom Gesetzgeber vorgeschrieben, sie sind umfangreich reguliert und kontrolliert: Keine Studie kann ohne Antrag, Bewertung und Genehmigung durch die zuständigen Behörden und eine Ethikkommission begonnen werden. Menschen dürfen erst an einer klinischen Prüfung teilnehmen, nachdem sie umfassend informiert wurden. Auch Durchführung und Auswertung unterliegen strengen Auflagen. Doch ihre Ergebnisse sind die Grundlage für Arzneimittel, die Leben retten, schützen, verbessern und manchmal erst ermöglichen. Das ist der Anlass für uns, sie in unserem zweiten „Hilfe!“-Heft zum Thema zu machen. Unser Magazin will Hintergründe, Anforderungen und Praxis klinischer Prüfungen aufzeigen. Und natürlich die Menschen vorstellen, die daran mitwirken. Die Studien in der DDR sind in diesem Heft bewusst kein Thema: Ihr Umfang und die Umstände ihrer Durchführung sind Gegenstand laufender Forschungsarbeiten*, zu denen erste Zwischenergebnisse im Laufe dieses Jahres veröffentlicht werden sollen. Wir haben die zweite Ausgabe unseres Magazins wieder bei brand eins Wissen in Auftrag gegeben und der Redaktion freie Hand gelassen: bei der Auswahl von Autoren, Gesprächspartnern, Inhalten, bei Umsetzung und Gestaltung. Wir selbst hätten auch dieses Magazin so nie auf den Weg gebracht: Es zeigt Misserfolge, lässt kritische Stimmen zu Wort kommen, diskutiert Ansätze, die wir sehr skeptisch betrachten, relativiert Fortschritte der pharmazeutischen Industrie und hinterfragt unser Geschäftsmodell. Aber die erste Ausgabe hat gezeigt, dass gerade andere Meinungen und Sichtweisen zur differenzierten Auseinandersetzung mit Herausforderungen und Dilemmata anregen. Davon gibt es auch bei klinischen Studien genug – mehr als genug für ein zweites Heft. BPI – Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie *Institut für Geschichte der Medizin und Ethik der Medizin der Charité in Berlin, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, der Bundesärztekammer, den Landesärztekammern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Saarland, Sachsen, dem Verband forschender Arzneimittelhersteller, dem Bundesverband der pharmazeutischen Industrie und der Bundesstiftung Aufarbeitung Hilfe! --- Klinische Studien --- Editorial --- 5 Das Herzstück Susanne Risch, Chefredakteurin Es ist ein weiter Weg vom vielversprechenden Wirkstoff bis zu einem neuen Medikament. Nur ein winziger Bruchteil aller Forschungsvorhaben der Pharmaindustrie meistert den Parcours vom Labor bis zur Zulassung: Kaum ein Prozent aller getesteten Wirkstoffe schafft es jemals als Pille auf den Markt. Die überwältigende Mehrheit versandet irgendwo im Prozess zwischen Entdeckung und Vermarktung. Lange genug dauert er ja: Es vergehen zehn bis fünfzehn Jahre, bis aus einer Idee ein Medikament geworden ist. In den Sechzigerjahren waren es im Schnitt noch acht. Seitdem ist die Forschung komplizierter geworden, denn für viele Krankheiten kennen wir inzwischen die passende Medizin. Außerdem haben sich die Zulassungs bedingungen für neue Arzneien enorm verschärft, genau wie die Verfahren, in denen sich jeder Wirkstoff beweisen muss, bevor er sich irgendwann Medikament nennen darf. Ob eine neue Substanz wirksam ist, muss sie in klinischen Studien mit Menschen belegen. Sie bilden das Herzstück der Arzneimittelentwicklung – und den Schwerpunkt unseres Magazins. Wir wollten wissen, was genau es mit den Verfahren zur Prüfung und Zulassung auf sich hat. Weshalb das Prozedere so komplex ist; welche widersprüchlichen Erwartungshaltungen an den Ausgang einer Studie geknüpft sein können; wer sie nach welchen Kriterien designt; wie Ärzte, Patienten, Forscher, Hersteller und Ethiker darüber denken und worauf wir Verbraucher uns verlassen können – oder eben auch nicht. Wir haben im Zuge unserer Recherchen viel gelernt. Zum Beispiel über die enormen Fortschritte in der Behandlung von Aids-Patienten. Zwar ist die Krankheit bis heute nicht heilbar, aufgrund neuer Wirkstoffe ist die Lebenserwartung von HIV-Infizierten inzwischen aber fast genauso hoch wie die von nicht infizierten Menschen (Seite 66). Fast noch eindrucksvoller: die Therapieerfolge bei leukämiekranken Kindern in Deutschland, die weltweit als vorbildhaft gelten. Noch vor 40 Jahren starben hierzulande neun von zehn kranken Kindern, heute liegen die Heilungschancen der kleinen Patienten bei 80 Prozent. Für den Onkologen Günter Henze eine große Erfolgsgeschichte – und Resultat klinischer Studien (Seite 44). Natürlich passiert immer wieder auch das Gegenteil. Patienten leiden, und Tests müssen abgebrochen werden, wie etwa bei TGN1412, dem Wirkstoff des Würzburger Unternehmens TeGenero, der als verstörendes Beispiel in die Geschichte klinischer Studien eingegangen ist (Seite 48). Er war eine tragische Ausnahme, sicher. Aber die Erprobung neuer Wirkstoffe bleibt eben auch bei sorgfältigster Planung ein Risiko. Ob ein Mittel bei allen Menschen gleich wirkt, ist zunächst ebenso unklar wie die Fragen, ob seine Nebenwirkungen kalkulierbar und tolerabel sind oder ob es überhaupt eine Verbesserung darstellt. Das mag uns gefallen oder nicht: Vernünftige Antworten lassen sich nur mithilfe von klinischen Studien finden. 6 Hilfe! --- Klinische Studien --- Inhalt --- 7 Inhalt 22 08 Im Dickicht Zwischen Risiken und Renditen, Hoffnungen und Hürden: Der Prozess der klinischen Studie ist komplex, auch wenn es letztlich stets um das Wohl des Patienten geht. Sechs Akteure berichten. 58 22 Zehntausendmal probiert, eines hat funktioniert 28 Weltweit im Test Klinische Studien im internationalen Vergleich. 52 Was zählt, und was nicht zählt 58 Wer hat so viel Geld? 32 Das ist keine heile Welt 74 Wie verlässlich sind Medikamente, die in Indien oder China getestet wurden? Professor Karl Broich über die Sicherheit von Medikamententests in Schwellenländern und die Globalisierung ethischer Standards. Wer kann jenseits der Pharmaindustrie Studien finanzieren? Der Staat? Krankenkassen? Die Crowd? Und wer will das? 66 Glück, sehr viel Geld und eine Revolution 38 Ausnahmsweise? Die Suche nach einem Mittel gegen HIV war sehr schnell sehr erfolgreich. Warum? Ein Rückblick. Alina ist zwei Jahre alt und hat Progerie – eine sehr seltene Krankheit. Wie kommt sie an Medikamente? Ein extremes Beispiel für ein nicht seltenes Problem. Die Heilungschancen krebskranker Kinder sind in der Vergangenheit enorm gestiegen. Für den LeukämieExperten Günter Henze das Ergebnis kluger Kooperation und klinischer Studien. Ein Gespräch. Manchmal werden Tests abgebrochen. Weil Menschen gefährdet sind – oder ein Medikament sehr gut wirkt. Sie bewegen sich zwischen Korrelationen, Kausalitäten, Standardabweichungen und Tödlichkeitsraten. Und ohne sie ist eine klinische Studie nicht denkbar. Zu Besuch bei einer Biostatistikerin. Der Weg von einem neuen Wirkstoff zu einem neuen Medikament ist lang und kurvenreich – ein Überblick. 44 Das geht besser 48 Abbruch! 74 Der Mensch auf einem Chip 66 Nie wieder Tierversuche! Der Berliner Wissenschaftler Uwe Marx entwickelt künstliche Miniaturorgane, die einen Teil der klinischen Forschung ersetzen könnten. 80 Glossar 82 Impressum 8 Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 9 Im Dickicht Klinische Studien versprechen viel Gutes: medizinischen Fortschritt, neue Wege der Heilung, wirtschaftlichen Erfolg. Zugleich bergen sie aber auch beträchtliche Risiken. Das macht sie außergewöhnlich komplex. Keine einfache Situation für die Beteiligten, die ihren Weg finden müssen. Allein und gemeinsam. Text: Christian Sywottek Foto: Elias Hassos, Michael Hudler, Julia Knop 10 Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 11 Der Sponsor Ulrike Gnad-Vogt, Chief Medical Officer, CureVac GmbH, Tübingen „Studien sind Hoffnung und Risiko zugleich.“ Setzt bei ihren Studien auf akribische Vorbereitung und genaue Abstimmung: Ulrike Gnad-Vogt CureVac ist ein biopharmazeutisches Unter nehmen, das Wirkstoffe auf Basis der Ribo nukleinsäure (RNS) entwickelt. Wir engagieren uns vor allem in der Krebstherapie – unsere Medikamente sollen das Immunsystem zur Bekämpfung der Krebs zellen anregen. Darüber hinaus arbeiten wir an pro phylaktischen Impfstoffen, etwa gegen Grippe. Mit 120 Mitarbeitern und eigener Produktion ist CureVac ein kleines Unternehmen auf dem Pharmamarkt, aber ein recht großes im Feld der Biotech-Unternehmen. Klinische Studien sind für uns Hoffnung und Risiko zugleich. Man muss sich klarmachen: Ich will ein Medikament entwickeln, dessen Wirkstoff sich in vielen Tierversuchen als vielversprechend gezeigt hat, doch klinische Studien sind die entscheidende Prü fung, ob der ausgewählte Wirkstoff wirklich wert ist, ein Medikament zu werden. Wirkt der Stoff tatsäch lich bei Patienten, kann er zugelassen werden? Für Menschen, die jahrelang an einer Substanz geforscht haben, ist das keine abstrakte Frage – sie ist existen ziell. Und es ist eine ungeheure Erleichterung, wenn ein Wirkstoff klinische Tests besteht, man also eine Chance zu seiner Weiterentwicklung bekommt. Die Studien haben natürlich auch eine immense wirtschaftliche Dimension. Sie sind unsere einzige Chance, einen Wirkstoff auf den Markt zu bringen, unsere Investitionen zu amortisieren und schließlich Geld zu verdienen. Weil wir als kleiner Spezialist unser Risiko kaum streuen können, potenziert sich das noch: Wir arbeiten in einem begrenzten Wirkstoffgebiet und setzen damit zwangsläufig alles auf eine Karte. Hinzu kommt, dass klinische Studien viele Jahre dauern, und wir währenddessen weiter an der Wirkstoffgruppe arbeiten. Bringt eine Studie dann ein negatives Ergeb nis, hat man eventuell jahrelang in die falsche Rich tung geforscht. Scheitern ist schrecklich, egal, in welcher Phase man sich befindet, aber besonders enttäuschend ist es, wenn es erst in Phase III passiert. Zumal bis dahin oft schon viele Millionen Euro in die Entwicklung geflossen sind. Klinische Studien setzen uns enorm unter Druck, auch weil wir auf ihre Durchführung nur begrenzt Einfluss haben. Wir können unseren Wirkstoff nur so gut wie möglich machen, die Studie so gut wie mög lich planen und überwachen – ihre Durchführung aber müssen wir an Clinical Research Organisations (CROs) delegieren. So gut wie möglich, heißt für uns: Wir müssen Studien mit medizinisch relevanten Zie len planen und unseren Wirkstoff mit den besten verfügbaren Standardtherapien vergleichen. Natürlich wäre es bisweilen auch möglich, die Wahrscheinlich keit eines positiven Studienergebnisses zu erhöhen – etwa durch den Vergleich mit eher schwachen Thera pien oder auch durch die Wahl leichter zu erreichender Studienziele. Das ist ja auch die Kritik an vielen Stu dien. Aber was bringt das? Formal positive, aber we nig relevante Studienergebnisse allein reichen später oft nicht für eine Zulassung. Außerdem sollen die Krankenkassen die Kosten für die Behandlung über nehmen – und die vorgeschaltete Zusatznutzenprü fung ist mittlerweile sehr streng. Um erfolgreich zu sein, brauchen wir also quali tativ hochwertige Studien. Das ist eine Frage eines gu ten Studiendesigns – aber man muss die Studien auch umsetzen können. Und das ist für einen kleinen Spon sor nicht einfach. Eine Studie vorzubereiten kann bis zu zwei Jahre dauern. In dieser Zeit müssen wir uns mit Behörden und Gremien abstimmen, mit Ärzten und den CROs. Wir sind von ihnen abhängig, haben aber keine Spezialabteilungen etwa für Behördenkon takte im Haus, so wie die großen Pharmaunterneh men. Stattdessen arbeiten wir mit externen Beratern. Die Zusammenarbeit mit Behörden, den Ethik kommissionen und Zulassungsstellen klappt trotzdem sehr gut. Ich finde es positiv, dass diese Kontroll instanzen unsere Studien nochmals unabhängig auf Patientensicherheit und ethische Standards prüfen und den wirtschaftlichen Interessen der Sponsoren etwas entgegensetzen. Wenn sie lange mit einer Substanz gearbeitet haben und von ihr überzeugt sind, werden Sponsoren manchmal ein wenig betriebsblind. Wir haben uns beispielsweise lange vor Beginn einiger unserer ersten Studien mit dem Paul-Ehrlich- Institut über die Prüfpläne beraten und sie durch die genaue Abstimmung verbessern können – das sorgte neben glatten Genehmigungsverfahren auch für qua litativ hochwertige Studien. Eine mitunter nicht ganz konfliktfreie Abhängig keit besteht eher zu den CROs. Probandenrekrutie rung, die Betreuung der Studienzentren, das Monito ring der Patienten – das können wir als kleiner Sponsor nicht selbst leisten und müssen diese Auf gaben delegieren. Da kann es mitunter zu Problemen kommen, etwa wenn aufgrund von Personalknapp heit bei der CRO die Projekte großer Pharmafirmen bevorzugt werden. Dann müssen wir die Arbeit der CRO an den Studienzentren mit einem deutlich grö ßeren Aufwand als geplant unterstützen und überwa chen. Zum Glück passiert das nicht dauernd. Meis tens können wir die auftretenden Probleme im Dialog lösen, und mit der Zeit spielen sich die Teams ein. Jedes unserer Studien-Projekte ist schließlich auch für eine CRO neu. Das Risiko des Scheiterns – das bleibt freilich be stehen. Aber wer in der klinischen Forschung arbeitet, darf nicht ständig an dieses Risiko denken. Vielmehr sollte er die Chancen sehen, mit der eigenen Arbeit deutliche Therapieverbesserungen für Patienten erzie len zu können. Wenn ich mich für eine Tätigkeit in diesem Bereich entscheide, muss ich eine gewisse Unsicherheit schlichtweg aushalten.“ 12 Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 13 Die Ethikkommission Joerg Hasford, Vorsitzender der Ethikkommission der Bayerischen Landesärztekammer „Entscheidungen sind immer ein Gang auf dünnem Eis.“ Eines ist klar: Wir sind ein Nadelöhr für die Pharmaindustrie, die ihre Medikamente auf den Markt bringen will, denn wir müssen zwei Grund rechte in Einklang bringen: das Grundrecht auf Wür de und Unversehrtheit der Teilnehmer in klinischen Studien und das Grundrecht auf Forschungsfreiheit. Eine Studie ethisch zu beurteilen heißt, die Risi ken für die Teilnehmer abzuwägen gegen den erwar teten Nutzen für sie selbst, aber auch für Patienten, die in Zukunft von diesem Medikament profitieren könnten. Das ist immer eine Einzelfallentscheidung. In einer Ethikkommission sind unterschiedliche Professionen und Risikoperspektiven vertreten – Ärzte, Statistiker, Juristen, Pharmakologen, Theologen, Phi losophen, Männer und Frauen – aber die Entschei dungen sollen im Einvernehmen fallen. Der Weg des geringsten Widerstands kann bei dermaßen wichtigen Fragen jedoch nicht das geltende Prinzip sein, daher werden oft harte Diskussionen geführt. Es wäre aber unklug, einzelne Fachkompetenzen zu überstimmen. Denn wenn später ein Sponsor oder ein Teilnehmer wegen eines erlittenen Schadens klagt, könnten die Überstimmer haftbar gemacht werden. Die Entscheidung, ob eine Studie ethisch vertret bar ist, gleicht einem Gang auf dünnem Eis. Zwar weiß man in einigen Fällen gut Bescheid über die Effekte bestimmter Wirkstoffgruppen und kann Ana logieschlüsse ziehen oder sich Zell- und Tierversuche anschauen. Außerdem kann man beim Test ganz euer Wirkstoffe eine besonders niedrige Anfangs n dosierung und ein schrittweises Vorgehen vorschrei ben, etwa, dass an den Tests jeweils ein Proband nach dem anderen teilnimmt und nicht mehrere gleichzei tig – aber ein Risiko bleibt immer. Wann wir ein Risiko als zu hoch einschätzen? Das hängt davon ab, wie wahrscheinlich es mit welchem Schweregrad eintritt und ob die Schädigung reversibel ist. Auch die Erkrankung und die Frage, ob ein Wirk stoff an gesunden oder kranken Menschen getestet wird, sind wichtige Gesichtspunkte. Bei einem Impf stofftest an Gesunden sind weit geringere Risiken akzeptabel als bei einem Krebsmitteltest an Schwerst kranken. Entscheidend ist zudem, ob ein Patient ein willigungsfähig ist. Wirklich schwierig wird es, wenn der Patient selbst von einer Studie keinen Nutzen ha ben kann, wohl aber zukünftige Patienten. Wenn etwa die Aufnahme, Verteilung, Verstoffwechselung und Ausscheidung eines Wirkstoffs zunächst an Gesun den getestet wird, darf wirklich nichts schiefgehen. Das sind schwierige Entscheidungen, aber alles abzulehnen, weil ein Restrisiko nicht ausgeschlossen werden kann, wäre auch keine Lösung. Zwar votieren wir im Zweifel für den Teilnehmerschutz und gegen die Durchführung einer Studie, aber damit liegt man ethisch nicht automatisch richtig. Denn unethisch wäre es ebenso, Kranken eine mögliche Hilfe zu ver weigern, nur weil man es sich bei der Risikobewer tung zu einfach macht. Entscheidet sich nach sorgfältiger Abwägung im Zweifel für den Teilnehmerschutz: Joerg Hasford Deshalb diskutieren wir oft intensiv mit den Sponso ren und zeigen Lösungswege auf, sodass beide Grund rechte zusammenfinden. Von allen beantragten Arz neimittelstudien gehen weniger als fünf Prozent ohne Beanstandungen durch, etwa gleich viele werden definitiv abgelehnt. Die überwältigende Mehrheit der Anträge aber wird so modifiziert, dass wir zustimmen können. Dabei geht es oft um eine bessere Patienten aufklärung, denn das ist kein Papierkram, sondern die Grundlage, auf der sich ein Mensch für oder gegen eine Studienteilnahme entscheidet. Oder es werden zu risikoreiche Patientengruppen gewählt. Manche Sponsoren wollen sich auch gern enge Intervalle bei den Nachuntersuchungen sparen, die der Sicherheit der Teilnehmer dienen. Es kann aber genauso um Ver sicherungsfragen gehen. Die Sponsoren sind in der Regel sehr kooperativ. Schwierig kann es werden, wenn die Therapie in der Kontrollgruppe an dem hierzulande in der Kranken versorgung üblichen Standard ausgerichtet werden soll. Schließlich möchten Sponsoren, dass ihr Produkt wie ein Phönix aus der Asche steigt und brilliert. Da bei ist das Problem, dass viele Studien multinational durchgeführt und die Prüfpläne in den USA erstellt werden. Da liegt es für Sponsoren dann nahe, die vielerorts oft niedrigeren Versorgungsstandards für die Kontrollgruppe zu übernehmen. Es ist auch unethisch, Patienten einen übertriebe nen Nutzen vorzugaukeln – Medikamente, die in auch nur annähernd hundert Prozent der Fälle wirken oder frei von unerwünschten Nebenwirkungen sind, gibt es nicht. Trotzdem kann ich über die Zusammenarbeit mit den Sponsoren nicht klagen. Versuche der unlauteren Einflussnahme kommen äußerst selten vor. Wenn mich jemand kontaktiert, um was zu ‚drehen‘, sage ich gleich, dass ich darüber einen schriftlichen Ver merk für die Geschäftsstelle mache – dann wird das Gespräch in der Regel sofort beendet. Den Vorwurf, ein bürokratischer Haufen zu sein, hören wir eher aus medizinischen Fachgesellschaften und von Patientenvertretern, die meinen, wir würden die Kranken zu sehr schützen und den medizinischen Fortschritt bremsen. Viele Patientenorganisationen werden von Pharmaunternehmen unterstützt – viel leicht zeigt sich da deren Einfluss? Dennoch prüfe ich die Kritik und Anregungen von Patientenvertretern sehr ernsthaft, denn sie vertreten oft legitime und be rechtigte Anliegen. Aber es ist unsere Aufgabe, genau hinzuschauen und gegebenenfalls nachzufragen. Wer sollte es denn sonst tun, wenn nicht die Ethikkommission? Eine ge wisse Unsicherheit bleibt ohnehin, denn es passieren nun mal Fehler. Jede Kommission ist in einem ständigen Lernpro zess. Doch wir könnten noch mehr lernen, wenn wir wüssten, ob es bei den genehmigten Projekten bei den Teilnehmern studienbedingte Schäden gegeben hat. Aber die Versicherer halten die exakten Daten über entschädigungspflichtige Vorfälle trotz intensiver Dis kussionen unter Verschluss. So bleiben studienbedingte, entschädigungspflichtige Vorkommnisse für uns eine Blackbox – das darf eigentlich nicht sein.“ 14 Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 15 Die Zulassungsbehörde Jan Müller-Berghaus, Klinischer Assessor, Paul-Ehrlich-Institut „Wir wollen Dinge möglich machen.“ Das Paul-Ehrlich-Institut ist neben dem Bun desinstitut für Arzneimittel und Medizinpro dukte (BfArM) die zweite Zulassungsstelle für klini sche Prüfungen – ohne unser positives Votum darf keine stattfinden. Im Mittelpunkt steht die Sicherheit der Patienten, daneben legen wir aber auch Wert auf den Erkenntnisgewinn. Dabei prüfen wir, ob eine Stu die so angelegt ist, dass sie die darin formulierten Zie le und Erkenntniszuwächse wirklich generieren kann. Unsere Arbeit ähnelt der einer Ethikkommission, doch im Unterschied zu ihr schauen wir uns auch alle präklinischen Daten, den Herstellungsprozess und die pharmazeutische Qualität eines Wirkstoffs an. Das macht die Entscheidungen noch komplexer. Eine ge wisse Unsicherheit bleibt immer, sie hängt stark von der jeweiligen Entwicklungsphase eines Medikaments ab. In frühen Studienphasen ist unser Wissen naturge mäß begrenzt, doch je weiter die Entwicklung voran schreitet, desto umfassender werden die Dossiers. Bei Erstanwendungen am Menschen sind wir in den vergangenen Jahren restriktiver geworden, etwa bei Dosierungen oder der Steigerung der Probandenzahl, was viele Diskussionen mit Sponsoren nach sich zog. Aber zurücklehnen können wir uns nicht: Studien machen nur Sinn, wenn sie offene Fragen beantwor ten. Gefahren kann man vorab abzuschätzen versu chen, aber nicht mit letzter Sicherheit kennen. Wir können deshalb nie sicher sein, richtig zu entscheiden. Das gilt auch für die Frage nach dem Er kenntnisgewinn. Kann eine Studie einen Erkenntnis gewinn liefern? Natürlich schauen wir uns die Proban denauswahl an, die Dosierung, die Vergleichstherapie, außerdem haben wir umfangreiches Hintergrund wissen und diverse Behandlungsrichtlinien. Allerdings überschauen wir bei der Bewertung einer klinischen Studie nicht das gesamte Entwicklungsprogramm eines Sponsors. So stimmen wir wohl auch Studien zu, deren Wirkstoffe nicht unbedingt einen bislang unbekannten Therapieerfolg versprechen. Was ich aber auch sinnvoll finde, denn vielleicht haben diese Mittel dafür weniger Nebenwirkungen. Aufgrund der Komplexität der Aspekte, die zu berücksichtigen sind, fällt unser Votum in einem Team aus Medizinern, Biologen und Statistikern im mer im Konsens. Wir lehnen selten Studien rundher aus ab, sondern versuchen, mit den Sponsoren Lösun gen zu finden. Oft geht es um die Überwachung der Probanden, um statistische Verfahren und Analyse methoden bei der Studienauswertung oder um Dosie rungen bei Erstanwendungen. Manchmal auch um die Frage, ob eine Nachsorge ambulant oder stationär stattfindet. Einfach ist das nicht, denn unser Verfahren ist sehr reglementiert: Der Sponsor darf nur einmal nachbessern, dann müssen wir entscheiden. Wenn es dann nicht passt, müssen wir ablehnen. Deshalb fände ich es gut, wenn mehr Sponsoren vor der Einreichung in unsere Beratung kämen. Ge rade kleine Sponsoren aus der Biotech-Szene haben wenig Erfahrung mit Genehmigungsprozessen und ihr Budget ist knapp – da sollte es keine Fehler geben. Mit unserem Innovationsbüro geben wir Rat für die Erstellung des Dossiers: Welche präklinischen Daten sind erforderlich, welches Tier muss man für die Ver suche nehmen, wie anspruchsvoll müssen Studien ziele und Vergleichstherapien sein? All das kann man im Vorfeld klären. Doch dieser Schritt fällt nicht jedem Sponsor leicht. Nicht wenige begreifen uns als Stolperfalle oder haben irrationale Ängste, sich bei uns eine Blöße zu geben. Dabei haben wir auch eine Peer-Funktion, wir wollen Dinge möglich machen. Der wirtschaft liche Druck eines Sponsors darf unsere Entscheidung aber nicht beeinflussen. Wir haben unterschiedliche Rollen und müssen das akzeptieren. Jeder Sponsor hat das Recht, von sei nem Produkt überzeugt zu sein und schnell klinische Prüfungen in den gewünschten Dosierungen machen zu wollen. Es ist aber unsere Pflicht, vorsichtig zu sein und gegebenenfalls das Tempo zu drosseln. Das ist der Grundkonflikt unserer Beziehung. Doch im Grunde kommen wir gut miteinander zurecht. Was vielleicht auch daran liegt, dass meine Kollegen und ich uns um eine angemessene Balance zwischen Antreiben und Bremsen bemühen. Denn wir sind schließlich auch Ärzte, wir wollen neue Medikamente. Aber zugleich sind wir Prüfer. Ich fühle durchaus eine gewisse Verpflichtung gegen über Sponsoren. Die Sicherheit steht über allem, doch zugleich möchte ich niemandem eine Therapie vorenthalten. Bisweilen führt das zu einem ganz beträchtlichen inneren Druck. Umso wichtiger sind die Entscheidun gen im Team. Was bleibt, ist die zwangsläufige Restunsicherheit, ob man richtig liegt. Da muss man sich mental wappnen. Ich kann nicht sagen, wie ich das mache. Es ist wohl eine Charakterfrage.“ Weiß, dass trotz aller Vorsicht ein Risiko bleibt: Jan Müller-Berghaus 16 Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 17 Die Clinical Research Organisation Veronique Larsimont, Senior Director Clinical Operations, PRA International, Mannheim „Wir sind die UNO der klinischen Forschung.“ Moderiert, verhandelt und sucht für alle Beteiligten nach gangbaren Lösungen: Veronique Larsimont PRA ist eine Full-Service-CRO mit etwa 10 000 Mitarbeitern in mehr als 80 Ländern. Wir kümmern uns im Auftrag von Sponsoren um die Abwicklung von klinischen Studien: Wir entwickeln mit ihnen den Prüfplan, führen Gespräche mit Behör den und Kommissionen, identifizieren und betreuen Prüfzentren, machen das Monitoring und die Doku mentation, werten die Ergebnisse statistisch aus und schreiben den Abschlussbericht – wir kümmern uns also von Anfang bis Ende. Der Sponsor ist der Spe zialist für den Wirkstoff, wir sind die Experten für den Studienprozess. Dieser Prozess ist mit seinen vielen Regularien und Beteiligten ausgesprochen komplex, was unsere Aufgabe sehr anspruchsvoll macht. Wir brauchen me dizinische Fachkenntnisse, Prozesswissen, Organisati onstalent. Wichtig ist auch eine klare Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Obwohl alle Protagonisten dasselbe wollen – so schnell wie möglich kranken Menschen wirksame und sichere Medikamente zu gänglich machen – verfolgen sie im verschachtelten Studienprozess kurzfristig mitunter verschiedene Inte ressen. Wir stecken dazwischen, müssen moderieren, verhandeln, Lösungen finden. Im Grunde sind wir so etwas wie die UNO der klinischen Forschung – und manchmal auch die Prügelknaben. Dabei geht es meist um klassische Konflikte zwi schen Qualität, Zeit und Kosten – egal, in welcher Studienstufe man sich gerade befindet. Sponsoren wollen möglichst zügig durch die Studie kommen: Behördenanträge sollen schnell gestellt, Probanden schnell gefunden, Daten im Eiltempo ausgewertet werden. Die Ungeduld ist groß. Doch zugleich verlan gen sie Qualität, die natürlich Zeit und Geld kostet. Es ist ein Trugschluss zu glauben, ein möglichst schnell eingereichter Antrag würde Zeit sparen: Ist er fehlerhaft, kommt es zu Nachfragen, die den Prozess später verzögern. Für uns als CRO ist klar, dass es nur mit Qualität geht, schon weil die Behörden Validität verlangen und weil es um Menschenleben geht. Der Sponsor weiß das im Grunde auch, aber er steht unter Druck, und das führt in der Praxis durchaus zu Diskussionen. Dennoch begreifen sich beide Seiten zum Glück als Partner und finden meist eine gemeinsame Lösung. Wir sind schließlich voneinander abhängig: Immer weniger Pharmaunternehmen beschäftigen heute noch eigene Prozessexperten – deren Expertise ist zu den stetig wachsenden, international agierenden CROs abgewandert. Andererseits leben CROs von stabilen Kundenbeziehungen. Entscheidend ist, dass jeder Sponsor die für seine Bedürfnisse passende CRO fin det, sonst funktioniert eine solche Partnerschaft nicht. Das ist wie in jeder anderen Beziehung auch. Für uns ist das Beharren auf Qualität schlicht Teil der professionellen Arbeit, weil wir wissen, dass der Sponsor sonst Nachforderungen von den Behörden erhält und sich dadurch die Zulassung verzögern kann. Wir denken grundsätzlich langfristig und bis zum Ende des Prozesses, der Gesamtzeitraum ist für uns entscheidend. Dafür müssen die einzelnen Schrit te zügig, aber mit Bedacht gemacht werden – was auch für uns wichtig ist, denn wenn es im Genehmi gungsprozess zu unnötigen Verzögerungen kommt, stehen wir in der Kritik. Und wenn ein Sponsor unseren Rat partout nicht annehmen will? Dann machen wir ihn auf die möglichen Folgen aufmerk sam, setzen seine Vorgaben um, reichen etwa einen Antrag bei der Ethikkommission ein, auch auf die Gefahr von Nachforderungen. Aber so etwas kommt eher selten vor. Die Studien werden immer spezieller, bei gleich zeitig wachsenden Probandengruppen. Das macht es nicht leicht, schnell und hochwertig zu arbeiten. Die größte Herausforderung aber ist, dass wir Anforde rungen erfüllen und stellen müssen, die wir nicht selbst formulieren. Wir müssen gemäß den Regularien liefern, die von den Ethikkommissionen und Zulassungsbehör den vorgegeben werden. Das ist etwas, das nicht alle Beteiligten sofort verstehen, etwa die Prüfzentren und Studienärzte, denen wir mit unserem strengen Moni toring durchaus lästig werden können. Denn die Me diziner stecken in ihrem eigenen Konflikt zwischen Tagesgeschäft und Studien – sie haben wenig Zeit. Wenn wir bei denen wiederholt anrufen, weil wir bestimmte Dokumente oder Unterschriften brauchen, macht ihnen das zusätzlich Arbeit. Wir können gut verstehen, dass wir ihnen mitunter wie Nervensägen erscheinen. Doch wenn die Zulassungsbehörde eine Unterschrift haben will, ist das eben so. Und die Sponsoren haben ebenfalls Ansprüche an uns, die wir nicht ignorieren können. Aber die Position zwischen allen Stühlen gehört nun mal zu unserem Job.“ 18 Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 19 Die Studienteilnehmerin Anonyma (48), Brustkrebspatientin „Ich möchte auch Patientin sein dürfen.“ Ich habe seit 15 Jahren Brustkrebs, habe viele Ärzte gehabt und Therapien ausprobiert und musste dabei immer viel selbst entscheiden. Irgend wann habe ich mich regelrecht nach einer intensiven Betreuung gesehnt, nach jemandem, der mich an die Hand nimmt. Das Gefühl, dass sich keiner wirklich um mich kümmert, war ein wichtiger Grund dafür, dass ich ab 2009 an einer klinischen Studie teilgenommen habe. Ich erhoffte mir auch eine stärkere Krebskontrolle, zudem wollte ich etwas für den medizinischen Fort schritt tun. Brustkrebs liegt bei uns in der Familie. Die Chemotherapie bei meiner Mutter hatte noch starke Nebenwirkungen, sie hat sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Seitdem hat sich viel geändert, ich selbst pro fitiere von wirklich guten Medikamenten. Nun wollte ich meinen Teil zur Weiterentwicklung beitragen. Trotzdem habe ich die Studie nach anderthalb Jahren vorzeitig abgebrochen. Nicht wegen des Medi kaments oder seiner Nebenwirkungen, sondern wegen des schlechten Umgangs mit mir. Ich musste abwägen, was belastender für mich ist: die Studienbedingungen oder die Gefahr der Metastasenbildung aufgrund des Verzichts auf ein möglicherweise hilfreiches Medika ment. Und ich empfand das als sehr eindeutig. Es handelte sich damals um eine kombinierte Phase-II-Studie aus einer etablierten Chemotherapie und einem neuen Antikörper-Wirkstoff, mit dem zu vor bei Prostatakrebs Erfolge erzielt worden waren. Innerhalb eines Tages habe ich mich zur Teilnahme entschlossen, ich hatte großes Vertrauen zu den Ärz ten. ,Wir betreuen Sie ganz eng‘ lautete das Verspre chen, und mit gravierenden Nebenwirkungen hätte ich nicht zu rechnen. Ich fühlte mich gut aufgeklärt. Ob ich das Placebo oder den Wirkstoff bekommen würde, war mir ziemlich egal, die Chemotherapie gab mir Sicherheit. Ohne sie hätte ich niemals mitgemacht, denn eventuell ganz ohne Behandlung dazustehen ist für mich zu risikoreich. Ich habe täglich bis zu zehn Tabletten geschluckt, bin alle drei Wochen zur Unter suchung, alle sechs Wochen zur Computertomografie, alle zwölf Wochen zur Knochenzintigrafie – das war eine Riesenfahrerei, aber es musste eben sein. Ich habe auch täglich Tagebuch geführt über meinen Zustand und die Nebenwirkungen. Da ist man immer in Kon takt mit seiner Krankheit, was nicht einfach ist. Und es traten diverse Nebenwirkungen auf: Übelkeit, Durch fall, Geschmacksstörungen – da schmeckt die Schoko lade nach Leberwurst. Vor allem aber entwickelte ich ein Hand-Fuß-Syndrom, hatte offene Hände, die wie verbrannt schmerzten, sodass ich meine Rollläden zu Hause nur mit Handschuhen hochziehen konnte. Aber selbst das hätte ich bei guter Betreuung akzeptiert, zumal mein Onkologe sagte, diese Reak tionen seien womöglich ein Zeichen dafür, dass mein Körper die wichtigen Antikörper bildet. Aber von den Studienärzten fühlte ich mich mit meinen Problemen allein gelassen – und das war entscheidend. Ich hatte mir eine gewisse Empathie erhofft, doch die Ärzte wechselten ständig, ich hatte insgesamt fünf. Und wenn ich sie um Rat bat, hieß es nur: ,Bei anderen Studienteilnehmern ist es noch viel schlimmer, wir können auch nichts machen.‘ Kontinuität? Ernst neh men? Fehlanzeige. So musste ich mir alles erkämpfen. Die Chemo therapie wurde auf meinen Vorschlag hin reduziert. Aber es ist doch nicht der Job der Patientin, Vor schläge zur Therapie zu machen. Hilfe gegen Neben wirkungen? Ich habe mir selbst eine Akupunktur besorgt. Eine enge Kontrolle der Krebsprogression? Laut Prüfplan wurden die Befunde alle sechs Wochen verglichen, was aber bei einem langsam wachsenden Tumor keine Erkenntnisse bringt. Ich wollte Verglei che mit dem Erstbefund, was die Ärzte erst nach Dis kussionen mit dem Sponsor zuließen, der das übri gens selbstverständlich fand. Oder das Kontrastmittel bei der Knochenzintigrafie: Ich vertrug es nicht und ließ mir wegen einer Armvenenthrombose einen Port legen – nach Absprache! Doch die Radiologen woll ten ihn nicht nutzen, weil ich dadurch sterben könnte. All die Diskussionen, der Streit – ich fand das un menschlich. Die Studie wurde für mich immer mehr zur Belastung, zumal nicht eindeutig war, ob sie mir half. So habe ich sie nach vier Monaten intensiven Nachdenkens abgebrochen. Ich war heilfroh, als es vorbei war. Seitdem hangle ich mich wieder von The rapie zu Therapie. Im Griff habe ich den Krebs nicht. Die Studie damals war eine Chance – und es ist schade, dass es nicht geklappt hat. Aber bei einer guten Betreuung würde ich mich wieder darauf ein lassen. Es ist einfach so: Als Teilnehmerin möchte ich trotzdem Patientin sein dürfen, der es mal schlecht geht, die Fragen hat zu ihrem Zustand. Ich denke, auch Studienärzte können da etwas leisten. Empathie kostet keine Zeit – man muss es nur wollen und kön nen. Vielleicht sollte der eine oder andere Arzt einen Kurs in Patientenkommunikation belegen.“ 20 Hilfe! --- Klinische Studien --- Beteiligte --- 21 Der Arzt Carsten Bokemeyer, Direktor Medizinische Klinik II (Onkologie, Hämatologie), Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf „Studien sind Teil der Behandlung.“ Weiß, dass für Studienteilnehmer nicht nur die gute medizinische Behandlung, sondern auch die persönliche Betreuung wichtig ist: Carsten Bokemeyer Wir führen ständig eine Vielzahl von Stu dien der Phase I bis III durch, für privat rechtliche und akademische Sponsoren, aber auch selbst initiierte von Prüfärzten. So können wir un seren Patienten als Teil der Behandlung neue The rapien anbieten, die sonst nicht verfügbar wären. Außerdem wollen wir als Wissenschaftler, dass neues Wissen entsteht. Studien haben gerade in der Krebsmedizin zu einer erheblich besseren Pa tientenversorgung geführt. Eine große Herausforderung ist es für uns, die Studien in den Klinikalltag zu integrieren, denn die aufwendigen Regularien führen zu enormen Kosten und einem riesigen Administrationsaufwand. Deshalb haben wir uns professionalisiert: durch eine eigene Studienzentrale, mit der Ausbildung von Dokumen taren, mit der Identifizierung von Spezialisten. Und wir haben betriebswirtschaftliche Expertise aufge baut, um zu beurteilen, ob die angebotenen Studien kostendeckend durchführbar sind – bei etwa einem Drittel ist das nicht der Fall. Einfach enthusiastisch und ohne Beachtung des Umfelds Studien zu machen geht nicht mehr. Heute stellen sich viele Fragen: Haben wir die richtigen Pa tienten für diese Studie? Ist die Studie andernorts bereits gemacht worden? Verspricht sie überhaupt ei nen Nutzen, etwa durch geringere Nebenwirkungen oder eine Verlängerung der Überlebenszeit? Rein sta tistische Effekte wie etwa eine um zwei Wochen ver längerte Überlebenszeit sind klinisch nicht relevant, so etwas bekommt man oft schon durch eine hohe Zahl von Probanden nachgewiesen. Wenn es aber um ein halbes Jahr mehr an Überlebenszeit geht – das wäre schnell ein neuer Standard. Auf statistische Beschreibungen allein können wir uns nicht verlassen und auch nicht nur auf die Voten vorgeschalteter Institutionen. Ist eine geplante Studie medizinisch sinnvoll? Ist sie realistisch durch führbar? Darüber entscheiden wir am Ende in einem Gremium von Oberärzten in unserer Studienzentrale am Ende selbst. Und dabei fallen zwei Drittel mögli cher Studien durchs Raster. Entscheidend ist für uns die Qualität, auch weil wir die Balance halten müssen zwischen der Hilfe, die wir Patienten mit einer Studie eventuell anbieten können, und den Risiken, denen wir sie damit aus setzen. ,Würde ich das selbst tun?‘ – diese Frage stellt sich mir jedes Mal. Gerade bei Phase-I-Studi en, wenn ein Wirkstoff erstmals am Menschen ein gesetzt wird, sind wir viel vorsichtiger und aufmerk samer als bei späteren Studien. Und wenn starke Nebenwirkungen auftreten, ist das auch für hartge sottene Krebsmediziner belastend – da muss man sich ausbalancieren zwischen einem großen Maß an Empathie und der notwendigen Professionalität. Zum Glück machen wir oft überraschend gute Er fahrungen bei Studien, die die Rückschläge wieder aufwiegen, auch emotional. Dieses Ausbalancieren spiegelt sich ebenso in den Motiven der Patienten für eine Studienteilnahme wider. Es gibt da eine Mischung aus Altruismus, der individuellen Hoffnung auf eine bessere Behandlung und eine innere Zerrissenheit, wenn es nicht funktio niert wie erhofft – ganz ähnlich ergeht es auch dem Behandler. Allerdings natürlich mit dem entscheiden den Unterschied, dass es bei ihm nicht um das eigene Leben geht. Deshalb erwarten Probanden von uns Ärzten nicht nur eine medizinische Behandlung, sondern auch eine gute Betreuung. Das bedeutet viel Kommu nikation, nicht nur über ihren individuellen Zustand, sondern auch über die medizinischen Erkenntnisse rund um Therapie und Krankheit und neue Möglich keiten, die sich daraus ergeben können. Die Patienten sind keine Versuchskaninchen: Sie sind Menschen, denen es auch mental einmal schlecht gehen kann. Darauf müssen wir uns einstellen. Studienärzte sind auch behandelnde Ärzte – dieses Selbstverständnis halte ich für enorm wichtig. Durch eine gute Organisation lässt sich Zeit für Gespräche schaffen, aus denen Vertrauen entstehen kann. Doch dafür müssen Studienärzte Aufgaben auf teilen, etwa durch das Einbeziehen des Pflegeperso nals. Dabei hilft zum Beispiel eine für jeden Mitarbei ter nutzbare Datenbank mit Studieninformationen, sodass auch die Nachtschwester antworten kann, wenn ein Patient eine Frage zu seiner Studie hat. Und in einem guten Prüfplan sind oft bereits vorab be stimmte Reduktionen bei der Wirkstoffvergabe fest gelegt, wenn es zu Nebenwirkungen kommt. Auch deshalb entwickeln wir Studienprotokolle gern aktiv mit, selbst wenn das mitunter zu Debatten führt. Zu wenige Nachuntersuchungen aus Kosten gründen, zu viele Röntgenaufnahmen zur maximalen Demonstration des Nutzens – das sind Punkte, die wir immer wieder diskutieren. Denn gute Studienpro tokolle gehören für uns zur Patientenbetreuung. Wir agieren immer in einem Spannungsfeld zwi schen Sponsoren und Patienten, Risiko und Nutzen, Aufwand und eigener Leistungsfähigkeit. Aber wir machen das, weil es sich medizinisch lohnt. Und wir würden gern noch mehr tun, würden gern mehr Ideen verfolgen, die wir Mediziner immer wieder ent wickeln. Doch das wird schon aus Kostengründen immer schwieriger. Deshalb hoffen wir sehr auf Er leichterungen für akademisch initiierte Studien, etwa im Zuge der europäischen Harmonisierungen bei Vorgaben und Finanzierung.“ 22 Hilfe! --- Klinische Studien --- Ablauf --- 23 Schritt für Schritt Wie aus einem Wirkstoff ein Medikament wird. Text: Julia Groß Illustration: Christina Gransow Der Weg, den ein Wirkstoff zurücklegt, bis er in einem Medikament eingesetzt werden kann, ist lang: Er muss sich als wirksam erwiesen haben, soll möglichst geringe Nebenwirkungen und höchste Qualität aufweisen. Um all dies sicherzustellen, werden Wirkstoffkandidaten vor ihrer Zulassung in einem mehrstufigen Verfahren systematisch untersucht. Die Kriterien für diese Tests, ihren Ablauf sowie ihre Auswertungen sind gesetzlich exakt festgelegt. Verläuft alles nach Plan, steht am Ende eines mehrjährigen Prozesses die Zulassung eines neuen Medikaments. Das ist allerdings eher die Ausnahme: Das Gros der Kandidaten besteht den Prüfprozess nicht. Die wichtigsten Stationen zwischen Labor und Markt in Kürze: Forschung und Präklinik In der Grundlagenforschung und in präklinischen Tests wird ein Wirkstoff identifiziert, optimiert, charakterisiert, produziert und außerhalb des Menschen erprobt. Am Anfang der Entwicklung eines Medikaments steht die grundlegende Forschung zum besseren Verständnis einer Krankheit. Sie findet oft in wissenschaftlichen Institutionen und Universitäten statt, die in der Regel nicht über die Ressourcen verfügen, die Entwicklung eines Stoffes bis zum Arzneimittel zu finanzieren und zu begleiten. Deshalb kooperieren sie meist mit der anwendungsorientierten Forschung der Pharma-Industrie – eine Win-win-Situation. Die Forscher identifizieren ein „Target“, einen potenziellen Ansatz für ein Arzneimittel auf molekularer Ebene, und suchen einen dazu passenden Wirkstoff. Dafür werden mehrere Tausend Substanzen überprüft. In Tests mit Zellkulturen und in Tierversuchen wird anschließend untersucht, wie die vielversprechendsten Kandidaten auf lebendes Gewebe und Organismen wirken. Dabei stehen Aufnahme, Verteilung, Verstoffwechselung, Ausscheidung und Nebenwirkungen des Wirkstoffs im Mittelpunkt, auch für eine spätere Dosierung werden Daten ermittelt. Alle Eigenschaften und Reaktionen, die ein Wirkstoff dabei zeigt, werden in der „Investigator’s Brochure“, der Prüferinformation, zusammengefasst. Verlaufen die Tests positiv, wird für die anschließende klinische Prüfung ein Präparat mit dem Wirkstoff hergestellt, das man den Prüfungsteilnehmern verabreichen kann. Für die Herstellung dieses Präparats wird eine Erlaubnis bei der zuständigen Landesbehörde eingeholt. Nicht alle neuen Medikamente beruhen auf neuen Ideen. 2012 hatten von 39 in den USA erstmals zugelassenen Arzneien 18 einen völlig neuen Wirkmechanismus. Der Rest griff auf bekannte Targets und Reaktionen zurück. Dauer: 3 bis 5 Jahre Kosten: 121 Millionen Dollar Erfolgswahrscheinlichkeit: 7,1 Prozent* *Alle Angaben zu Zeiten, Kosten und Erfolgswahrscheinlichkeiten sind Durchschnittswerte. Sie können im Einzelfall erheblich abweichen. Quelle: DiMasi, Hansen, Grabowski: The Price of Innovation: New Estimates of Drug Development Costs Planung der klinischen Prüfung Prüfprotokoll oder Prüfplan In der klinischen Prüfung wird ein Wirkstoffkandidat erstmals an Menschen getestet. Dabei werden seine Wirksamkeit erprobt, die optimale Dosierung gefunden und Nebenwirkungen ermittelt. In der Regel initiiert die klinische Prüfung das Unternehmen, das den Wirkstoff entwickelt hat oder mit der betreffenden Forschungseinrichtung kooperiert. Es tritt als „Sponsor“ der Studien auf: Es beauftragt sie, finanziert sie – und ist für sie verantwortlich. Durchgeführt werden klinische Studien meist von spezialisierten Dienstleistern, sogenannten Contract Research Organisations (CRO), also Auftragsforschungsinstituten. Eine andere Form sind die „Investigator Initiated Trials“: Sie werden meist von Ärzten angeregt und organisiert, die damit Fragestellungen angehen, die sich aus der klinischen Tätigkeit ergeben. Oft ist das Ziel, vorhandene Therapien und Behandlungskonzepte zu verbessern. Grundlage für das Prüfprotokoll ist das Studiendesign: Es legt sowohl das Ziel einer Studie fest als auch das Verfahren. Im Prüfprotokoll wird die Vorgehensweise exakt festgehalten. Dazu stimmen sich Ärzte, Chemiker, Biochemiker, Biostatistiker und Pharmazeuten des Sponsors sowie eventuell Mitarbeiter der CRO ab. Bei der Bundesoberbehörde kann dazu eine wissenschaftliche Beratung beantragt werden. Zum Prüfprotokoll gehört das Ziel der Studie: der Endpunkt. Er bezeichnet ein Kriterium, an dem sich der Erfolg einer Studie messen lässt. Ein Endpunkt kann die Remission sein, also das temporäre oder dauerhafte Nachlassen von Krankheitssymptomen, aber auch der Tod des Patienten – etwa wenn es darum geht, ob ein Wirkstoff die Lebenszeit signifikant verlängert. Oft gibt es einen primären Endpunkt, wie die Überlebensdauer im Vergleich zur Standardtherapie, sowie einen sekundären Endpunkt, etwa die Lebensqualität während der Behandlung. Außerdem finden sich im Prüfprotokoll die Auswahlkriterien für die Studienteilnehmer (Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen, Vorbehandlungen), die vorgesehene Behandlung inklusive genauer Dosierungen des zu testenden Wirkstoffs sowie alle Begleituntersuchungen. 24 Hilfe! --- Klinische Studien --- Ablauf --- 25 Überprüfung der Machbarkeit Anmeldung der klinischen Prüfung Studien in Phase I Studien in Phase II Studien in Phase III Nicht jedes Krankenhaus hat die Patienten und die Ausstattung, die der Sponsor für eine Studie braucht. Deshalb überprüft der Sponsor oder die CRO, ob es genug Kliniken oder Arztpraxen gibt, die Interesse haben und die Voraussetzungen für eine Teilnahme an der klinischen Prüfung erfüllen. Sind genügend Mitwirkende gefunden, werden alle, die an der Durchführung der Studie direkt beteiligt sind, ausführlich informiert und geschult. Der Sponsor muss die Erlaubnis für seine klinische Studie bei der zuständigen Behörde und der Ethikkommission beantragen. In Europa ist die zuständige Oberbehörde die European Medicines Agency (EMA) in London. In Deutschland sind das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) oder – bei Impfstoffen und Seren – das Paul-EhrlichInstitut (PEI) zuständig, die zum Teil auch für die EMA die Bearbeitung übernehmen. Die Ethikkommission besteht üblicherweise mehrheitlich aus Medizinern, hinzu kommen Theologen, Naturwissen schaftler und Juristen. Kommission und Behörde bewerten das Prüfprotokoll und die Qualifikation der Prüfärzte, kon trollieren alle Informationen über den Produktkandidaten, die Einwilligungserklärungen der Teilnehmer sowie den Datenschutz und entscheiden innerhalb einer definierten Frist, ob eine Studie genehmigt oder abgelehnt wird. Zulassungsbehörde und Ethikkommission verfolgen und begleiten jede Studie bis zu ihrem Ende. Wird das Prüfprotokoll nachträglich verändert, müssen neue Genehmigungen für die gesamte Studie eingeholt werden. Bei der ersten Anwendung eines Wirkstoffs an Menschen geht es vor allem um die Frage, ob der Produktkandidat allgemein verträglich ist. Die Probanden sind gesunde Freiwillige. Ausnahme: Gesundheitsschädliche Präparate wie etwa Krebstherapeutika, die als Zellgifte wirken, werden von Beginn an von betroffenen Patienten getestet. Der Sponsor will in dieser Phase herausfinden, wie der Körper den Wirkstoff aufnimmt, im Organismus verteilt und ausscheidet. Bei steigenden Dosierungen überprüfen die Studienärzte außerdem, wann sich bei den Probanden welche Nebenwirkungen zeigen. Pro Dosierungsgruppe nehmen etwa ein Dutzend Personen teil, insgesamt rund 50 bis 80 Probanden. In einer kleinen, etwa 100 bis 300 Personen umfassenden, möglichst homogenen Gruppe wird die Wirkung der Prüfsubstanz auf die jeweilige Krankheit untersucht. Ab dieser Phase nehmen keine gesunden Probanden mehr an der Studie teil – die Substanz wird ausschließlich an Patienten getestet. Ist die Wirkung nachgewiesen und die Prüfsubstanz in die endgültige Darreichungsform gebracht – zum Beispiel als Tablette, Saft oder Ähnliches –, suchen die Studienärzte die bestmögliche Dosierung. Am Ende der Phase entscheidet der Sponsor, ob und in welcher Dosierung der Wirkstoff in der nächsten Phase geprüft wird. Hier geht es um die statistisch belastbare Bestätigung der Phase-II-Ergebnisse in einer vielfältigen, der Realität möglichst nahe kommenden Patientengruppe mit meist mehreren Hundert bis mehreren Tausend Teilnehmern: Patienten verschiedenen Alters und aus verschiedenen Regionen, davon eventuell einige mit weiteren Erkrankungen. Phase-III-Studien sollten – wie in der Regel auch die Studien der Phase II – kontrolliert (mit einer Kontrollgruppe, die ein Placebo oder die Standardtherapie erhält), randomisiert (die Zuordnung zu den Gruppen erfolgt zufällig) und doppelblind (weder Arzt noch Pa tient wissen, wer die Prüfsubstanz, wer das Placebo oder die Standardtherapie erhält) durchgeführt werden. Dauer: 2 Jahre Kosten: 15,2 Millionen Dollar Erfolgswahrscheinlichkeit: 9,5 Prozent* Dauer: 2 bis 3 Jahre Kosten: 23,5 Millionen Dollar Erfolgswahrscheinlichkeit: 17 Prozent* Dauer: 2 bis 3 Jahre Kosten: 86,5 Millionen Dollar Erfolgswahrscheinlichkeit: 68,5 Prozent* 26 Hilfe! --- Klinische Studien --- Geschichte --- 27 Wirkungsweisen Die Geschichte der klinischen Forschung Was kostet die Entwicklung eines Medikaments? Zulassung Nach dem Ende der dritten Phase kann der Sponsor die Zulassung eines Wirkstoffs als Medikament beantragen, um ihn auf den Markt zu bringen. Dafür werden sämtliche Untersuchungsergebnisse aus der Entwicklung, der präklinischen sowie der klinischen Forschung in einem Zulassungsantrag von häufig weit mehr als 100 000 Seiten zusammengefasst, den die zuständige Behörde (in Deutschland das PEI oder das BfArM) überprüft. Eine Zulassung wird erteilt, wenn die Behörde zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der Nutzen für die betroffenen Patienten größer ist als die Risiken durch Nebenwirkungen. Wird ein Wirkstoff als neues Arzneimittel durch die EMA zugelassen, darf es im gesamten europäischen Wirtschaftsraum vertrieben werden. Bis 1995 mussten für jedes Land Genehmigungen bei der nationalen Zulassungsbehörde eingeholt werden. Dauer: bis zu 2 Jahre Kosten: nicht verlässlich bezifferbar Erfolgswahrscheinlichkeit: 90 Prozent* Studien in Phase IV Auch nach der Zulassung sammeln Hersteller Daten und führen weitere Stu dien (post-authorisation safety studies) durch, vor allem, um seltene Nebenwirkungen zu erfassen. Weitverbreitet ist eine Berechnung von Joseph DiMasi von der Bostoner TuftsUniversität, der mit 800 Millionen USDollar pro zugelassenem Medikament kalkuliert. Der Ökonom geht von gut 400 Millionen US-Dollar reinen Entwicklungskosten aus, auf die er sowohl die Ausfälle anderer Produktkandidaten aufschlägt als auch die Opportunitätskosten, also den Gewinn, den man mit dem eingesetzten Kapital in der langen Entwicklungszeit zum Beispiel am Ak tienmarkt hätte erzielen können. Weil DiMasis Studie schon elf Jahre alt ist, wird aufgrund der steigenden Kosten und der Inflation inzwischen von mehr als einer Milliarde US-Dollar gesprochen. Die Zahl ist allerdings Gegenstand intensiver akademischer Debatten. Kritiker wie die Gesundheitsökonomen Donald Light und Rebecca Warburton halten DiMasi eine Reihe – aus ihrer Sicht übertriebener – Schätzungen und Annahmen vor. Sie kommen in ihren Berechnungen auf Beträge von 43 Millionen US-Dollar bis hin zu wenigen Hundert Millionen US-Dollar pro Medikament. Eine andere Rechnung macht der US-Branchenexperte Bernard Munos auf: Er teilte schlicht die Forschungsetats verschiedener Pharmafirmen in einem Jahrzehnt durch die Zahl der Zulassungen, die sie in diesem Zeit raum erhielten. Munos kam je nach Firma auf Beträge zwischen rund 350 Millionen und fünf Milliarden US-Dollar pro Arzneimittel. Um 1023 Der persische Arzt und Gelehrte Avicenna spricht in seinem Lehrbuch „Kanon der Medizin“ detailliert von bestimmten Regeln und Prinzipien, die beim Test neuer Heilmittel zu beachten seien. Zum Beispiel müsse die Wirkung eines Medikaments bei vielen Patienten zu beobachten sein, nicht nur bei einem, denn das wäre Zufall. 1747 Der schottische Arzt James Lind beweist mit einem Test an zwölf Matrosen, dass die Vitamin-C-Mangelkrankheit Skorbut durch die Gabe von Zitrusfrüchten geheilt werden kann. Die Untersuchung, bei der je zwei Matrosen verschiedene Nahrungszusätze erhielten, ist die älteste existierende Dokumentation einer kontrollierten klinischen Interventionsstudie (Vorher-nachher-Studie). 1834 Der Franzose Armand Trousseau etabliert das Konzept verblindeter, placebo-kontrollierter Studien. 1847 Ignaz Semmelweis zeigt an einem Wiener Krankenhaus, dass sich die Fälle von Kindbettfieber durch einfache Hygienemaßnahmen wie Händewaschen bei den Ärzten und Krankenschwestern deutlich reduzieren lassen. Seine Ergebnisse werden nicht allgemein anerkannt. 1961: Der Skandal um das Schlafmittel Contergan, das Missbildungen bei Ungeborenen verursacht, führt zu weitreichenden Änderungen des Arzneimittelrechtes. Für eine Zulassung müssen Pharmafirmen neben der Herstellungsqualität und der Unbedenklichkeit nun auch die therapeutische Wirksamkeit eines Produktes nachweisen und kontrollierte klinische Studien durchführen. Alle beobachteten Nebenwirkungen müssen dokumentiert werden. Zusätzliche präklinische Untersuchungen werden Pflicht. 1964 Die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes formuliert ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen. Sie betont die besondere Sorgfalt, mit der vorgegangen werden muss, und die Pflicht zur Information und Aufklärung der Probanden und Patienten. 1995 Die European Medicines Agency (EMA) wird gegründet. Sie bearbeitet und koordiniert Anträge von Unternehmen, die Arzneimittel im europäischen Wirtschaftsraum verkaufen wollen und stellt die Genehmigungen hierfür aus. 2005 – 2008 Die Pharmaverbände Europas, der USA und Japans beschließen, die Studienergebnisse für jedermann zugänglich im Internet zu veröffentlichen. Auch geplante beziehungsweise laufende klinische Studien sollen dort auffindbar sein. 1922 Dem 14-jährigen Kanadier Leonard Thompson wird als erstem Menschen Insulin gegen seine Erkrankung an Typ-1- 2013 Die 64. Generalversammlung des Weltärztebundes verabDiabetes-gespritzt. Er ist der einzige Testkandidat. schiedet eine Revision der Deklaration von Helsinki: Der Schutz der Probanden wird weiter gestärkt, bei Schäden müs1947: Der amerikanische Militärgerichtshof formuliert als Reaktion sen Kompensationen gezahlt, Zugang zum neuen Medikaauf die Menschenversuche im Nationalsozialismus den Nürn- ment muss den Teilnehmern auch nach Studienende ermögberger Kodex. Wichtigster Grundsatz: Versuchspersonen licht werden. Placebos sind in Studien aus ethischen Gründen nur erlaubt, wenn dadurch für den Patienten kein zusätzliches müssen Tests freiwillig zustimmen. Risiko entsteht. Alle Untersuchungen am Menschen sollen veröffentlicht werden. 1947 Der British Medical Research Council führt die erste große randomisierte, kontrollierte Studie durch: Es geht um die 2014 Die Offenlegung klinischer Studien wird Pflicht. Behandlung von Tuberkulose mit Streptomycin. 2 090 37,0 49 960 44,2 55 667 44,142 024 8,6 51 628im 42,1 Weltweit Test66 220 41,6 44 590 3 1 , 2 42 179 38,1 3 477 4,0 3 919 3,5 6 231 4 , 9 454 3,0 9 581 7,8 6 811 4,3 5 0783,639 551 ,4 33 640 38,8 29 470 26,1 35 579 28,2 0 711 4 905 4 ,5 32 688 26,7 44 214 27,7 3 9 9 0 9 2397864, 9 342 179 897 891 66 211 29,6 523 0,6 1 938 1,72 061 1 , 6 962 6,8 3 431 2,8 2 9521,02 298 1,6 23 165 2,6 1 694 2,0 9 925 8,87 801 6,2 17 458 1 1 , 9 39 551 18 243 12,8 84 055 9,4 627 7,9 19 307 12,1 560 1,8 1 892 1,7 2 663 2,1 1 219 0,8 1 344 211 1 905 1,3 13 904 1,5 664 0 , 8 1 3 3212662,1 939 6,12 731 2,2 6 677 4,5 5 653 4,6 6 463 862 0,8 ,1 10 737 7,5 39 864 4,4 69 0,1 84 055 84 057 202 1,01 370 0,9 539 0,4 121 0,1 742 0 , 5 905 0,513 075 15,1 8 08123 1657,2 12 170 9 , 7 904 84 057 3 262 9,0 8 069 ,6 9 941 6,2 19 4591313,6 9,4 86 792 100 112 986 100 126 105 1 0 0 47 137 100 122 560 100 159 350 1 0 0 28 Hilfe! --- Klinische Studien --- Studienteilnehmer --- 29 Zahl der Teilnehmer an klinischen Studien nach Regionen (von 2005 bis 2011) Westeuropa* (38,1 %) Studienteilnehmer insgesamt, weltweit (100 %) Osteuropa, Nicht-EU-Mitgliedstaaten (0,5 %) Kanada (4,4 %) USA (29,6 %) Mittlerer Osten / Asiatisch-Pazifischer Raum (9,4 %) Zentral- und Südamerika (9,4 %) Afrika (2,6 %) Quelle: European Medicines Agency, 2013 *EU / EWR / EFTA Australien / Neuseeland (1,5 %) GUS (4,4 %) 2 090 37,0 49 960 44,2 55 667 44,142 024 8,6 51 628im 42,1 66 220 41,6 44 590 3 1 , 2 Weltweit Detail 42 179 38,1 3 477 4,0 3 919 3,5 6 231 4 , 9 454 3,0 9 581 7,8 6 811 4,3 5 0783,639 551 ,4 33 640 38,8 29 470 26,1 35 579 28,2 0 711 4 ,5 32 688 26,7 44 214 27,7 3 9 9 0 9 2 7 , 9 66 211 29,6 523 0,6 1 938 1,72 061 1 , 6 962 6,8 3 431 2,8 2 9521,02 298 1,6 23 165 2,6 1 694 2,0 9 925 8,87 801 6,2 17 458 1 1 , 9 627 7,9 19 307 12,1 18 243 12,8 84 055 9,4 560 1,8 1 892 1,7 2 663 2,1 1 219 0,8 1 344 1 3 321 2,1 1 905 1,3 13 904 1,5 664 0 , 8 939 6,12 731 2,2 6 677 4,5 5 653 4,6 6 463 ,1 10 737 7,5 39 864 4,4 69 0,1 862 0,8 202 1,01 370 0,9 539 0,4 121 0,1 742 0 , 5 905 0,513 075 15,1 8 081 7,2 12 170 9 , 7 3 262 9,0 8 069 ,6 9 941 6,2 19 459 13,6 84 057 9,4 86 792 100 112 986 100 126 105 1 0 0 47 137 100 122 560 100 159 350 1 0 0 30 Hilfe! --- Klinische Studien --- Studienteilnehmer --- 31 Zahl der Teilnehmer an klinischen Studien nach Region und Jahr 2005 Patienten % 2006 Patienten % 2007 Patienten % 2008 Patienten % 2009 Patienten % 2010 Patienten % 2011 Patienten % Westeuropa* 32 090 37,0 49 960 44,2 55 667 44,1 42 024 28,6 51 628 42,1 66 220 41,6 44 590 31,2 Kanada 3 477 4,0 3 919 3,5 6 231 4,9 4 454 3,0 9 581 7,8 6 811 4,3 5 078 3,6 USA 33 640 38,8 29 470 26,1 35 579 28,2 50 711 34,5 32 688 26,7 44 214 27,7 39 909 27,9 Afrika 523 0,6 1 938 1,7 2 061 1,6 9 962 6,8 3 431 2,8 2 952 1,8 2 298 1,6 Mittlerer Osten / Asiat.-Pazif. Raum 1 694 2,0 9 925 8,8 7 801 6,2 17 458 11,9 9 627 7,9 19 307 12,1 18 243 12,8 Australien / Neuseeland 1 560 1,8 1 892 1,7 2 663 2,1 1 219 0,8 1 344 1,1 3 321 2,1 1 905 1,3 GUS 664 0,8 6 939 6,1 2 731 2,2 6 677 4,5 5 653 4,6 6 463 4,1 10 737 7,5 69 0,1 862 0,8 1 202 1,0 1 370 0,9 539 0,4 121 0,1 742 0,5 Zentral- und Südamerika 13 075 15,1 8 081 7,2 12 170 9,7 13 262 9,0 8 069 6,6 9 941 6,2 19 459 13,6 insgesamt 86 792 Osteuropa (Nicht-EU-Staaten) 112 986 126 105 *EU / EWR / EFTA; Quelle: European Medicines Agency, 2013. Abweichungen zu 100 % sind rundungsbedingt. 147 137 122 560 159 350 142 961 32 Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Karl Broich --- 33 Herr Professor Broich, wir wollen über Transparenz und ethische Standards in der Pharmaindustrie sprechen. Fast hätte ich unser Gespräch wegen eines Hexenschusses absagen müssen, aber dank eines Medikaments – dem Antirheumatikum Arcoxia – sitzen wir jetzt doch hier. Kann ich davon ausgehen, dass mein Medikament auf ethisch einwandfreie Weise getestet wurde? Broich: Ja, das können Sie. Damit Arzneimittel bei uns zugelassen werden, müssen die in Europa gültigen Standards eingehalten worden sein, selbst wenn ein Teil der klinischen Studien in anderen Ländern durchgeführt wurde. Die Pharmabranche erlebt derzeit eine ähnliche Entwicklung wie viele andere Industrien: Medikamente werden häufig in kostengünstigen Schwellenländern in Asien oder Südamerika getestet. Warum sollte es bei Arzneimittelstudien ethischer zugehen als in Sweatshops für Hemden oder Schuhe? „Das ist keine heile Welt“ Professor Karl Broich, Vizepräsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) über medizinische Studien in Schwellenländern, Pharma-Skandale und das unterschiedliche Körpergewicht von Deutschen und Indern. Interview: Bernhard Bartsch Foto: Albrecht Fuchs Natürlich beobachten wir diese Entwicklung genau und nicht ohne Sorge. Das hat mit den ethischen Standards ebenso zu tun wie mit den wissenschaftlichen, denn Studienergebnisse aus Asien sind nicht immer ohne Weiteres auf Europa übertragbar. Aber weil uns die Herausforderungen bewusst sind, prüfen wir mit Blick auf die Patientensicherheit sehr genau und arbeiten eng mit anderen Ländern zusammen. Kann ich als Verbraucher nachvollziehen, wo und wie mein Medikament getestet worden ist? Bisher ging das nicht ohne Weiteres, aber neuerdings haben wir gesetzliche Rege lungen, die genau das ermöglichen. Pharmakonzerne müssen jetzt innerhalb von sechs Monaten nach der Zulassung eines Medikaments alle klinischen Studien in einer Datenbank veröffentlichen. Dort kann jeder einsehen, wo die Tests gemacht wurden, wie viele Patienten teilgenommen haben, nach welchen Kriterien getestet wurde und wie die Ergebnisse waren. Das ist ein großer Fortschritt, um Transpa renz und Vertrauen zu schaffen. Das ist auch nötig, denn dass sich Schwellenländer wie Indien, China, Russland und Brasilien als Pharmastandorte etablieren, ist vielen Verbrauchern nicht geheuer. Immer wieder gibt es Berichte über Arzneimittel-Skandale. Warum geht die Pharmaindustrie dieses Risiko ein? In den Schwellenländern entstehen derzeit große neue Märkte. Die pharmazeuti sche Industrie investiert natürlich dort, wo das größte Wachstum ist. Wirkstoffe werden heute schon überwiegend in Asien produziert. Länder wie Indien und China knüpfen die Zulassung von Medikamenten an die Bedingung, dass auch ein Teil der klinischen Tests in ihren Ländern stattfindet.* In westlichen Gesellschaften wird es schwieriger, Menschen für Tests zu gewinnen. Menschenrechtsgruppierungen sprechen von „Pharmakolonialismus“. Ist das angemessen? Nein, das hat mit der Realität wenig zu tun. Zunächst einmal sind die USA und Europa noch immer die größten Märkte der Pharmaindustrie, und viele Tests wer den nach wie vor hier gemacht. Das verlangen wir als Zulassungsbehörde auch, denn um eine Arzneimitteltherapie beurteilen zu können, müssen wir natürlich sicher sein, dass sie auch bei unserer Bevölkerung wirksam ist. 3 * Zahl der Teilnehmer an klinischen Studien nach Regionen und Jahr siehe Seiten 28–31. 34 Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Karl Broich --- 35 Funktioniert der menschliche Körper nicht überall gleich? Im Prinzip ja, aber trotzdem gibt es Unterschiede. Zum Beispiel das Gewicht: Ein Inder ist im Durchschnitt viel leichter als ein Deutscher. Auch Ernährungs gewohnheiten oder andere Behandlungsbedingungen spielen eine Rolle. Schon zwischen Patienten in den USA und Deutschland können erhebliche Unterschiede auftauchen. Zum Beispiel? Für Fibromyalgie, eine sehr schmerzhafte Erkrankung des Muskel- und Skelett systems, sind in den USA Medikamente auf dem Markt, die wir in Europa nicht zugelassen haben. Denn als wir uns die Ergebnisse der klinischen Studien genau angeschaut haben, stellte sich heraus, dass die Tests von US-Patienten dominiert wurden. Bei denen konnte man eine positive Wirksamkeit nachweisen, bei euro päischen Patienten dagegen nicht. Unsere Abwägung von Nutzen und Risiken für europäische und deutsche Patienten war deshalb negativ. Wenn immer weniger Amerikaner und Europäer an Testreihen teilnehmen, werden solche Unterschiede in Zukunft vielleicht gar nicht mehr auffallen. Bisher sind bei uns zum Glück noch genügend Patienten zu Studien bereit. Aber wir müssen daran arbeiten, dass das so bleibt. Dafür muss man Patienten erklären, wo der Nutzen von medizinischen Anwendungstests liegt, nicht nur für die Allge meinheit, sondern auch für sie selbst. Sie haben die Chance, eine neue, bessere Behandlung zu bekommen. Und unsere Sicherheitsstandards sind so hoch, dass dabei niemand ein großes Risiko eingeht. Sehr sicher heißt allerdings auch sehr teuer. In Schwellenländern sollen die Kosten für Testreihen rund 40 Prozent niedriger sein. Bei drei- bis sogar vierstelligen Millionenbeträgen, die in die Entwicklung eines neuen Medikaments fließen können, bedeutet das enorme Ersparnisse. Dass man in Asien oder Südamerika viel preiswerter testen kann, liegt auf der Hand. Deswegen werden etwa Tests für Generika inzwischen überwiegend in Schwellenländern gemacht. Denn da geht es nicht mehr um die primäre klinische Wirksamkeit, sondern um die Frage, ob Wirkstoff A genauso verstoffwechselt wird wie Wirkstoff B. Das bringt uns zurück zu den ethischen Standards. Zulassungsstudien sind heute weltweite Unternehmungen mit gewaltigen Budgets und Dutzenden Dienstleistern. Gibt es da nicht jede Menge Möglichkeiten für Korruption und Manipulation? Gerade weil es um viel Geld geht, haben die pharmazeutischen Unternehmen ein hohes Eigeninteresse, unsere strengen Zulassungsanforderungen zu erfüllen. Dazu gehören einerseits die wissenschaftlichen Standards, etwa die richtige Auswahl von Patienten und Beurteilungsinstrumenten für die jeweiligen Krankheitsbilder, und andererseits die Einhaltung der ethischen Standards, die in der Deklaration von Helsinki festgehalten sind. Die Deklaration von Helsinki schreibt vor, dass im besten Interesse der Testpatienten gehandelt und diese über mögliche Risiken adäquat aufgeklärt werden müssen. 3 3 36 Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Karl Broich --- 37 Ist das in Ländern wie Indien, wo viele Menschen Analphabeten sind, überhaupt zu gewährleisten? Ja, das muss in jedem Fall sichergestellt sein. Die World Medical Association passt die Deklaration von Helsinki auch immer weiter an, um diesen Umständen Rech nung zu tragen. Medikamente kommen bei uns nur nach einer intensiven Prüfung durch die Zulassungsbehörde und eine Ethikkommission auf den Markt. hat es ein Abkommen mit Brasilien gegeben, auch nach China haben wir viele Kontakte. Wenig Austausch gibt es bisher leider mit Indien, aber über die Europäi sche Arzneimittelagentur (EMA) treiben wir auch das gerade voran. Indien stand in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik, zum Beispiel wegen eines Impfskandals der gemeinnützigen Organisation Path. Die hat 2009 mit Geld der Bill und Melinda Gates Stiftung eine Beobachtungsstudie gestartet, bei der Tausende „Wir wünschen uns, dass klinische Prüfungen wieder verstärkt in Europa durchgeführt und nicht weiter verlagert werden.“ Wie muss ich mir das vorstellen? Ein Wirkstoff wird im Labor eines Pharmaunter- Mädchen gegen die Gebärmutterhalskrebs verursachenden Papillomaviren geimpft nehmens entwickelt, beispielsweise in Deutschland. Dann wird er in aller Welt wurden. Sieben Probandinnen starben, und obwohl kein direkter Zusammenhang zu getestet, und nach mehreren Jahren liegt beim BfArM ein riesiger Stapel mit Unter- der Impfung hergestellt werden konnte, kam heraus, dass Ärzte und Behörden ethi- lagen in der Post. Wie können Sie nachvollziehen, was auf dem Weg dorthin alles sche Richtlinien grob missachtet hatten. Die minderjährigen Mädchen wurden etwa passiert ist? ohne Zustimmung ihrer Eltern geimpft. Ist es da nicht verständlich, dass Menschen- Wir sehen die Studien nicht erst am Ende, sondern begleiten sie von Anfang an. Jede Testreihe wird von uns oder einer anderen nationalen Behörde genehmigt. Und unsere Prüfer können den Verlauf vor Ort kontrollieren. rechtsorganisationen Alarm auslösen? Doch, das ist natürlich ein Skandal. So etwas darf einfach nicht passieren. Indiens Regierung hat nie einen vollständigen Untersuchungsbericht vorgelegt, an- Wie häufig finden Sie Regelverstöße? geblich aus Angst um den Ruf des „Pharmastandorts Indien“. Internationale Medizin- Das ist keine absolute Ausnahme. Kleinere Probleme gibt es häufiger, zum Beispiel falsch geführte Protokolle. Das kann dann zum Abbruch einer Studie führen. Tat sächliche Fälschungen, etwa erfundene Patienten, sind aber sehr selten. konzerne investieren dort besonders gern, weil es gut ausgebildete, Englisch spre- Wie viele Prüfanträge bearbeitet das BfArM im Jahr? In den vergangenen zehn Jahren sind in Deutschland mehr als 10 000 Studien durch geführt worden. Damit ist Deutschland eines der aktivsten Länder in der Durchfüh rung klinischer Studien. Für uns im BfArM heißt das um die 1000 Anträge zu neuen und 800 bis 900 Sicherheitsberichte aus laufenden Prüfungen pro Jahr. chende Ärzte gibt und viele Millionen Menschen, die für sehr wenig Geld zu Studien bereit sind. Natürlich sind sich auch die großen Pharmaunternehmen dieser Probleme be wusst. Sie haben deshalb eigene Auditoren, die ihre Studien genau überwachen und dokumentieren. Aber das Vertrauen, das durch solche Skandale verspielt wird, lässt sich nur schwer zurückgewinnen. Was lässt sich daraus lernen? Dass es gut ist, dass wir in Europa strenge Regelungen haben. Unser Arzneimittel recht ist auch aus Fehlern entstanden, etwa dem Contergan-Skandal. Auf unsere heutigen Standards können wir sehr stolz sein, deswegen müssen wir dafür sorgen, dass sie eingehalten werden. Wie viele Prüfer haben Sie dafür? Etwa 30. 30 Prüfer für fast 2000 Anträge und Sicherheitsberichte? Und da soll man sich keine Sorgen machen? Wenn Sie zehn Jahre in die Zukunft blicken: Was wäre Ihr Wunschszenario? Wir wünschen uns durchaus Verstärkung. Die Studien werden regional komplexer, deshalb werden auch die Inspektionen immer aufwendiger. Da müssen wir in der Tat hinterher sein, das ist keine heile Welt. Volle Transparenz bei der Durchführung und Auswertung klinischer Studien nach unseren wissenschaftlichen und ethischen Prinzipien und ein weltweit funktionie rendes Netzwerk von Inspektoren der unterschiedlichen Behörden, die sich eng austauschen und sicherstellen, dass unsere hohen Standards überall eingehalten werden. Sie brauchen also mehr Personal. Das wäre das eine – und das gilt eigentlich für alle europäischen Behörden. Das andere ist, dass wir uns wünschen, dass klinische Prüfungen wieder verstärkt in Europa durchgeführt und nicht weiter verlagert werden. Wir haben hier sehr hohe Standards, die wir schützen sollten. Prof. Dr. Karl Broich, 54, ist Vizepräsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn. Der Was ist Ihre Horrorvorstellung? Mediziner arbeitete 15 Jahre als Arzt für Dass klinische Prüfungen nur noch an den kostengünstigsten Standorten durchge führt werden. Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie an Universitätskliniken in Bonn und Halle. 2000 wechselte er zum BfArM, der medi Der Wunsch, dass Arbeit zurück in die teuren Industrienationen verlagert wird, hat Und was ist realistisch? zinischen Zulassungs- und Kontrollbehörde sich bisher in keiner Branche erfüllt. Um die Standards global zu sichern, müssen die Wie immer wird die Realität am Ende dazwischenliegen. Deshalb engagieren wir uns so sehr, damit unsere Patienten auch in Zukunft auf Wirksamkeit und Sicher heit gut geprüfte Arzneimittel erhalten. 7 des Bundesministeriums für Gesundheit. Schwellenländer am gleichen Strang ziehen. Wie gut ist die Zusammenarbeit? Mit den westlichen Behörden und der WHO arbeiten wir schon lange sehr eng zusammen. Mit den Schwellenländern bauen wir das gerade aus. Vergangenes Jahr 3 Seit 2009 ist Broich stellvertretender Institutsleiter. 38 Hilfe! --- Klinische Studien --- Seltene Erkrankungen --- 39 Ausnahmsweise? Strenge Gesetze machen Medikamente wirksamer und sicherer. Doch Regeln sind immer nur so gut wie der Umgang mit den Ausnahmen. Patienten mit extrem seltenen Erkrankungen wissen das am besten. Text: Sascha Karberg Geduldig und ein wenig schüchtern sitzt Alina* auf dem weißen Tisch im kleinen Behandlungszimmer der Uniklinik Münster. „5,3 Kilo haben wir schon geschafft“, sagt der Vater stolz, obwohl das für ein zweijähriges, 67 Zentimeter großes Mädchen alles andere als ein gesundes Gewicht ist. Aber Alina ist nur auf dem Papier zwei Jahre alt. Sie ist ein Kleinkind mit dem Körper eines Greises. Rot und blau scheinen die Adern durch die dünne Haut des kahlen Schädels, die kleinen Finger sind wie nach langer Gicht gekrümmt, jeder Atemzug scheint ein Kraftakt für den zerbrechlich wirkenden Körper zu sein. Alina hat Progerie, eine Erbkrankheit, die Kinder so schnell altern lässt, dass sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bes tenfalls das Teenager-Alter erreichen. Weltweit leben nur rund 100 Kinder mit Progerie. Für eine so extrem seltene Krankheit stehen die Chancen auf Diagnose oder Heilung besonders schlecht. Weder Forschungsinstitutionen noch Pharmafirmen stecken nennenswerte Ressourcen in ihre Erforschung oder gar in die Entwicklung von Medikamenten. Und das nicht etwa wegen des zu kleinen Marktes: Es finden sich schlicht nicht genug Patienten für aussagekräftige Therapiestudien. Zwar sind in Deutschland insgesamt etwa vier Millionen Menschen von seltenen Krankheiten betroffen, doch es sind schätzungsweise 7000 bis 8000 verschiedene, unter denen sie leiden – darunter solche, bei denen nur alle paar Jahre ein Fall diagnostiziert wird. Zu den bekanntesten „Orphan Diseases“, den Waisenkrankheiten, gehört etwa die Mukoviszidose, eine lebensbedroh liche Stoffwechselkrankheit. Obwohl sie mit etwa 8000 Fällen hierzulande deut*Name von der Redaktion geändert lich häufiger vorkommt als eine „Ultra Orphan Disease“ wie Progerie, werden selbst diese Patienten mit ihren Leiden weitgehend allein gelassen: Ärzte kennen sich zu wenig aus, die Pharmaindustrie kennt kaum heilende Medikamente, die Krankenkassen übernehmen nicht alle Pflege- oder Therapiekosten. Und die Gesetze, die in Deutschland klinische Studien und den Einsatz von Arzneien definieren, machen kaum Ausnahmen vom strengen Regelwerk. Etwa für den Fall, dass Mediziner zur Behandlung Medikamente einsetzen wollen, die noch nicht zugelassen sind. Eine unter vier Millionen Dass irgendetwas nicht stimmt, ahnt Alinas Vater schon kurz nach ihrer Geburt. Die lederartige Haut am Bauch des Säuglings, die kleinen, dünnen Ohrmuscheln, das vogelartig spitze Gesicht mit großer Stirn, schmaler Nase und fliehendem Kinn. Und dann Alinas Mühe, auch nur ein paar Gramm zuzunehmen. Immer wieder muss das Mädchen ins Krankenhaus und per Magensonde ernährt werden. „Keiner konnte uns sagen, was mit ihr los ist“, sagt der Vater. Ratlos googelt er Hunderte von Krankheitsbildern, durchsucht das Netz nach irgendeiner hilfreichen Idee. Dort liest er auch das erste Mal von Progerie. Aber warum sollte ausgerechnet seine Tochter eine Krankheit haben, mit der nur eines von vier Millionen Kindern geboren wird? Als die Ärzte nach sechs Monaten noch immer keine Diagnose stellen können, drängt der Vater zu einem Gentest auf Progerie. Er fällt negativ aus. Der Vater lässt nicht locker, zahlt 1400 Euro für einen zweiten, deutlich aufwendi- Weltweit leben nur rund 100 Kinder mit Progerie. Für eine so extrem seltene Krankheit stehen die Chancen auf Diagnose oder Heilung besonders schlecht. 40 geren und präziseren Test. Und tatsächlich: „Alina hat eine ungewöhnliche, besonders schwere Genmutation, wodurch die Progerie beschleunigt wird“, sagt Thorsten Marquardt, Spezialist für seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Münster und seit der Diagnose Alinas Arzt. „Normalerweise wird Progerie so früh noch gar nicht diagnostiziert, aber Alina sah schon im ersten Lebensjahr aus wie andere ProgerieKinder erst mit sechs Jahren.“ Für die meisten seltenen Krankheiten kennt die Wissenschaft die Ursachen noch nicht. Anders bei der Progerie, deren Auslöser vor gut zehn Jahren ein Team von Forschern herausfand, dem die Bostoner Biologin Leslie Gordon angehörte, selbst Mutter eines – jüngst verstorbenen – Progerie-Kindes: Ein Gendefekt lässt ein fehlerhaftes Protein entstehen, Progerin genannt, das den Zellkern brüchig macht, sodass die Zellen schneller sterben als neue nachwachsen können. Mithilfe dieses Wissens fand Gordon ein Präparat, das die Entstehung des Progerins in Tierversuchen hemmen konnte: Lonafarnib. Merck & Co., in Deutschland MSD Sharp & Dohme, hatte den Wirkstoff in den Neunzigerjahren erfolglos gegen Krebs getestet und eigentlich schon eingemottet. Unterstützt von einer Stiftung, der Proge ria Research Foundation, und großem Medienrummel sammelte Gordon einige Millionen Dollar für einen Test des Medikaments an immerhin 25 Progerie-Kindern. Seit Ende 2012 steht fest: Lonafarnib kann die Entstehung von Progerin drosseln und die Krankheitssymptome zumindest lindern. Thorsten Marquardt wollte seiner kleinen Patientin das Medikament so Hilfe! --- Klinische Studien --- Seltene Erkrankungen --- 41 schnell wie möglich verabreichen: „Die Krankheit schreitet so schnell voran, dass wir keine Zeit zu verlieren haben.“ Aber Lonafarnib hat keine Zulassung, weder in den USA noch in Deutschland. Darf also MSD die Substanz überhaupt an Marquardt herausgeben? Oder muss Alina warten, bis die Wirksamkeit und die Nebenwirkungen so gründlich untersucht sind, wie es das Arzneimittelgesetz vorschreibt, damit die Behörden grünes Licht geben können? Keine Lösung ohne Problem „Patienten mit seltenen Erkrankungen werden ganz klar benachteiligt.“ Thorsten Marquardt, Uniklinik Münster Um unvorhergesehene Nebenwirkungen zu verhindern, dürfen in Deutschland Arzneimittel nur verschrieben werden, wenn sie nach einem strengen Prüfverfahren vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zugelassen wurden. Eine sinnvolle Praxis und bit tere Lehre unter anderem aus den schweren Missbildungen Neugeborener aufgrund – nach heutigem Stand der Wissenschaft – ungenügender Tests des Contergan-Medikaments Thalidomid. Das weiß auch Thorsten Marquardt, aber er weiß ebenso: „Patienten mit seltenen Erkrankungen werden von diesem Verfahren ganz klar benachteiligt.“ Sie bewegen sich in einem Vakuum. Meist gibt es für sie kein Medikament, weil die Entwicklung angesichts der geringen Fallzahlen viel zu teuer und langwierig wäre. Und wo eine existierende Arznei eventuell Linderung verschaffen könnte, ist sie im Zweifel nicht zugelassen, weil für die angestrebte Anwendung die nötigen klinischen Tests fehlen. Eine Ausnahmeregelung im Arznei mittelrecht soll Patienten wie Alina den Zugang zu solchen Medikamenten ermöglichen. Entschließt sich ein Arzt, „Der Gesetzgeber quält sich mit dem Abwägen von Gesamtsicherheit und extremem Einzelschicksal.“ Robert Gastpar, MSD e inen individuellen Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament durchzuführen, kann er sich beim Hersteller um eine Ausnahmeregelung, den „compassionate use“ (also eine Anwendung aus Mitgefühl) bemühen, vorausgesetzt, es handelt sich um eine lebensbedrohliche oder zu einer schweren Behinderung führende Erkrankung. Anfang Januar 2013 wendet sich Thorsten Marquardt an MSD Deutschland, schildert Alinas Fall und bittet um die Bereitstellung von Lonafarnib. Für die Firma ist das eine ungewöhnliche, recht komplizierte Situation, da die Substanz in keinem Land der Welt zugelassen und damit „nicht verkehrsfähig“ ist. Während die Abgabe von Arzneimitteln durch Gesetze bis ins Detail geregelt ist, sei die Freigabe von Lona farnib nicht ohne Weiteres möglich, sagt Robert Gastpar, Clinical Research Manager bei MSD. Tatsächlich existieren in Deutschland erst seit dem 14. Änderungsgesetz zum Arzneimittelgesetz aus dem Jahr 2009 und der Arzneimittelhärtefallverordnung von 2010 Vorschriften, wie sich die Hersteller von Medikamenten in solchen Fällen verhalten sollen. Das zeige, dass sich auch der Gesetzgeber sehr schwer damit tue, Ausnahmen zu definieren, sagt Gastpar. „Er quält sich mit dem Abwägen von Gesamtsicherheit und extremem Einzelschicksal.“ Dass Alinas Fall die Grundvoraussetzung für ein „compassionate use“-Programm erfüllt, ist schnell klar. Aber Gastpar muss prüfen und dokumentieren, ob ein Einsatz dieses Medikaments bei dem Mädchen wirklich sinnvoll ist. „Und die Datenlage ist ziemlich dürftig.“ Zwar sei die Bostoner Studie mit Lonafarnib positiv verlaufen. Aber die Krankheitsbilder der dort behandelten Patienten seien sehr unterschiedlich gewesen, sodass die Ergebnisse bestenfalls als Hinweis zu verstehen seien, dass Lonafarnib funktionieren könnte. Daneben ist der Wirkstoff bisher vor allem an erwachsenen Krebspatienten getestet worden. „Deshalb ist es unsere Pflicht zu fragen, ob wir dem Kind tatsächlich etwas Gutes tun, wenn wir ihm dieses Medikament zur Verfügung stellen“, sagt der Forscher. Nicht nur bei MSD, auch bei anderen Herstellern landen immer wieder Anfragen nach Medikamenten, von denen sich verzweifelte Patienten Heilung versprechen. Nicht selten geht es um Arzneien, für die es keine Hinweise gibt, dass sie ein Leiden lindern könnten, sondern, ganz im Gegenteil, die Wahrscheinlichkeit recht hoch ist, dass es zu gefährlichen Nebenwirkungen kommt. „Die Regularien sollen Patienten davor schützen, dass sie aus falscher Hoffnung oder aufgrund falscher Versprechen Medikamente bekommen, die ihnen mehr schaden als nützen“, sagt Gastpar. Nach Rücksprache mit den Entwicklern des Medikaments und gründlicher Sichtung aller zur Verfügung stehender Daten entscheidet sich MSD, Lonafarnib für Marquardts Patientin aus den USA nach Deutschland zu schicken. Auch der Transport ist mühsam und dauert. Bis die Einfuhr der fremden che- mischen Substanz beim Zoll geregelt ist, vergehen Wochen. Dann endlich, im September 2013, wird in der Uniklinik Münster ein umzugskartongroßes Paket mit zwölf Flaschen à 30 Kapseln Lona farnib angeliefert – neun Monate nach Thorsten Marquardts erster Anfrage. Sträflich lange für ein Kind, das ungeheuer schnell altert und eine Lebenserwartung von 14 Jahren hat? So lange, wie es eben dauert, nach bestem Wissen und Gewissen zu prüfen und abzuwägen? „Ob Arzt, Ethikkommission des Krankenhauses, Pharmafirma oder Zoll: Alle brauchen Zeit, um den Einzelfall zu prüfen“, sagt Gastpar. Denn was passiert, wenn die riskante Behandlung nicht anschlägt oder gar schadet? „Dann ist man ganz schnell in der Defensive und muss seine Entscheidung gut dokumen tieren und begründen können.“ Die Rollen sind klar verteilt In welche Situation ein Unternehmen geraten kann, das sich gegen die Herausgabe eines noch experimentellen Medikaments entscheidet, zeigt ein aktueller Fall aus den USA: „Firma verweigert sterbendem Kind Medikament“ titelt CNN. „Firma weigert sich, siebenjährigem Jungen lebensrettende Arznei zu geben“, heißt es bei FoxNews. Dutzende andere titelten ähnlich. Der Hintergrund: Die Biotech-Firma Chimerix aus North Carolina entwickelt ein Medikament namens Brincidofovir, das sich gerade in der letzten, dritten Phase der klinischen Prüfung befindet. Die zuständige US-Behörde hat den Wirkstoff noch nicht zugelassen, obwohl die bisherigen Studienergebnisse eine gute Verträglichkeit und eine Wirkung gegen Virusinfektionen nahelegen. 42 Der siebenjährige Josh Hardy aus Virginia leidet an einer schweren Virusinfektion, weil sein Immunsystem aufgrund einer Knochenmarktransplantation und Chemotherapie gegen eine Krebserkran kung geschwächt ist. Die verzweifelten Eltern hoffen seitdem auf Chimerix’ Brincidofovir – und haben die Medien mobilisiert. Die Firma soll das Medikament unter „compassionate use“ herausgeben, auch wenn es noch nicht zugelassen ist. Das lehnt CEO Kenneth Moch ab, mit ausdrücklichem Bedauern, nur spielt das in der öffentlichen Aufregung keine Rolle, schließlich lässt sich in diesem Drama allzu deutlich Gut und Böse imaginieren. Die Grenzen verschwimmen Den Schwarzen Peter hat das Unternehmen, doch wenn Chimerix für Josh eine Ausnahme macht, gibt es Hunderte weiterer Patienten mit ähnlichem Schicksal, die der Hersteller ebenfalls versorgen müsste. Auf eigene Kosten. Aber hier handelt es sich nicht um einen milliardenschweren Konzern, sondern um ein junges Unternehmen mit gut 50 Angestellten, das seit seiner Existenz noch keinen Cent Gewinn gemacht hat. Und abgesehen davon, geht es auch CEO Moch um den Schutz eines Menschenlebens. Natürlich mag niemand von Geld oder Regeln reden, wenn er ein sterbendes Kind vor Augen hat. Dass verzweifelte Patienten und Angehörige nach jedem Strohhalm greifen, ist ebenso verständlich. Gerade deshalb existieren die Regeln für das Testen und Zulassen von Medikamenten. Denn der todkranke Patient würde auch die Arznei wollen, die nur im Tierversuch getestet Hilfe! --- Klinische Studien --- Seltene Erkrankungen --- 43 wurde. Oder von der sich Grundlagenforscher nach Laborexperimenten viel versprechen. Wo es um derart komplizierte Entscheidungen geht, verschwimmen die Grenzen von Gut und Böse. Auch Thorsten Marquardts Anfragen nach eventuell lebensrettenden, noch nicht zugelassenen Medikamenten werden gelegentlich abgelehnt. Der Mediziner hat dennoch Verständnis für das Dilemma der Pharmaunternehmen. „Wenn überall auf der Welt Ärzte mit unterschiedlicher Expertise Patienten mit Medikamenten aus dem Teststadium behandeln, kann das dazu führen, dass Nebenwirkungen auftreten, die dann die Zulassung des Medikaments gefährden oder schwieriger machen.“ Was natürlich auch nicht im Interesse des Gros der Patienten wäre. Ganz abgesehen davon, dass die Folgen für den Einzelnen nicht abzusehen wären. Wie viele Ausnahmen also kann sich das System leisten? Wie weit darf ein Arzt gehen im Versuch, ein Patientenleben zu retten? Schwierige Frage, findet Marquardt und erzählt von einer seltenen Krankheit, die Kinder fast vollständig lähmt und ans Bett fesselt: Multipler Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel. In Deutschland werde alle zwei Jahre ein Kind mit dieser Erkrankung geboren. Keine Chance also, jemals „ordentliche“ Medikamentenstudien durchzuführen. Deshalb entschieden sich vor einigen Jahren die besten Stoffwechselmediziner Europas zu einem höchst ungewöhnlichen Schritt: Sie kauften die Chemikalie BetaHydroxybuttersäure und verabreichten sie den Kindern. Nach einer Woche, erzählt Marquardt, der die Geschichte nur aus der Fachliteratur kennt, konnten die kleinen Patienten die Finger bewegen, dann den Arm, Das Dilemma zwischen Individuum und Allgemeinwohl lässt sich nicht auflösen. Nicht von Forschern, nicht von Ethikern, nicht von Herstellern, nicht von Gesetzgebern und nicht von Ärzten. bald sind sie Dreirad gefahren und gelaufen. „Das war gegen alle Regeln, es war keine kontrollierte Studie und hätte auch schiefgehen können“, sagt der Mediziner. Als er die Geschichte bei einer Veranstaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Westfalen-Lippe erzählte, empörten sich die Zuhörer. Wie könne man nur? Marquardt hielt dagegen. Soll er wirklich ein Kind sterben lassen, ohne eine risikoreiche Behandlung zu versuchen? Das Dilemma zwischen Individuum und Allgemeinwohl lässt sich nicht auflösen. Nicht von Forschern, nicht von Ethikern, nicht von Herstellern, nicht von Gesetzgebern und nicht von Ärzten. Auch die besten Experten können ohne klinische Studien nicht voraussehen, ob ein Medikament wirklich helfen kann und welche Risiken mit seiner Einnahme verbunden sind. Ob Josh Hardy, der auf Brincidofovir hofft, oder Krebskranke, die sich Rettung von neuen Wirkstoffen in den Pipelines der Pharmafirmen versprechen – das System nimmt in Kauf, dass sie sterben, bevor der Prüfprozess abgeschlossen ist. Damit Tausende Patienten nach ihnen geprüfte und hoffentlich sichere Medika- mente bekommen. Was das im Einzelfall bedeutet, wird erst durch Schicksale wie Joshs deutlich – der das Medikament am Ende übrigens doch noch von Chimerix bekommen hat. Ob es hilft oder schadet, wird sich zeigen. Die Regel ist verbesserbar Der Fall von Alina ist anders, denn sie leidet an Progerie – und fällt als Patientin mit einer so seltenen Krankheit von Anfang an aus dem System. Es gibt kaum Studien, an denen sie teilnehmen könnte, es werden kaum Forschungsprogramme initiiert. Und es ist zynisch, wenn der Gesetzgeber diesen Patienten ein Medikament verweigert, weil es seine Unbedenklichkeit und Wirksam keit noch nicht in Tests bewiesen hat – Tests, die niemand durchführen wird, schon weil es viel zu wenige Patienten zum Testen gibt. Die „compassionate use“-Regelung löst den ethischen Konflikt nicht auf. Im Gegenteil, der Gesetzgeber lässt die Betroffenen weitgehend allein. Er stellt den Chef einer Biotech-Firma vor die Wahl, entweder ein Kind sterben zu lassen oder sein Unternehmen zu riskieren – und damit die Entwicklung von Medikamenten zu gefährden, die kranken Kindern helfen sollen. Einem Arzt wie Thorsten Marquardt bürdet er alles isiko auf, das mit dem notgedrungen R unkonventionellen Einsatz experimenteller Medikamente einhergeht. Und den Patienten überlässt er mehr oder weniger zufälligen Entscheidungen von Firmen, Ärzten und Krankenkassen. Es ist der Umgang mit den Ausnahmen, der zeigt, wie gut eine Regel ist. Alina hatte Glück. Sie hat das Medikament bekommen, und es scheint zu wirken. „Sie ist deutlich aktiver geworden“, sagt der Vater. Sie hat angefangen zu krabbeln und kann sich länger auf den Füßen halten. Ein Jahr lang war ihr Gewicht unverändert – seit Therapiebeginn hat sie gut 500 Gramm zugenommen. Seltene Waisen einen nationalen Aktionsplan tenen Krankheit zu suchen, rund 69 (Stand November 10 000 Menschen eine Krank- Wenn weniger als fünf von für Menschen mit Orphan ist damit noch keine Therapie 2013) Orphan Drugs zugelas- heit haben, gilt sie als selten. Diseases verabschiedet. Darin auf den Weg gebracht. Des- sen worden. Nach dieser Berechnung lei- werden Maßnahmen zu einer halb hat der Gesetzgeber in den allein in Deutschland vier besseren und schnelleren der EU im Jahr 2000 (in den heiten wie Progerie, Ultra- Millionen Menschen an einer Diagnose versprochen und bis USA schon 1983) die soge- Orphan-Diseases, bei denen der etwa 7000 bis 8000 selte- 2018 bis zu 27 Millionen Euro nannte Orphan-Drug-Regelung es mitunter nur eine Handvoll nen Erkrankungen, die in für Forschung bereitgestellt. geschaffen: Mit ihr werden Patienten pro eine Million der Regel schwer bis lebens- Zum Vergleich: Für die Erfor- Arzneimittelherstellern ein Einwohner gibt, werden mit bedrohlich sind. schung der Zuckerkrankheit erleichtertes und je nach Un- diesem Programm jedoch Diabetes hat das BMBF einem ternehmensgröße gebühren nicht erreicht – schon weil aus einiges für Patienten mit einzigen Münchener Institut reduziertes oder -freies Zulas- Mangel an Patienten und For- seltenen Erkrankungen getan. bis 2018 fast 400 Millionen sungsverfahren und exklusive schungsdaten keine statistisch Ende August 2013 hat zum Euro an Forschungsmitteln zur Vermarktungsrechte für das aussagekräftigen Studien Beispiel das Bundesministeri- Verfügung gestellt. ausgewiesene therapeutische aufgesetzt werden können, die Anwendungsgebiet für zehn über Einzelfallstudien hinaus- Auf den ersten Blick wird um für Gesundheit (BMG) Aber selbst wenn For- So extrem seltene Krank- unter Einbindung des Bundes- scher Geld bekommen, um Jahre in Aussicht gestellt. Seit gehen und eine reguläre Zu- forschungsministerium (BMBF) nach den Ursachen einer sel- Inkrafttreten sind in der EU lassung ermöglichen würden. 44 Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Günter Henze --- 45 Das geht besser Die Behandlung von Blutkrebs bei Kindern ist eine deutsche Erfolgsgeschichte. Kaum ein anderes Land der Welt erzielt so hohe Heilungsraten wie wir; in einigen Bereichen ist Deutschland weltweit Spitze. Für den Kinderonkologen und Leukämie-Experten Günter Henze ist das auch ein Resultat klinischer Studien. Interview: Ralf Grötker Foto: Anne Schönharting Henze: Nein, leider nicht. Die Diagnose ist für die kleinen Patienten und ihre Familien der Beginn einer sehr schlimmen und schweren Zeit. Wir können heute auch noch nicht jede Krebsart heilen. Aber es stimmt: In der Behandlung von Leukämien sind wir sehr weit vorangekommen. ren, als die Chemotherapie immer öfter zusätzlich zu den ausschließlich lokalen Maßnahmen wie Chirurgie und Strahlentherapie eingesetzt wurde, handelten wir nach dem sehr simplen Prinzip „Mehr hilft mehr“. Aber wir merkten bald, dass unsere Therapien einen hohen Preis hatten: Die Nebenwirkungen waren in Teilen enorm und die Spätfolgen für die kleinen Patienten weitgehend unbekannt. Außerdem brauchte offenbar nicht jedes Kind die gleiche intensive Therapie. Wir mussten unser System also verfeinern. Ein Erfolg der Pharmaforschung? Warum konnten Sie nicht einfach von bekannten Größen und Natürlich spielen immer auch neue Wirkstoffe eine Rolle. Die großen Fortschritte in diesem Bereich haben wir allerdings fast ausschließlich mit Medikamenten erreicht, die schon lange auf dem Markt waren. bewährten Verfahren für Erwachsene ausgehen? Die Dosie- Herr Professor Henze, noch vor 40 Jahren starben neun von zehn leukämiekranken Kindern, heute liegen ihre Heilungschancen bei mehr als 80 Prozent. Hat die Diagnose Krebs ihren Schrecken verloren? Wie war das möglich? Wir haben einfach gelernt, sie besser zu nutzen, was Timing, Dosierung und die Aufeinanderfolge von Therapie-Elementen anging. Wir wissen heute schlicht mehr. Vor 30, 40 Jah- rungen für Kinder ließen sich doch kalkulieren. Das lassen sie sich eben leider nicht. Man muss sich nur einmal vor Augen halten, dass ein Kind, das mit 50 Zentimetern Länge auf die Welt kommt, im ersten Lebensjahr 25 Zentimeter wächst. Das sind 50 Prozent! Die Anforderungen an den Stoffwechsel eines Babys sind deshalb völlig andere als bei einem Grundschulkind oder einem Teenager. Außerdem sind die Unterschiede im Organismus nicht statisch. Manche Substanzen verstoffwechselt ein Kind schneller als ein Erwachsener, andere langsamer. Es kann auch sein, dass bestimmte Medikamente bei Kindern die Blut-Hirn-Schranke passieren, die Wirkstoffe also das Gehirn erreichen, und bei Erwachsenen nicht mehr. All dies sind medizinische Gründe dafür, dass man die Wirkung von Medikamenten auf Kinder in bestimmten Altersgruppen sehr genau untersuchen muss. Zur Person Professor Günter Henze war über Jahrzehnte in der Kinderkrebsforschung und -behandlung tätig. Von 1985 bis zu seiner Emeritierung 2011 leitete er die Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie zunächst an der FU Berlin, später an der Charité. Er ist Mitglied in etlichen Fachgremien und erhielt zahlreiche Preise, darunter den Kind-Philipp-Preis für Leukämieforschung, den Deutschen Krebspreis, den Wilhelm-Warner-Preis für Aber klinische Studien mit Kindern sind heikel. Zu Recht. Krebsforschung und das Bundesverdienstkreuz. Schließlich können die Patienten nicht selbst entscheiden und Zusammen mit Silvia Hedenigg hat Henze vor Kurzem den Sammel- ihre Einwilligung zu Tests erteilen. band „Ethik im Gesundheitswesen. Steuerungsmechanismus Deshalb hat der Gesetzgeber Studien, in denen es um die Zulassung von Medikamenten geht, vor einigen Jahren für die Pharmahersteller sehr klar in einer EU-Verordnung geregelt. Die dort definierten Zulassungsstudien haben das Ziel, ein Medikament in den Handel zu bringen. Wir in der Kinder onkologie hingegen testen vor allem Behandlungskonzepte, bestehend aus Diagnostik und verschiedenen Therapiemodalitäten – vor allem die Chemotherapie kombiniert mit Chirur gie und Strahlentherapie. Diese „Therapieoptimierungs 3 für die Medizin der Zukunft“ (Kohlhammer, 2013) herausgegeben. 46 studien“ führen wir an Kindern durch, von denen wir hoffen, dass sie ein normales Leben führen können, nachdem sie ihre Krankheit überwunden haben. Führen Sie die enormen Fortschritte bei den Heilungserfolgen auf diese Studien zurück? Absolut. Wir haben in Deutschland mehr als 90 Prozent der Kinder im Rahmen von klinischen Studien behandelt, was weltweit übrigens ziemlich einmalig ist. Wir haben hierzu lande früh eingesehen, dass der einzelne Arzt nicht viel ausrichten kann, weil er aufgrund der geringen Patientenzahlen zu wenig fundierte Erkenntnisse gewinnen kann. 2000 Neuerkrankungen von Kindern und Jugendlichen pro Jahr klingt nach viel, ist für die medizinische Forschung aber sehr wenig. Für wirklich relevante Resultate muss man sich also intensiv austauschen und sehr eng mit Kollegen und anderen Kliniken kooperieren. Welche Einsichten in neue Therapieformen und Behandlungskonzepte gewinnen Sie über diesen Weg? Nehmen Sie nur die Spätfolgen von Therapien. Zum Beispiel bei der Behandlung von Morbus Hodgkin, einer bösartigen Erkrankung des Lymphsystems. Wir haben herausgefunden, dass eine Bestrahlung im Brustbereich bei Mädchen im Pubertätsalter 30 Jahre später zu einem Brustkrebsrisiko von 30 Prozent führt. Oder die Schädelbestrahlung bei Leukämiepatienten. Früher galt sie als Meilenstein, weil mit der Bestrahlung überhaupt erst erreicht worden war, dass 30 Prozent der von Leukämie betroffenen Kinder überlebten. Erst später hat man gesehen, dass sie deutlich nachteilige Auswirkungen auf die körperliche und geistige Entwicklung der Patienten hatte – und dass fünf von hundert der behandelten Kinder irgendwann einen Hirntumor entwickelten. Heute ist die Bestrahlung nicht mehr Bestandteil der Therapie. Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Günter Henze --- 47 Auflagen ein Ausmaß angenommen, das fast nicht mehr zu bewältigen ist. Mittlerweile brauchen wir fünf Jahre, um eine Studie überhaupt erst an den Start zu bringen. Mein Kollege, der nach mir die internationale Leukämiestudie leitet, ist hier an der Charité durch ein Stipendium sogar zwei Jahre lang von seiner regulären Arbeit freigestellt worden, um sich ausschließlich der Planung einer Studie zu widmen. Wie soll das denn funktionieren? Normalerweise machen das die Oberärzte und leitenden Ärzte neben ihrer Regelarbeitszeit. Hinzu kommen die Kosten: Wenn heute im Rahmen einer von der EU finanzierten internationalen Studie Mittel in Höhe von sechs Millionen Euro bereitgestellt werden, fressen allein die vorgeschriebene Administration und die Dokumentationspflichten die Summe mehr oder weniger auf. Es kommt aber noch ein weiterer Faktor hinzu. Wenn Patientendaten lediglich in einem Register gesammelt werden, sagen einige Kliniken: „Uns ist der Meldeaufwand für all die komplizierten Einzelfälle viel zu hoch.“ Schließlich erhalten die Häuser für die Meldungen auch keine Vergütung, so wie es im Rahmen der Teilnahme an einer klinischen Studie üblich ist. Insofern ist zu befürchten, dass mit dem Rückgang der Zahl klinischer Studien das in Deutschland bewährte Prinzip einer flächendeckenden Behandlung entsprechend dem aktuellen Stand der Wissenschaft nicht aufrechtzuerhalten ist. Und dass damit auch die Behandlungsqualität sinkt. Aber die gesetzliche Regulierung ist doch keine Schikane. Sie soll helfen, ethische Probleme zu vermeiden. Wo führt die Beteiligung von Kindern an Therapieoptimierungsstudien aus Ihrer Sicht auf fragwürdiges Terrain? War das früher anders? Die administrativen Hürden von damals sind mit den heutigen nicht zu vergleichen. Zudem hat es die Koordinationszentren für klinische Studien nicht gegeben. Das Gros der Studiengelder wandert heute in die Verwaltung – für Arbeiten, die wir früher einfach mitgemacht haben. Ich persönlich finde es unmöglich, dass Gesetze mit weitreichenden Vorgaben erlassen werden, aber keiner dafür sorgt, dass die zusätzlichen Anforderungen auch finanziert werden. Für die große internationale Studie zur Behandlung von Kindern mit einem Rückfall der Leukämie, die wir aktuell an der Charité durchführen, tritt finanziell neben der EU maßgeblich die Deutsche Kinderkrebsstiftung ein. Die wiederum erhält Spenden von der Oma, die in ihren Sparstrumpf langt und fünf Euro beisteuert. So sollte das nicht sein. Meiner Ansicht nach wären die Regierung und die EU hier in der Pflicht, für eine angemessene Finanzierung zu sorgen. Welche Auswirkung hat die Entwicklung Ihrer Ansicht nach auf die Therapien und den medizinischen Erkenntnisgewinn? Ich fürchte, das alles wird uns zurückwerfen. Das gesamte System ist fürchterlich schwerfällig geworden. Und wir sehen die Folgen ja jetzt schon: In bestimmten Situationen, in denen es um Fragen geht, die vielleicht als nicht so vordringlich erachtet werden, führt man heute hauptsächlich ein sogenanntes Register anstelle einer Therapieoptimierungsstudie. Eine typische und schwierige Situation, mit der wir es in Kliniken zu tun haben, sind Placebo-Studien. Bei klinischen Studien mit Erwachsenen ist es durchaus üblich, die Wirksamkeit von Therapien oder Medikamenten auszutesten, indem man den Behandlungserfolg einer Maßnahme mit dem Erfolg der Verabreichung eines Placebos vergleicht. Wenn Kinder beteiligt sind, ist das kein gangbarer Weg, insbesondere wenn die Placebo-Behandlung mit einer körperlichen Belastung verbunden ist – zum Beispiel mit einer Spritze. Einem Kind im Rahmen einer Studie ein Placebo mit einer Spritze zu geben ist verboten – die damit verbundene physische und psychische Belastung ist ihm nicht zumutbar. Ein im Grunde noch viel größeres Problem ist jedoch die Verwendung von nicht zugelassenen Medikamenten. Das ist ein echtes Dilemma. Wenn wir unsere Patienten behandeln wollen, müssen wir Medikamente einsetzen, die für diesen Einsatz nicht wirklich sorgfältig geprüft wurden. Immerhin soll sich das jetzt ändern. Vom Gesetzgeber wird ausdrücklich gefordert, dass Kinder nur noch mit Medikamenten behandelt werden, die für Kinder und die entsprechende Indikation auch geprüft und zugelassen sind. Das setzt allerdings voraus, dass die Medikamente in Zulassungsstudien geprüft werden … … und schafft im Zweifel neue Dilemmata. Randomisierte Studien zum Beispiel – also Studien, bei denen Patienten unter Verwendung eines Zufallsmechanismus entweder einer Expe- Wie ist angesichts dieser Erfolge die aktuelle Zurückhaltung Was ist der Unterschied? rimental- oder einer Kontrollgruppe zugeordnet werden – sind zu erklären? Einer europäischen Untersuchung zufolge ist die Eine Studie verfolgt eine ganz spezifische Fragestellung, ist breit angelegt, sehr aufwendig und vom Erkenntnisgewinn der Wissenschaft zum Wohle der Patienten getrieben. Registerstudien dienen eigentlich nur noch dem Sammeln von Patientendaten, eine zentrale Kontrolle findet nicht mehr statt. Auch Referenzuntersuchungen und Konsile, also Fremdgutachten, sind nicht finanziert. Also fließen die Daten auch nicht mehr in die individuelle Behandlung des Patienten zurück. vermutlich nicht unproblematisch. Wer will angesichts der ohne- Zahl der nicht kommerziellen Studien in den vergangenen Jahren um 25 Prozent gesunken. Ganz einfach: Die Anforderungen an die Durchführung von klinischen Studien sind inzwischen derart gestiegen, dass wir uns den Aufwand immer seltener leisten können. Durch die Direktive, die 2001 im Zuge der Novellierung des Arzneimittelgesetzes in Kraft getreten ist, haben die administrativen hin dürftigen Datenlage schon riskieren, dass kranke Kinder nicht die bestmögliche Therapie erhalten? Ethische Probleme bestünden jedenfalls dann, wenn sich schon früh herausstellte, dass eine der beiden Gruppen deutlich bessere Ergebnisse erzielt als die andere. Dann müsste die Studie natürlich sofort abgebrochen und allen Beteiligten die bessere Therapie zur Verfügung gestellt werden. Eine ganze Reihe von Kollegen verzichtet deshalb gleich ganz auf randomisierte Studien. Das ist nachvollziehbar, aber auch nicht unproblematisch. Schließlich dienen Studien ja auch dazu, herauszufinden, ob die Verabreichung eines Medikaments im Rahmen der Therapie überhaupt sinnvoll ist – oder überflüssig. Es kann sein, dass einzelne Patienten auf die Arznei gar nicht ansprechen. Wenn wir nun ohne Studie, quasi aus Gründen der Vorsorge, allen die Behandlung zukommen lassen, richten wir damit möglicherweise auch großen Schaden an. Dann verabreichen wir heute also auch Medikamente, die im Zweifel eher schaden als nützen, weil sie – über welche Stu diendesigns auch immer – in Therapiepläne eingegangen sind? Dazu kann ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Wir haben 1990 eine Studie mit leukämiekranken Kindern in Russland begonnen. Damals herrschten dort noch Zustände, in denen ich nicht guten Gewissens intensive und schwer beherrschbare Therapiemaßnahmen empfehlen konnte, wie wir sie in Deutschland seinerzeit praktizierten. Also kombinierten wir weniger riskante Elemente aus Therapieprotokollen, die wir schon aus Publikationen kannten, einfach neu. Wir verzichteten auf einige der uns bekannten Wirkstoffe in hohen Dosen. Und weil die Möglichkeiten für eine gut kontrollierte Strahlentherapie fehlten, haben wir bei der Mehrzahl der Patienten auch keine Bestrahlung des Zentralnervensystems durchgeführt. Inzwischen haben wir in Russland in fast 50 teilnehmenden Kliniken mehr als 5000 Kinder behandelt – mit fantastischem Ergebnis: Wir haben Überlebensraten von etwa 80 Prozent erzielt! Wenn man die Infrastruktur berücksichtigt, die langen Transportwege und die viel schlechtere medizinische Versorgung auf dem Land, dann ist das ein unglaubliches Ergebnis. Praktisch genauso gut wie bei uns. Heißt das, wir hätten uns alle unsere Studien sparen können? Natürlich nicht! Nur weil wir deren Ergebnisse kannten, konnten wir uns dafür entscheiden, auf einzelne etablierte Maßnahmen zu verzichten. 48 Hilfe! --- Klinische Studien --- Studienabbruch --- 49 Abbruch! Laufend werden neue Medikamente in klinischen Prüfungen getestet. Manche müssen vorzeitig gestoppt werden, weil die Nebenwirkungen des Mittels zu schwer sind – oder weil es zu gut wirkt. Text: Lydia Gless Oakley war der erste: Ihm wurden 0,1 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht injiziert, das entsprach etwa einem Fünfhundertstel der MakakenDosis. Zehn Minuten später war der nächste Proband an der Reihe, dann immer so weiter. Gegen halb neun setzten bei Oakley die ersten Symptome ein: Kopfschmerzen, die immer schlimmer und schließlich unerträglich wurden. Dazu Übelkeit mit massivem Erbrechen, hohes Fieber, starke Schmerzen im ganzen Körper. Kurz darauf ging es allen Männern schlecht. Obwohl die ersten Probanden bereits über massive Beschwerden klagten, spritzen die Ärzte auch noch dem letzten das Mittel. Probanden in Lebensgefahr 3David Oakley erinnerte sich später noch gut an den 12. März 2006, einen Sonntag. Er war nachmittags im Northwick-Park-Krankenhaus im Nordwesten Londons angekommen, wo er und fünf weitere Männer am nächsten Tag an einer klinischen Studie teilnehmen würden. Der damals 34-Jährige sah der Prozedur gelassen entgegen: Er hatte schon an zwei solcher Testreihen teil genommen, als er knapp bei Kasse war, und so war sie für ihn fast Routine. In einigen Wochen würde er seine Hochzeit feiern – mit dem Geld, das er hier verdiente. „Es war wie in einer Jugendherberge“, erzählte er später. „Wir waren entspannt und hatten Spaß.“ Oakley spielte Billard, die jungen Männer aßen Käse und Kräcker, dazu gab es Wasser – die übliche Diät vor Studienbeginn. Es war ein schöner Abend. 24 Stunden später kämpften David Oakley und die anderen Probanden auf der Intensivstation um ihr Leben. Das Medikament, das die sechs Männer am nächsten Tag ab acht Uhr morgens injiziert bekamen, hieß TGN1412. Der Wirkstoff war vom Würzburger Biotech-Startup TeGenero zur Behandlung von Multipler Sklerose, rheumatoider Arthritis und Blutkrebs entwickelt worden. Die Tierversuche waren gut verlaufen: Bei Ratten hatte der Antikörper TGN1412 den Verlauf von Autoimmunerkrankungen positiv beeinflusst, bei Makaken zeigte er keine unerwünschten Nebenwirkungen – und das Immunsystem der Primaten ist dem des Menschen sehr ähnlich. In Großbritannien hatte TeGenero eine Genehmigung für die Studie bekommen, genau wie in Deutschland, wo dafür das PaulEhrlich-Institut (PEI) in Langen zuständig ist. Weil es hier noch ein paar Rückfragen gab, verzögerte sich die deutsche Studie. In London konnte man starten. Die Ärzte im Northwick-Krankenhaus klärten ihre Probanden auf: Sie hätten höchstens mit leichten Problemen zu rechnen, Kopfschmerzen vielleicht und Übelkeit, die jedoch nach ein paar Stunden abklingen würden. David Später rekonstruierte man, was passiert war: Die Testpersonen durchlitten einen sogenannten Zytokin-Sturm mit heftigsten Entzündungsreaktionen, der schließlich zum multiplen Organversagen führte. Das Blut klumpte, das Immunsystem entgleiste komplett – die Probanden waren in akuter Lebensgefahr. Sie kamen gegen Mitternacht auf die Intensivstation, wo sie tagelang mit dem Tod rangen. Es versteht sich, dass das PEI in Deutschland die Genehmigung für die Studie sofort zurückzog. Es vergingen Wochen, bis die sechs Männer aus der Klinik entlassen werden konnten. Ryan Wilson, ein 20-jähriger Klempner, musste vier Monate stationär behandelt werden, seine Organe waren besonders schwer betroffen. Mehrere seiner Zehen und Fingerkuppen waren wie nach Erfrierungen abgestorben und mussten amputiert werden. Alle Probanden litten lange unter Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen und Erschöpfung. Nur wenige Monate später wurden bei David Oakley erste Anzeichen von Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert. Der Fall TGN1412 ist der Worst Case. Er ist berühmt geworden, weil er eine extreme Ausnahme darstellt. Eine Ausnahme, aus der Medizin und Forschung lernten. Die bis dahin gängige Praxis, mehreren Probanden einen neuen Wirkstoff kurz nacheinander zu verabreichen, wurde sofort aufgegeben – seitdem ist ein größerer zeitlicher Abstand vorgeschrieben, sodass die sogenannten First-in-man-Studien jederzeit ohne Schaden für die anderen Probanden abgebrochen werden können. Außer dem verabschiedete der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) an der Europäischen Arzneimittelagentur neue Richtlinien für die erstmalige Anwendung am Menschen, an denen das deutsche Paul-Ehrlich-Institut intensiv mitwirkte. Dort hat man auch das eigene Vorgehen überarbeitet: „Die Anträge auf Genehmigung einer klinischen Prüfung, die eine Erstanwendung beim Menschen beinhalten, werden jetzt in einem internen Kreis von Experten in einer spezifisch dafür einberufenen Sitzung explizit diskutiert“, sagt Jan MüllerBerghaus vom PEI. Fragen nach dem am besten geeigneten Tiermodell oder der minimal möglichen Erstdosis für den menschlichen Probanden haben massiv an Bedeutung gewonnen. Daneben wollten die Wissenschaftler aber natürlich auch wissen, warum die Wirkung von TGN1412 beim Menschen so verheerend war. Wieso hatten die Versuchstiere keinerlei Nebenwirkungen gezeigt, obwohl ihnen sogar eine viel höhere Dosis verabreicht worden war? Es dauerte Jahre, bis die Ursache für die Katastrophe gefunden war, ein winziges Detail: CD28-Antigen, das Molekül, an dem TGN1412 andockte, weicht beim Makaken von der menschlichen Version minimal ab. Deshalb überstand das Tier problemlos, was die Menschen fast tötete. Auch wenn die Studie von TeGe nero als tragischer Einzelfall in die Geschichte der Wissenschaft einging: Die Erprobung neuer Wirkstoffe am Menschen bleibt selbst bei sorgfältigster 3 Der Fall TGN1412 ist der Worst Case. Er ist berühmt geworden, weil er eine extreme Ausnahme darstellt. Eine Ausnahme, aus der Medizin und Forschung lernten. 50 Planung ein Risiko. Ob ein Mittel bei allen Menschen gleich wirkt, ist ebenso ungeklärt wie die Fragen, ob seine Nebenwirkungen kalkulierbar und tolerabel sind oder ob es überhaupt eine Verbesserung darstellt. Millionen-Flops Immer wieder muss nach jahrelangen Versuchsreihen eine dieser Fragen mit Nein beantwortet werden – womit sich millionenschwere Entwicklungen der Pharmafirmen als Flop entpuppen können. Erst im vergangenen Jahr beispielweise musste der amerikanische Konzern Merck & Co. eine Großstudie mit mehr als 25 000 Patienten abbrechen und den Verkauf seines Cholesterin mittels Tredaptive beenden, weil es schwere Nebenwirkungen verursachte und nicht besser wirkte als andere Medikamente. Konkurrent Roche brach im Mai 2012 seine Studie für den Cholesterinsenker Dalcetrapib ab, von dem sich der Konzern rund zehn Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr versprochen hatte – das Präparat war kein Fortschritt gegenüber der Standardtherapie. Das kann im ungünstigsten Fall nicht nur zu potenziellen Umsatzein bußen führen oder der Abschreibung von Millionen-Investitionen, die in die Wirkstoff-Entwicklung und Studien geflossen sind: Das Scheitern eines Medikaments kann ruinöse Ausmaße annehmen, wie der Pharma-Riese Pfizer erleben musste. Sein Cholesterinsenker Torcetrapib war lange vor dem offiziellen Start als Heilsbringer angekündigt worden, als eine der wichtigsten Neuerungen seit Jahrzehnten im Kampf gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Arznei sollte das meistverkaufte Medikament aller Zeiten werden – und endete als teuerster Flop. Ende 2006 musste eine weltweite Studie mit 15 000 Patienten gestoppt werden, weil sich die Todesfälle häuften. Der Börsenwert des Konzerns sank in der Folge innerhalb einer Woche um sagenhafte 28 Milliarden Dollar. Hilfe! --- Klinische Studien --- Studienabbruch --- 51 Manchmal scheitern Studien aber auch am Erfolg. So war es beispielsweise mit Lapatinib. Der Wirkstoff des britischen Pharmaunternehmens GlaxoSmithKline (GSK) war für den Einsatz bei HER2positivem Brustkrebs entwickelt worden, einer besonders aggressiven Krebsform. Durch seine winzige Größe hatte er einen neuen Ansatzpunkt: Im Gegen satz zum großen Antikörper Trastuzu mab, der an der Oberfläche eines Tumors wirkt, kann das kleine Molekül Lapatinib durch die Zellwand in den Tumor eindringen und dort die Zell teilung stoppen. Trastuzumab war ein Durchbruch in der Krebstherapie, doch zahlreiche Patientinnen entwickelten dagegen Resistenzen. Für sie war Lapatinib ein neuer Hoffnungsschimmer. Weltweit sollte der neue Wirkstoff an rund 400 Patientinnen mit fortgeschrittenem oder metastasiertem Brustkrebs getestet werden, bei denen Trastuzumab oder bestimmte ChemoTherapien versagt hatten. Die GSKStudie war zweiarmig angelegt: Die Patientinnen des Monotherapie-Arms bekamen Capecitabin, eine Chemotherapie in Tablettenform; die des Kombinationsarms erhielten außerdem Lapatinib, ebenfalls als Tablette. Verblüffende Zwischenanalyse Vor dem Studienstart wurde ein „primärer Endpunkt“ festgelegt, also das Ziel einer klinischen Studie, der Parameter, an dem sich ihr Erfolg oder Misserfolg messen lässt. Bei Lapatinib sollte es die Zeit bis zur Tumorprogression sein: Im besten Fall, so die Hoffnung der Forscher, würde sich im Kombinationsarm die Zeit bis zum Tumorwachstum um die Hälfte verlängern – ein Tumor würde also zum Beispiel erst nach sechs Monaten weiter wachsen statt nach vier. Die Studie begann am 1. März 2004 – und erbrachte in der Zwischenanalyse anderthalb Jahre später ein verblüffendes Ergebnis: Die Zeit bis zur Tumorprogression hatte sich bei den Probandinnen im Kombinationsarm nahezu verdoppelt. Bei den Patientinnen, die Lapatinib einnahmen, begann der Tumor nach achteinhalb Monaten wieder zu wachsen – die Tumoren, die nicht mit dem neuen Wirkstoff behandelt wurden, wuchsen bereits nach viereinhalb Monaten. „Dass das Molekül so stark bei so intensiv vorbehandelten Patientinnen wirkt, war eine Riesen überraschung“, sagt Jürgen Dethling, der bei GSK den medizinischen Fachbereich Onkologie leitet. Außerdem kam es unter Einnahme von Lapatinib zu weniger Hirnmetastasen, ein Zeichen dafür, dass die Arznei die BlutHirn-Schranke überwindet, was dem Antikörper Trastuzumab nicht gelingt. Abbruch aus ethischen Gründen Der große Erfolg warf allerdings ethische Fragen auf: Durfte man den Frauen im Monotherapie-Arm den neuen Wirkstoff vorenthalten? Und durfte man weiterhin Frauen in den Monotherapie-Arm aufnehmen? Musste man die Studie nach diesen Erkenntnissen nicht vielmehr abbrechen? Das unabhängige Expertenkomitee, das die Studie überwachte, war in seiner Empfehlung einstimmig: Die Behandlung mit Lapatinib sollte allen beteiligten Frauen ermöglicht werden, weitere Patientinnen sollten die Forscher nicht mehr in die Studie aufnehmen. GSK bot allen Frauen im Monotherapie-Arm einen Wechsel in den Lapatinib-Arm an, ein sogenannter Crossover, und brach die weitere Rekrutierung ab. Für die betroffenen Frauen war diese Entscheidung richtig – aber auch für die Forschung hatte sie Konsequenzen. Durch den Crossover gab es kein statistisch aussagekräftiges Material für einen Vergleich zwischen den beiden Studienarmen. Außerdem verwischte die frühe Zwischenanalyse die Aussagekraft der Studie, denn es nahmen am Ende weniger Patientinnen an ihr teil als geplant. Der Konzern hat daraus gelernt: „Heute achten wir darauf, die erste Zwischen- analyse erst dann zu machen, wenn alle Patienten in die Studie aufgenommen sind“, sagt Jürgen Dethling. Verändert hat sich inzwischen aber auch der Blick auf den primären Endpunkt. Setzten die Forscher bei Lapatinib noch auf die Zeit bis zur Tumor progression, zielen sie heute in ihren Definitionen verstärkt auf die Überlebenszeit. Denn auch wenn das makaber klingt: „Um endgültig die Wirksamkeit eines onkologischen Medikaments zu erfassen, muss man im Grunde warten, bis ein großer Teil der Probanden verstorben ist“, sagt der Mediziner. „Erst dann kann man statistisch nachweisen, ob und wie sich die Überlebenszeit durch das Medikament verlängert hat.“ Genau das war bei der Lapatinib-Studie nicht mehr möglich. Das ethische Dilemma hinter dieser Geschichte ist universell – und ungelöst: Soll bei schnell sichtbarer Wirksamkeit eines Präparats das Leben der Patienten verlängert werden, auch wenn dadurch die Studienergebnisse verwässern? Oder nimmt man Todesfälle in Kauf, um belastbares Zahlenmaterial zu erzielen, weil das hilft, später eine Vielzahl von Patientenleben zu retten? „Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und der Gemeinsame Bundesausschuss legen bei ihrer Nutzenbewertung einen immer größeren Wert auf die Überlebenszeit“, weiß Dethling. Und auch die Krankenkassen forderten heute einen solchen Beleg. Ob Lapatinib den Beweis antreten kann, wird sich zeigen. Das Medikament ist in Kombination mit anderen Therapien weiter getestet worden, die Ergebnisse der Studie werden für diesen Sommer erwartet. Für Frauen mit HER2-positivem Brustkrebs hat sich das kleine Molekül bereits als Standardmedikament etabliert. Weil es eben wirkt. 7 „Um endgültig die Wirksamkeit eines onkologischen Medikaments zu erfassen, muss man im Grunde warten, bis ein großer Teil der Probanden verstorben ist.“ Jürgen Dethling, GSK 52 Hilfe! --- Klinische Studien --- Die Biostatistikerin --- 53 Was zählt, und was nicht zählt Biostatistiker haben entscheidenden Anteil am Design klinischer Studien. Und einen exponierten Platz: zwischen allen Stühlen. Text: Andreas Molitor Foto: Oliver Helbig 500> 450 Manchmal reicht es nicht, dass schädliche Bakterien einfach nur tot sind. Für ein neu entwickeltes Antibiotikum beispiels weise ist das Ableben der winzigen Krankheitserreger eine notwendige, aber längst keine hinreichende Bedingung. So auch bei der Behandlung der Bronchiektasie, einer chroni schen, irreversiblen Ausweitung der Bronchien, die fast immer von einer eiternden bakteriellen Infektion begleitet wird. Eine dauerhaft wirksame Therapie gegen die immer wieder wüten den Bakterienstämme war lange Zeit nicht in Sicht – bis die Pharmakologen und Mediziner des Arzneimittelherstellers Bayer HealthCare Pharmaceuticals ein neues Antibiotikum zum Inhalieren entwickelten. In Experimenten mit Tieren und ersten klinischen Tests an Patienten hatten die Forscher die Wirksamkeit des Präparats unter Beweis gestellt: Die Bakte rien in der Lunge waren nach der Behandlung mit dem Medi kament nicht mehr nachweisbar. Auch wenn das nicht bedeutet, dass sie nicht wiederkom men: Es war ein vielversprechendes Resultat – und Beginn einer langjährigen Arbeit für Katrin Roth, die sich bei Bayer HealthCare Pharmaceuticals in Berlin im Reich der Korrela tionen, Kausalitäten, Standardabweichungen, Tödlichkeitsraten und Signifikanzniveaus bei klinischen Studien bewegt. Als die 33-Jährige die Ergebnisse der Tests im vergangenen Jahr sah, war ihr sofort klar, dass für die nun anstehende mehrjährige Studie an Hunderten von Patienten in Europa, den USA und Japan ein völlig neuer Ansatz entwickelt werden musste. Denn das ist der Unterschied zwischen der ersten wirksamen Sub stanz und dem möglichen späteren Medikament: „Entschei dend ist nicht nur, was mit den Bakterien passiert, sondern wie es den Patienten, die das Medikament einnehmen, auf lange 400 350 300 250 200 150 100 50 0 -10 0,1 5,0 10,0 15,0 20,0 25,0 30,0 35,0 40,0 45,0 50,0 55,0 60,0 65,0 70,0 75,0 80,0 85,0 90,0 95,0 100,0 105,0 54 Hilfe! --- Klinische Studien --- Die Biostatistikerin --- 55 sind ihrem Arbeitgeber verpflichtet, der das bestmögliche Präparat auf den Markt bringen will, aber gleichzeitig daran interessiert ist, dass die Entwicklungskosten nicht aus dem Ruder laufen. Vonseiten der Bevölkerung schallt ihnen der Ruf nach wirksamen, neuen und gut verträglichen Medika menten auf aktuellem Stand der Forschung entgegen, wäh rend Gesetzgeber und Gesundheitsbehörden auf strikte Ein haltung ihrer Normen und Richtlinien pochen. Und nicht zuletzt sind die Biostatistiker auch den Studienteilnehmern verpflichtet: Zwar erhöht sich die Ergebnissicherheit einer Studie mit der Größe der Stichprobe – aber niemand will auch nur einen Patienten mehr als unbedingt nötig einer noch nicht geprüften Medikation mit weitgehend unbekannten Nebenwirkungen aussetzen. Biostatistiker wie Katrin Roth, die bei Was genau wollen wir herausfinden? Bayer HealthCare Pharmaceuticals an klinischen Studien arbeitet, haben Die Arbeit der Zahlenexperten beginnt in der Regel in der Phase II einer klinischen Prüfung, wenn erstmals die Wirk samkeit an meist 100 bis 300 Patienten getestet und die opti male Dosierung gesucht wird. Nicht selten begleiten sie die Studien über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren – bis weit über die Zulassung hinaus. Der Test des Antibiotikums gegen die bei der Bronchi ektasie einfallenden Bakterien war insofern untypisch: Katrin Roth stieg erst nach Abschluss der Phase II in das Projekt ein. Entsprechend schnell verdichteten sich ihre Überlegungen zur Frage nach dem eigentlichen Ziel der nun anstehenden keinen leichten Stand. Patienten, Öffentlichkeit, Zulassungsbehörden und natürlich der Arbeitgeber haben hohe Erwartungen an die Antwort auf die alles entscheidende Frage: Wie gut wirkt das Präparat? Versuche: „Was genau wollen wir herausfinden?“ Zielgröße heißt der Untersuchungsgegenstand im Fachjargon. Aus der Perspektive der Biostatistikerin ist es essenziell, dass die Ziel größe messbar ist. Besonders kompliziert ist das bei einem Medikament, das den Verlauf einer chronischen Krankheit lindern oder ver langsamen soll. In manchen Fällen müssen die Parameter, an denen sich Erfolg oder Scheitern des Projektes bemessen las sen, erst mühsam herausgearbeitet werden. Beim LungenAntibiotikum kristallisierten sich nach intensiver Diskussion mit den Medizinern zwei Zielgrößen heraus: Wie lange dau ert es im Schnitt bis zur ersten akuten Verschlimmerung nach Beginn der Behandlung? Und: Wie viele solcher Verschlim merungen pro Jahr erleben die Patienten während der Thera pie? Vor dem Start der Studie musste außerdem definiert werden, was als „deutlicher Effekt“ im Vergleich zu einer Pla cebo-Behandlung zu werten wäre. „Wenn die durchschnitt liche Zahl der Krankheitsschübe durch die Behandlung bei spielsweise von 2 auf 1,9 sinken würde, wäre das wohl kaum eine deutliche Verbesserung“, sagt Roth. All diese Anforderungen an die Studie werden in inter disziplinären Teams aus Medizinern, Biostatistikern, Pharma kologen, Datenmanagern und Study-Managern – den Ver antwortlichen für Organisation und Durchführung – diskutiert und festgezurrt, lange bevor der erste Studienteilnehmer das Medikament verabreicht bekommt. Ein solides medizinisches Grundwissen über Krankheiten, Präparate und ihre Neben wirkungen sollten auch die Statistiker mitbringen, Detailwis sen beispielsweise über biochemische Reaktionsketten und Formeln von Wirkstoffen ist dagegen nicht notwendig. Um gekehrt verlangt auch niemand von den Medizinern im Team, dass sie die Formel des Korrelationskoeffizienten nach Pear son herunterbeten können. Wie viele Patienten brauchen wir? Sicht geht“, sagt die promovierte Statistikerin. Müssen die Patienten in der Folgezeit weniger häufig ins Krankenhaus? Kommt es seltener zu Neuerkrankungen? Solche Fragen rückten jetzt in den Fokus. Roth scannt ihr Methoden-Ins trumentarium darauf ab, welche Tests gerechnet werden könnten, damit sich am Ende der Studie aus Zigtausenden von Einzeldaten eine klare Antwort auf die alles entscheiden de Frage herausdestillieren lässt: Wie gut wirkt das Präparat? Biostatistiker wie Katrin Roth gehören zu den unver zichtbaren Akteuren bei der Planung und Durchführung kli nischer Arzneimittelstudien. Ohne sie hätte kein Medikament eine Chance auf Zulassung. Aber mit ihrer Unterstützung ist der Erfolg der aufwendigen Arbeit leider keineswegs garan 110,0 115,0 120,0 125,0 130,0 Das finale Studiendesign ist Resultat eines Bündels gewissen hafter Diskussionen im Team, bei denen natürliche Gebiets hoheiten existieren. „Bei der richtigen Anfangsdosis sind vor allem die Pharmakologen und Mediziner gefragt“, sagt Katrin Roth, „während bei der Größe der Stichprobe eher die Sta tistiker das Sagen haben.“ Je mehr Patienten an der Studie teilnehmen, desto größer ist beispielsweise die Chance, dass auch seltene Nebenwirkungen erfasst werden. Außerdem tiert, obwohl sie bereits die Grundlagen mit definiert. Die Biometrie-Profis sind von Anfang an dabei, wenn es darum geht, die großen Linien der Architektur einer Studie zu ent werfen: Was wollen wir herausfinden? Wie viele Patienten werden wir benötigen, um die therapeutische Wirksamkeit des neuen Medikaments zu testen? Wie erfüllen wir die stren gen Anforderungen der Zulassungsbehörden? Wie können wir die Patienten auf die Testgruppen aufteilen, damit der Einfluss von Störfaktoren wie Nikotin- oder Alkoholkonsum, Alter und Vorerkrankungen, die das Ergebnis verfälschen könnten, minimiert wird? Bei ihrer Arbeit bewegen sie sich ständig in einem Span nungsfeld divergierender Interessen und Erwartungen. Sie 135,0 140,0 145,0 150,0 155,0 160,0 165,0 170,0 175,0 180,0 185,0 190,0 195,0 200,0 205,0 210,0 2 215,0 56 Hilfe! --- Klinische Studien --- Die Biostatistikerin --- 57 erlauben große Stichproben Aussagen auf einem höheren Sicherheitsniveau als Tests mit vergleichsweise wenigen Teil nehmern. Selbstverständlich kann Katrin Roth bei der Bemessung der Stichprobengröße nicht nach Belieben schalten und wal ten. Sie muss mit den Medizinern aber auch nicht um jeden Patienten feilschen. Die Zahl der Teilnehmer ergibt sich näm lich manchmal schon weitgehend aus den einschlägigen Be stimmungen der Genehmigungsbehörde. Maßgeblich für die Europäische Union, die USA und Japan sind vor allem die „Statistical Principles for Clinical Trials“, auf die sich for schende Arzneimittelhersteller und Gesundheitsbehörden in der ICH verständigt haben – der International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use. Die dort definierten Vor gaben – unter anderem für den Stichprobenumfang, die Auswahl der Zielgröße, den Umgang mit den gesammelten Patientendaten sowie die statistische Auswertung – sind für Katrin Roth und ihre Berufskollegen in anderen Pharma unternehmen absolut verbindlich. Wo steht die Konkurrenz? Manchmal stutzt auch das Budget die Wünsche der Biosta tistiker zurecht. Ziel ist es dann, ein effizienteres Studien design mit möglicherweise weniger Patienten zu finden, ohne dass die Aussagekraft der Untersuchungen leidet. „In solch einem Fall überlegen wir beispielsweise, welche Zielgröße uns einen größeren Behandlungseffekt zeigen könnte.“ In der Onkologie zum Beispiel testet man häufig zwei Zielgrößen in einer Studie statt in zwei getrennten. Die Wirksamkeit des Medikaments wird dann sowohl an der Gesamtüberlebens dauer des Patienten als auch an der Zeit bis zur Verschlech terung seines Zustands gemessen. 220,0 225,0 230,0 235,0 Und als wäre das alles nicht schon komplex genug, haben Katrin Roth und ihre 20 Kollegen von der Statistik-Crew bei Bayer HealthCare Pharmaceuticals auch noch ständig die Konkurrenz im Blick. Schließlich entscheidet der Zeitpunkt für die Zulassung eines neuen Medikaments im Zweifel über Umsätze oder Verluste in Millionenhöhe. Wo also stehen die Wettbewerber? Welche Phase-II-Ergebnisse präsentieren Novartis oder Pfizer auf medizinischen Kongressen? Welche Daten haben sie? Haben wir die Nase vorn, oder müssen wir das Tempo anziehen? An welchen Stellschrauben des Studien designs könnten wir noch drehen? teren Umsätzen stehen. Bayer hat in den vergangenen Jahren fünf neue Medikamente auf den Markt gebracht. Sie verspre chen ein Umsatzpotenzial von insgesamt 7,5 Milliarden Euro jährlich, aber sie haben auch das Budget für klinische Studien nachhaltig geschröpft. Allein das Anti-Thrombose-Mittel Xarelto wurde an 60 000 Patienten getestet. So ein Aufwand geht – zumindest vorübergehend – zulasten der nächsten Projekte in der Pipeline. Das Lungen-Antibiotikum befindet sich jetzt in Phase III der klinischen Studie. Ob die ersten Ergebnisse vielverspre chend sind? „Wie soll ich das wissen?“, antwortet Roth sehr bestimmt. „Wir können nicht zwischendurch die Decke lüf ten und schon mal ein bisschen auswerten.“ Die Statistikerin hat zwar Einsicht in sämtliche von den Ärzten eingegebene Daten, aber diese sind „verblindet“. Sie weiß also nicht, wel cher Patient welche Behandlung erhalten hat – das Medika ment, ein Placebo oder das Vergleichspräparat eines anderen Herstellers. Und sie hat auch keine Möglichkeit es herauszu finden. Was messen wir zuerst? Der Lackmustest für die Arbeit des Projektteams ist die Ver teidigung des Studiendesigns bei den Gesundheitsbehörden. Da Bayer mit dem Lungen-Antibiotikum, wie bei den meisten Arzneimitteln, auf die Märkte in Europa, den USA und Japan abzielt, reiste Katrin Roth zunächst nacheinander nach Lon don, Washington und Tokio. Dort saß sie den Biostatistikern der European Medicines Agency, der Food and Drug Admi nistration sowie der Pharmaceuticals and Medical Devices Agency gegenüber und diskutierte Stichproben, Randomisie rung, Zielgrößen und statistische Testverfahren. Besonders die Verhandlungen in Tokio sind ihr bis heute in Erinnerung: Sie liefen auf Japanisch, mit Simultanübersetzung. Anders als zu den Patienten, die sie nie zu Gesicht be kommt, wahrt Katrin Roth zu den Medikamenten auf ihrem Prüfstand stets eine gewisse emotionale Distanz. Man dürfe schließlich nie vergessen, dass es bei all dem um die Erpro bung an Menschen gehe, die nicht selten schwer oder unheil bar krank sind. „Wenn wir nicht zeigen können, dass das Prä parat wirkt, werden wir nicht weitermachen“, stellt sie klar. Sie selbst hadert eher mit den Fällen, in denen trotz viel versprechender Resultate ein Projekt nicht weiterverfolgt wird – etwa weil die Kosten einer groß angelegten klinischen Studie nicht im sinnvollen Verhältnis zu den erwarteten spä 240,0 245,0 250,0 255,0 260,0 Wird sich die Arbeit gelohnt haben? Beim Test einer Substanz, mit der sich die für Alzheimer spe zifischen Ablagerungen im Gehirn nachweisen lassen, hatte Katrin Roth auch keinerlei Information darüber, welche der teilnehmenden Patienten tatsächlich an Alzheimer litten oder an anderen Formen von Demenz. „Sonst hätte man zwi schendurch die Testgruppen neu zuschneiden und die Studie so manipulieren können, dass auf jeden Fall ein schönes Er gebnis herauskommt“, sagt sie und nimmt damit eine häufig vorgebrachte Kritik an den Arzneimittelherstellern auf. Dabei würde eine derartige Manipulation letztlich auch dem Her steller nicht nützen: „Wenn wir in einer frühen Phase die Ergebnisse schönredeten, um dann in Phase III doch zu 265,0 270,0 275,0 280,0 285,0 290,0 295,0 scheitern, hätten wir Millionen ausgegeben – und am Ende trotzdem kein zugelassenes Medikament.“ Geht hingegen alles gut, kommt irgendwann, zumeist nach Jahren, jener Moment, auf den alle gespannt warten: die Auswertung der Daten. Zuvor wird die Datenbank geschlos sen; niemand kann jetzt mehr Änderungen vornehmen. Auch die Ärzte können keine Eintragungen mehr nachschieben. Und wenn Daten fehlen, weil Patienten zwischendurch die Studie abgebrochen oder vergessen haben, zum vereinbarten Zeitpunkt zur Untersuchung zu gehen, oder weil ein Rea genzglas mit einer Laborprobe versehentlich verunreinigt wurde? All das passiere, aber auch dafür gebe es rigide Vor schriften der Gesundheitsbehörden, erklärt die Statistikerin. Und betont, dass sie auf keinen Fall nur vollständige Daten sätze auswerten dürfe, weil auch das zu Verzerrungen der Ergebnisse führe. Erst jetzt, nach der Versiegelung der Datenbank, erhält Katrin Roth in anonymisierter Form Informationen darüber, wie die einzelnen Patienten behandelt wurden. Jetzt endlich kann sie die Daten durch die statistischen Testverfahren lau fen lassen – Varianzanalyse, Log-Rank-Test, Cochran-Man tel-Haenszel-Test – und sieht in den meisten Fällen sehr schnell, ob sich eine Wirksamkeit des Medikaments nachwei sen lässt oder nicht. Das ist nicht immer ein erhabener Moment, vieles wird im Laufe der Jahre Routine. Aber hin und wieder wachsen beim „Proof of the pudding“ auch Rosen aus dem Asphalt, so wie damals bei den finalen Tests des Alzheimer-Diagnos tikums Florbetaben. Es war kurz vor Weihnachten, die meis ten Kollegen waren schon im Urlaub, als Katrin Roth in ihrem Büro in Berlin-Wedding die ersten Auswertungen der Phase-III-Studie vornahm. Sie sah die Ergebnisse und wusste: Ja, es funktioniert. Das neue Diagnostikum war ein Volltref fer. Für ihren Arbeitgeber. Vor allem aber für die erkrankten Menschen und ihre Angehörigen. „Es war eines meiner abso luten Highlights“, sagt Roth. „Schließlich ging es dabei ja nicht um Kopfschmerzen, sondern um Alzheimer.“ 300,0 305,1 310,0 315,0 320,0 58 Hilfe! --- Klinische Studien --- Alternativen --- 59 Wer hat so viel Geld? Gute Medikamente gibt es nur mit guten Studien. Und die kosten eine Menge Geld. Gut, dass es längst nicht mehr nur von Pharmafirmen kommt. Vielleicht sogar besser für alle. Text: Sascha Karberg Foto: Andreas Pufal 3 Die Zahl ist mittlerweile rund zehn Jahre in der Welt. Damals schätzte eine Studie des Tufts Center for the Study of Drug Development die Kosten für die Entwicklung eines einzigen neuartigen Medikaments auf rund 800 Millionen Dollar – die Investitionen für Fehlentwicklungen inklusive. Inzwischen haben sich die Schätzungen in die Höhe geschraubt, neuerdings ist die Rede von fünf Milliarden Dollar. Realistisch oder überzogen? Fest steht jedenfalls, dass die Entwicklung eines neuen Medikaments teuer ist, die Kosten seit Jahrzehnten steigen und das herkömmliche Finanzierungsmodell der Medikamentenentwicklung wackelt. In der Vergangenheit konnten Biotech- und Pharmafirmen genügend Finanzinvestoren davon überzeugen, dass sie ihr Geld nach der Entwicklung eines Medikaments über seinen Verkauf zurückbekämen – plus einem sattem Gewinn als Entschädigung für das hohe Investitionsrisiko. Inzwischen geht diese Kalkulation nur noch selten auf, denn die Preise halten mit den steigenden Kosten nicht mehr mit: Überall auf der Welt greifen mittlerweile Regierungen in die Preisgestaltung von Medikamenten ein, um die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung zu 3 60 Hilfe! --- Klinische Studien --- Alternativen --- 61 deckeln. Damit sinken die Renditen, Pharma verliert für Investoren an Reiz, weniger Investitionen führen zu weniger Produkten – ein Teufelskreis. Die Industrie hat auf diese Entwicklung längst mit Konsolidierung und unzähligen Fusionen reagiert. Doch das Grundproblem des steigenden Finanzbedarfs für Medikamentenentwicklungen ist damit nicht gelöst. Woher also könnte in Zukunft das Geld für neue Arzneien kommen, wenn nicht von Pharmafirmen und gewinnorientierten Investoren? Eine Suche rund um die Welt. I. Internet-Forschung Kopf- und Muskelschmerzen, Konzentrations- und Schlafstörungen, allergische und grippeähnliche Symptome – seit 30 Jahren quält sich Maria Gjerpe mit einer schweren Krankheit, der Myalgischen Enzephalomyelitis (ME), auch Chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS) genannt. Hilfe für sich und zwei Millionen weitere ME/CFS-Patienten in Europa suchte die Norwegerin jedoch nicht bei einer Pharmafirma, sondern im Internet: Maria Gjerpe sammelte per Crowdfunding Spenden für eine klinische Studie mit einem neuen Medikament gegen ME/CFS. Gjerpe, selbst Ärztin, hatte das Glück, an einer Pilotstudie in Oslo teilnehmen zu können, in der ihr das sonst nur als Krebsmedikament bekannte Rituximab verabreicht wurde. Nach sechs Monaten fühlte sie sich nahezu gesund. Doch um zu beweisen, dass die Arznei tatsächlich wirkt, ist eine Studie mit mindestens 140 Patienten nötig, die 1,8 Mil lionen Dollar kostet. Roche, der Hersteller dieses Medikaments, zeigte bislang kein Interesse an einer Entwicklung von Rituxi mab für die Behandlung von ME/CFS. Und der norwegische Staat wollte nur gut ein Drittel der Kosten übernehmen. Die fehlenden knapp 1,2 Millionen Dollar wollte Gjerpes mit ihrer Crowdfunding-Kampagne „MEandYou“ einsammeln. Solche Initiativen sind längst keine Einzelfälle mehr. Auf der Crowdfunding-Website Consano.org finden sich unter anderem Spendenaufrufe für Studien, die den Einfluss von Vitamin D auf Die Entwicklung eines neuen Medikaments ist teuer, die Kosten steigen seit Jahrzehnten, und das herkömmliche Finanzierungsmodell der Medikamentenentwicklung wackelt. Darmkrebs, neue Therapieansätze gegen Typ-1-Diabetes oder neue Behandlungsformen bei Lungenkrebs untersuchen wollen. Und auf MedStartr.com kann man die Entwickler einer Smartphone-App für die Erste Hilfe bei Herzinfarktopfern unterstützen. Doch welche dieser Websites man auch anklickt: Die angepeilten Spendensummen liegen bestenfalls im fünfstelligen Bereich. Gjerpes 1,2 Millionen-DollarKampagne war von der Größenordnung her eine Ausnahme – und brachte in der gesetzten Frist von 90 Tagen auch „nur“ gut ein Drittel der Summe zusammen. Dafür erzeugte sie aber so viel Medienresonanz, dass sich die norwegische Regierung inzwischen entschlossen hat, den fehlenden Betrag beizusteuern, sodass die Studie nun vollständig finanziert ist. Enorme Zeit- und Kostenvorteile Auch auf der Website PatientsLikeMe.org, auf der sich Patienten mit gleicher Diagnose zum Informationsaustausch vernetzen, wurden schon Studien organisiert. So testeten beispielsweise 348 Patienten mit der nervenzerstörenden Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) den eigentlich für andere Krankheiten zugelassenen Wirkstoff Lithium-Karbonat, weil es Hinweise gab, dass er den Verlauf von ALS verzögern könne. Zwölf Monate lang meldeten die Patienten ihre Erfahrungen über die Website und fanden so heraus, dass das Medikament die erhoffte Wirkung – wenn überhaupt – nur bei wenigen Erkrankten zu zeigen scheint. Hohen wissenschaftlichen Standards hält eine solche Studie nicht stand, räumt James Heywood, Mitgründer der Website ein. Dafür habe die webbasierte Studie enorme Zeit- und Kostenvorteile: Die Patienten erfahren schnell, ob ein Medikament Potenzial hat – und falls nicht, werden unnötige und teure Tests verhindert. Ob die im Internet organisierte Masse zur Medikamentenentwicklung beitragen kann, muss sich noch zeigen. Denn selbst wenn man dem Crowdfunding zugesteht, dass es ein noch recht junges Instrument zum Geldsammeln ist, fällt es doch schwer zu glauben, dass sich in der unverbindlichen Welt des Internets die nötigen Strukturen schaffen lassen, um eine Medikamentenentwicklung inklusive klinischer Studien sinnvoll zu begleiten. Als Ergänzung zu Strukturen in der analogen Welt hingegen ist die Selbst organisation im Netz aber schon heute sinnvoll. Schließlich gibt es auch Crowdfunding-Plattformen, die junge Gründer unterstützen. Über die französische Website WiSeed.com sind in fünf Jahren 35 Start-ups mitfinanziert worden, davon vier im Bereich Pharma/Biotechnologie. Sowohl bei WiSeed.com als auch bei ihrem britischen Pendant SyndicateRoom.com werden die Geldgeber Teilhaber der jewei ligen Firmen. Allerdings sind auch hier die eingesammelten Summen überschaubar. II. Staats-Spritzen Mehr Geld hätte der Staat. Dass Medikamentenentwicklung in der Hand der Regierung nicht funktionieren kann, wird gern am Beispiel der DDR belegt, in deren vierzigjähriger Geschichte trotz hoher Bildungsstandards so gut wie keine neuartigen Wirkstoffe entwickelt wurden. Doch vielleicht ist das einfach nur kein gutes Beispiel. Und Kuba ein besseres. Das sozialistische Land hat vor gut 30 Jahren begonnen, in die biotechnologische Forschung zu investieren und ist inzwischen der größte Arzneimittelexporteur Lateinamerikas. Mit rund 40 selbst entwickelten Produkten ist Kubas Pillen-Pipeline durchaus vergleichbar mit der großer USBiotechfirmen. 3 62 Hilfe! --- Klinische Studien --- Alternativen --- 63 Allein zwischen 2001 und 2006 hat das Centro de Ingenieria Genética y Biotecnologia 30 neue Produkte auf den Markt gebracht, darunter Quimi Hib, den ersten synthetischen Impfstoff der Welt gegen Hirnhautentzündung. Sogar das US-Fachmagazin Science nannte den auf Zucker basierenden Wirkstoff anerkennend einen „süßen Sieg der kubanischen Wissenschaft“. Impfstoffe wie Heberbiovac HB gegen Hepatitis B werden heute sogar von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gekauft und weltweit eingesetzt, was Kuba jährlich etwa 70 Millionen Euro einbringt. Die Erlöse aus den Exporten fließen zurück an den Staat, der damit nicht nur die Medikamentenentwicklung weiter ausbaut, sondern sich auch eines der besten Gesundheitssysteme in Lateinamerika leisten kann. Die Patienten werden kostenlos versorgt, dafür wandern ihre Daten in nationale Register, die wiederum die Suche nach geeigneten Probanden für klinische Studien erleichtern. Staatliche Zwangsabgabe und engagierte Forscher Systembedingt ist das kubanische Modell wohl kaum eine Vorlage für Europa. Doch es gibt durchaus Ansätze, öffentliche Interessen und den Einfluss des Staates in der Medikamentenentwicklung zu stärken. In Italien beispielsweise sammelt die Regierung Geld für unabhängige klinische Studien mithilfe einer Zwangsabgabe, die alle Pharmafirmen zahlen müssen, die im Land Medikamente verkaufen – da rüber kommen immerhin 40 Millionen Euro pro Jahr zusammen. Damit werden unter anderem Studien finanziert, die klären sollen, ob Medikamente, die Zehntausende von Euro pro Jahr und Patient kosten können, tatsächlich so lange wie vom Hersteller angegeben verabreicht werden müssen. Hierzulande ist das staatliche Engagement nicht besonders groß, wenn es darum geht, neuartige Wirkstoffe in die Klinik zu bringen. Weil es uns Deutschen aber auch an Kapitalgebern mangelt, die in Ideen von Grundlagenforschern investieren, um dann Biotechfirmen zu gründen und Medikamente zu entwickeln, engagieren sich die Forscher jetzt selbst. Die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) beispielsweise, eine der größten Grundlagenforschungsinstitutionen in Deutschland, hat in Dortmund ein Lead Discovery Center (LDC) eingerichtet. Bislang erforschten MPG-Wissenschaftler in ihren Labors nur die Funktionen und molekularen Strukturen in der Zelle, die Krankheiten entstehen lassen und sich als Angriffspunkte für neue Wirkstoffe eignen. Im LDC suchen und entwickeln sie jetzt auch Wirkstoff-Kandidaten, sogenannte Leads, die in der Zelle die Ursprünge von Krankheiten angehen können. Eine Allianz der Forscher und Konzerne Das ist eine mühsame und langwierige Arbeit, bei der oft jahrelang zahllose Moleküle getestet werden müssen und die bislang Aufgabe von Pharmakonzernen war – kleine Start-ups können sich so etwas in der Regel nicht leisten. Die Forscher kommen dem Markt jetzt ein Stück weit entgegen, indem sie den Firmen nicht mehr nur Ideen, sondern Wirkstoff-Kandidaten zur weiteren Prüfung anbieten. Die teuren klinischen Studien allerdings übernimmt das LDC nicht. Noch nicht. Denn bisher wird das Center hauptsächlich durch Aufträge der MPG, Spenden und öffentliche Fördergelder finanziert. Im vergangenen Jahr ist Merck Serono, die biopharmazeutische Sparte von Merck, Partner des Centers geworden. Langfristig soll sich das LDC durch Lizenzeinnahmen aus Verkäufen von Medikamenten finanzieren, an deren Entwicklung es beteiligt ist. Ähnliche Wege gehen auch die National Institutes of Health in den USA, das schwedische Karolinska Institutet oder die belgische Universität Leuven. III. Kassen-Pillen In den USA hat sich schon vor gut zehn Jahren eine weitere Finanzierungsquelle für Medikamentenentwickler aufgetan: die Krankenkassen. So hat beispielsweise der kalifornische Versicherer und Gesundheitsdienstleister Kaiser Permanente eine Investitionsgesellschaft gegründet, die gezielt Firmen unterstützt, die neue medizinische Geräte, EDV-Lösungen und Pflegedienstleistungen, aber auch innovative Medikamenten-Therapien entwickeln. Der katholische Gesundheitsdienstleister Ascension investiert über seine Tochtergesellschaft Ascension Health Ventures 550 Millionen Dollar in drei Innovations-Fonds. Und der Venture-Arm des Versicherers BlueCross Blue Shield hat immerhin 300 Millionen Dollar zur Verfügung. 18 Prozent aller US-Investitionen in Medizintechnik-Unternehmen stammen inzwischen von solchen strategischen Investoren – mehr als je zuvor in den vergangenen fünf Jahren. Bei den Entwicklern von Biopharmazeutika und Medizintechnik-Startups ist das Geld der Versicherer nicht nur willkommen, weil es das schwindende Risikokapital kompensiert – die Investoren bringen auch wertvolle Informationen mit. Schließlich sorgen sie dafür, dass nur solche Entwicklungen vorangetrieben und finanziert werden, die auch eine Chance haben, in den Leistungskatalog aufgenommen und bezahlt zu werden. Anders als klassische Risikokapitalinvestoren haben Versicherer nämlich nicht allein die Rendite ihrer Investments im Fokus, sondern auch den Sinn und Zweck des Produktes in der Praxis. Für einen Krankenversicherer kann sich auch ein kostenintensives medizinisches Gerät oder ein diagnostischer Test für eine seltene Krankheit rentieren – wenn damit hohe Folgekosten in der Therapie oder Pflege verhindert oder zumindest reduziert werden können. „Wir sind ganz zufrieden mit der finanziellen Leistung unserer Unternehmungen“, sagt Chris Grant, der Vizepräsident von Kaiser Permanente. „Viel interessanter und der primäre Grund für unsere Investitionen ist aber der Einfluss, den diese Technologien auf unsere Gesundheitsversorgung haben können.“ 3 64 Hilfe! --- Klinische Studien --- Alternativen --- 65 Die Allianz zwischen Entwicklern und Versorgern bringt Bewegung in die verkrusteten Strukturen der Gesundheitssysteme. Die Allianz zwischen Entwicklern und Versorgern bringt Bewegung in die verkrusteten Strukturen der Gesundheitssysteme. Denn während Pharmaunternehmen mit einem neuen Medikament in jedem Fall Geld verdienen müssen, um die stetig steigenden Entwicklungskosten einzuspielen, ist die Gewinnspanne für einen Versorger zweitrangig, solange sich das Produkt im gesamten Krankheitsverlauf rechnet – zum Beispiel indem es hohe Pflegekosten einspart. Das hat Einfluss auf die Art neuer Medizintechnik oder Medikamente, in die investiert wird. Und es kann sich schnell rechnen, weil der Investor weiß, was gebraucht wird. Kasseninnovationen Die kalifornische Medizingeräte-Firma MindFrame etwa entwickelte eine neuartige Katheter-Technik gegen Schlaganfall. Nicht nur stammte das Geld dafür von CHV Capital, dem VentureArm der Indiana University Health, dem größten Gesundheitsversorger im US-Bundesstaat Indiana. MindFrame hatte auch Zugang zu den Neurowissenschaftlern an der Indiana University und dem Indiana Clinical and Transla tional Sciences Institute. Davon profitierte die Entwicklung offenbar so sehr, dass die Firma, gegründet mit zwölf Millionen Dollar Startkapital, einem neuen Besitzer mittlerweile 75 Millionen Dollar wert war. Auch in Europa hat das Modell der innovierenden Krankenkassen inzwischen Fuß gefasst. In den Niederlanden haben die Versicherer Achmea und Menzis 60 Millionen Euro allein in den Health Economics Fund (HEF) der Investmentfirma LSP investiert, der sich an Firmen mit Fokus auf Medizingeräten, Diagnostika und Gesundheits-EDV beteiligt. „Seit Kurzem investiert auch ein deutscher Krankenversicherer in unseren Fonds“, sagt Fundmanager Rudy Dekeyser aus der Amsterdamer LSP-Niederlassung. Doch es sei noch zu früh, um Namen zu nennen. Denn ein solches Investment ist juristisch durchaus heikel. „In Deutschland schreibt das Sozialgesetzbuch (SGB) den Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts vor, wie sie ihr Geld investieren dürfen“, erklärt Roman Rittweger, Münchner Berater im Bereich Gesundheitswesen. Dass Investitionen in innovative Start-up-Unternehmen von den Regelungen des Sozialgesetzbuchs gedeckt sind, bezweifelt Rittweger. „Bislang legen deutsche Krankenkassen ihr Geld bestenfalls auf Festgeldkonten an.“ Das ließe sich natürlich ändern. Doch dazu bräuchte es politischen Willen, denn ohne einen „Innovationsparagrafen“ werden Versicherer kaum zum Motor des Fortschritts werden. Ein einzelner Paragraf böte dafür allerdings noch keine Garantie, fürchtet Rittweger. „Die Unternehmen selbst müssen sich wandeln – Investment ist nicht gerade das Kerngeschäft der Krankenkassen.“ Mehr Vielfalt in der Finanzierung ist wünschenswert Doch es könnte sich lohnen. Investoren wie Patienten können profitieren, wenn Krankenkassen Studien finanzieren, die überprüfen, ob neue Medizingeräte oder Medikamente tatsächlich besser als die bisherigen helfen. Das nütze auch dem Gesundheitssystem, sagt Rittweger. „Wenn zehn Krebsmedikamente für eine Indikation auf dem Markt sind, haben die Krankenkassen einen höheren Anreiz, deren Effizienz zu vergleichen, als jedes Pharmaunternehmen.“ Außerdem könnten die Kassen in ihren Studien die Wirksamkeit von Therapieformen überprüfen, mit denen ein Pharma- oder Medizintechnikunternehmen kein Geld verdienen kann. Da könnte es um Fragen gehen wie: Kann eine physiotherapeutische Behandlung ein künstliches Gelenk ersetzen? Oder Lichttherapie Antidepressiva? Im Grunde sind solche Studien schon seit einiger Zeit möglich – über die sogenannte Erprobungsregelung im Sozialgesetzbuch, die seit Anfang 2012 in Kraft ist. Danach kann der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen, Studien beauftragen, um den Nutzen von neuen Diagnose- oder Therapiemethoden zu überprüfen. Seit 2011 führen drei Krankenkassenverbände – der Verband der Ersatzkassen, der AOK-Bundesverband und die Knappschaft – eine gemeinsame Studie durch, die sowohl den Nutzen als auch die Wirtschaftlichkeit der Unterdruck-Wundtherapie klären soll. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hatte bemängelt, es sei bislang nicht hinreichend belegt, dass die Technik den Patienten tatsächlich besser hilft als die bisherige Standardtherapie. Vielleicht kommt über all das tatsächlich Bewegung in das starre Gesundheitssystem. Eine größere Vielfalt in der Finanzierung von Innovation im Gesundheitswesen wäre jedenfalls durchaus wünschenswert. Weil die rund fünf Milliarden Euro, die forschende Pharmaunternehmen jedes Jahr in die klinische Medikamentenentwicklung in Deutschland investieren, auf Dauer nicht reichen. Weil mit jeder neuen Finanzquelle auch andere Interessen verbunden sind. Und weil es nur mit ihnen möglich ist, dass neue Therapieformen in die Praxis gelangen, die nicht allein im Interesse des privatwirtschaftlichen Finanzierungsmodells stehen. Zum Nutzen aller Beteiligten. 7 66 Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Norbert Brockmeyer --- 67 Glück, sehr viel Geld und eine Revolution Aids ist bis heute nicht heilbar. Doch mittlerweile ist die durchschnittliche Lebenserwartung von HIV-Infizierten fast genauso hoch wie die anderer Menschen – zumindest in den Industrienationen. Wie das gelang, beschreibt Professor Norbert Brockmeyer, Sprecher des Kompetenznetzwerks HIV/Aids. Interview: Christiane Sommer Foto: Albrecht Fuchs 1981 tauchten die ersten Aids-Fälle auf. Die meisten Patienten starben damals an ihrer Erkrankung. Mit AZT wurde nur sechs Jahre später ein bis heute erfolgreich eingesetzter Wirkstoff zur Therapie zugelassen. Professor Brockmeyer, warum ging bei HIV-Infektionen so schnell, was bei anderen Krankheiten bis heute viel länger dauert? Norbert Brockmeyer: Die Entwicklung wirksamer HIV-Therapien ging tatsächlich verhältnismäßig schnell. Es kamen mehrere Faktoren zusammen. Nach dem ersten Auftauchen der Krankheit hat man zunächst nach dem Versuch-und-Irrtums-Prinzip gearbeitet: Sehr schnell wurden Medikamente mit antiretroviraler* Wirkung ausprobiert in der Hoffnung, dass sie wirken. Eines davon war Azidothymidin, kurz AZT. Es war in den Sechzigerjahren eigentlich als Krebsmedikament entwickelt worden, weshalb die Funktionalität des Moleküls gut bekannt war. Es zeigte sich: Das Medikament hat tatsächlich eine Wirkung, sogar eine relativ gute. AZT ist noch heute, 30 Jahre später, im Rahmen von Kombinationstherapien im Einsatz. Wenn Sie so wollen, war das damals das Glück des Tüchtigen: Durch die akribische Suche fand man ein bereits bekanntes Medikament, das auch gegen HIV wirkt. Professor Norbert Brockmeyers Die Besorgnis in der Öffentlichkeit war enorm, erst recht als sich herausstellte, dass Aids keine Krankheit ist, die vor allem Homosexuelle betrifft. Hat das den Fokus auf HIV verstärkt? Der öffentliche Druck hat die Entwicklung ganz sicher wesentlich vorangetrieben. In den Industrieländern herrschte Hysterie – zunächst waren nicht mal die Übertragungswege eindeutig geklärt. Außerdem engagierten sich gerade in den Fachgebiet sind sexuell übertragbare Krankheiten. *Eine gegen Retroviren gerichtete Wirkung. Beim Menschen sind bisher fünf Retroviren bekannt. Eines davon ist das HIVirus. Das erste Retrovirus konnte 1980 beim Menschen beschrieben werden. USA sehr frühzeitig Prominente und wohlhabende Menschen für HIV-Infizierte, sie forderten und förderten die Entwicklung von Wirkstoffen. Dazu gehörte zum Beispiel die Schauspielerin Elizabeth Taylor, die ihr Netzwerk in der Politik nutzte, um auf die Krankheit aufmerksam zu machen. In England war es der Popstar Elton John, der sich bis heute für HIV-Infizierte einsetzt. Diese Menschen haben viele Mittel eingeworben und selber hohe Summen für die Forschung zur Verfügung gestellt. Damit waren sie Vorbild für andere. Darüber hinaus hat auch der Umgang der Infizierten mit der Krankheit dazu geführt, die Entwicklung zu beschleunigen: Sie haben sich nicht versteckt, sondern sind an die Öffentlichkeit gegangen. Denken Sie an den Schauspieler Rock Hudson oder den Sänger Freddie Mercury von Queen, die ihre Erkrankung bekannt machten. All das ließ die Politik nicht unbeeindruckt. Es führte schließlich dazu, dass US-Präsident Bill Clinton viel Geld für die Aids-Forschung zur Verfügung stellte. George W. Bush finanzierte die Bekämpfung von Aids in Afrika über eine Präsidenteninitiative mit 15 Milliarden US-Dollar. 68 Hilfe! --- Klinische Studien --- Professor Norbert Brockmeyer --- 69 Man könnte den Eindruck gewinnen, dass vor allem das Geld die Forschung treibt. Ausreichend finanzielle Mittel helfen natürlich. Aber im Fall von Aids kam noch ein Aspekt dazu: In den Neunzigerjahren erlebten wir eine Revolution in der Labortechnik. Und mit den neuen Techniken hatten wir plötzlich die Möglichkeit, Analysen auf Genomebene und molekularer Ebene durchzuführen. Wir konnten Viren erstmals in dreidimensionalen Darstellungen abbilden – auch das HI-Virus. Das eröffnete die Möglichkeit, Medikamente quasi passgenau zu schneidern. Danach gab es immer noch viel „trial and error“ – aber zielgerichteter und damit erfolgreicher als vorher. Dieser Durchbruch ist von seiner Tragweite vergleichbar mit dem Übergang ins 20. Jahrhundert. Damals war man durch die Entwicklung von Färbetechniken und Mikroskopen auf einmal in der Lage, Bakterien zu identifizieren und damit Infektionen bestimmten Krankheitsbildern zuzuordnen. Das war ein enormer Fortschritt für die Medizin. Ähnlich war es Anfang der Neunziger. Wie erfolgreich die Entwicklung war, lässt sich auch an den vielen Patenten ablesen, die im Rahmen der HIV-Forschung erteilt worden sind. Vieles, was wir bei der Behandlung von Aids gelernt haben, lässt sich auf andere Erkrankungen übertragen. Hepatitis C zum Beispiel ist jetzt zu einem hohen Prozentsatz heilbar. Ich sehe diesen Erfolg auch als ein Ergebnis der HIV-Forschung. Norbert Brockmeyer hält eine Impfung gegen Aids für realistisch. „Vieles, was wir bei der Behandlung von Aids gelernt haben, lässt sich auf andere Erkrankungen übertragen.“ Das zunächst so vielversprechende AZT allein wirkt auf Dauer nicht gegen Aids, weil sich Resistenzen bilden. Wann wurde dieses Problem gelöst? Wir haben relativ schnell erkannt, dass bei der HIV-Therapie Resistenzen auftreten. Aber das ist nicht nur beim HI-Virus der Fall, wir haben auch bei der Therapie von Bakterien große Probleme mit Resistenzen. Deshalb begannen wir in den Neunzigerjahren, andere Wirkstoffe mit AZT zu kombinieren. Zunächst waren das ddI und ddC, die wie AZT einem DNA-Baustein ähneln. Damit konnten wir deutliche Verbesserungen in der Therapie beobachten. Den Durchbruch brachte der Einsatz von Proteasehemmern.* Die Kombina tion mit bislang verwendeten antiretroviralen Medikamenten zeigte sich als hochpotent. Der Aids-Forscher David Ho, der 1995 als Erster die herkömmlichen Therapien mit Protease inhibitoren kombinierte, sagte damals: „Wir können HIV-Infektionen mehr oder weniger heilen, wenn wir das HI-Virus sehr schnell und konsequent mit einer Kombinationstherapie bekämpfen.“ „Hit hard and early“ ist seitdem das Gebot. Tatsächlich war es ab da möglich, das Virus so weit zu unterdrücken, dass sich bei den behandelten Patienten die Menge der vorhandenen HI-Viren erheblich verringerte. Auch das Resistenzproblem ist dadurch deutlich kleiner geworden. Bei vielen Patienten haben sich unter dieser Therapie selbst nach zehn Jahren nachweislich keine Resistenzen entwickelt. Unter AZT wurden gravierende Nebenwirkungen beobachtet, darunter eine erhöhte Infektionsanfälligkeit und Anämien. Ist das bei einer Kombinationstherapie anders? Verschiedene Studien belegen, dass sich die Nebenwirkungsrate der Medikamente in den vergangenen 20 Jahren deutlich verbessert hat. Auch die Lebensqualität unter der Therapie hat sich erheblich gesteigert. Allerdings leiden Patienten am Anfang einer Therapie immer noch häufig an Nebenwirkungen. In den meisten Fällen klingen sie im Verlauf aber langsam ab. Auch die Lebenserwartung ist beeindruckend: Wir kommen in den Bereich von nicht mit HIV-Infizierten. Das ist großartig. Vergangenes Jahr zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine wirksame Impfung. Ist die Bekämpfung des Virus schwieriger als gedacht? Wir haben auch aus diesem Misserfolg gelernt. Natürlich waren die Ergebnisse nicht ermutigend – aber wir haben dadurch Hinweise für neue Forschungsansätze erhalten. Sowohl die präventive als auch die therapeutische Impfung werden kommen. Und gerade bei der Entwicklung der therapeutischen Impfung werden uns die Erkenntnisse aus dem vergangenen Jahr helfen. Unsere Therapiemöglichkeiten entwickeln sich stetig weiter. Mittlerweile können wir von einer sogenannten funktionellen Heilung sprechen: Wenn wir ganz früh, nur Tage bis Wochen nach einer Infektion, mit der Therapie beginnen, kann eine erhebliche Zahl von Patienten das Virus langfristig auch ohne Therapie kontrollieren. Das sind Ansätze, die wir in den vergangenen Jahren erprobt haben. Unser Ziel ist natürlich nach wie vor die Heilung. Aber auch der Weg dahin ist entscheidend, und auf diesem Weg haben wir relativ schnell sehr große Fortschritte gemacht. Professor Norbert Brockmeyer ist neben seiner Tätigkeit für das Kompetenznetz HIV/Aids auch Präsident der Gesellschaft zur Nach wie vor ist die Krankheit nicht heilbar. Für eine Entwarnung ist es also zu früh, dennoch ist Aids längst nicht mehr so im Fokus wie noch vor ein paar Jahren. Richtig, HIV ist nicht heilbar. Wichtig ist, dass im Rahmen einer HIV-Infektion andere Erkrankungen – Herz-Kreislauf-, Tumor-, Nerven-Erkrankungen – viel häufiger auftreten und auch zum Tode führen. Zudem bekommen Menschen mit einer HIV-Infektion leichter andere sexuell übertragbare Infektionen, erkranken an Gonorrhoe, Syphilis oder an Hepa titis-C. Insbesondere die Behandlung der Gonorrhoe ist schwierig, da viele Antibiotika nicht mehr wirken. Förderung der sexuellen Gesundheit (DSTIG) und Direktor der Forschung und Lehre an der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie der Ruhr-Universität in Bochum. Er leitet dort außerdem das Zentrum für sexuelle Gesundheit. Aids in Zahlen In Deutschland steckten sich im Jahr 2012 nach den Schätzungen des Robert-Koch-Instituts 3400 Menschen mit dem HI-Virus an. Die Epidemiologen gehen von insgesamt 78 000 Erkrankten hierzulande aus. Weltweit sind inzwischen rund 34 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert. In einigen Regionen der Erde, etwa im südlichen Afrika, haben sich mehr als 25 Prozent der Menschen im Alter von 15 bis 49 Jahren mit dem Virus angesteckt oder sind bereits an Aids erkrankt. Trotz der inzwischen auch global besseren Versorgung mit Medikamenten verläuft die Krankheit in vielen Fällen tödlich. Experten schätzen, dass weltweit nach wie vor zwei Millionen *Moleküle, die Proteine spaltende Enzyme hemmen Menschen pro Jahr an Aids sterben. 70 Hilfe! ---Hilfe! Klinische --- Klinische StudienStudien --- Interview --- Aids-Chronologie Brockmeyer ------ 71 Aids – eine Chronologie 1984 Die amerikanische Gesundheitsministerin Margaret Heckler gibt zu Protokoll: „In ein paar Jahren wird es eine Impfung gegen Aids geben. Wir werden innerhalb der nächsten beiden Jahre Heilungsmethoden gefunden haben.“ In Deutschland kommen die ersten HIV-Antikörper-Tests zum Einsatz. Ende 1984 gibt es in den USA 7699 gemeldete Erkrankungen, die Zahl der Toten ist auf 3665 angestiegen. um 1900 Inzwischen gilt als gesichert, dass bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein Urtyp des HI-Virus von Affen auf den Menschen übertragen wurde. Als Vorgänger des Erregers wurde das bei Schimpansen vorkommende SI-Virus identifiziert. Experten gehen davon aus, dass seine Verbreitung vermutlich in der Region Westafrika begann. Die Gesundheitsbehörde der USA lässt den ersten HIV-Antikörper-Test zu. In Atlanta findet die erste internationale Aids-Konferenz statt. Der erste HIV-Patient erhält im Rahmen einer Studie den Wirkstoff AZT. Die Substanz blockiert das Enzym Reverse Transkriptase, das für die Umschreibung der Virus-Erbinformation in menschliche DNA wichtig ist. Im Kongo wird einem Mann Blut abgenommen. Untersuchungen der Blutprobe ergeben Jahrzehnte später, dass sie HIV-Antikörper enthält. Es handelt sich um die erste nachgewiesene HIV-Infektion bei einem Menschen. Antikörper. Er hatte seine AidsErkrankung öffentlich gemacht: Am 2. 10. 1985 starb Rock Hudson. Der amerikanische Kongress beschließt die Gründung eines Netzwerks für AidsForschungseinrichtungen und stellt dafür rund 50 Millionen Dollar zur Verfügung. Bei 29 003 US-Bürgern ist Aids diagnostiziert, die Zahl der Toten steigt auf 16 301. In Deutschland wird bei einem Patienten eine rätselhafte Erkrankung festgestellt. Wie sich bei späteren Analysen herausstellt, war der Patient mit dem HI-Virus infiziert. Es ist der erste dokumentierte Aids-Fall hierzulande. 1987 1981 Die amerikanische Gesundheitsbehörde lässt AZT unter dem Namen Retrovir als erstes Medikament gegen Aids zu. Die Behandlungskosten betragen rund 10 000 Dollar im Jahr. Damit ist die Therapie die bis dahin teuerste der Medizingeschichte. Die Wirksamkeit des Medikaments hängt von einer akribischen Verabreichung ab: Es muss rund um die Uhr exakt alle vier Stunden genommen werden. 47 743 Aids-Erkrankte leben mittlerweile in den USA, 27 909 sind gestorben. Humanes Immundefizienz-Virus, abgekürzt H IV 1989 1982 Robert Gallo Luc Montagnier Foto: www.cdc.gov, US National Library of Medicine) Der Vertrieb des neuen Medikaments ddl, das ebenfalls antiretroviral wirkt, wird in den USA bereits vor der Zulassung genehmigt. Die Zahl der registrierten Aids-Fälle in den USA liegt jetzt bei 117 781. 1983 Dem Team um den Wissenschaftler Luc Montagnier gelingt in der virologischen Abteilung des Institut Pasteur in Paris der Nachweis eines Retrovirus. Im Mai veröffentlicht Luc Montagnier ein Bild des neuen Erregers im Fachmagazin Science. Zudem schickt er Proben des Virus an Robert Gallo in die USA. In den USA steigt die Zahl der gemeldeten Erkrankungen auf 3064, davon sind sieben Prozent Frauen. Die Zahl der Todesfälle steigt auf 1292. aller Blutprodukte auf H IV- 1986 1978 Das neue Krankheitsbild wird jetzt auch in Europa beobachtet. Die Erkrankung erhält einen Namen: Auf einer Konferenz in den USA einigen sich die Fachleute auf Acquired Immune Deficiency Syndrome, kurz Aids. Der Wissenschaftler Robert Gallo, der am amerikanischen National Cancer Institute forscht, stellt die Hypothese auf, dass Aids durch ein Retrovirus ausgelöst wird. Es stellt sich heraus, dass Aids auch bei heterosexuellen Frauen und bei Drogenkonsumenten auftritt. Erstmals wird die Infektion bei einem Patienten in Deutschland diagnostiziert. Mitte 1982 sind in den USA 452 Erkrankungen gemeldet und 177 Todesfälle. eine Pflicht zum Test 1985 1959 Ein Wissenschaftler der University of Los Angeles (UCLA) berichtet in einem Fachartikel über eine ungewöhnliche Konstellation von Pilzinfektionen und speziellen Lungenentzündungen. Betroffen sind fünf offenbar sonst gesunde, homo sexuelle Männer. Wenig später erscheint in der New York Times ein Artikel über eine Reihe ähnlicher Krankheitsfälle bei Homosexuellen mit Kaposi-Sarkomen. Seit dem 1. 10. 1984 besteht 1990 Die amerikanische Gesundheitsbehörde erlaubt bereits vor der Zulassung die Verschreibung von ddC, einer weiteren antiretroviralen Substanz. Es soll Patienten helfen, bei denen AZT keine Wirkung zeigt und die an keiner klinischen Studie teilnehmen können. Die Zahl der an Aids Erkrankten in den USA liegt bei 161 073, insgesamt sind seit Juni 1981 bereits 100 813 Patienten gestorben. 1992 Die FDA genehmigt den sogenannten Parallel Track. Damit bekommen HIV-Patienten die Möglichkeit, auch noch nicht zugelassene Medikamente zur Bekämpfung der Krankheit einzusetzen. Voraussetzung dafür ist, dass die herkömmliche Therapie bei ihnen keinen Erfolg zeigt. Aids ist für US-Männer zwischen 25 und 44 Jahren die Todesursache Nummer 1. Retrovir – das erste zugelassene Medikament gegen Aids. Bis heute Teil der Standardtherapie. 72 Hilfe! --- Klinische Studien --- Aids-Chronologie --- 73 1993 2000 Die über mehrere Jahre laufende europäische Concorde-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass AZT in der Monotherapie keinen zusätzlichen Nutzen bringt. Die Hälfte der Patienten hat sofort nach der Diagnose AZT bekommen, die andere zunächst ein Placebo und erst später AZT. Bei den früh mit AZT behandelten Patienten kam es zu mehr Todesfällen und wegen schwerer Nebenwirkungen weit öfter zum Abbruch der Therapie. Die ursprünglich empfohlene Dosierung wird nach Veröffentlichung der Untersuchung stark gesenkt. 361 164 Aids-Diagnostizierte in den USA, 220 736 Tote. Die Europäische Union erteilt die Zulassung für eine Dreier-Kombinations-Pille. Das neue Medikament Trizivir besteht aus AZT, 3TC und Abacavir. In den USA sind zum Jahresende 774 467 Erkrankungen und 448 060 Todesfälle registriert. Hochwirksam, aber zunächst stark über dosiert: AZT. 1994 Eine Pilotstudie zeigt die Überlegenheit der Kombinationstherapie zur Monotherapie. Aids ist die Haupttodesursache für alle US-Amerikaner zwischen 25 und 44 Jahren. 1995 2003 Ein erster Fusionshemmer erhält die Zulassung. Der Wirkstoff Enfuvirtid verhindert, dass das HI-Virus mit der menschlichen Zellmembran verschmelzen und in sie eindringen kann. Die WHO startet am 1. Dezember die „3 by 5 Initiative“. Sie soll bis Ende 2005 drei Millionen HIV-Infizierten den Zugang zu antiretroviralen Medikamenten verschaffen. Die US-Seuchenbehörde schätzt, dass 27 000 der jährlich 40 000 Neuinfektionen in den USA durch Ansteckungen von Infizierten zustande kommen, die nicht wissen, dass sie das Aids-Virus in sich haben. Studien zeigen endgültig, dass der Einsatz von AZT in Kombination mit ddI oder ddC gute Ergebnisse bringt. Ein erster Proteasehemmer wird von der FDA zur Kombinationstherapie zugelassen. Zum Jahresende ist bei 513 486 US-Bürgern Aids diagnostiziert, 319 849 Menschen sind bislang gestorben. 2005 1996 2006 Zwei weitere Proteaseinhibitoren werden von der FDA zugelassen. Die hochaktive antiretrovirale Therapie HAART (Highly Active Anti-Retroviral Therapy), in der AZT, ddI oder ddC mit einem Proteasehemmer kombiniert werden, wird zum Behandlungsstandard. Sie verhindert die bis dahin immer wieder auftretenden Resistenzen. Der erste Vertreter einer neuen Medikamentenklasse, der nicht-nukleosidale Reverse Transkriptase-Hemmer, wird zugelassen. Tests ermöglichen erstmals die Bestimmung der Viruslast im Blut. Die Zahl der Aids-Diagnosen sinkt in den USA zum ersten Mal seit Ausbruch der Epidemie. In den USA wird die erste Dreier-Kombination in einem Medikament zugelassen, das nur einmal täglich genommen werden muss. 1997 Nach Angaben der Seuchenbehörde sinkt in den USA erstmals die Zahl der AidsToten. Es werden neue Kombinationspräparate zugelassen. Das Robert-Koch-Institut teilt mit, dass die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland im ersten Halbjahr drastisch angestiegen ist. Die Vereinten Nationen schaffen mit U NAI DS ein spezielles Programm, das Maßnahmen gegen die H IV-Epidemie international abstimmt. 2008 Françoise Barré-Sinoussi und Luc Montagnier erhalten den Nobelpreis für Medizin für die Entdeckung des HI-Virus. 2009 Der Verwaltungsrat von UNITAID gibt grünes Licht für einen Patentpool für AidsMedikamente. 2010 1998 Die FDA lässt einen HIV-Schnelltest in den USA zu. Mit einer ergänzenden Zulassung wird ein Test auf den Markt gebracht, dessen untere Nachweisgrenze der Viruslast nicht bei 400, sondern bei 50 Kopien liegt, also hochempfindlich und verlässlicher ist. 2011 1999 Ein weiterer Proteasehemmer (Handelsname Agenerase) erhält in den USA die beschleunigte Zulassung. Nach Schätzungen der WHO leben weltweit 33 Millionen Menschen mit Aids. 14 Millionen sind gestorben. Das Robert-Koch-Institut errechnet, dass die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland seit 2007 sinkt. 2013 Die Hoffnungen auf eine Impfung werden nach erfolglosen Tests vorerst enttäuscht. 74 Hilfe! --- Klinische Studien --- Organ-Chips --- 75 Der Mensch auf einem Chip Tierversuche sind unbeliebt. Umstritten. Und ihre Ergebnisse begrenzt. Doch bald könnte es eine Alternative geben: Medikamententests auf Organ-Chips Text: Sascha Karberg Ein wesentlicher Schritt bei der Herstellung eines Multi-Organ-Chips ist seine Behandlung mit physikalischem Plasma in der Plasmakammer. 74 Foto: Felix Brüggemann 3 Nach Zukunft sieht es hier nicht aus. Der Glanz des backsteinernen AEGGebäudes aus der Jahrhundertwende in Berlin-Wedding ist längst verblasst, der Fahrstuhl altersschwach. In dem Labor im fünften Stock, in dem eine neue Ära von Medikamententests beginnen soll, essen Uwe Marx und seine Mitarbeiter gerade Quark mit Pellkartoffeln, Butter und Salz – ein Berliner Klassiker. „Wir machen dit hier reihum, jeda is mal dran mit Kochen“, berlinert der Biotechno loge kauend. Der für einen Kopfarbeiter recht muskulöse Forscher redet viel und schnell. Hin und wieder streut er einige Scherze ein und lacht darüber schallend. Doch der erste Eindruck täuscht: Hier findet Spitzenforschung statt. Ob Lunge, Leber, Niere, Muskel, Haut oder Darm – weltweit versuchen Forscher derzeit, die Organe des Menschen in Miniaturversionen künstlich nachzuahmen. Spätestens 2017 sollen zehn solcher Mini-Organe auf einem Chip einen menschlichen Metabolismus simulieren. Das wäre ein enormer Fortschritt für die Medikamentenentwicklung, denn bislang sind Forscher, die Wirkungen und Nebenwirkungen neuer Substanzen zumindest erahnen müssen, bevor sie sie am Menschen testen, auf Tierversuche angewiesen. Und diese 3 76 Hilfe! --- Klinische Studien --- Organ-Chips --- 77 das menschliche Genom war bekannt, und vor allem hatte sich die Mikrosystemtechnik so schnell entwickelt, dass Miniatur-Labore in Chip-Format möglich waren“, sagt der Biotechnologe und Unternehmer. Schnell sei man auf den Gedanken gekommen, nicht nur Flüssigkeiten auf Chips miteinander rea gieren zu lassen, sondern auch Zellen in die winzigen Kammern zu stecken. „Von dort ist der Schritt zu Mini-Organen nicht mehr weit.“ Um seine Vision zu erden, lud Marx 2008 auf eigene Kosten 14 Experten zu einem privaten Workshop zu sich nach Hause ein, 60 Kilometer östlich von Berlin, von wo aus er jede Woche mit dem Fahrrad in die Stadt radelt. Das Ergebnis des Brainstormings verarbeitete er zu einem Konzept für einen Organ-Chip, der v erlässliche Aussagen über Medika mentenwirkungen und -nebenwirkungen erlauben sollte. Doch der Europäischen Union war das Projekt, das er im Rahmen des Forschungsförderungsprogramms Framework vorschlug, „zu ambitioniert“. Auch sonst erntete Marx eher skeptische Kommentare. Etwas ganz Großes schaffen Geht nicht, gibt’s nicht – Uwe Marx ist Berliner, fährt jede Woche 60 Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit und hat auch sonst einen langen Atem: Er will Imitate von menschlichen Organen auf einem Chip nachbilden. Und zwar schneller als die Amerikaner. vorklinischen Testreihen führen leider häufiger zu falschen Prognosen. Weil viele biologische Prozesse, die von medizinischen Wirkstoffen beeinflusst werden können, in Tieren nicht vorkommen oder anders ablaufen. Das hat gravierende Folgen: Von zehn Medi kamenten-Kandidaten, die bei Tieren wirken, scheitern neun bei Tests an Menschen. Auch deswegen liegen die Entwicklungskosten für ein zugelassenes, neuartiges Medikament heute bei rund 800 Millionen Euro – der erfolgreiche Kandidat muss die Kosten der Fehlentwicklungen mittragen. Uwe Marx hatte als einer der ersten Forscher weltweit die Idee, Imitate von Organen wie der Leber, der Lunge oder der Haut auf einem Chip nachzubilden und diese wie im Menschen miteinander zu verbinden. Seine Idee des „Lab-on-a-chip“-Systems war auch ein Kind ihrer Zeit. „2007 war die Stammzellforschung weit genug entwickelt, Das war für den Fünfzigjährigen nichts Neues – er hatte schon früher gehört, dass dieses oder jenes „nicht geht“. Und später dann doch ging. Etwa als er 1994 die Berliner Firma ProBioGen mitgründete, für die er als Forschungschef über zehn Jahre einen künstlichen Lymphknoten entwickelte, den vorher kaum jemand für machbar hielt. Oder als er die Leipziger Firma Vita 34 mitgründete, die Stammzellen aus Nabelschnurblut für spätere Stammzellbehandlungen einfriert und als Zellersatzquelle vorhält – gegen Gebühr versteht sich. Nun will er noch einmal „etwas ganz Großes“ auf den Weg bringen. Dafür hat er mit eigenem Geld und Hilfe von ProBioGen das Start-up TissUse gegründet, das von Anfang an eng mit der TU Berlin verbunden war. Durch den Wettbewerb „GO-Bio“ des Bundes ministeriums für Bildung und Forschung erhielt das Unternehmen 2009 seine Anschubfinanzierung, weitere 1,5 Millionen Euro kamen von Investoren. Marx kann bereits einen Multi- Organ-Chip vorweisen, der Haut und Leber – die beiden Organe, die für die Pharma- und die Kosmetikindustrie am interessantesten sind – mit Blutgefäßimitaten kombiniert. Auch Leber- und Nervengewebe verbindet sein Team schon miteinander. Doch mittlerweile ist der Berliner mit seiner Idee nicht mehr allein. In den USA arbeiten rund zwei Dutzend Forschungsstätten an ähnlichen Chips. Wie groß dort das Interesse ist, zeigt eine bislang einzigartige Zusammenarbeit zwischen den Nationalen Gesundheitsforschungsinstituten (NIH), der Medikamentenzulassungsbehörde FDA und der Defense Advanced Research Projects Agency DARPA; diese Initiative soll im Auftrag des Verteidigungsministeriums den technologischen Fortschritt der USA sichern. Mit jeweils gut 70 Millionen Dollar finan zieren DARPA und NIH rund 20 Forschungsgruppen im ganzen Land. Marx scheint die Konkurrenz allerdings eher zu beflügeln als abzuschrecken. „Wir glauben, dass wir schneller sein werden als die Amerikaner“, sagt er und lehnt sich demonstrativ entspannt zurück. Schließlich habe TissUse einen jahrelangen Entwicklungsvorsprung. Und die US-Kollegen haben nicht unendlich Zeit: 2017 sollen sie etwas Brauchbares vorweisen – egal, woher die beste Technologie kommt. „Auch das ist für uns eine Chance“, sagt Marx. Wenn sich die Investoren weiterhin nicht trauen, in sein Zukunftsprojekt zu investieren, wird er seine Forschungsergebnisse eben in die USA verkaufen. „Bevor die Amis ihr Programm gestartet haben, hieß es, dass Multi-Organ-Chips unmöglich seien. Jetzt sagen die gleichen Leute, dass wir tolle Sachen machen, aber die Amerikaner bestimmt schneller sein werden“, erzählt der Forscher mit spöttischem Grinsen. Rund 20 Millionen Euro fehlen, um den Zehn-Organ-Chip entwickeln zu können. Das ist nicht viel für solch ein Projekt, zumal laut Marx die Pläne fertig sind bis zum Design der etwa daumengroßen Chips, in denen die Miniaturorgane in mehreren Schichten übereinander gelagert und miteinander verbunden sein werden. Dem Geld folgen? Das Wyss Institute der Harvard University in Cambridge, USA, das bereits Lunge, Leber, Darm und andere Organe auf Chips nachgebildet hat, kennt solche finanziellen Engpässe nicht. Der Schweizer Milliardär und Harvard-Absolvent Hansjörg Wyss hat 250 Millionen Dollar in die Gründung des Instituts gesteckt – die größte Spende einer Privatperson an die Elite-Uni. Da drängt sich die Frage auf, warum Marx mit seiner Idee nicht einfach dem Geld in die USA gefolgt ist. „Die würden mich und meine 15 Leute sofort nehmen“, antwortet er, „aber es gibt keinen Grund für mich zu gehen.“ Nur in Deutschland, glaubt Marx, könne er die richtigen Gerätetechnik-Ingenieure und Gewebezucht-Experten zu einem offenen und kreativen Gedankenaustausch zusammenbringen, um seine Idee zu verwirklichen. So oder so wird es noch einige Jahre dauern, bis Organ- und Multi-Organ-Chips in der klinischen Forschung zum Einsatz kommen. Denn selbst wenn sie funktionieren, müssen sie erst noch ihre Zuverlässigkeit beweisen. „Will man mit solchen Systemen die Sicherheit der Patienten und Freiwilligen verbessern, die ein neues Medikament bekommen, dann müssen sie wirklich getestet sein“, sagt der Toxikologe Thomas Hartung, der lange das Europäische Zentrum für die Validie- 3 An einer Reinraum-Werkbank setzen Mitarbeiterinnen Zellen und Gewebe in die MultiOrgan-Chips ein. Danach können die Experimente im Brutschrank beginnen. 78 Hilfe! --- Klinische Studien --- Organ-Chips --- 79 rung alternativer Testmethoden geleitet hat und jetzt an der Johns Hopkins University in Baltimore forscht und lehrt. Mittlerweile gebe es Tests ohne Tiere, die vorhersagen könnten, ob eine Substanz Haut oder Auge reizt. „Aber sobald es um komplexe Fragen geht, etwa ob eine Substanz Krebs auslöst, wird es schwierig“, erklärt Hartung. Auch Tierversuche können darüber keine hundertprozentigen Aussagen machen, und so hält der Forscher neue Testsysteme für dringend nötig. „Der Körper ist mehr als die Summe einzelner Gewebe oder Organe“, erklärt Hartung. „Nur komplexe Systeme können uns sagen, wie die Organe zusammenspielen.“ Erster Schritt einer langen Reise Das Problem ist bloß, dass es schwierig genug ist, einzelne Organe nachzubauen – ungleich schwieriger ist es, solche Organe zu kombinieren. Das Problem ist bloß, dass es schwierig genug ist, einzelne Organe nachzubauen – ungleich schwieriger ist es, solche Organe zu kombinieren. Denn dafür müssen unter anderem die relativen Organgrößen und die Stoffflüsse perfekt abgestimmt sein. Was ist, wenn ein Chip zum Beispiel eine schädliche Substanz auf dem Weg von der künstlichen Leber zur Mini-Niere im Kunstblut zu stark verdünnt und die Nierenzellen nicht wie beim Patienten reagieren? Bislang hätten Forscher wie Marx nicht bewiesen, dass eine größere Zahl bekannter Medikamente auf den Organoder Multi-Organ-Chips wie im Menschen wirkt, so Hartung. „Bisher wurden nur einzelne Substanzen getestet, da ist noch viel Arbeit zu leisten“, kritisiert er. „Aber jede lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt.“ Kurzfristig, glaubt Hartung, werde man Multi-Organ-Chips wohl zumindest dort einsetzen können, wo man Tierversuchen nicht traut oder wo sie keinen Sinn machen. „Heute sind die Hälfte aller neu zugelassenen Medikamente Proteine, zum Beispiel Antikörper, sogenannte Biologics. Bei denen sind Tierversuche so sinnvoll wie ein Kropf.“ Antikörper sollen menschliche Moleküle abfangen, nicht tierische – trotzdem ist es bislang vorgeschrieben, sie an Tieren zu testen, bevor sie Menschen verabreicht werden. Entsprechend groß ist der Bedarf an Alternativen zu Tierversuchen – und jenseits der Organ-Chips gibt es zurzeit keine andere innovative Technologie, die diesen Platz einnehmen könnte. „Die Pharmaindustrie ist an den Chips sehr interessiert“, sagt Lewis Kinter, der beim Pharmakonzern AstraZeneca die Toxikologie und Medikamentensicherheit leitet. Es gebe allerdings zwei Sichtweisen unter den Forschern: „Die einen hoffen, dass die Chips die vorgeschriebenen Tierversuche ablösen könnten.“ Die andere Gruppe, zu der sich Kinter zählt, denkt, dass „die Chips lange vor den regulären Tierversuchen helfen können, bessere Entscheidungen darüber zu treffen, welche Wirkstoffe weiterentwickelt werden sollten und wie deren Effizienz und Sicherheit verbessert werden können.“ In der frühen Entwicklungsphase, so Kinter, sei der Bedarf für die Chips viel größer. Denn während zumindest einer von zehn Kandidaten nach den klinischen Studien zugelassen wird, schafft es bis zur Zulassung nur einer von 5000 oder gar 10 000 Wirkstoffen, die am Anfang der Medikamentenentwicklung als Kandidaten galten – also noch vor den regulären toxikologischen und pharmakologischen Zellkultur- und Tierversuchen. „Wenn wir die Fehlentwicklungsrate von 9:10 auf 8:10 senken, können wir die Zahl neuer Medikamentenzulassungen verdoppeln“, sagt Kinter. AstraZeneca ist Ende vergangenen Jahres eine Kooperation mit dem Wyss Institute eingegangen. Langfristig könnte es für OrganChips noch ein Einsatzgebiet geben: in der individualisierten Medizin. Denn für die Chips werden menschliche Zellen benötigt, die bisher aus Resten von Operationen gewonnen werden – Marx verwendet für seine Haut-Chips Gewebe, das bei Beschneidungen übrig bleibt. Später aber sollen die Chips mit Stamm- In einem Langzeitversuch werden die Multi-Organ-Chips im CO2-Brutschrank beobachtet. zellkulturen bestückt werden – die im Idealfall von betroffenen Patienten stammen. Damit könnten möglicherweise Erkrankungssituationen einzelner Patienten beziehungsweise Patientengruppen auf Chips nachgestellt werden, zum Beispiel, wenn Patienten unterschiedlich auf Medikamente reagieren: So kann etwa die Wirkung von Warfarin gegen Blutgerinnung bei Menschen reduziert sein, deren Leberenzyme das Medikament besonders schnell abbauen, während bei anderen die Enzyme so langsam arbeiten, dass sich im Blut eine gefährliche Überdosis ansammelt. Wären die Chips mit Zellen von Patienten mit unterschiedlicher genetischer Kon stitution bestückt, ließe sich frühzeitig herausfinden, welche Medikamente bei welchen Patienten wirken und welche zu starke Nebenwirkungen haben. Das hätte auch Auswirkungen auf die Zulassung neuer Medikamente. In den USA konnte die FDA Wirkstoffe bislang nicht zulassen, die beispielsweise bei 40 Prozent der Patienten schwere Nebenwirkungen auslösen. Wenn jedoch mithilfe von Organ-Chips erkannt werden könnte, was diese 40 Prozent anfällig macht, und die Patienten danach getestet werden, könnten die übrigen 60 Prozent von dem Wirkstoff profitieren. Um diesem Ziel näher zu kommen, plant Uwe Marx einen Diabetes-Chip, auf dem Medikamente gegen Zuckerkrankheit an Gewebe von Diabetes-Patienten getestet werden sollen. Am Wyss Institute wird ein ähnlicher Chip mit Zellen von Asthma-Patienten entwickelt. Organ-Chips könnten die Medi kamentenentwicklung revolutionieren. Ob Marx und seine Kollegen ihre Vision realisieren können, ist angesichts vieler technischer Detailfragen offen. Doch in Berlin sieht man der Zukunft gelassen entgegen. „Das ist wie mit der Eisenbahn“, sagt Marx. „Achtzehnhundertirgendwas wusste auch niemand, ob man Eisenbahnschienen mitten durchs Indianerland vom Osten in den Westen der USA legen kann.“ Bis es schließlich jemand tat. 7 80 Glossar Hilfe! --- Klinische Studien --- Glossar --- 81 EMA (European Medicines Agency): Agentur der Europäischen Union mit Sitz in London. Beurteilt die von den Arzneimittelherstellern für den Gebrauch in der EU gestellten Zulassungsanträge für Medikamente nach wissenschaftlichen Grundsätzen, soweit dafür nicht Behörden der Mitgliedstaaten zuständig sind. Darauf basierend lehnt die Europäische Kommission die Anträge ab oder genehmigt sie. Endpunkt: BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte): Eine der beiden Bundesoberbehörden, die in Deutschland für die Genehmigung von klinischen Prüfungen für Humanarzneimittel zuständig sind. Gehört zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. BMG (Bundesministerium für Gesundheit): Zu seinen Aufgaben zählt es, die Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung sowie der Pflegeversicherung zu erhalten und fortzuentwickeln. Dabei konzentriert sich die Arbeit auf die Erarbeitung von Gesetzesentwürfen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften. Es erarbeitet unter anderem die Rahmenvorschriften für Herstellung, klinische Prüfung, Zulassung, Vertrieb und Überwachung von Arzneimitteln und Medizinprodukten, beziehungsweise wirkt daran mit, soweit die Vorgaben auf europäischer Ebene entstehen. CRO (Clinical Research Organisation / Contract Research Organisation): Auftragsforschungsinstitut, das klinische Studien plant, organisiert, begleitet und durchführt. Fungiert als Dienstleistungsunternehmen für die pharmazeutische Industrie. Seine Tätigkeiten können sich vom Erstellen des Prüfplans bis zur statistischen Auswertung erstrecken. Deklaration von Helsinki: Vom Weltärztebund 1964 in Helsinki verabschiedete Deklaration zu „ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen“. Wird auf Generalversammlungen immer wieder den neuesten Entwicklungen angepasst, zum letzten Mal 2013 im brasilianischen Fortaleza, wo der Probandenschutz noch einmal verstärkt wurde. Weitere wichtige Punkte sind die Freiwilligkeit an der Teilnahme und die Genehmigung nach ethischen Grundsätzen. Gilt als ethischer Standard für klinische Studien, obwohl sie nicht bindend ist. Richtet sich an Ärzte, aber auch an alle anderen, die im Bereich der klinischen Forschung arbeiten. Vor Durchführung festzulegendes Ziel, das mit einer Studie gemessen werden soll. So sind sogenannte primäre Endpunkte Parameter für Erfolg oder Misserfolg. Beispiele: Heilung oder Zeit bis zum erneuten Tumorwachstum. G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss): Höchstes Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen im deutschen Gesundheitswesen. Legt fest, welche medizinischen Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden. Entscheidet auf Grundlage von klinischen Studien (nach der Zulassung) und mithilfe des IQWiG auch über den Zusatznutzen von neuen Arzneimitteln. Hit: Wird auf der Suche nach Wirkstoffen für Arzneimittel bei der Testung Tausender Substanzen eine Molekülstruktur gefunden, die eine Wirkung verspricht, spricht man von einem „Hit“ – einem Treffer. Ein Hit ist aber nur der Ausgangspunkt der Entwicklung, selten bleibt ein solches Molekül unverändert. Lead: Aus einem Hit kann eine Leitstruktur, ein „Lead“, werden. Als Leitstruktur bezeichnet man ein Molekül, das als Ausgangspunkt der Entwicklung eines Wirkstoffs durch chemische Veränderungen verbessert werden kann. Die Leitstruktur zeigt in Tests bereits die erwünschte biologische Wirkung, hat aber in der Regel noch nicht die für einen Wirkstoff erforderlichen Qualitäten, was Wirkung, Nebenwirkungen oder Verstoffwechselung angeht. Die Leitstruktur erzeugt einen Effekt am Target, einer chemischen Struktur im Patienten. Die Interaktion zwischen Lead und Target muss genau charakterisiert werden. PEI (Paul-Ehrlich-Institut): Die zweite Bundesoberbehörde für die Genehmigung von klinischen Prüfungen. Das PEI ist zuständig für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel. Gehört zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Proband / Patient: Als Proband bezeichnet man nur die gesunden Teilnehmer einer Studie in Phase I. Ab Phase II sind die Teilnehmer Patienten und heißen auch so. _ Kontrolliert: Eine Teilnehmergruppe bekommt das neu zu testende Medikament, eine Kontrollgruppe ein etabliertes Medikament. So werden Wirkung und Verträglichkeit mit einander vergleichbar. _Randomisiert (Englisch: random, zufällig): die Zuordnung der Teilnehmer in die einzelnen Gruppen erfolgt nach dem Zufallsprinzip. _Verblindung: Verfahren, bei dem die Teilnehmer einer oder mehrerer Gruppen in Unkenntnis über die Behandlungszuordnung gelassen werden. Einfachblind bedeutet, dass die Teilnehmer nicht wissen, welche Therapie sie bekommen. Bei einer Doppelblindstudie wissen weder Teilnehmer noch Arzt, wie die Zuordnung erfolgt ist. In offenen Studien wissen dagegen sowohl Teilnehmer als auch Ärzte, wer welche Therapie bekommt. _Placebokontrolliert: Eine Teilnehmergruppe bekommt ein Scheinmedikament ohne pharmakologisch wirksame Sub stanzen. _Crossover: Jeder Proband erhält erst das Prüfpräparat und später die Kontrollsubstanz. Aber auch: Wechsel von Teilnehmern aus dem einen Studienarm in den anderen. Target: Ansatzpunkt im Körper, der im Zusammenhang mit einer Krankheit steht und an dem ein Wirkstoff eingreifen könnte, um den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen. Kann zum Beispiel ein Rezeptor sein, also eine Andockstelle für ein Signalmolekül. Targets sind Moleküle oder biochemische Strukturen. Die Identifikation von Targets ist der erste Schritt bei der Suche nach neuen Wirkstoffen. Prüfarzt: IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen): Wissenschaftliches Institut in Trägerschaft einer vom G-BA errichteten Stiftung privaten Rechts. Der Stiftungsrat ist zur Hälfte mit Vertretern der Kassen und zur anderen Hälfte mit Vertretern der Ärzte und Krankenhäuser besetzt. Das IQWiG bewertet im Auftrag des G-BA wissenschaftliche Studien und deren Aussagefähigkeit unter medizinischen und statistischen Aspekten, vor allem auch über den Zusatznutzen neuer Arzneimittel und Behandlungsmethoden. Der für die Durchführung der klinischen Studie an einem Prüfzentrum verantwortliche Arzt. Wirkstoffkandidat: Sponsor: Zusatznutzen: Auftraggeber einer klinischen Studie, meist der Hersteller des Prüfmedikaments, das getestet werden soll. Trägt für die Studie die Verantwortung und das unternehmerische Risiko. In einer industrieunabhängigen Studie kann der Sponsor auch ein Prüfarzt, ein Institut oder eine Organisation sein. Kann seine Aufgaben als Auftraggeber ganz oder teilweise an eine CRO abgeben. Der medizinische Zusatznutzen eines neuen Medikaments im Verhältnis zu einer gängigen Vergleichstherapie, die der G-BA bestimmt. Um ihn festzustellen, muss das Pharmaunternehmen in Deutschland gleichzeitig mit der Markteinführung eines neuen Medikaments oder bei der Zulassung neuer Anwendungsgebiete ein Dossier zum Nutzen vorlegen. Da zu diesem Zeitpunkt noch keine über die Zulassungsstudien hinausgehenden Anwendungserfahrungen vorliegen können, spricht man auch von früher Nutzenbewertung. Hat der G-BA einen Zusatznutzen per Beschluss zuerkannt, muss der Hersteller mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen über die Höhe der Vergütung des Medikaments durch alle Krankenkassen, einschließlich der privaten, verhandeln. Klinische Prüfung: Offizielle Bezeichnung für die Untersuchung von Arzneimitteln am Menschen, um Wirkung und Verträglichkeit festzustellen oder zu bestätigen. Umgangssprachlich – und seit Kurzem auch in der EU-Rechtsprechung – findet der Begriff klinische Studie Verwendung. Studiendesign: Das Vorgehen, nach dem die Prüfung durchgeführt werden soll. Richtet sich nach der Prüfsubstanz, dem Krankheitsbild und der Zielsetzung. Verschiedene Studientypen und Kombinationen sind möglich, zum Beispiel: Lead, der in die präklinische Phase übergehen kann. 82 Impressum Herausgeber Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) e.V. Kontakt: Dr. Norbert Gerbsch, Joachim Odenbach, Presse@bpi.de Chefredaktion (verantwortlich) Susanne Risch, susanne_risch@brandeinswissen.de Chefin vom Dienst Redaktion Michaela Streimelweger Lydia Gless, Textredaktion Renate Hensel, Schlussredaktion Peter Lau, Textredaktion Kathrin Lilienthal, Dokumentation Christiane Sommer, Textredaktion Art Direction Britta Max, Andreas Pufal Fotoredaktion Britta Max Illustration Christina Gransow Redaktionsadresse brand eins Wissen GmbH & Co. KG Speersort 1, 20095 Hamburg Telefon: 0 40/80 80 589-0, Fax: -89 E-Mail: kontakt@brandeinswissen.de Fotografie Felix Brüggemann, Albrecht Fuchs, Elias Hassos, Oliver Helbig, Michael Hudler, Julia Knop, Anne Schönharting Text Bernhard Bartsch, Julia Groß, Lydia Gless, Ralf Grötker, Sascha Karberg, Andreas Molitor, Christiane Sommer, Christian Sywottek Verlag brand eins Verlag GmbH & Co. OHG Speersort 1, 20095 Hamburg Telefon: 0 40/32 33 16-70, Fax: -80 Leitung: Eva-Maria Büttner eva-maria_buettner@brandeins.de Reproduktion 4mat media – Mohn Media Kleine Reichenstr. 1 20457 Hamburg Druck Dierichs Druck + Media GmbH & Co. KG 34121 Kassel