utopie - NERV Magazin

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utopie - NERV Magazin
magazin
für
studentisches
sein
#02/2012
UTOPIE
Editorial
Ein neues Semester beginnt und in der Hand haltet
Ihr die neue NERV-Ausgabe mit neuem Format, neuer
Chefredakteurin und vielen weiteren Neuigkeiten.
Liebe Studierende, liebe Leserin, lieber Leser,
seit wann gibt es das NERV-Magazin überhaupt?
Unsere Campus-Lektüre wird seit 2006 von
Uniarchivar Dr. Friedrich Winterhager und in der
UniBib Hildesheim (Signatur Z ALL: N18[-B]) sowie
seit letztem Jahr in der Leibniz-Bib Hannover und
nun auch in der DNB gesammelt. Ausgaben, die vor
dieser Zeit entstanden, bleiben bisher verschollen.
Das Überthema dieser Ausgabe Utopie wirkt
schwer greifbar. „Utopie“, aus dem Griechischen von
den Begriffen ou und tópos, bezeichnet laut Duden
das „Nichtland, Nirgendwo“. Einen Ort also, den es
eigentlich gar nicht gibt. Dennoch oder gerade
deshalb haben wir nach ihm gesucht.
Foto: Julia Schendrikow
Wir haben die Utopie auf Großmarkt-Parkplätzen
gesucht, auf den Festivalwiesen dieses Sommers,
auf dem Unicampus und in den religiösen Anwandlungen schwedischer Raubkopierender. Wir haben
sie gesucht in Gedankenprotokollen und Reportagen,
in politischen, philosophischen oder soziologischen
Auseinandersetzungen, in lyrischen Ergüssen, mit der
Kamera und in Euren spontanen Antworten. Haben
wir sie gefunden? – Urteilt selbst.
Viel Freude beim Durchblättern, Lesen, Anschauen, Wieder- und Neuentdecken dieser Ausgabe und natürlich einen wunderbaren Start in
das Wintersemester!
Paula Emilia Huppertz
Chefredakteurin
Impressum
Chefredakteurin
Paula Emilia Huppertz
Stellvertretende
Chefredakteure
Olaf Bernstein
Marvin Dreiwes
Grafisches Konzept
Angelika Schaefer
Herausgeber
Manuela Domanits
Verena Häseler
An dieser Ausgabe
beteiligt
Olaf Bernstein
Hendrik Buhr
Marvin Dreiwes
Paula Emilia Huppertz
Martina Krafczyk
Gudrun Kramer
Marie-Luise Schächtele
Julia Schendrikow
Marion Starke
Lektorat
Olaf Bernstein
Hendrik Buhr
Marvin Dreiwes
Christine Edelmann
Paula Emilia Huppertz
Martina Krafczick
Layout
Tilmann Cordes
Christine Edelmann
Natascha Häutle
Elvira Ladner
Angelika Schaefer
Endlektorat
Franzisca Fuchs
Jennifer Rentzsch
Cover
Angelika Schaefer
Illustrationen
der Themenbereiche
Christine Edelmann
Elvira Ladner
Angelika Schaefer
Externe Beiträge
Laura Armbrust
Claudius Dorner
Franzisca Fuchs
Olga Helm
Marlene Klünker
Julia Mauritz
Jan Pröhl
Johannes Rieder
Andre Vespermann
Kai Weber
HI_Queer:
Anna Blädtke,
Lena Wagner
HoKi
KHG/ESG:
Björn Stöckemann
Kulturcafé:
Hans-Ulrich Borchert
Gesetzt aus Gingar, Adobe Garamond Pro, Letter Gothic Std Papier Recymago 115g; Resaoffset 250g
Druck B&W Druckservice, Bad Salzdetfurth, b-und-w-druck.de Auflage 2000 Stück Finanziert aus
Mitteln des AStA der Stiftung Universität Hildesheim, Marienburger Platz 22, 31141 Hildesheim.
Die Artikel geben nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder.
UTOPIE
KULTUR
8
72
POLITIK
28
INTERNATIONALES
50
Das schimmern des
anderen ortes
diskusaren und
havelschwäne
Kann ich mich eigentlich ernsthaft
als
Utopist
verstehen?
Für
Jean
Die sich wandelnde Kreativwirtschaft
WAhlen Abschaffen
und ihre alten Umhängetaschen voller
Ziegler ist die Utopie eine Mission,
Bürokratie bereiteten viel Kopfzer-
der Philosoph Ernst Bloch rückt sie
Unsere Demokratie muss sich den Zeiten
brechen bei der ersten Pfingstakademie
in seinem „Prinzip der Hoffnung“ ins
anpassen. Eine kritische Idee zur
des Instituts für Kulturpolitik der
Zentrum unserer handelnden Existenz
Dynamisierung unserer Regierungsform
Universität Hildesheim. Von armen
und Henri Lefebvre würde es sogar
erklärt
Poeten und einem Sommerschloss in
als Kompliment auffassen, als Utopist
prinzip für obsolet und ruft zum
bezeichnet zu werden. Ein Plädoyer
Umdenken auf.
das
althergebrachte
Wahl-
für das Herumspinnen.
12 Freisein im Schlammbad
32 Campus Stimmen:
32 Brauchen wir Utopien?
der Mark.
Wissen und kommunik ation
sind heilig
Copy
and
Paste
als
die
obersten
76 Woran forschen Komponisten heute?
78 Goldrausch
Gebote einer neuen Internet-Religion?
15 Muße als Widerstand
34 Absage an die Prostitution
Kein Witz. Ein Philosophie-Student
84 Nassmacher
aus Schweden hat sie erfunden: Die
17 Öl an den Rädern
23 Von schmackhaften Mensen und
23 gebühremfreien Studieren
38 Der Lean-Produktion
38 und das europäische Bildungssysthem
3 8des 21. Jahrhunderts
53 Die Entwicklung hat Vorrang
88 Cinematische Leckerbissen
40 Peniskekse
56 Das Reich der Zwecke
89 Es weihnachtet sehr!
44 Comic
60 Hildesheimer Wald für Tansania
90 Kirche macht Kultur
64 Atomare Eigenständigkeit
91 Wir haben (keine) Angst
missionarische Kirche des Kopimismus.
66 Hildesheimer Rassenkunde
86 Ohrenschmaus
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UTOPIE
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Das Schimmern
des anderen Ortes
Kann ich mich eigentlich ernsthaft als Utopist verstehen? Für Jean Ziegler ist die Utopie eine Mission,
der Philosoph Ernst Bloch rückt sie in seinem „Prinzip der Hoffnung“ ins Zentrum unserer handelnden
Existenz und Henri Lefebvre würde es sogar als Kompliment auffassen, als Utopist bezeichnet zu werden.
Ein Plädoyer für das Herumspinnen.
Text: Marvin Dreiwes
J
ean Ziegler läuft dieser Tage sicher wut- – wirklich spannend wird es, wenn die Utopie von
schnaubend durch sein Arbeitszimmer. den Entwürfen und Blaupausen aufersteht und sich
Statt des Aufbegehrens und der Empörung im Begehren der Menschen offenbart. Die Utopie,
versenkt sich eine von Krisen und Kapitalismus die nicht mehr nur auf ihre soziale, politische oder
gebeutelte Welt in Nichtigkeiten der Konsum- gesellschaftliche Prophezeiung reduziert, sondern
gesellschaft und der kurzfristigen Rauschzustände. als eine prinzipielle Komponente unseres Lebens
Bis zur Perversion stehen sich Armut und Dekadenz verstanden wird, ermöglicht eine Neubewertung des
gegenüber, dazwischen nur noch zynische Lethargie; Phänomens. Vor allem der Philosoph Ernst Bloch
Taumeln im Augenblick – gedämpft durch Watte schaffte es in seiner meisterhaften Sprache, die zu
der öffentlichen Meinung. Ziegler fehlt der hoffnungs- diesem Zeitpunkt negativ konnotierte Utopie zu
rehabilitierten und in das Zenvolle und konstruktive Blick auf
trum des menschlichen Daseins
die Zukunft; eine Vision, die sich
zurück zu rufen.
freimacht von den Sachzwängen
Vom Nicht-Ort zum
der Realität.
Noch-nicht-Ort
Sie wird dann mehr, die
Der Schweizer ist Autor des
Utopie – mehr als nur die verBuches „Imperium der Schande“,
zweifelte Ablehnung des status
das sich zugleich als Rundumschlag gegen die Multi- quo; auf einmal entsteht der feste Wille, dass es
Konzerne der Welt und als Manifest der Menschen- anders geht, und zwar genau so. Dass die Utopien
rechte versteht. In seinen einleitenden Passagen das zündende Material liefern, an dem sich die
spricht er über die Utopie – sie ist grundlegend für Veränderung entfacht, zeigt sich schon in der
sein Werk.
französischen Revolution, wie Ziegler in seinem
Der Reiz, der von gewissen Utopien ausgeht, Buch beschreibt. Es waren die Utopisten, die als
ist der Gedanke ihrer potentiellen Verwirklichung, erste auf Basis der aufklärerischen Gedanken soziale
der über das freie Spiel des „als ob“ hinausgeht. Gerechtigkeit sowie politisches Mitspracherecht
Auf dem Reißbrett mögen die Konstrukte von einforderten und das „Recht auf Glück“ als erstes
Gesellschaftsformen im ersten Moment nur belehrend Menschenrecht artikulierten. Sie alle starben jung,
bis erschreckend wirken – gerade die Literatur hat in den meisten Fällen durch die Guillotine oder den
sich diesem Thema hingebungsvoll angenommen Dolch. Ihre Hoffnung nun zynisch als „utopisch“
zu bezeichnen, unterschlägt den ursprünglichen
Impetus. Für Bloch wären diese Zyniker, die sich
einer Phrase der Provinz, der Engstirnigkeit bedienen,
„garniert mit [der] Angst vor der Zukunft“.
Könnte man sich eine Occupy-Bewegung überhaupt sinnvoll denken ohne das Ideal einer globalen
Gerechtigkeit? Die Formung eines Rechtsstaats in
Libyen ohne die Idee der Demokratie? Oder eine
ACTA-Demonstration, ohne die Vision von Transparenz und Partizipation?
utopischer Denker, den der französische Philosoph
Henri Lefebvre einst sinngemäß äußerte, könnte sein:
„Wer nur auf das schaut, was er sieht, wird niemals
etwas verändern können“.
Jede Utopie bewegt sich, sofern sie überhaupt
ernstgenommen werden soll, auf dem Balanceakt
zwischen prophetischem Idealismus und realistischer
Welteinschätzung, zwischen anbiederndem Pragmatismus und maßloser Überschätzung. Was gibt uns
die Gewissheit, dass Utopien Wirklichkeit werden
können? Eigentlich nur
die (Tag-)Träume unserer
Das Utopische zeichnet sich
Utopien selbst, und so ist
für Ziegler, und in gewisser
Weil wir das, was ist, als
ihre Funktion nicht nur
Weise auch für Bloch, nicht
Anderes denken können,
ein Experimentierfeld für
primär durch die scheinbare
richtet die Utopie. Sie
Literaten und Philosophen,
ist der MaSSstab und die
Unmöglichkeit der VerwirklichUrteilskraft über das,
ung aus, sondern durch ihre
sondern auch die Triebfeder,
was ist.
hochgradig neuartige und überdie in uns das Gefühl
bestärkt, im Kleinen als
greifende Innovation. Jene, die
sich prinzipiell in jedem Ding
auch im Großen etwas zu
ausfindig machen lässt. Die Möglichkeiten, die Dinge verändern. Nicht umsonst denkt man bei Bloch an
in sich trägen, werden hier vollkommen fassbar und das beinahe geflügelte Wort „Prinzip Hoffnung“.
nicht idealistisch gedacht. Hoffnungen, Erwartungen
Das Potential von allem, was ist – für Bloch
oder schon Intentionen haben ihre Pendants in gewissermaßen das „Noch-nicht-Seiende“ – müssen
der objektiven Wirklichkeit. Die „planetarische wir uns vor Augen führen, um den Mangel als
Gerechtigkeit“ zeigt sich im Vorschein der Zukunft. Veränderungsmotor zu sehen. Eine Hoffnung entUnd ohne die „Dimension Zukunft [...] hält es kein steht aus dem (Noch)-nicht-haben. Gemäß Bloch ist
Dasein lange aus“ – wir brauchen sie. Der Leitspruch diese Kraft nicht beliebig, sondern immer schon
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ein „Vor-Schein“, der sich zum Beispiel in der
Kunst ankündigt und zeigen kann. Die Kunst
gibt den Raum für das Prozesshafte und Offene.
So ertragen wir das Leid und die Ungerechtigkeit
nur durch die „unabgeschlossene Willensmasse“ die
auf eine zu füllende Leerstelle verweist, auch nach
unserem Ableben.
Es bleibt die Erde, es bleiben „die Waffen“ wie
Bloch es nennt, die auch nach unvollendetem Werk
der Nachwelt zu Verfügung stehen, um weiter an
dem Projekt „Menschheit“ zu arbeiten. Die Utopie
bleibt ein Enigma, das sich zwischen dem Wirken
im Hier und Jetzt aufspannt, sich anderseits aber nie
gänzlich realisiert.
Die Wirkung lässt sich also im Konkreten ablesen,
ihr eigentümliches Wesen aber zeigt sich nicht im
Horizont des Individuums, des Subjekts. Die Utopie
ist geschichtsbildend, nicht Geschichte. Genanntes
gilt auch im Individuellen für jeden von uns: Welche
Zukunftspläne, welche Visionen würden wir jemals
verfolgen, wenn wir ihnen nicht ein kleines Nochnicht-Sein zusprechen würden? Das Potential ist
überhaupt der Grund für das aktive, schöpferische
Leben jenseits des Fatalismus. Wir sollten diese
Leben wagen, denn es wird etwas passieren, vielleicht
sogar das, was wir uns er-hofften.
Die Utopie ist „Die Sehnsucht nach dem
Anderen“, wie Ziegler sie auch bezeichnet – die
völlige, nicht punktuell, andere Welt, das radikal
neu Gedachte. Sie erscheint uns deswegen abstrakt,
unvermittelt; getragen und genährt wird sie durch
die Hoffnung auf den Umbruch. Weil wir überhaupt
die Annahme haben, dass sich Dinge verändern
können, sind wir fähig, ein Leben zu führen, in dem
wir uns als handelnde Wesen verstehen. Für Bloch
ist es die Bedingung der Möglichkeit schlechthin.
Indem wir gegen die Missstände der Gesellschaft
angehen können, kämpfen wir gegen die Entfremdung, die wir empfinden. Selbstverwirklichung und
Selbsterkenntnis fallen hier zusammen. Weil wir
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das, was ist, als Anderes denken können, richtet
die Utopie. Sie ist der Maßstab und die Urteilskraft
über das, was ist. Sie ist das, was unsere Wirklichkeit widerlegt und umfasst die „einklagbare
Gerechtigkeit“.
Zieglers Buch – etwas näher an unserer Zeit – ist
mittlerweile über sieben Jahre alt, dennoch spricht
es eine Sprache der Utopie, wie sie aktueller nicht
sein könnte. Das gegenwärtige Geschehen liefert
ausreichend Material, das nach einer Verwandlung
fordert. Europa ist beispielsweise solch eine
Baustelle. Wir können immer weiter an ESF, ESM
und Schuldenbremsen arbeiten – solange wir keine
Vision am Rand des Horizonts erspähen, verlieren
wir das Ziel aus den Augen; wird jede Handlung
ergebnisloser, leerer Aktionismus.
Wenn es ein hehres Vorhaben ist, so gilt vielleicht,
dass es utopisch, statt nüchtern und realistisch sein
darf. Die Revolution endet für Ziegler mit einem
Wort des französischen Utopisten Louis Antoine
Saint-Just bei der „Vollkommenheit des Glücks“,
oder bei dem, was Bloch schlicht und ergreifend
„Heimat“ nennt.
Zum Nachlesen:
Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie
I [1961]. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1963.
Ders.: Geist der Utopie [1923]. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt a. M. 1964.
Jean Ziegler: Das Imperium der Schande. Der Kampf
gegen Armut und Unterdrückung. Bertelsmann Verlag, München 2005.
Anti-ACTA-Demonstration, Februar 2012
Foto: Franzisca Fuchs
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Freisein im
Schlammbad
Es ist sauber, es gibt Klopapier, es ist nicht zu warm und nicht zu kalt. Meine Unterhose wurde noch nicht
geklaut und meine Freunde schreien sich nicht an. Oder doch? Das Festival als Kurzzeitutopie.
F
Text: Martina Krafczyk
estivals bringen Menschen dazu, sich frei
sollten, wurde das Festival von fast einer Million
zu fühlen – so frei, wie sonst nirgendwo
Menschen statt der erwarteten 60.000 angesteuert.
anders. Unter Freunden und Fremden,
Letztlich kamen 400.000 Festivalgänger an und
unter Musikliebhabern und Bierschluckern, unter
konnten kostenlos dem Spektakel beiwohnen.
Harmlosen und Mimosen oder unter Regentänzern
Alles eingepackt, an alles gedacht? Dosenöffner,
kann sich ein Festivalgänger wohlfühlen – oder auch
dazugehörige Dosen, Zelt, Isomatte, Schlafsack,
nicht. Die Erfahrung, das erste Mal auf ein Festival
Mückenspray, Streichhölzer, Gummistiefel, Regenzu gehen, kann ein Schock sein: In Bier getränkte
T-Shirts, heruntergelassene Hosen, volle Dixi-Klos,
jacke, Gaskocher, Sonnencreme, Klopapier, Campingschlammige Wiesen – und alles klebt. Andererseits
stuhl, Sonnenhut und die Digitalkamera (darf kaputt
erlebt man tanzende Menschenmengen, Beer-Pongoder gar verloren gehen). Festivalatmosphäre kommt
Duelle, Lagerfeueratmosphäre am späten Abend
mit diesen Utensilien von ganz alleine auf. Die
und das leise Zirpen der Festivalgrillen, während
Fahrt im vollen Zug tut für die Einführung ihr
die Fans mit Vorfreude auf das morgendliche Bier
Übriges. Alle wollen an denselben Ort, alle dasselbe
langsam eindösen.
Gefühl spüren. Verschwitzt und
schwer – so muss es sein.
1969 findet das Woodstock
Die Mischung aus
Music and Art Festival statt, der
Unterhaltung und
Höhepunkt der Hippiekultur. Es
Ein weiteres Utopia entSelbsterhaltungsverstand sich als Verkörperung
wickelte sich in den letzten
dieses Freiheitsgefühls, aber auch als
Jahren in Polen. 1995 wurde das
trieb muss stimmen.
Auseinandersetzung mit der politFestival Przystanek Woodstock
ischen Situation Amerikas, zur
(„Haltestelle Woodstock“) geZeit des Vietnamkrieges. Es sollte gezeigt werden,
gründet, welches das erste Mal in Czymanów, und
dass es auch ein anderes Amerika gab. Auf einer
nicht wie heutzutage in Kostrzyn an der deutschFarm in Bethel im US-Bundesstaat New York traten
polnischen Grenze, stattfand. Das Festival verschrieb
an einem Wochenende 32 Bands auf. Ursprünglich
sich der Idee, allen Freiwilligen und Helfern des Wielka
sollte es das Aufnahmestudio des Musikproduzenten
Orkiestra Świątecznej Pomocy („Großes Orchester
Michael Lang finanzieren und durch zusätzliche
der Weihnachtshilfe“) für ihr Engagement zu danken.
Investitionen der Unternehmer John Roberts und
Die Organisation sammelt durch rund 120.000
Joel Rosenman sogar noch Profit erwirtschaften;
Helfer an jedem zweiten Sonntag in einem neuen
der eigentliche Eintritt: 18 Dollar. Da sich jedoch
Jahr Geld für wohltätige Zwecke. Um das Festival,
herumgesprochen hatte, dass Bands und Künstler wie
das jedes Jahr im August stattfindet, zu finanzieren,
Jimi Hendrix, Joe Cocker und Janis Joplin auftreten
werden die Spenden jedoch nicht benutzt. Hierfür
Foto: Martina Krafczyk
finden sich das ganze Jahr über Sponsoren. Durch die
Ausrichtung dieses einzigartigen Musikspektakels
können unbekannte wie auch berühmte Bands aus
Polen oder dem Ausland auftreten. Beispielsweise
kamen die Festivalbesucher schon in den Genuss
von Raz Dwa Trzy, Dżem oder Die Toten Hosen und
den Beatsteaks. Da es kostenlos ist, streben jedes Jahr
mehr und mehr Festivalwütige in die Stadt mit rund
18.000 Einwohnern und erweitern sie für fast eine
Woche um circa 700.000 Menschen aus aller Welt.
Wir schlendern immer noch über das Gelände.
Vielleicht finden wir noch einen Platz oder wir
bleiben einfach auf dem Fleckchen Erde stehen, auf
dem wir uns gerade befinden. Es ist voll, sehr voll.
Bald fangen die Bands an, zu spielen und wir haben
unsere Freunde noch nicht gefunden, die garantiert
einen Platz für unser Zelt freigehalten haben. Ah,
ein Supermarkt! Mitten auf dem Festivalgelände.
„Ein gelungenes Festival macht aus, dass gute
Bands spielen und dass man Leute dabei hat, die
man kennt, um sich frei und entspannt zu fühlen“,
sagt ein Bekannter von mir. „Die Mischung aus
Unterhaltung und Selbsterhaltungstrieb muss
stimmen“, denke ich in diesem Moment.
Festivals bringen Menschen dazu, sich frei zu
fühlen. Eine Atmosphäre von „alles-ist-gut“ bis
„es-wird-nur-noch-besser“ breitet sich über dem
Gelände aus. Es sind diese bestimmten Leute, diese
gemeinsam verbrachten Tage. Ein Festival kann eine
Utopie sein, ein Nicht-Ort, in dem Sinne, dass dieser
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Ort für einige Zeit zu einem vollkommen Anderen
wird. Wir entfliehen dem alltäglichen Geschehen;
Gewohnheiten werden abgelegt, andere Bräuche
angenommen, die zu Hause vielleicht nichts mit
einem selbst zu tun haben. Eben ein Schlammbad
nehmen, nach Bierdusche riechen, die Hosen
runterlassen und sich bei alldem sauwohl fühlen.
Gesellschaftliche Regeln werden zwar nicht
ausgeschaltet, aber doch umsortiert. Sodass wir
entspannt mit einem Grashalm im Mund, den
Hut tief im Gesicht, in der Sonne liegen, sodass
wir die schwüle Luft genießen und die Klänge der
Tiere, welcher Art auch immer, um uns herum
aufsaugen. Um zu Beginn der Alltagswoche die
abgelegten Gewohnheiten wieder auszugraben und
nach einer utopischen Auszeit in die Wirklichkeit
zurückzukehren.
Muße als
Widerstand
Du musst kommunizieren, doch wollen wir das? Erst wenn wir nicht
mehr rein aus Höflichkeit antworten, können wir der Oberflächlichkeit
entkommen. Eine Diagnose unseres „studentischen Seins“.
Z
Fotos: Julia Schendrikow
um Seminar, zum Projekt, dann
Sport, Nachbereitung der Vorlesung,
Geldverdienen und noch mindestens
eine Party am Abend, zu der man hingehen muss,
um den Erlebnishorizont der Mitmenschen nicht
aus den Augen zu verlieren.
Wir sind mit allen vernetzt, kommunizieren
in unglaublich großen sozialen Kontexten und
sind rund um die Uhr verfügbar. Ohne Filter im
E-Mail-Fach ist nicht mehr auszukommen, im Netz
ist das zweite zu Hause, und schon längst haben
wir den Überblick im Twitterrauschen verloren.
Noch schnell eine Kurznachricht unter dem Tisch
getippt, denn die, mit denen man reden möchte,
sind gerade nicht da.
Mit der andauernden Telekommunikation ist
jeder dazu aufgerufen, sofort zu antworten und
selbst das Gespräch fortzuführen. Meistens halten
wir dieses Moment der Höflichkeit ein, da wir
fürchten, die gleichen Menschen könnten plötzlich
hinter der nächsten Ecke auftauchen. Nähe und
Ferne sind eins geworden und die Anwesenheit hat
jede Möglichkeit der Abwesenheit aufgesogen.
Die ständig geforderte Verfügbarkeit, auch im
Privaten, lässt kaum noch die Möglichkeit zu, nichts
zu tun, denn antworten muss man und die Mailbox
vorzuschieben ist schon ein Fauxpas. Kommunikation ist zu einem Abarbeiten geworden. Kann jedoch
Inhalt erledigt werden? Der Arbeitsaufwand wird
größer, der Inhalt jedoch verringert sich immer mehr.
Brauchen wir nicht eigentlich viel Zeit, um
Text: Hendrik Buhr
Wichtiges zu sagen und zu verstehen? – Zeit, die
wir nicht haben, da es zu viel Interessantes und
zu Besprechendes in greifbarer Nähe gibt. Haben
wir Angst, zurück zu bleiben, wenn wir nichts tun
würden? In der Schnelligkeit findet sich die Gefahr
der Oberflächlichkeit, die wir bei allem Erlebnishunger immer wieder nur durch erhöhten Konsum
versuchen auszugleichen. Paradoxerweise rücken
wir allerdings genau hierdurch immer weiter an
die Oberfläche.
Einem ständigen Strom von Nachrichten
ausgesetzt, müssen wir selektieren, was im Sozialen
jedoch der Höflichkeit geschuldet, kaum möglich
ist. Die Überforderung mit der Frequenz der unterschiedlichen Kontakte drängt die Teilnahme am
Einzelnen zurück und somit auch uns selbst. Es
unterdrückt unsere Bedürfnisse, verhindert das wahre
Aufgehen in einer Sache und treibt damit die Muße
aus uns hinaus. Denn die Muße als ein Zeitnehmen
liegt jenseits des Erledigens, das immer einen äußeren
Grund hat, dem nachgekommen werden will.
Aus Angst, etwas zu verpassen oder den Anschluss
zu verlieren, kommunizieren wir immer mehr –
einer Tätigkeit bewusst nach zu gehen oder sich frei
zu nehmen, glänzt da schon als Akte der Freiheit,
die diese Angst überwinden. Die Muße wird damit
plötzlich zum Widerstand gegen den Betrieb, der
unsere Arbeit und Freizeit organisiert. Seine Verwirklichung ist zumeist nur eine Utopie, dieser kann
jedoch zum Beispiel in einer Mittagspause ohne Computer und Handy ein kleiner Raum gegeben werden.
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Öl an den Rädern –
Probleme der konkreten
Umsetzung einer Utopie
Text: Olaf Bernstein
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K
onzerne vernichten langsam, aber
sicher die Menschheit. Welches utopische Konzept kann da noch helfen?
Wir steuern auf eine monopolisierte Welt zu.
In naher Zukunft wird es nur noch einige wenige
Konzerne geben. Der Einfluss bereits existierender
Unternehmen auf unser tägliches Leben ist heute so
groß, dass wir ihn teilweise gar nicht mehr bemerken.
Gerade in den für unser Überleben grundlegenden
Branchen ist dies erschreckend: So wird ein Viertel
der weltweit konsumierten Lebensmittel von den
„großen 100“ wie Nestlé, Kraft Foods und Unilever
produziert. Es handelt sich um internationale
Industriekonglomerate, deren Mitarbeiter – wie bei
Nestlé – unter anderem ein Grundrecht auf Wasser
bestreiten oder Bauern – wie bei Monsanto – auf Jahrzehnte hinaus an patentiertes Saatgut ketten. Der
Mensch wird heute von Systemen gelenkt, die er
selbst erschaffen hat. Wie konnte es soweit kommen?
Die Abhängigkeit vom Kapital
Systeme, die der Mensch annimmt, folgen Strukturen. Teil dieses festen Rahmens stellt meist ein
definiertes, absolutes Bedürfnis dar. Bei Konzernen
lautet dieses oberste Bedürfnis profitable Selbsterhaltung. Diese Selbsterhaltung ist ein primär
amoralisches, inhumanes Bedürfnis; es setzt den
Menschen nur insoweit voraus, wie er nützlich für
die Befriedigung des Bedürfnisses ist. Damit behandeln die Konzerne den Menschen nicht anders
als das Kapital bei Karl Marx. Überhaupt wird bei
der näheren Betrachtung von Marx' „Ökonomischphilosophischen Manuskripten“ deutlich, dass die
modernen Konzernstrukturen ihrem Wesen nach
nur eine bestimmte Ausformung des Kapitals darstellen. Kapital ist nach Adam Smith eine „gewisse
Menge aufgespeicherte[r] Arbeit“. Sie wird vom
Arbeiter entäußert, wodurch er abhängig wird von
der Annahme seiner Tätigkeit durch den Kapitalisten, der das Kapital akkumuliert. Arbeiter schaffen
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Menschheit im Niedergang
gewissermaßen aus ihrer Arbeit einen Vorrat an
„Macht, zu kaufen“. Sie setzen die Manifestation
ihres Konzernes in die Welt, der nur aus Anteilen
des Kapitals einzelner besteht. Wird das gesammelte
Kapital dem Arbeiter entzogen – ganz gleich, ob aus
einem „nothwendigen oder willkührlicher Einfall“,
wie Marx es formuliert – „kann er sich begraben lassen“ oder „verhungern“. Der Arbeiter ist also abhängig
vom fortgesetzten Funktionieren der Wirtschaft,
weshalb sich auch die Nationalökonomie nicht für
den unbeschäftigten Arbeiter interessiert, wie Marx
sarkastisch anmerkt.
Konzernstrukturen, die nichts anderes darstellen
als die entfremdete Form von akkumuliertem
Kapital, befriedigen die Bedürfnisse des Arbeiters
nur insoweit, „daß das Arbeitergeschlecht nicht
aus[stirbt]“. Der Arbeiter selbst ist somit nichts
anderes als eine Zustandsform von Arbeit. Wie
auch eine Maschine kann er Arbeit ausführen und
tritt deshalb letztlich sogar mit dieser in Konkurrenz. Er muss ebenso wie die Maschine instandgehalten werden, damit sich sein Kapital mit Zinsen
vermehren kann: „Die Nachfrage nach Menschen
regelt nothwendig die Produktion d[er] Menschen,
wie jeder andern Waare“, wie es bei Marx heißt.
Konzerne erhalten ihre Mitarbeiter somit nur, um
ihre Arbeitskraft zu bewahren und sie noch leistungsfähiger zu machen. Ihre Konzepte für WorkLife-Balance sind nichts anderes als ein Zugeständnis
an das Notwendigste, „das Oel, welches an die Räder
verwandt wird, um sie in Bewegung zu halten.“
Anders ausgedrückt: Konzerne sind eigenständig
agierendes Kapital, das – unabhängig vom Kapitalisten oder gar vom Arbeiter – nur ein Ziel verfolgt:
Zu existieren und dabei beständig zu wachsen. Sie
sind damit der sich selbst bewusst gewordene Geist
des Kapitalismus. Sobald der Mensch für die SelbstErhaltung des Konzerns nicht mehr von Bedeutung
ist, wird er im System negiert. Der Mensch ist nichts
weiter als „Menschenwaare“, ein „so geistig wie
körperlich entmenschtes Wesen“, dass sich selbst
entfremdet ist.
Der Mensch ist sich selbst entfremdet, weil er
seiner Arbeit entfremdet ist. Arbeit im gegenwärtig
vorherrschenden System ist nach Marx Zwangsarbeit. Sie erfolgt unfreiwillig und wird sofort abgebrochen, sobald die äußeren Zwänge, die den
Arbeiter an seine Tätigkeit binden, wegfallen.
Damit ist die Arbeit für ihn kein inneres Bedürfnis
mehr, sondern eine entäußerte Tätigkeit, welche die
Freiheit des Arbeiters beschneidet. Indem sich, laut
Marx, der Mensch nur mehr in seinen „tierischen
Funktionen“ frei fühlt, also unter anderem beim
Essen, Trinken und der Fortpflanzung, beraubt er
sich in seinen menschlichen Funktionen der Menschlichkeit. Er entartet also gerade in seiner Arbeit
ins Tierische. In der für den Kapitalismus wichtigsten Aufgabe, der Arbeit, wird der Mensch unproduktiv und geistlos. Dies ist die Tragödie des
Kapitalismus, welche langfristig in der Katastrophe
des Kapitalismus enden wird. Wenn das Interesse
des Menschen an seiner Arbeit erlahmt und dieses
auch nicht mehr zu stimulieren ist, bricht die
gesamte Nationalökonomie mit ihrer beschränkten
Arbeitsteilung in sich zusammen. Prozesse der Arbeitsteilung, die früher größer als die Summe ihrer
Teile waren, drohen, fehlerhaft in allen Teilen zu
werden. Die arbeitende Weltbevölkerung verkommt
zu Morlocks, affenartigen Wesen unter Tage, die
H. G. Wells in seinem Werk „Die Zeitmaschine“
als Sklaven des Volkes der Eloi beschrieb. Diese
wiederum waren blasse Schatten unseres heutigen
Selbst, die ihre eigenen Schöpfungen nicht mehr
verstanden und von den kannibalischen Morlocks des
Nachts langsam, aber sicher aufgefressen wurden.
Die Utopie des ewigen Fortschritts der Menschheit
verkehrte sich bei Wells in eine ferne Dystopie.
Schon zu Wells' Zeiten war also offenbar eine Entwicklung abzusehen, bei der die industrialisierte Welt
die idealen Ziele der Utopisten zunächst übererfüllen und anschließend unter ihrer eigenen
Perspektivlosigkeit zusammenbrechen würde.
Wells' einzige Fehldeutung war, dass es dazu die
ferne Zukunft bräuchte. Vom heutigen Standpunkt
aus hat uns der Kapitalismus enorme Fortschritte
ermöglicht – um uns im Gegenzug langsam, aber
Das Überleben des Systems
sicher zu entmündigen. Der Mensch muss notgedrungen degenerieren in einem System, das
Anpassung fördert und Veränderung unterdrückt.
Die aktuellen Konzernsysteme entziehen sich
zuerst unserer Kontrolle und dann unserer Wahrnehmung, bis wir schließlich gar nicht mehr bemerken,
dass wir Räder im System sind. Die Entartung ins
Tierische bedingt die vollkommene Entfremdung
von uns selbst, wir transformieren in einen
Zustand der fortgesetzten Abgestumpftheit bar
jeder Innovation. Jedes große System, das primär
seine Selbsterhaltung zum Ziel hat, erzwingt diese
Geisteshaltung nachgerade.
Die Geschichte der Konzerne ist untrennbar
mit der Arbeitsteilung verbunden. Nur mit der
Hilfe vieler spezialisierter Arbeiter ist es möglich,
ein komplexes Produkt in kurzer Zeit herzustellen.
Je kleinteiliger die Arbeit jedoch wird, desto mehr
verschwinden die „menschlichen“ Bedürfnisse und
„menschlichen“ Einflüsse in Konzernen. Die Arbeit
muss paradoxerweise jedoch umso kleinteiliger
werden, je mehr Bedürfnisse der Mensch entwickelt.
Der Konzern wiederum, diese „umfassende Verbindung eines grössern sächlichen Vermögens mit
zahlreichen und vielartigen intellektuellen Fähigkeiten und technischen Fertigkeiten zu einem
gemeinsamen Zwecke der Production“, wie Marx
notiert, ist in einer idealen Position, um „eine
fremde Wesenskraft über d[en] andern [Menschen]
zu schaffen, um darin die Befriedigung seines eigen
eigennützigen Bedürfnisses zu finden.“ Und das
grundlegende Bedürfnis eines Konzerns ist, wie
bereits festgestellt, sein eigenes Überdauern und
unendliches Wachstum.
Der gegenwärtige Kampf der Menschen gegeneinander begünstigt die Unternehmen, ja, er ist der
Ausdruck ihrer Macht. Heute stehen sich keine
Armeen im offenen Kampf gegenüber, sondern
von Waffenkonzernen gebaute Drohnen, die über
weite Entfernungen hinweg gelenkt werden. Ihrem
Benutzer sind sie örtlich entfremdet; noch weitaus
mehr entfremdet sind ihm jedoch die Opfer, die
er nicht einmal mehr bewusst wahrnimmt. Schon
die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg waren
unvorstellbare Massaker; das Morden in den Gaskammern der Nationalsozialisten ein Paradebeispiel
für die Unterdrückung der Menschlichkeit
zugunsten einer automatisierten Maschinerie.
Die Getriebenheit der Täter findet dabei auf einer
anderen Ebene statt als die der Opfer; dennoch ist
sie vorhanden. Das rechtfertigt nicht das Handeln
der Täter; es marginalisiert sie zusammen mit den
Opfern. Der einzelne Soldat ist im modernen
Kampf ebenso wenig wert wie der einzelne Zivilist;
sobald er verletzt ist, der vorherrschenden Struktur
also nicht mehr dienlich ist, wird er ermordet –
wie in Syrien. Dort wurden laut den Berichten
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geflohener Mitarbeiter verwundete Soldaten in
Krankenhäusern getötet, um Kosten zu senken.
Kosten, die ein Staat, der um sein Überleben kämpft,
in allen Bereichen so niedrig wie möglich halten will.
Das Überleben des Systems steht hier als einzig übriggebliebene Maxime über allem. Wenn dafür Kriege
geführt werden müssen, ist das nicht nur akzeptabel,
sondern zwingend notwendig.
Die Macht des Geldes
Um sich der fremden Wesenskraft des Konzerns
zu erwehren, benötigt der Mensch laut Marx Geld:
„Der Mensch wird um so ärmer als Mensch, er bedarf
um so mehr des Geldes, um sich des feindlichen
Wesens zu bemächtigen.“ Freiheit erlangt er so
jedoch nicht, denn „die Macht seines Geldes fällt
grade im umgekehrten Verhältnis als die Masse der
Production, d. h. seine Bedürftigkeit wächst, wie die
Macht des Geldes zunimmt.“ Je mehr also produziert
wird, umso geringer sind die Chancen des Arbeiters,
sich aus seiner Situation zu befreien; ganz gleich, wie
viel Geld er haben mag. Im beständig angestrebten
Wachstum der Konzerne schnurrt seine Macht
zusammen. Konkurrenz ist laut Marx die einzige
Hilfe gegen Kapitalisten. Sie ist allerdings nur dann
möglich, wenn sich die Kapitalien in verschiedenen
Händen vermehren. Eine Vermehrung des Kapitals
ist allerdings nur möglich, wenn dieses auf dem
Markt reinvestiert wird. Diese Akkumulation hält
das Kapital jedoch in wenigen Händen. Je mehr also
ein Konzern besitzt, umso mehr kann er also auch
anlegen und umso notwendig schwächer muss seine
Konkurrenz oder gar der einzelne Kapitalist werden.
Foto: Julia Schendrikow
Maximale Entfremdung
Der Kapitalismus in seiner derzeitigen Phase hat
sich somit in ein Wesen transformiert, dass nicht
mehr einzelne Kapitalisten bevorzugt; mit dem
Wandel des Geldes auf die virtuelle Ebene haben
sie einzelne Konzerne als tragende Säulen des Systems ersetzt. Momentan verschmelzen diese Unternehmen zu einer Verkörperung einer an sich abstrakten Idee, die dem Menschen so weit entfremdet
ist wie nur möglich. In dieser maximalen Entfremdung zeigt sich der Höhepunkt und das Ende des
Kapitalismus. Nach dem Erreichen des maximalen
Profits müssen sich Paradigmen ändern, um das
System überleben zu lassen – und vieles deutet
darauf hin, dass der nächste zu streichende Faktor
der Mensch sein wird. Weshalb? Zunächst kann
Karl Marx' grundsätzliche Frage: „Wer entscheidet,
wer wo arbeitet?“ nicht endgültig mit „das System“
beantwortet werden, da das System der Konzerne
keine Entscheidungen trifft, die dem Arbeiter oder
der Menschheit insgesamt dienlich wären. Nach
Marx ist immerhin „das Unglück der Gesellschaft
der Zweck der Nationalökonomie“. Erst wenn das
Konzernziel der profitablen Selbsterhaltung an seine
Grenzen stoßen, sprich, die Ressourcen der Erde
übernutzt sein sollten, wird jeder Konzern auf nachhaltiges Wirtschaften umstellen – oder so viele Menschen töten, wie es notwendig ist, um seiner
„unmenschlichen Intelligenz“ das Überleben zu
sichern. Ohnedies ergeben sich aus dieser Situation
zwei Folgeprobleme: Erstens wird die Erde zu diesem
Zeitpunkt bereits irreversibel geschädigt sein; und
zweitens wird die Menschheit höchstwahrscheinlich
kein initiativer Teil des Systems mehr sein, sondern
nur noch ein degeneriertes Anhängsel desselben, wie
bei Wells beschrieben.
Als Vorboten dieser Entwicklung werden Geld
und Unternehmen mit der Zeit im gleichen Maße
abstrakter. Von der Entwicklung des Hartgeldes
bis hin zu Schecks, Überweisungen und schließlich
der neuen Sparkassen-Karte, die das „kontaktlose“
Zahlen mit girogo möglich macht – ohne dass ein
physisch wahrnehmbarer Vorgang erfolgt – immer
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Ansporn zur Veränderung
handelt es sich um Schritte, die für eine weitergehende
Entfremdung des Konsumenten von seinem Lohn
sorgen. Der Lohn, den ein Arbeiter für seine Tätigkeit erhält, entfremdet ihn weiter von seiner
eigentlichen Arbeit, da die Arbeit nunmehr „die
Eigenschaft eines materiellen Dings“ außerhalb des
Menschen annimmt, wie Marx es formuliert. Das
Geld mutiert zum Mittler, anstatt dass „der Mensch
selbst der Mittler für den Menschen“ bleibt. Es wird
so zu einer maßlosen „unabhängigen Macht“, da die
ursprünglichen Werte aller Gegenstände verloren
gegangen sind. Wertvoll ist heutzutage etwas allein
deshalb, weil es Geld repräsentiert.
Der sich selbst entfremdete Mensch ist somit
nicht nur von seiner Arbeit entfremdet, sondern auch
von seinen ursprünglichen Idealen, Werten und
Visionen der Aufklärung. Haben sich damit die klassischen Utopien angesichts der modernen Entwicklung überlebt? Sind wir gezwungen, in unseren
selbstgeschaffenen Fesseln den Weg in eine zukünftige Sklaverei anzutreten, die wir zu allem Überfluss
auch noch lieben werden?
Nicht unbedingt. Die Auf-Lösung des Ganzen
liegt in einer Formulierung einer Utopie nach dem
Bloch'schen Begriffsschema (siehe dazu „Das Schimmern des anderen Ortes“, Seite 8). Dabei handelt es
sich um eine Utopie, die wir als Noch-Nicht-haben
bezeichnen. Sie dient als Ansporn zur Veränderung,
nicht als Ende aller Veränderung. Sie ist eine Utopie, die sich als Blaupause eignet für zukünftig notwendige Handlungen. Diese Handlungen sollten die
konkreten Umsetzungen von Vision darstellen, denn
nur mit visionärer Kraft lassen sich Dinge ver
wirklichen, die ansonsten inexistent blieben. Dabei
käme es weniger auf das Erreichen des absoluten Zieles
an – welches der Definition einer Utopie nach ohnehin unerreichbar bleiben muss – sondern auf die
konkrete Realisierung der notwendigen Veränderungen auf dem Weg dorthin.
Dazu gehörte unter anderem eine radikale
Reflexion unseres eigenen Arbeitsverhaltens, der
gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes und damit
letztlich der Macht der Konzerne.
Zum Nachlesen:
Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte.
Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
H. G. Wells: Die Zeitmaschine. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1996.
Von schmackhaften Mensen und
gebührenfreiem Studieren
Existiert die Beste aller möglichen Universitäten bereits? Sind wir den
idealen Studienbedingungen näher als wir denken? Ein Situationsvergleich
deutscher Universitäten könnte uns die Richtung weisen.
Text: Paula Emilia Huppertz
Ü
ber Kommilitonen oder Freunde Hoffnung, wenn man sich bestimmte Kriterien an
kommt mir immer wieder Wunder- unterschiedlichen Unis unserer sechzehn Bundesliches, und zugleich Wunderbares zu länder ansieht.
Zunächst stellt sich die Frage: Welche Aspekte
Ohren. Ich höre von Semestertickets, in denen ICEFahrten inbegriffen sind oder mit denen man am sind denn überhaupt entscheidend dafür, dass ich
Abend und an den Wochenenden eine Begleitperson die eigenen Verhältnisse während meiner Studienzeit
als angenehm empfinde? Und was ist hierbei ausmitnehmen darf.
Dazu noch ein Belegungs- und Bewertungs- reichend, um erfolgreich studieren zu können?
Es sind einige, vergleichbare Kategorien denkbar;
system, das ich durchschaue und das funktioniert,
ohne dass ich dafür fünf Mal zwischen Dozent was wahrscheinlich mit eine Ursache dafür ist, dass
und Prüfungsamt pendeln muss. Kurse, die mich wohl keine (deutsche) Universität allen Ansprüchen
wirklich interessieren und die ich nicht nur belege, zugleich gerecht werden kann. Komplexe Ziele,
um die Module meiner Studienordnung auszufüllen. beziehungsweise umfangreiche Projekte lassen sich
Zum Mittag dann eine wohlschmeckende Mahlzeit meist nur in kleinen Einzelschritten erreichen und
zum kleinen Preis vom freundlichem Küchenpersonal. arbeiten oft gegenläufig. Aus diesem Grund habe ich
Kein Jobben im Restaurant oder auf der Messe, exemplarisch für die vielzähligen Aspekte, die eine
am Abend oder in der vorlesungsfreien Zeit, um die Rolle für gutes Studieren spielen könnten, die oft
Studiengebühren fristgerecht überweisen zu können. diskutierten Studiengebühren betrachtet.
Wie viel ist dran an diesen schier unerfüllbar
Laut der Internetplattform Studis Online
wirkenden Studierendenwünschen?
(www.studis-online.de) erheben nach dem Stand vom
Klingt das für dich nach einer utopischen 27. März 2012 noch drei Bundesländer allgemeine
Studienzeit? Möglicherweise ist die ideale Uni- Gebühren von bis zu 500 Euro für ein Erststudium;
versität, da sie als „ideal“ laut Duden nur in der und zwar Bayern, Hamburg und Niedersachsen.
Vorstellung vorhanden, tatsächlich unerreichbar. Im Südlichsten der drei Länder zahlen Studierende
Doch Ansätze besserer Umstände sind bereits zu berufsbegleitender Studiengänge sogar bis zu 2.000
finden. Auch wenn es wohl
Euro. Überzieht man in
keine Universität gibt, bei
niedersächsischen Studiender alle Qualitätsbereiche
orten die Regelstudienzeit
mit dem ice vom studienort
wird es ebenfalls teurer.
nach hause ohne beim
zufriedene Studenten hintersemesterticket dafür
lassen, so gibt es zumindest
Dann liegen die Kosten
drauf zu zahlen?
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Illustration: Angelika Schaefer
Studierenden-Wanderung
dank Studiengebühren?
Studiengebühren 2012
(Laut: Studis Online)
Allgemeine
Studiengebühren
Studiengebühren für
Langzeit-/ Zweitstudium
Keine
Studiengebühren
Geringster
Gebührenbeitrag
Wintersemester 2010/12
(Laut Destatis)
Abwanderung
von Studenten
Zuwanderung
von Studenten
bereits bei 600 bis 800 Euro. Für Langzeit- oder
Zweitstudium muss man allerdings auch noch in
Rheinland-Pfalz, in Saarland, Sachsen-Anhalt,
Sachsen, Thüringen und Bremen einiges berappen.
Hinzu kommen meist noch die Semesterbeiträge für
Studentenwerk und Studierendenschaft, in denen
auch das Semesterticket enthalten ist.
Doch eigentlich sollte man hier PositivBeispiele nennen: Den geringsten Preis für ihre
Ausbildung zahlen Studierende derzeit in BadenWürttemberg. Im Dezember vergangenen Jahres
wurden dort die Studiengebühren von der rotgrünen Regierung komplett abgeschafft und auch
die Verwaltungsgebühren von 40 Euro pro Semester
sind bundesweit die geringsten. Gefolgt von Berlin
und Brandenburg mit 50 beziehungsweise 51 Euro.
Übrigens: am 20. Januar 2013 sind Landtagswahlen in
Niedersachsen. Bei diesen könnte sich auch die Frage
der Studiengebühren noch einmal neu stellen. Denn
ein Regierungswechsel würde womöglich für deren
Abschaffung sorgen, und somit einen gerechteren
Zugang zu den niedersächsischen Hochschulen
ermöglichen.
Und wie sieht es nun mit der Zufriedenheit
und dem Erfolg im Studium aus? Das Statistische
Bundesamt veröffentlichte auf seiner Homepage
(www.destatis.de) unter dem Titel "Hochschulen auf
einen Blick – Ausgabe 2012" eine aktuelle, landesweite
Hochschul-Studie. Abgesehen von Hamburg haben
demnach alle Bundesländer, die noch allgemeine
Gebühren verlangen, im Wintersemester 2010/11
einen Verlust an Studierenden erlitten. Allerdings
erging es so auch einigen von den komplett gebührenbefreiten Ländern, unter diesen auch dem
„kostengünstigen“ Baden-Württemberg. Es ist klar,
dass die Studiengebühren nicht der einzige und
womöglich auch nicht der bedeutendste Gesichtspunkt für die Studienortsentscheidung sind.
Ich persönlich habe mich beispielsweise trotz
niedersächsischer Gebührenpflicht für mein Studium
in Hildesheim entschieden. Solch eine Entscheidung
ist sehr individuell und manchmal durch mangelndes
Angebot auch nicht ganz freiwillig. Es ist schwer
anhand von abstrakten Daten und Zahlen, ein
zufriedenstellendes Studium zu finden. Denn
Zufriedenheit und Erfolg haben natürlich in hohem
Maße mit der eigenen Einstellung und Kontinuität
zu tun. Doch für die Motivation der Studierenden
sind die Voraussetzungen und Lebensbedingungen
während des Studiums nun mal nicht ohne
Bedeutung. Daher halte ich den Versuch eines
Vergleiches nicht für sinnlos.
In Nordrhein-Westfalen beispielsweise lässt sich
ein Zusammenhang zwischen den Gebühren und
der Wahl des Studienorts klar feststellen. Seit dem
Wintersemester 2011/12 müssen die Studierenden
dort keine Studiengebühren mehr zahlen. Während
im Studienjahr 2010 noch viele Studierende
abwanderten, nahm die Anzahl der Studienanfänger,
sobald die Gebührenbefreiung absehbar war,
wieder zu. Ein weiteres Anzeichen für die mögliche
Verbindung von Gebührenfreiheit als möglichem
Vergleichsbereich und dem Studienverlauf ist das
Erfolgsquoten-Ergebnis der Destatis-Studie: In
Baden-Württemberg lag die Quote im Jahre 2010
mit 83,5 Prozent am höchsten.
Der weitere Vergleich einzelner Aspekte, wie
etwa der Studierenden-Betreuung, der Campus
und Unigebäude, der Kursangebote, der Partneruniversitäten oder auch der
Trägt gebührenfreiheit
Mensen, wäre durchaus eine
zu einem zufriedenen
interessante Aufgabe. Die
und erfolgreichen
studieren bei?
hier abgedruckte Grafik
in Form einer ergänzten,
digitalen und interaktiven
Deutschlandkarte, in der man bestimmte Kriterien
auswählen und miteinander in Beziehung setzten
kann, wäre ein möglicher Anfang. Anhand dieser
könnte man anschließend ermitteln, welche Problemfaktoren bei einzelnen Unis für eine Verbesserung
der Studierendensituation als Erstes in Angriff genommen werden müssten. Und die Konsequenz
daraus ziehen. Ein utopisches Vorhaben? Schon
möglich, aber nicht unmöglich.
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Politik
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Liquid-Feedback (LQFB) ist eine
Möglichkeit, im demokratischen
Prozess direkt teilhaben zu können.
Jedes Mitglied des Systems hat
eine Stimme in verschiedenen
Themenbereichen, die vorher festgelegt
wurden. Jetzt steht es einem frei,
entweder selber Abzustimmen oder
seine Stimme an ein anderes Mitglied
zu delegieren. Der, der die Stimme
erhält, spricht nun für zwei Personen.
Natürlich ist die tatsächliche Zahl
der Delegationen nicht begrenzt. Und
man kann selbstverständlich jederzeit
eine Delegation beenden oder auf
andere Mitglieder übertragen.
Wahlen abschaffen!
Unsere Demokratie muss sich den Zeiten anpassen. Eine kritische Idee
zur Dynamisierung unserer Regierungsform erklärt das althergebrachte
Wahlprinzip für obsolet und ruft zum Umdenken auf.
D
as Bild des Politikers ist zu dieser
Zeit nicht besonders gut. Kein
Wunder, haben doch die meisten Menschen, nachdem sie alle vier bis fünf Jahre ihre Kreuzchen
gemacht haben, nicht wirklich viel mit den
gewählten Vertretern zu tun. So stößt man nach
vielen Überlegungen, was an unserer Demokratie
nicht wirklich gut funktioniert, schnell auf die Wahl
unserer Abgeordneten. So manche Probleme sind
eng mit dem Wählen und den damit zusammenhängenden Prozessen verknüpft.
Dies erklärt auch, warum einige Menschen
mehr Einfluss auf Themen und Personen wünschen
– oft fällt dabei der Begriff „Direkte Demokratie“.
Gewiss eine schöne Utopie, die ich allerdings nicht
für die beste Idee halte. Das größte Problem dürfte
dabei wohl der Zeitaufwand sein, der in solch
einem System investiert werden müsste, um alleine
Text: Johannes Rieder
die Entscheidungen bearbeiten zu können, die einen
direkt betreffen. Also brauchen wir eine radikale
Lösung: Wahlen abschaffen! Nein, dies soll weder
ein Aufruf zur Anarchie, noch zur Diktatur sein.
Es ist vielmehr ein Apell, die Politik der aktuellen
Zeit anzupassen.
Zuerst einmal halte ich ein System, bei dem
Vertreter gewählt werden, trotz allem für die
sinnvollste Umsetzung. Allerdings müssten diese
mit einem weitaus schnelleren und direkten Einfluss
gewählt werden können als es derzeit möglich ist.
Der Vorschlag, eine Amtsperiode auf ein Jahr zu
reduzieren, geht dabei in die richtige Richtung.
Die reine Wahlkampfpolitik würde sich verringern;
vor einer Bundestagswahl zum Beispiel wären es
womöglich nur noch drei bis vier Monate, doch
wahrscheinlich würden die Probleme dadurch nur
gestaucht. Es wäre keine echte Lösung – der direkte
Einfluss wäre noch nicht genug gestärkt. Gehen Unterstützung zukomwir aber weiter, zu einer Verkürzung auf einen men zu lassen. Sobald
Monat dagegen, würden wir uns dem eigentlichen ich der Meinung wäre,
Ziel nähern: Direktem Einfluss, auch bei aktuellen von meiner derzeitigen
Ereignissen. Je nachdem, was die Menschen zurzeit Wahl nicht mehr ausbeschäftigt, könnte ein Parlament abgebildet reichend vertreten zu
werden – eine sehr demokratische Lösung. Auch sein, könnte ich mein
für reine Wahlkampfpolitik wäre keine Zeit mehr. Stimmengewicht verDoch wer würde schon jeden Monat wählen gehen? schieben. Die Ergänzung einer „aktiven EntDer logistische Aufwand wäre enorm und am Ende haltung“ wäre dafür natürlich Voraussetzung.
würden vor allem jene Leute zur Urne schreiten, Sollte ich keiner der möglichen Auswahlen meine
und somit auch vertreten werden, die ein aktuelles Zustimmung zukommen lassen wollen, wäre es
Anliegen haben. Der Lösung
mir trotzdem erlaubt, meine
kommt man also nicht allein
vorherige Stimme zu entziehen.
durch die Änderung gewisDie ebenfalls in der Übersicht
Sobald ich der
ser Zeiträume näher, die
Meinung wäre, meine
aufgeführten Enthaltungen
Strukturen selbst müssten
derzeitige Wahl
ließen Schlüsse darauf zu, wie
verändert werden. Durch
vertritt mich nicht
viele Menschen sich gar nicht für
Liquid Feedback inspiriert
mehr ausreichend,
die aktuelle Politik begeistern
kam mir folgende Idee: Man
könnte ich mein
können. Eine Wahlpflicht – ein
müsste die Stimme mehr als
nach wie vor sensibles Thema –
Stimmengewicht
eine Art „Pflicht-Delegation“
könnte unter diesen Umständen,
verschieben.
betrachten.
zusammen mit der Möglichkeit
der aktiven Enthaltung, realiIn dem neuen Wahlsystem würde es immer – und das ist dabei wirklich siert werden. Eine starke „Wahlbeteiligung“ wäre
wichtig – möglich sein, seine Stimme zu vergeben, gewissermaßen gesichert. Zwar könnte es nun
also quasi zu wählen. Welche der sechs Stimmen passieren, dass jemand aus Faulheit, Vergesslichkeit
(Erst- und Zweitstimme auf Kommunal-, Landes- oder Zeitmangel seine Stimme nicht ändert und
und Bundesebene) verändert werden sollten, somit von einer Partei vertreten würde, die er
stünde dabei frei. Jedem Bürger sollte hierbei die nicht mehr will, doch traue ich dem mündigen
gleiche Möglichkeit gegeben sein. Das Besondere: Bürger genug Verantwortung zu, seine politische
Die Stimmen würden nicht verfallen, es wäre Stimme selbst priorisieren zu können. Außerdem
also möglich, nur einmal (sogar im Leben) seine gehe ich davon aus, dass dies lediglich bei einer
Kreuzchen zu machen und dennoch einer Partei verschwindend geringen Anzahl von Personen der
beziehungsweise einem Politiker dauerhaft seine Fall sein würde.
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Die Stimmen würden stündlich „ausgezählt“
und in einer Statistik sinnvoll aufbereitet. So
könnten alle Beteiligten den aktuellen Trend
zeitnah nachvollziehen und Politiker sogar nach
Reden oder Entscheidungen direkte Einflüsse feststellen. In Kraft treten würde die Stimmvergabe
Wer jetzt einwendet, dass Arbeit, die innerhalb
am Ende jedes Kalendermonats. Die Sitze würden
eines Monats keine besonderen Fortschritte bringt,
so genau wie möglich anhand der Prozente
direkt zur Abwahl des Mandates führe, hat nur
vergeben. Der Einzug in das Parlament wäre ohne
dann Recht, wenn der Volksvertreter es nicht
eine prozentuale Hürde geregelt, sodass besonders
schaffen würde, nachvollziehbare Gründe dafür
regionale Kleinparteien gestärkt werden würden.
zu vermitteln. Somit wäre auch eine einfache
Für Amtsträger, wie beispielsweise BürgerArbeitskontrolle geschaffen, ohne sperrige büromeister, wäre eine etwas erweiterte Legislaturperiode
kratische Aufsichtsämter einvon etwa einem Quartal anführen zu müssen.
gebracht Bundeskanzler und
Ich würde dem Einwand,
Minister sollten tatsächlich
Die in der Übersicht
dass keine funktionierenden
sogar ein ganzes Jahr erhalten.
aufgeführten
politischen Entscheidungen
Hier böte sich allerdings die
Enthaltungen lieSSen
Möglichkeit an, sie direkt zu
Schlüsse darauf zu,
dabei entstünden, da die
wählen. Eine simple Ab- und
wie viele Menschen
Mandatswechsel zu schnell
Neuwahl-Möglichkeit dieser
sich gar nicht für
stattfinden entgegnen, dass
Posten wäre dabei genauso
sich die Fluktuation auf das
die aktuelle Politik
anzustreben wie eine stärkere
begeistern können.
jetzige Niveau reduzieren
Synchronisation mit dem
würde. Wenn es einsichtig ist,
Wählerwillen.
dass Entscheidungen ihre Zeit
Generell wären Politiker, in allen Positionen, brauchen, warum sollten dann jeden Monat grunddazu angehalten, konstruktiv zu arbeiten und legend andere Parlamente entstehen? Auch beim
ihre Ergebnisse offen zu präsentieren, um die aktuellen System sind Schwankungen von mehr
Zustimmung der Wähler zu erhalten. Ein Punkt, als zehn Prozent bei einer Partei selten. Ich kann
der die Transparenz und Bürgernähe weiter stär- mir nicht vorstellen, dass sich daran viel ändern
ken würde.
würde, doch sähe man dann die Zwischenschritte
wesentlich besser – was den Parteien wiederum die
Möglichkeit einräumen würde, wesentlich schneller
auf diesen Umschwung zu reagieren. Und selbst
ein Jahr Übergangszeit wäre weniger dramatischer
als man vielleicht annehmen würde. Auch Belgien
ist infolge der einjährigen Abstinenz der Regierung
nicht in Chaos und Anarchie versunken.
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Wahlen abschaffen? – Das ist doch nur eine
sehr kurze Wahlperiode könnte man an dieser
Stelle einwenden! Wenngleich der Titel etwas
provokanter anmutet als das System selbst vielleicht
aussieht, handelt es sich explizit nicht einfach
um eine bloße Reduktion der Zeit von Wahl zu
Wahl. Die vielen – im Einzelnen eventuell nur
sehr klein erscheinenden – Unterschiede würden
eine stärkere Integration der Bürger in die Politik
bewirken, die mit dem Begriff „Wahl“ zu lapidar
abgetan wäre. Dynamischere und an aktuelle
Ereignisse angepasste Politik wäre die Folge. Allein
die Möglichkeit, dieses Grundgerüst später mit
ein paar einfachen Anpassungen in ein Konstrukt
wesentlich direkterer Demokratie umzuwandeln,
ist genug Rechtfertigung für diesen revolutionären
Titel. So könnte man beispielsweise die übliche
Einteilung in Erst- und Zweitstimme aufbrechen
oder sie um spezielle Themengebiete ergänzen.
Doch natürlich kann der zweite Schritt nicht vor
dem ersten gemacht werden.
Was jetzt aussteht, wäre die konkrete Umsetzung
der Wahlmöglichkeit und Stimmerfassung in
einem sicheren und leicht verständlichen System.
Eine auf das Wahlgebiet lokal zentralisierte
Datenbank scheint hierbei die sinnvollste
Variante zu sein. Jedoch birgt dieses System ein
nicht zu unterschätzendes Problem in sich: Die
Geheimhaltung der Wahl wäre gefährdet, denn für
jede Änderung einer Stimme müsste auch die zuvor
abgegebene Stimme eindeutig einer bestimmten
Person zugeordnet werden können. Gerade die
Geheimhaltung der eigenen Wahl aber ist es,
welche die Stimme von sozialem Druck unabhängig
macht. Darüber hinaus macht sie das Kaufen einer
Stimme sinnlos, da nicht überprüft werden kann,
wie jemand gewählt hat.
Natürlich wäre es möglich, diese Zuordnung
über Hilfstabellen und Verschlüsselungen nicht
einsichtig und nur indirekt durchzuführen, doch
letztlich müsste jemand, wie zum Beispiel ein
Administrator, in der Lage sein, das System zu
überprüfen und die Verknüpfungen zu erkennen.
Mir widerstrebt der Gedanke, diese Offenheit
jedem Wähler aufzuzwingen. Und solange sich für
diese direkte Beteiligung keine adäquate technische
Lösung findet, wird sie wohl weiterhin eine Utopie
bleiben. Diese aber zeigt doch wenigstens, welche
Herausforderungen es zu meistern gilt, um die
Souveränität des Volkes auch in schnelllebigen
Zeiten zu sichern.
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Campus-Stimmen:
„Brauchen wir Utopien?“
Wir haben auf dem Hildesheimer Unigelände nachgehakt.
Text: Paula Emilia Huppertz
Gestaltung: Angelika Schaefer
Fotos: Julia Schendrikow
Dominik,
Lehramt Deutsch und Sport,
2. Semester
Kai,
Lehramt Geschichte, Politik und Philosophie,
6. Semester
„Auf eine Gesellschaft bezogen würde ich sagen:
Wenn es sich um eine Richtung handelt, die die
Menschenwürde achtet, ohne dabei irgendeinen Teil
auszuschließen und somit für jeden vertretbar ist, dann
sind Ideologien sogar notwendig und erstrebenswert.“
Luca,
Kulturwissenschaften,
2. Semester
„Ja, wir müssen hohe Ziele anpeilen, denke
ich, damit wir kleine Ziele erreichen können,
ohne dabei den Gesamtzusammenhang aus
den Augen zu verlieren.“
„Ich finde es schon sinnvoll, Ideale zu haben,
nach denen man streben kann. Allerdings ist es
wichtig, die Sache nicht zu verbissen anzugehen.
Und natürlich kommt es auch auf die Art der
Utopie an, die man hat.“
„Meiner Meinung nach brauchen wir Utopien
als Motivation, etwas Besseres erreichen zu
wollen, als das, was bereits besteht. Dabei
sollte es nicht nur um Ziele gehen, die für
mein eigenes Leben relevant sind, sondern
auch für andere Menschen oder sogar spätere
Generationen.“
Maren,
Kulturwissenschaften,
4. Semester
„Ja, eigentlich brauchen wir Utopien sogar sehr.
Denn ohne Utopien gäbe es keine Wünsche und
Träume und ohne diese wäre das Leben nur halb so
spaßig und schön, wie mit ihnen.“
Tobias,
Lehramt Mathematik und Politik,
6. Semester
Sabine und Jannika,
Sozial- und
Organisationspädagogik,
2. Semester
„Utopien als Zukunftsziele sind
wichtig, da sie Orientierungspunkte
für unser Leben darstellen.“
Lilli,
Lehramt Mathematik und Sport,
Master
„Utopien halte ich für wichtig,
solange es sich dabei um persönliche Zukunftsvorstellungen und
-bestrebungen für das eigene Leben
handelt. Für die ganze Welt finde ich
solche Ideale allerdings schwierig.“
„Warum nicht?“
Timo,
Lehramt Mathematik und Sport,
4. Semester
„Man könnte sagen: Wir Menschen brauchen zumindest das
Streben nach gewissen Idealen
– auch wenn diese als Utopie
per Definition nicht erreichbar
sind, beziehungsweise wenn sie
erreicht werden sollten, keine
Utopie mehr darstellen können.“
Lorenz,
Philosophie – Künste – Medien,
4. Semester
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Absage an
die Prostitution
Der Beruf des Designers in der Zukunft – wie
Arbeiten wir? Welche Strukturen finden wir vor?
Und vor allem: Welche Unternehmensphilosophie
wird sich durchgesetzt haben? Drei Studierende
der HAWK Hildesheim entwarfen im Rahmen des
Kurses „Designwissenschaften“ unter der Aufgabe
„Designbüro2030_ Zukunftsszenario“ ein Bild,
das hierfür Antworten, aber auch Aufgaben
formuliert.
Text: Laura Armbrust, Olga Helm, Jan Pröhl
E
s wirkt immer noch ein wenig surreal,
wenn die Schanze an mir vorbei
rauscht und kein einziges Auto zu sehen
ist. Fahrradfahrer, Mütter mit ihren lachenden
Kindern, ein altes Pärchen, das ich jeden Morgen
auf dem Weg zur Uni sehe. Mir kommt es vor, als
wäre es gestern, als Mutter mit Maja und mir ein
letztes Mal durch die Stadt fuhr, bevor alle Städte
autofrei wurden. War ich acht? Ich muss acht
gewesen sein. Maja war gerade vierzehn geworden
und stand mit Mutter auf Kriegsfuß. Hamburg
wirkt jetzt wie ausgewechselt. Die Atmosphäre
hat sich nach der großen kulturellen Revolution
völlig geändert. Eigentlich hat sich die gesamte
Denkweise, das meinte zumindest Mutter, schon
zwei Monate nach der Entscheidung, die Städte
verkehrsfrei zu machen, geändert und darauf folgte
die Revolution.
Im Nachhinein klingt es immer noch ein wenig
utopisch. Eine Revolution, das hätte niemand
gedacht. Vor allem nicht die Politiker und die
Wirtschaft. Die Jugend bäumt sich doch nicht
wirklich auf, die beruhigen sich auch wieder – doch
es kam anders. Ich klinge dann immer ein wenig
wie ein Öko, wenn ich sage, die Umwelt bekommt
ihre längst fällige Erholung von der Menschheit ...
verdammt, vor lauter Tagträumen habe ich schon
wieder die Haltestelle verpasst.
Heute soll ich Stefan kennenlernen, den DesignKoordinator von Design und Fragment. Es geht nur
um ein Praktikum und trotzdem bin ich nervös.
Ich denke: Achtes Semester, einer der besseren
Leute, kurz vor dem Diplom –, wovor kalte Füße
bekommen Jasper?
Ich hätte nie gedacht, dass die reale Arbeitswelt so
angenehm ist. Ich blicke zurück, was das Praktikum
bis jetzt gebracht hat und fühle mich schon als Teil
des Kollektivs. Ich glaube, dass es ein Riesenglück
war, dass Thimo mir zu geteilt wurde, einer unserer
Hauptdesigner, mein Mentor, mein neuer Freund.
Maja ist schon wieder zu spät. Eigentlich ist das
doch den Kreativen vorbehalten. Aber der Kaffee ist
sowieso noch nicht fertig. Ich frage mich, ob es früher
möglich gewesen wäre, sich so erholt nachmittags
um drei Uhr auf einen Kaffee zu treffen? Ich glaube
nicht, kenne das ja nur aus Mutters Erzählungen.
Arbeit, Arbeit, immer mehr, immer besser, Konsum
und Kommerz. Sie hatte schon Recht, wenn sie ihre
alte Werbeagentur als Konsumhure beschimpfte.
Mittlerweile redet sie kaum noch darüber, schien
schlimm gewesen zu sein.
Heute kommen alle zusammen. Das erste Treffen
mit einer der größten Umweltorganisationen in
Europa. Ich bin gespannt auf die Kampagne. Groß
muss sie werden. Selten hatte Stefan so aufgeregt so
viele Designer für diesen neuen Job angeworben.
Mich fasziniert es nach wie vor, wie diese festen
Strukturen der Designbüros zersprengt wurden, sich
neu geordnet haben. Ich glaube, dieses Kollektiv
würde jedes Großraumbüro von früher sprengen.
I
ch fasse es kaum, wenn ich an die Bilder erbittert über die ersten Ideen. Ich weiß überhaupt
denke, die uns Maja zum Auftakt des nicht, wie man sich so lange diese schrecklichen
Treffens zeigte. Jeder kennt sie und doch will Fotos anschauen kann, ohne wütend zu werden.
sie niemand sehen. Der Krieg um das Wasser ist Gleich werde ich die neuen Fotos zeigen – ein
noch unfassbarer als der
Krieg um das Öl. Als
China zusammenbrach
Das Umweltdenken steht vor
und Indien so stark Kommerz und wirtschaftlichen
gewachsen ist, konnte
Machenschaften.
niemand mehr versorgt
Früher wäre das wohl
werden. Die indischen
ein undenkbarer Werbeslogan
Massenflüchtlingslager
gewesen.
und die chinesischen
Millionenstädte, die
der Auslöser für diese Katastrophe waren, sind Wasserauf bereitungsgerät.
jetzt nichts Besseres als Lager für Krankheiten, Schließlich dreht sich die
Armut und Tod. Man kann sich immer noch gesamte Kampagne darum.
nicht vorstellen, dass Millionenstädte zu urbanen Es macht mir fast ein wenig
Massengräbern geworden sind, obwohl jeder in Angst, dass alle Arbeitsräume
der Bevölkerung jeden verdammten Tag mit diesen für die Kreativ-Kollektive
gleich gestaltet sind. Egal
Fotos konfrontiert wird.
Deshalb versucht unsere neue Kampagne, wieder wo ich später mal hin muss, finden werde ich
einen kleinen Teil zur Aufklärung beizutragen. alles auf Anhieb. Dies war der tiefere Sinn, als die
Ich wüsste nicht, ob ich früher an so etwas hätte Bürostruktur der Designszene aufgelöst wurde.
mitarbeiten können. Design prostituierte sich Es bildeten sich Kollektive, die danach lechzten,
damals für die Kommerzgeilheit der westlichen Sammlungsstätten des kreativen Austausches
Welt und das Propagieren unnützer Wegwerfartikel. zu kreieren. Mit Glück werde ich später oft zu so
Niemand konnte ahnen, dass sich die Denkweise wunderbaren Projekten eingeladen. Falls ich nicht
aller so drastisch und positiv für die Umwelt ändern direkt Design-Koordinator werde, um dann selbst
würde. Unser Umweltdenken steht vor Kommerz zu neuen Projekt einzuladen. Doch erst einmal
und wirtschaftlichen Machenschaften. Früher wäre möchte ich mich beweisen, ich denke, das war
das wohl ein undenkbarer Werbeslogan gewesen.
früher so und wird sich auch in Zukunft nicht
Was für ein Einstieg in die Kampagne, alle sehen ändern. Der große Unterscheid zu damals ist die
geradezu übermotiviert aus. Ein Kollektiv von Absage an die Geldgeilheit, der Drang, die Sache zu
Designern der verschiedensten Fachrichtungen verkaufen. Heute geht es vielmehr darum, ein gutes
steht vor den Präsentationswänden. Niemand führt und ausgewogenes Design zu schaffen.
sich als Chef auf, alle stehen da und diskutieren Ich kann mir kaum vorstellen, wie es früher war.
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Ich erinnere mich noch daran, wie geschafft meine
Mutter immer war und unter was für einem Druck
sie stand. Sie war nie wirklich zufrieden und auch
Vater überforderte die Situation. Ich weiß nicht,
ob er deswegen den Herzinfarkt
hatte.
Wie in Zeitlupe streifen Schatten
an mir vorbei, ich nehme sie
nicht war, wenn ich dieses Plakat
sehe, gleich verpasse ich wieder
den E-Bus. Wie unglaublich
traurig das kleine Mädchen auf
dem Plakat einen anschaut,
hilflos, und doch strahlt sie
eine solche Hoffnung aus. Wie
leise diese Elektrobusse doch
sind, man merkt nicht einmal,
wenn sie anfahren oder stoppen. Wenn nicht die
Magnetspuren wären, die alle Busse wie Schäfchen
in Hamburg hielten, wäre ich schon längst vor lauter
Ablenkung außerhalb der Stadt.
Mir ist schlecht und das heute, wo wir doch für
die neue Kampagne nach Indien fliegen. Stefan
meinte, man könne kein gutes Design machen ohne
die Atmosphäre des Ortes in sich aufzunehmen.
Das mag ja richtig sein, aber ich habe doch ein
wenig Bammel vor dem Fliegen. Dazu dann noch
das Warten beim Zoll, alles nur wegen der großen
europäischen Grenze und der immer und überall
präsenten Überbevölkerung. Ich hoffe, man
bekommt dieses Problem irgendwann in den Griff,
aber so wie es aussieht wird es nur noch schlimmer.
Genau deswegen fliegt aber das Design-Kollektiv an
den Ort des Geschehens.
Mutter ist schon wieder zu spät. Ich glaube, dass sie
sich das nie abgewöhnen wird. Mir läuft die Zeit weg
und jetzt lasse ich die anderen schon im Stich beim
gemeinsamen Mittagessen. Zum Glück können wir
uns unsere Zeit selbst einteilen. Am Anfang war das
wirklich schwierig, ich weiß noch genau wie Stefan
mir alles erklärte: „Jasper du kannst dir deine Zeit
selbst einteilen, du musst einfach nur deine Sachen
schaffen und denke immer daran, dass du auch ein
Privatleben hast.“ Es dauerte, bis ich da drin war,
aber Thimo meinte schließlich auch, dass es eine
Übungssache sei, die Struktur der Kollektive und
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besonders die Arbeitsweisen zu lernen. Arbeite von Es wäre schön, wenn sich für das nächste Projekt
zu Hause aus, arbeite im OpenOffice oder setz dich auch wieder so viele engagierte Designer bewerben
einfach in den Park, an den See. Wenn man so viele würden. Maja schaut mich an, als platze sie gleich
Möglichkeiten hat, muss auch der kleine Jasper vor Stolz. Diesmal begegnen wir uns auf Augenhöhe.
erst einmal damit klar
Eine Situation, die ich
mir so nicht vorstellen
kommen. Aber alle
konnte. Viele Designer
Designer von Design
Es bildeten sich Kollektive,
kamen am Anfang des
und Fragment haben
die danach lechzten,
Sammlungsstätten des
mir dabei wirklich unProjektes zusammen,
glaublich geholfen.
so viele verschiedene
kreativen Austausches zu
Fachbereiche wurden
kreieren.
Morgen ist es nun soweit:
vereint und ich als
Präsentationstag. Alles
wird vorgestellt, der AbPraktikant durfte ebenschluss einer Kampagne, die so wichtig ist, nicht nur so meinen Teil dazu beitragen.
für mich. Wenn dieses Wasseraufbereitungsgerät Die Luft riecht frisch und leicht. Die Straßenfunktioniert, dann löst es zwar nur einen bahnfenster rauschen wieder an der Schanze vorbei,
kleinen Teil der Probleme mit dem weltweiten als würde ein alter Film vor mir laufen, Bild für
Wassermangel, aber für jeden wird sauberes Bild, immer wieder ein neuer Ausschnitt, wieder
Trinkwasser erschwinglich und möglich sein. Alle das alte Pärchen, die etlichen Fahrradfahrer auf
werden sie morgen da sein, die Ingenieursgruppe von dem Weg zur Arbeit, Mütter mit Kinderwagen. Die
dem Wasseraufbereitungsgerät, zwei Regierungs- Kinder, die so lachen, dass man geradezu mitlachen
sprecher, alle Designer, die sich für dieses Projekt muss. Und trotzdem gehen die Bilder nicht aus
in dem Kollektiv zusammengefunden haben und meinem Kopf, die sich während des Praktikums in
ich muss dann vorne stehen und mein Ergebnis mein Gedächtnis eingebrannt haben. Warum sehe
präsentieren. Hoffentlich kann man sich danach ich immer zwei Welten, wenn ich die lachenden
irgendwo in diesem Riesenraum verstecken, erster Kinder an mir vorbeirauschen sehe? Und warum
Nachteil dieser OpenOffices. Oder ich setze mich stelle ich mir immer wieder die Frage, wie viel die
danach einfach ganz ruhig und lässig wieder hin Kampagne aus meinem Praktikum ausrichten wird?
Auch in Indien habe ich die Kinder immer lachen
und ziehe mir eine Tüte über den Kopf.
Maja ist nicht anders als Mutter mit ihrer sehen, aber ich konnte nie lächeln. Ich musste mich
Pünktlichkeit. Gleich legt das Skyshuttle am Dock immer fragen, wie ich mit Design einen Teil dazu
an und sie ist immer noch nicht da. Ich habe keine beitragen kann, das alles zu ändern. Warum hat
Lust, wie damals im Zug eine Stunde lang zu stehen. sich unsere Denkweise hier geändert und warum
Viel lieber möchte ich am Fenster sitzen, das grüne nicht bei allen? Ich will etwas bewegen mit meinem
Beruf, aber schaffe ich das? Kann ich mich so vielen
Meer unter mir beobachten und träumen.
Später dann, Applaus. Es fühlt sich an als würde ich gesellschaftsrelevanten Problemen stellen? Immer
neben mir stehen und mit applaudieren. Aber ich wieder aufs Neue. Schaffe ich das? Schafft es das
stehe vorne, mit allen, mit dem gesamten Kollektiv. Design weiterhin?
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Die Lean Produktion und das
europäische Bildungssystem
des 21. Jahrhunderts
I
Schlanker, effizienter und kostengünstiger. Das sind Worte, die so oder so ähnlich
fast jede_r einmal gehört haben dürfte. In der Betriebswirtschaftslehre schon ein
alter Hut, haben sie mittlerweile auch in den Universitäten Einzug genommen.
Ein Trend der Industrie, der einmal angestoßen wurde und sich immer weiter
ausbreitet – seit nunmehr 30 Jahren.
Text: Andre Vespermann
n den 1980er Jahren untersuchte das MIT
(Massachusetts Institute of Technology) in
17 Ländern, welche Unternehmen im Automobilsektor erfolgreicher waren als andere. Die
Analyse war überraschend: Die japanischen Fabriken
produzierten doppelt so schnell, mit der Hälfte des
Aufwandes für Neuentwicklungen, der Hälfte der
Investitionen in Werkzeuge und der Hälfte des
Fertigungspersonals. Dabei waren die Fahrzeuge von
besserer Qualität und die Unternehmen verfügten
über eine größere Produktvielfalt. Damit war der
alte Grundsatz – Hohe Qualität = Hohe Kosten – der
Produktionsmanager_innen widerlegt. Das „Lean
Management“ war geboren.
Standardisierung, Modularisierung, Rationalisierung, Ausbringungsorientierung, Kostenreduzierung und Ausschussreduzierung bei gleichzeitiger
Qualitätssteigerung prägen seitdem die Organisation
der Produktion in der Industrie. Lean Management
wurde zum Ziel der Manager_innen rund um den
Globus bei der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit.
Weitere, auf Rationalisierung und Qualitätssteigerung
ausgerichtete Managementansätze, folgten. „Total
Quality Management“ und „Supply Chain Management“ sind nur einige Beispiele. Aber auch die
politischen Protagonisten eines anderen wichtigen
Bereiches der europäischen Gemeinschaft kamen auf
die Idee der Wettbewerbssteigerung durch Konzepte,
die aus dem Lean Management ableitbar sind. Um die
Hochschulstrukturen zu verändern kamen 1998, noch
vor dem Pisa-Schock, die Bildungspolitiker_innen
Europas in Bologna zusammen. Ziel waren Strukturen,
die schnellere und f lexiblere Studiengänge und
Abschlüsse ermöglichen. Dafür wurden das
nordamerikanisch-britische Bachelor-Master-System
übernommen sowie Änderungen in der Hochschulstruktur und -finanzierung vorgenommen und den
Universitäten so mehr Autonomie verliehen. Natürlich
sollten durch diese Reformen auch die Kosten der
Hochschulen für die Länder gesenkt werden Externe
und interne Vergleichbarkeit, Modulstruktur, Berufsqualifizierung und Abbruchsreduzierung ergaben sich
daraus als neue Anforderungen an neue und bestehende
Studiengänge. Dafür wurde als Evaluation für die
Studierbarkeit und Qualifizierung der Studierenden
durch das Studium eine Art Überprüfungssystem
geschaffen. Die sogenannte Akkreditierung der
Studiengänge und Hochschulen wurde eingeführt.
Dies bedeutet im Wesentlichen, dass eine Hochschule
von einer unabhängigen Organisation eine Art Bescheinigung für das Anbieten von studierbaren und für
Studierende qualifizierende Studiengänge bekommt.
Und nun ein kleines Gedankenexperiment in
zwei Situationen.
Die erste Situation: Ein Unternehmen hat 20
Prozent Ausschuss seiner produzierten Güter, sprich
die Qualität ist zu schlecht, um diese Erzeugnisse zu
verkaufen. Also werden die Vorgänge standardisiert,
moduliert und mit den Rückmeldungen der
Arbeiter_innen optimiert. Der Ausschuss sinkt
auf zehn Prozent, das Unternehmen vermeidet
Ausschusskosten, finanziert aber gleichzeitig die
Umstellung. Die Verbesserung ist kostenrechnerisch
messbar und ökonomisch nachvollziehbar.
Die zweite Situation: An den Hochschulen eines
beliebigen Landes in Europa brechen 20 Prozent
der Studierenden ihr Studium, ohne Abschluss,
ab. Nun wird modularisiert, standardisiert und
evaluiert. Die Studierenden studieren im Schnitt
schneller und es erreichen mehr ihren Abschluss.
Nur zehn Prozent brechen nach der Umstellung ab.
Und das Land finanziert nur Teile der Umstellung,
verringert aber die Kosten pro Studierenden. Dies
wird als Verbesserung angesehen, da die Qualität
gesteigert wurde. Dabei gilt die Annahme, dass
kein Studierender ohne zügigen formalen Abschluss
berufsqualifiziert sei und damit die gewünschte
„Ausbringung“ darstellt. Daher ist also die
Qualität der Bildungsstätte gesteigert worden.
Was ist hier aber verglichen worden? Nun in
beiden Fällen wird quantitativ „Ausschuss“ aus
ökonomischer Sicht gemessen. Aber dabei wird
ein Trugschluss sichtbar: Die Fähigkeiten eines
Akademikers lassen sich nicht allein im Tempo des
Abschlusses und dessen formaler Vergleichbarkeit
messen. Denn ein Bachelor mit 180 Punkten in
sechs Semestern zu schaffen, das sagt noch keine hohe
Berufsqualifizierung aus. Aber eben die Qualifizierung
für die Berufstätigkeit müsste gemessen werden, wenn
Studiengänge sinnvoll bewertet und miteinander verglichen werden sollen. Dies erfolgt bei der quantitativen Abbruchquotenmessung nicht. Und das
ein Studium ausschließlich berufsqualifizierend sein
soll, ist auch nicht korrekt. Ein Studium kann auch
zur Persönlichkeitsentwicklung, zum Verständnis
wissenschaftlicher Konzepte und der Fähigkeit
zum eigenständigen Lernen, Lehren, Forschen,
Kultur schaffen und anderen vielfältigen
Prozessen und Kompetenzen fernab einer reinen
ökonomischen Verwendung führen.
Daher ist die schlichte Analyse: Ein Hochschulsystem darauf umzustellen, formale Berufsqualifizierung für möglichst viele Absolvent_innen generieren zu
wollen handelt wie ein nur quantitativ ausgerichtetes
Produktionssystem. Überspitzt ausgedrückt, es wird
so versucht, gebildete Menschen zu produzieren. Aber
gebildete Menschen lassen sich leider nicht produzieren,
wie Autos oder Waschmaschinen. Die „Denkfabrik“
folgt anderen Gesetzen als denen industrieller
Fertigungsanlagen des 21. Jahrhunderts.
Ein sinnvoller, ökonomischer Umgang mit Geld
ist sicher notwendig bei jeder Einrichtung, aber
Produktionstheorien lassen sich nicht einfach auf
Menschen anwenden.
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Peniskekse
Die Hochschulinitiative HI_Queer kann mittlerweile von ihren ersten
Erfolgen und Teigwaren der besonderen Art erzählen. Zwei Berichterstattungen aus einem Semester Arbeit an einer Utopie.
P
eniskekse. Da lagen sie und wurden
belustigt gegessen. Den Abend
vorher saßen wir noch in Evas viel zu
kleiner Küche und formten Geschlechtsteile aus
Plätzchenteig: Penisse, Vulven und namenlose
Formen. Geschmeckt haben sie dann alle gleich
gut. Ja, natürlich war das ein Statement; ja, ein
bisschen albern war es auch, oder besser: lust- und
liebevoll. Aber auch mit Kalkül, weil Peniskekse in
Erinnerung bleiben, als Give-away auf dem ersten
öffentlichen Treffen von HI_Queer oder eben als
Aufhänger für einen Artikel.
Es hat funktioniert, das muss ich dazu sagen.
Du liest weiter und an jenem 24. April 2012 kamen
Menschen zusammen, haben Kekse gegessen und
sich über Normvorstellungen ausgetauscht – nicht
nur im Bereich der primären Geschlechtsmerkmale.
Bei diesem Anlass entstand die Gelegenheit für
eine offene Auseinandersetzung, die wiederum
schnell zu einem Aufbrechen der Zweiheit führte,
als Besuchende begannen, selbst neue bunte
Geschlechtsteile auf Plakatrollen zu malen und
phantasievoll Namen dafür zu erfinden. Von da aus
starteten Gespräche in verschiedene Richtungen,
gefüttert mit Theoriehäppchen in Form von
ausgedruckten Zitaten oder Videos. Kategorien
Text: Anna Blädtke, Lena Wagner
wurden entdeckt und hinterfragt, was bisweilen so
manch einen spürbar verwirrte.
Nach diesem ersten Treffen verblieb ich vor
allem froh, aufgewühlt und erwartungsvoll. Es
waren Menschen ins Gespräch gekommen, die
andernfalls wohl weiterhin wortlos aneinander
vorbei gegangen wären. Als dann auch noch neue
Gesichter auf den internen HI_Queer-Sitzungen
auftauchten, schien das Konzept aufgegangen zu
sein: Wir wollen zusammen lernen und wachsen,
und uns selbst bestimmen, anstatt in den festen
Kategorien zu verweilen.
Ich habe Menschen in dieser Gruppe wachsen
sehen. Der Möglichkeitsraum, sich, Klischees,
Rollenbilder, Nie-Gesehenes zu thematisieren und
auszuprobieren kann überraschendes hervorbringen.
Im Sommersemester 2012 haben wir unter anderem
viel mit Drag-Aktionen gearbeitet. „Drag“ („dressed
as any gender“) bezeichnet das bewusste Spiel
mit Geschlechtercodes, sodass zum Beispiel eine
sonst als Frau gesehene Person plötzlich als Mann
verstanden wird. Solche Aktionen eröffnen das,
was Judith Butler „eine offene Zukunft kultureller
Möglichkeiten“¹ nennt: Es geht auch anders! Ich
habe mitgespielt, neugierig auf die Effekte, die
ein Bart und Hemd im Gegensatz zu einem Kleid
und Schminke auf mich haben. Nicht, um ein
Geschlecht zu tauschen, sondern um ein Gefühl für
meine Möglichkeiten zu bekommen. Erstaunt stellte
ich dann fest, dass ich, die ich seit Jahren keine
Kleider mehr trug, mich im Sommer sehr wohl in
Kleidchen fühle. Und das auch „trägt Kleid“ oder
„trägt kein Kleid“ als Kategorie
funktioniert, und ich demnach
so sehr in die Kategorie „trägt
kein Kleid“ verwachsen war, dass
ich mir selbst verwehrt habe,
was mir doch momentan gefällt.
Diesen Selbstkategorisierungen
ist HI_Queer mindestens genauso hinterher, wie den Fremdkategorisierungen. Unsere Utopie:
Statt in Kategorien wollen wir in
Identitätsfacetten leben, die nach
eigenem Ermessen gewählt und
wieder abgelegt werden können.
So wie jede_r Einzelne in der
Gruppe wächst, wächst auch die
Gruppe an sich, an Mitgliedern,
Bekanntheitsgrad und Ideenreichtum. Mittlerweile werden wir
von offizieller Seite in Seminare
und zu Vorträgen eingeladen, um
uns vorzustellen, zu diskutieren
und neue Anstöße in unsere
Arbeit einzubauen. So haben wir
in der „Einführung in die Gender
Studies“ praktische Beispiele zur
Umsetzung der Queer theory gegeben und in „Möglichkeiten und
Grenzen staatlicher Geschlechterpolitik“ das Festhalten an einer
binären Denkweise kritisiert.
Für das nächste Semester bereiten
wir die Aktionstage „gesellschaft –
macht – geschlecht“ gegen Sexismus und
Homophobie vor, für welche die großartige Berliner
Rapperin Sookee bereits zugesagt hat. Wir wollen
weiterwachsen
Lena Wagner,
seit November 2011 bei HI_Queer
Foto: HI_Queer
¹ Judith Butler:
Das Unbehagen der Geschlechter,
Frankfurt am Main, 1991, S. 142.
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HI_Queer ist
eine Hochschulinitiative für
selbstbestimmte
L(i)ebensweisen.
P
eniskekse. Die gab es unter anderem
auf dem ersten öffentlichen Treffen
von HI_Queer am 24. April 2012.
Dies war die erste Aktion, die mich mit dieser
Gruppe zusammen brachte. Ich bin übrigens
Anna. Ich dachte mir: interessant, auch wenn ich
nicht sofort verstand, worum es geht. Irgendwie
alternative Lebensformen und so. Während und
nach meinem ersten Kontakt war ich neugierig,
aber doch überwiegend skeptisch. Was ist das für
eine Gruppe? Sind sie gegen jede_n, der sich in
seiner Geschlechterrolle wohl fühlt? Alles nicht
unbedingt positiv und doch dachte ich mir: Geh
erst mal hin und hör ihnen zu, bevor du dir ein
Urteil bildest! Und so war ich da.
Es war großartig. Dieser offene Umgang und
diese mehr als freundliche Aufnahme haben mich
umgehauen. Gemeinsam zu reflektieren, in welchen
Kategorien man steckt und denkt, ist einfach spitze!
Gemeinsam Identitäten kennen lernen, ist für mich
sehr erfüllend! Das haben wir dann auch während
unseres Workshops „VielfältIch“, der im Rahmen
des umWELTevents stattfand, getan.
Aber bevor ich dazu mehr sage, möchte ich kurz
noch von unseren wöchentlichen Treffen erzählen.
Diese finden vor dem StudCaf statt, bei schönem
Wetter gerne auch draußen auf dem Campus.
Zuerst besprechen wir Organisatorisches,
Termine sowie Erlebnisse. Hierauf folgt meistens
ein Theorieinput von einem Gruppenmitglied
mit anschließender Diskussion. Auch ich als eher
43
ruhiger Mensch kann einfach dort sitzen und
zuhören. Es wird nicht erwartet, dass jemand
immerzu redet. Wir sind eine offene Gruppe
und freuen uns über jeden Menschen, der Lust
hat, vorbeizuschauen und vielleicht neue Ideen
einzubringen!
Neue Ideen brauchten wir dann auch bei der
Planung unseres „VielfältIch“-Workshops. An
einem Sonntag saßen wir zu viert bei mir am
Frühstückstisch und arbeiteten die Ideen aus,
die wir vorher gemeinsam gesammelt hatten.
Insbesondere durch die tollen Teilnehmer_innen
wurde der Workshop ein voller Erfolg. Wir haben
uns gemeinsam bewusst gemacht, in welchen
gesellschaftlich konstruierten Kategorien wir stecken
und was uns, davon abgesehen eigentlich noch
ausmacht. Es war ein Wechsel von Gruppen- und
Einzelarbeit, sowie der Präsentation verschiedener
theoretischer Ansätze.
Ich bin bei diesem Workshop in mich gegangen
und habe mich, aber besonders auch meine Mitmenschen, besser kennen gelernt. Es ist immer wieder
faszinierend, wie viele Unterschiede zwischen
einzelnen Personen bestehen und doch sind wir alle
gleich: Wir sind Menschen!
Jeder und jede muss die Chance haben, so zu
sein, wie er oder sie sein will! Egal, ob man sich
Kategorien zuordnet, sie neue erfindet oder versucht, alte aufzubrechen! Auf jeden Fall sollte man
sich bewusst sein, in welchen Kategorien man lebt
und denkt! Ich merke es immer wieder, dass ich
andere Menschen oder auch mich selber vorschnell
einordne. Aber Schubladen sind der Anfang von
Diskriminierung und daher wünsche ich mir, dass
wir alle offen, aufmerksam und sensibel durch die
Welt gehen, und somit jeder und jedem seinen und
ihren ganz individuellen Freiraum lassen!
Anna Blädtke,
seit April 2012 bei HI_Queer
Foto: HI_Queer
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Internationales
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Wissen und
Kommunikation sind heilig!
Copy and Paste als die obersten Gebote einer neuen Internet-Religion?
Kein Witz. Ein Philosophie-Student aus Schweden hat sie erfunden:
Die missionarische Kirche des Kopimismus
Text: Marion Starke
.
L
etztens saß ich mit meinem Mitbe- betrachtet Informationen als heilig, das Kopieren als
wohner in der Küche – Wein leer, Sakrament und Kopierschutz und Überwachung als
Flasche Met halb voll. Wir schauten Sünde. Und sie rufen es in die Welt hinaus: „Jedes
zahlreiche sinnlose Videos im Internet, da las ich Wissen gehört allen Menschen! Das Kopieren und
auf einer Seite, dass wir jetzt an etwas wirklich Weitergeben von Information ist moralisch richtig,
Wichtiges glauben dürfen. Gut, dachte ich mir, an ja sogar heilig.“ Kurz gesagt: Filesharing ist gut,
Kopierschutz böse. Sie appellieren an alle Menschen
etwas wirklich Wichtiges, das wäre doch mal was.
Ich las weiter: „Seit kurzem haben die Schweden mit einer Internetverbindung: „Kopiert! Kopiert
uns eine neue Religion geschenkt, die der weiter! Die neue Religion kann sich nun in der Welt
Kopimisten. Anfang 2012 zählten sie beinahe verbreiten. Strg + Z euer altes Leben! Seid Kopimi!“
5.000 ‚Anhänger‘ weltweit.“ Aha, dachte ich
Der Sinn der kopimistischen Religion ist
dann, Kopimisten klingt nicht sehr religiös. Einige auch gar nicht so abwegig. Sie wollen die
Videos später stand für mich fest, dass es sich um Informationen auf der ganzen Welt für jeden
gleich zugänglich machen. Es
einen News-Hoax handeln müsse;
irgendeine Blödelei zwischen all
ist moralisch ein gutes und
den anderen bekloppten Pröddelgroßes Anliegen. Ja, es ist philoDie Jünger des
nachrichten, die im Internet zu
Copy und Paste.
sophisch. Kein Wunder: Der
finden sind. Aber siehe da, auch
Und ihr Gott, das
Begründer der Kirche, Isak
Internet.
Zeit Online berichtete über
Gerson, ist Philosophie-Student.
Zwei Jahre lang hat er für
diese moderne Religion, derenheiligen Sakramente „Ctrl+C“ und
die offizielle Anerkennung
seines Glaubens gekämpft. Zwei Mal ist er
„Ctrl+V“ sind. War da also doch etwas Wahres dran?
Ja! – und es ist gut durchdacht und tief dabei gescheitert, doch im Januar 2012 bekam
philosophisch: Die Gemeinschaft der Kopimis er letztendlich Recht: Seitdem die Kirche des
Die Befehle „Ctrl+C“ und „Ctrl+V“ für Kopieren und Einfügen
sind für die Anhänger der Gruppe heilige Symbole.
Kopimismus vom schwedischen Staat anerkannt Denkprozesses ist. Alle unsere Ideen und Inspiwurde, ist sie offiziell keine Sekte mehr, sondern rationen entspringen aus Konversationen, die wir
mit anderen Leuten führen und aus der Kunst und
eine Religion.
Und irgendwie sind wir ja alle schon ein der Kultur anderer Menschen.“
Teil dieser Internet-Religion, die eine neue
Allerdings gäbe es in unserer Gesellschaft Mächte,
Kommunikationskultur erschaffen hat. Wir die das Monopol kultureller Information für sich
updaten und downloaden, mailen und chatten, behielten und nicht dulden möchten, dass das
Wissen in den endlosen Raum
betwittern alle Welt und
des Internets zu seiner Freiheit
schauen uns Youtube-Videos
zum Frühstück oder beim
Eine revolutionäre
gelangt. Der Freiheitsbegriff
WG-Umtrunk an. Die Kopiist bei den Kopimisten so weit
Botschaft:
misten sind nur eine logische
Filesharing ist gut,
gefasst, dass sie den Remix
Fortführung dessen und geben
Kopierschutz böse.
von Informationen – wie etwa
dem Internet einen DachverBildern oder Musik – als ein
band in Form einer Religion,
Zeichen des Respekts und
um alle Informationen unserer Kultur zu nutzen.
der Anerkennung gegenüber dem Original und
Das Phänomen „Filesharing“ existiert weltweit. dessen Schöpfer verstehen.
Einige tun es aus Mangel an Alternativen oder
All das klingt absurd, aber hinter all der
purem Geiz zur Beschaffung von Filmen, Musik, Absurdität steckt ein pragmatisches Anliegen, denn
und sonstigem digitalem Material. Andere – wie das Kopier(t)e schafft einen Mehrwert für alle. Das
die bekennenden Piraten aus Schweden – tun Problem ist nur: Die Vervielfältigung widerspricht
es aus religiöser Überzeugung. Warum, erklärte dem Urheberrecht, Raubkopieren ist eine Straftat –
Isak Gerson im Interview mit dem Vice-Magazin: und das kann bekanntlich teuer werden. Auch für die
„Weil das Kopieren die Basis des menschlichen Kopimisten. Denn der offizielle Status der Religion
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Die Entwicklung
hat Vorrang
zu werden – so klingt das zwar auch nach einem
originellen Märchen, hat damit aber wenig zu
tun. Als ob nicht obskur genug, dass nach über
hundert Jahren eine Gemeinde ihre Stadt verlässt
(so als flüchte sie vor dem nächsten chinesischen
Staudammprojekt) tut sie das auch noch samt ihrer
vier Wände. Der Mythos Baba Jaga hat, so scheint
es, Einlass gefunden in die Wirklichkeit.
Doch die Realität schreibt nüchternere Skripte
als die Märchenwelt – das lehrt uns die Wirtschaft.
n unserer Familienbibliothek steht
Denn wäre die nicht gewesen, müsste der Großteil
ein anti-quiertes Buch mit slawischen
der Population von Kiruna nicht ab diesem Jahr peu
Märchen, dessen Hauptgestalt, die Hexe
à peu umsiedeln. Der nahe gelegene Eisenerzabbau
Baba Jaga, mich als Kind oft in meinen
hat in den vergangenen hundert Jahren die Erde
Träumen verfolgte. Die meiste Zeit hockte sie auf
so erfolgreich zur Ader gelassen, dass die Stadt
dem Dach ihres Hauses, einer schiefen Baracke auf
heute auf ausgehöhltem Grund steht und nun
Hühnerbeinen, und jagte mir nach. Heute sehe ich
zu versinken droht. Zumindest der historische
mir die Abbildungen der gackernden Hexenhütte
an und frage mich: Welche Bedeutung lag
Stadtkern soll nun originalgetreu östlich von Kiruna
hinter dem Haus auf Beinen? Vermutlich war
wiedererrichtet werden. Der Rest wird größenteils
dem Abriss zum Opfer fallen. Der Bergbau hat
Baba Jaga lediglich die historische Märchengestalt
der Region Wohlstand gebracht, daher soll lieber
halbnomadischer Erzählkunst und zog als verdie Stadt weichen als der Stollen. Kiruna bedroht
körpertes Überbleibsel dieser Kultur zwischen
vor dem Verschlucktwerden, Kiruna das moderne
saisonalen Lagerstätten hin und her. Oder sie mochte
Wohnwunder auf Schneehuhnbeinen. Das sind
einfach keine Besucher und befahl dem Haus sich
Urangst und Sehnsuchtsdenken
bei unerwünschten Gästen
umzudrehen, bis es ihnen die
zugleich, denen auch eine Gruppe
Rückwand zeigte. Ganz gleich,
„Die Entwicklung
von Künstlern unter dem Motto
Kirunatopia neuerdings auf dem
der Stadt folgte
weshalb es Hühnerbeine waren,
Grund geht.
Baba Jaga war nicht einfach das
von Anfang an
Das Künstlerkollektiv, das
typische Gespenst polnischer
der Blaupause der
unter der Schirmherrschaft des
Kindermären. In ihrem LebensÖkonomie.“
Goethe-Instituts Kirunas alte
wandel liegt auch ein Quäntchen
Wirklichkeit.
und zukünftige Geschichte
Wenn die schwedische Bergbaumetropole Kiruna
ästhetisch hinterfragt, kollidiert mit der akkuraten
in den kommenden Jahren ihre Häuser um fünf
Beharrlichkeit, unter der die Umzugsmaßnahmen
Kilometer nach Osten verlagert – und zwar Stein für
vorbereitet werden. Der Kritik folgt oft das
Stein und Schraube für Schraube, nebst denkmalStirnrunzeln. Lara Almarcegui inspizierte den
geschützten Häusern und Straßenlaternen, um
neuen, bis dato „leeren“ Flecken Erde, auf dem
schließlich wie aus dem IKEA-Karton rekonstruiert
die urbane Neuversion errichtet werden soll, und
Eine Stadt zieht um. Medien, Wirtschaftsunternehmen und Künstler nehmen sich Schwedens
nördlichste Ortschaft Kiruna zur Brust und bauen
sie im Namen der Utopie gedanklich neu. Nun
geht die Gemeinde und was bleibt, ist ein Loch im
Boden.
Text: Gudrun Kramer
I
bedeutet nicht, dass Urheberrechtsverletzungen nur noch kopieren und niemand mehr bezahlt,
für sie nun legal sind. Wandern die Kopimisten also wie sollen Künstler dann Songs schreiben oder
Regisseur Filme drehen? Hätten wir schließlich
bald wegen Datenklau hinter schwedische Gardinen?
nur noch Reality Shows wie Big
Ginge es nach den Firmen,
Brother oder Youtube-Tutorials
denen die Urheberrechte gehören,
und Selfmade-Sketche? Hieße
Wie eine Religion
dann ja. Für sie entsteht ein
erheblicher Schaden Religionsdie gesamte
das keine Blockbuster, keine
gründer Isak Gerson hingegen
Hörspiele, kein Vinyl mehr?
Kulturbranche
Es gibt Kunst, die aufwendig
zerstören kann.
hofft, dass der schwedische Staat,
die „Jünger“ schützt und beruft
produziert wird. Einen neunzig
sich auf das verfassungsmäßige
Minuten langen 3D-Kinofilm
Recht auf freie Religionsausübung. Denn das wiegt realisiert niemand einfach so ohne großes Budget
seiner Meinung nach stärker als der Datendiebstahl.
und ohne teure Technik. Die Firmen müssen
Ein schwedisches Sprichwort besagt: „En liten einnehmen, um es dann wieder ausgeben zu können.
läcka kan sänka ett stort skepp.“ ( „ Ein kleines Leck Da hinkt die Logik der Kopimisten etwas.
kann ein großes Schiff versenken.“ ) Und das
Mittlerweile ist die Flasche Met auch leer. Die
ist auch Gersons Devise, Gedanken schwirren in meinem Kopf. Ich glaube,
Die Bezeichnung „Kopimi“ leitet
am liebsten will er die also kopiere ich? Ich kopiere, also glaube ich? Keine
sich – phonetisch – vom englischen
gesamte Kulturbranche Ahnung. Am besten ist es wohl, wenn ich morgen
„copy me“ („kopiere mich“) ab.
auf den Kopf stellen. Denn früh erst einmal die zehn Gebote der missionierenden
genau das tun die Kopimisten lese. Und dann entscheide, ob auch ich
Kopimisten. Wenn alle daran glaube oder nicht. Mit nüchternem Kopf.
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ließ sich auf die Vergänglichkeit des Hier und
Jetzt ein: "I didn’t know what I would find, but
I thought that Toullavaara should have a reality
different than the one being discussed now, and
I wanted to try to present it", sagt die gebürtige
Spanierin über den Ort, "most of it will cease
to exist if the land is developed and that makes
it interesting to me. I am always shocked when
I consider that a certain place is scheduled to
disappear from the face of the earth." Die Angst
mancher Bewohner vor dem Sturz in den Abgrund,
wie es wiederum Künstlerin Agneta
Andersson formuliert, trifft sich mit
„Restauration
dem Schicksal des auserkorenen Standerfordert
ortes, dessen Realzustand eine absehbar
Zerstörung.“
befristete Zeit gesetzt wurde. Die
allgemeine Bereitschaft der Lokalbevölkerung, fortzuziehen, und zwar
für immer, und bei Toullavaara einfach ein neues
Kiruna zu errichten, erstaunt die Gastkünstler.
Die Stadt, heißt es in einigen Blogeinträgen der
Kirunatopia-Teilnehmer, sei ein merkwürdiger Ort,
den man nicht erfassen könne.1 Die Skepsis sitzt tief.
Es gibt unterschiedliche Meinungen, die, ob
direkt betroffen oder nicht, den Umzug visionär
oder erschreckend heißen. Fakt ist, die Stadt war
von Beginn an ein von der Blaupause der Ökonomie
entstandener Fleck Erde und wäre ohne diese gar
nicht denkbar gewesen. Die Wirtschaft, in diesem
Fall das schwedische Bergbauunternehmen LKAB,
nimmt sich also das Recht des Stärkeren und wird
damit erst einmal ein bisschen zum Buhmann der
Medien. Abseits von den als gut oder böse markierten
Spielern in diesem Medienspektakel stellt sich die
Frage, ob nicht ein wesentliches Stück Heimat verloren geht, sobald man Kiruna Hühnerbeine verleiht.
Selbst in einer Eins-zu-eins-Rekonstruktion der
Wohnhäuser und Straßenkreuzungen wäre dem Ort
doch eine gewisse Authentizität genommen. Von
Zerstörung überfallenen Orten ähnlich, wie New
Orleans in 2005 oder Dresden 1945 etwa, verschwindet hier für immer ein wichtiges originäres
Basisstück, an dessen Stelle ein poliertes aber irgendwie
charakterloses Surrogat platziert wird. Nichts kann
in kurzer Zeit ersetzt werden, was ursprünglich und
schön war. Doch was Kiruna eigentlich so bizarr
55
http://blog.goethe.de/kirunatopia/archives/25-Exhibition-Countdown-Short-Interview-No.-3-Boris-Sieverts.html
macht und damit von Dresden und New Orleans
unterscheidet, ist, dass nicht etwa eine Krise diese
Transformation herauf beschworen hat, sondern
der Wille, den bereits hohen Lebensstandard in
der Region zu halten. Also wandert man ab, um
dem wirtschaftlichen Wachstum nicht im Wege
zu stehen. Fast schon gleicht das der nomadischen
Idee von Wohnen und Leben, der Vision von
hochtechnologisierten Städten, die ihren Standort
beliebig verändern, wenn man nicht den Eindruck
hätte, dass Kiruna an Identität einbüßte.
Es wirkt jedenfalls wie eine überdimensionierte
Version des heutigen jungen Menschen, der auf
Mobilität und Flexibilität geeicht auf der Suche
nach dem Idealzustand mit dem Idealeinkommen
und einem Vorzeigecharakter ist, der jeden beeindrucken soll. „Keine Kompromisse“, heißt es so
schön in der Werbung, sondern stets mit der Nase
gen Zielgeraden. Wer aber ist hier dann kompromissloser, die Minengesellschaft, wegen der Kiruna
geht, oder die Bewohner, die von der Gesellschaft
profitieren? So eindeutig lässt sich das nicht
beantworten; eine schwedische Vorzeigestadt hat
schließlich entschieden, ihren Heimatort samt Stock
und Stein zu verschieben.
Entwicklung hat eben Vorrang, auch wenn
man sich damit von seinen Wurzeln trennt. Ist
das undenkbar in Deutschland? Die Diskussionen
um Stuttgart 21 oder noch lokaler: der Streit um
das Fällen uralter Buchen entlang der Innerste,
vollführten dieselbe Pirouette. Beide Fälle endeten
mit der Aussage: Wir müssen uns entwickeln.
Und Restauration erfordert Zerstörung. Nur war
hier der Widerstand reger und kamen die
kosmischen Lichter hochgestapelter Vorstellungen
nicht zusammen. Oder um ein Positivbeispiel aus
dem eigenen Leben zu nehmen: Im Herbst werde
ich meinen gesamten Haushalt auflösen, mich von
geliebten Möbel lossagen und eine Stadt verlassen,
in der ich die glücklichste Zeit meines Lebens
verbracht habe. Aufbruch zur Suche nach dem
idealeren Zustand. Ich könnte immer behaupten,
dass die Idee dieses Zustands automatisch ein
Stück Zuhause schafft, weil das Angestrebte meist
nichts als die Vorstellung eines idealen Zuhauses
beinhaltet, also eines identitätseigenen Raums,
in dem ich mich wohlfühle. Vermutlich ist aber
auch das in Wirklichkeit eine Utopie, weil der
Mensch sich selbst nicht kennt und nur das tun
kann, was sein unmittelbares, irrationales Lustund Angstempfinden ihm einflüstert (und damit
vielleicht von echter Zufriedenheit abhält).
Eines muss man den Siedlern von Kiruna zugute
halten, und das fällt bei dem Kunstprojekt ein wenig
unter den Tisch: Sie gehen wirklich mit allem, was
sie haben, und zwar auch mit Hoffnungen und
Erwartungen. Mag sich das natürliche Panorama
auch ändern, sind sie doch dazu bereit, quasi von
vorne anzufangen, was für eine Menge Mut und
kollektives Querdenken spricht. Das lässt die
Gemeinde näher zusammenrücken und erweitert
den persönlichen Horizont. Außerdem: Wer kann
schon von sich sagen, er oder sie sei gerade komplett
umgezogen, habe aber noch die gleiche Adresse?
Mit demselben Straßennamen und den gleichen
unerwünschten Nachbarn. Und selbst die kann
man vielleicht dann besser ertragen. Einfach das
Haus anders herum hinstellen. Es grüßt Baba Jaga.
Foto: Rainer Hauswirth.
Bild: Liselotte Wajstedt
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Das Reich
der Zwecke
Die Europäische Union driftet auseinander, weil
sie sich selbst belügt. Wenn wir nicht endlich bei
uns die Menschenrechte, deren Einhaltung wir von
anderen Staaten fordern, in die Tat umsetzen, hat
Europa keine Überlebenschance.
Text: Olaf Bernstein
I
n Krisenzeiten gewinnen extreme Strömungen an Macht. Die momentanen Aussagen entsprechender politischer Vertreter
aus beliebig wählbaren EU-Staaten wie Finnland,
Frankreich, Italien, Österreich, Ungarn, den Niederlanden und nicht zuletzt Deutschland lassen sich
im Kern auf folgende Aussagen reduzieren: „Europa
kostet uns als Nationalstaaten zu viel, wir zahlen
nichts mehr!“ sowie „Wir wollen unsere ursprüngliche
Währung zurück!“. Man wünscht Schreihälsen wie
Silvio Berlusconi von Herzen, dass sie in Zukunft
nur noch Lire zum Bestreiten ihrer Geschäfte in den
Taschen haben. Was wären die Folgen, würden sie
sich durchsetzen? Ein Europa ohne einheitlichen
Währungsraum; mit geschlossenen Grenzen nach
außen, das sich intern darüber streitet, wer wie viel
Geld zahlt und wer etwas davon erhält; kurzum:
ein Europa, in dem jeder vor sich hin wurschtelt.
Weltpolitisch wäre es nicht mehr existent. Es könnte
sich von seiner jahrhundertelang gewachsenen Deutungshoheit darüber, was Demokratie, Menschenrechte, Humanität und Auf klärung ausmachen,
verabschieden. Die Europäische Union wäre schlichtweg nicht mehr wichtig.
Nun möchte vermutlich jeder geistig gesunde
Mensch vermeiden, dass es soweit kommt. Doch
wie sehen die Gegebenheiten derzeit aus? Die Ver-
einigung Europas ist nicht nur ins Stocken geraten;
an allen Ecken und Enden wird zurückgerudert.
Es läuft vieles falsch in Brüssel. Die von Edmund
Stoiber geleitete „Arbeitsgruppe zum Bürokratieabbau“ deckte in den einzelnen Haushalten ein
Einsparungspotential von über 40 Milliarden Euro
auf – wenn – und hier liegt der Hase im Pfeffer – ja,
wenn die einzelnen EU-Staaten europäisches Recht
besser und effizienter realisieren würden. Entweder
wird neues EU-Recht von den Regierungen nämlich
gar nicht oder nur zögerlich eingeführt – oder aber,
die neuen Vorgaben werden so kompliziert umgesetzt, dass sie am Ende noch bürokratischer sind
als die Originale aus Brüssel. Unter diesen Umständen ist es kaum verwunderlich, dass die Akzeptanz in der europäischen Bevölkerung für ein
integratives Europa schwindet.
Warum das so ist, erklären die US-amerikanischen
Wissenschaftler Daron Acemoglu und James A.
Robinson in ihrem jüngst erschienenen Buch „Why
Nations Fail“: Entscheidend für den Wohlstand eines
Staates sei die Frage, ob seine Institutionen das Volk
integrieren oder ausbeuten. Autoritär geführte
Staaten, in denen sich eine Oligarchie bereichere
und die Institutionen zur Unterdrückung der
Bevölkerung missbrauche, würden auf kurz oder
lang verelenden.
Autonomie als Grund der Würde
Auf Europa gemünzt heißt das: Wirtschaftliche Wirtschaftskrise gleich Menschenrechtskrise
Prosperität entsteht nicht, wenn Grundrechte einDeutlich wird dies in der Frage der Menschengeschränkt werden oder die Regierungen sich rechte. Erst im Juni 2012 hat die Europäische Union
monetär abschotten. Innovatives Potential schafft das sogenannte „Menschenrechtspaket“ verabzuallererst die demokratische Beteiligung der eigenen schiedet, welches die Mitgliedsstaaten dazu anhält,
Bevölkerung an der europäischen Gesetzgebung. „Menschenrechte, Demokratie und das RechtsDer Philosoph Immanuel Kant hat diese Forderung staatsprinzip ohne Ausnahme in allen Bereichen
bereits vor mehr als 200 Jahren auf den Punkt ge- der EU-Außenpolitik zu fördern“, wie es auf der
bracht: „Autonomie ist also der Grund der Würde Internetseite von Human Rights Watch heißt. Es
der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ verpflichtet die EU dazu, die Menschenrechte in den
Sie begründet sich darin, in Freiheit einem Gesetz Mittelpunkt ihrer Beziehungen zu allen Drittstaaten
unterworfen zu sein. Genau die gegensätzliche Situ- – einschließlich der strategischen Partner – zu stellen.
ation haben wir heute in der Europäischen Union: Bisher hat die Europäische Union bei MenschenUm die historisch gewonnene Vormachtstellung rechtsverletzungen nur äußerst zögerlich Protest
Europas wenigstens teilweise zu erhalten, wird die angemeldet. Schärfer wurde die Kritik immer dann,
Ausbeutung eines Großteils der arbeitenden Bevöl- wenn es sich um Staaten handelte, die nicht von
kerung und Beschneidung der Freiheitsrechte aller geopolitischer Bedeutung für die EU waren.
gutgeheißen. In Europa heiligt
Bisher völlig außer Acht gelassen
der Zweck die Mittel. Hilfreich
wurden schließlich die Verstöße
wäre es, wenn sich die Politiker
innerhalb der EU, die sich auf
Je schwieriger die
wirtschaftliche
an der „Selbstzweckformel“ Kants
vier Bereiche konzentrieren:
Lage ist, desto
orientieren würden, nach der
Erstens die Unterminierung von
Menschen- und Grundrechten
schwieriger
bei Entscheidungen nicht die
wird es für die
Folgen einer Handlung im
im Zuge der TerrorismusbeMenschenrechte.
Vordergrund stehen sollten, sonkämpfung, wie die Auslieferung
dern, ob der Prozess der Handvon Terror-Verdächtigen in
lungsfindung ethisch korrekt
Staaten, in denen diesen Folter
verläuft. Die Bevölkerung Europas muss selbst und unbegrenzte Haft drohen, oder die Androhung
darüber entscheiden können, wie viel ihrer von Folter auf europäischem Boden. Zweitens die
Autonomie in Brüssel gebündelt werden soll. wachsende Intoleranz gegenüber Minderheiten und
Und sie muss weiterhin demokratischen Einfluss Migranten, die sich unter anderem 2011 in der
auf die Entscheidungsprozesse nehmen können. dänischen Forderung niederschlug, den FlüchtlingsLaut Kant stehen „vernünftige Wesen […] alle strömen aus Nordafrika mit der Einschränkung
unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst der Freizügigkeit innerhalb der EU zu begegnen.
und alle anderen niemals bloß als Mittel, Drittens die zunehmende Einflussnahme populissondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst tischer und extremistischer Partien in ganz Europa,
behandeln solle. Hierdurch aber entspringt eine wie der Dänischen Volkspartei. Sie tolerierte die
systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch dortige, bis vor kurzem amtierende Minderheitsgemeinschaftliche objektive Gesetze, d. i. ein regierung, welche im Gegenzug das SchengenReich […] der Zwecke.“
Abkommen aussetzte. Viertens die Entmachtung
Unter „Zweck“ versteht Kant „das, was dem Wil- und Instrumentalisierung von Verfassungsorganen
len zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung wie dem Obersten Gerichtshof in Ungarn unter
dient“, also hinausgeht über subjektive Wünsche Ministerpräsident Viktor Orbán, dessen Erfolg mit
Einzelner. Ein „Zweck an sich“ hat nach Kant nicht der Partei Fidesz symptomatisch für einen dronur einen relativen Wert, sondern einen inneren Wert, henden Kollaps des demokratischen Systems in
die Würde. Von einem würdevollen „Reich der Ungarn ist.
Zwecke“, wie es Kant beschreibt, sind wir in Europa
allerdings weit entfernt.
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Der Alleingang wird zum Untergang
Zusammenfassend lässt sich sagen: Je schwieriger
die wirtschaftliche Lage ist, umso schwieriger wird
es für die Menschenrechte in der EU.
Derartige Diskrepanzen zwischen den moralischen Maßstäben der EU einerseits und ihrer tatsächlichen Umsetzung andererseits machen vor
allem eines deutlich: Die EU kann ihre fundamentalen Werte nur dann bewahren, wenn sie die
Menschenrechte in der Zukunft auch konsequent
umsetzt. Ein Staat, der zum Erreichen eines Zieles
falsche Versprechungen abgibt, während er in Wahrheit Recht bricht, verhält sich laut Kant bewusst widersinnig: „Er muß, um dieses Mittel gebrauchen
zu können, wollen, daß die Erfüllung bestimmter
Bedingungen allgemein unterstellt wird, und muß
zugleich wollen, selbst genau diese Bedingungen
nicht zu erfüllen: Er muß sich also die Ausnahme
erlauben, das Privileg für sich in Anspruch zu
nehmen, daß ein falsches Versprechen, das nicht
als Versprechen gelten kann, ausnahmsweise als
Versprechen gelten soll.“
Diese bewusst selbst verschuldete Unmündigkeit
zu durchbrechen, sollte das Ziel einer politisch aufgeklärten Europäischen Union sein. Sie müsste ihr
weltpolitisches Gewicht einsetzen, um diesem
Anspruch gerecht zu werden. Dafür ist nicht mehr
und nicht weniger notwendig als die konsequente
Anwendung der weltweiten Mindeststandards an
Menschenrecht und Menschenwürde Anderenfalls droht der EU die vollkommene außenpolitische Unglaubwürdigkeit: Ein pharisäerhafter Emissär wird von niemandem ernstgenommen, im Gegenteil; man unterstellt ihm
hinter vorgehaltener Hand die gegenteilige
Absicht – und da er sich selbst als Vorbild preist,
beschließt man, es im Geheimen ebenso zu tun
wie er, während man nach außen große Versprechungen abgibt. Am Ende steht eine traurige
Vereinbarung mit zwei Verlierern, die sich nicht
mehr ins Gesicht schauen können, weil sie eben
dieses nicht verlieren wollten.
Um Veränderungen zu erreichen, müsste die EU
gemeinschaftlich handeln. Momentan passiert
Gegenteiliges: Im Zuge der Finanzkrise wollen
einzelne Nationalstaaten im Affekt die Eurozone verlassen. Dabei wird das Gefühl der Sicherheit, die ein Nationalstaat bietet, von allen
Demagogen deutlich überschätzt: Der weltweit
wohl erfolgreichste Investor, Warren Buffet aus
den USA, hat schon vor geraumer Zeit gemahnt,
wenn sich die siebzehn Euro-Staaten nicht auf eine
einheitliche Währungspolitik einigen könnten,
stünde der Euro vor dem Aus. Kleine Staaten
würden dann aufgrund ihrer Abhängigkeit gegenüber großen Staaten wie den USA oder China
dazu gezwungen, sich der vorherrschenden Weltmarktpolitik noch viel stärker anzupassen, als das
bisher der Fall ist.
Wahrscheinlich ist diese Aussage nicht einmal
stark genug: China und andere Staaten würden die
versprengten Reste der EU aufkaufen, so wie sie es
jetzt schon im großen Stil in Regionen der Erde tun,
die sich nicht auf ein gewachsenes Fundament von
Schutzmaßnamen verlassen können.
Es sei denn, die Einwohner des Landes wehren
sich: So platzte 2009 ein Deal des südkoreanischen
Konzerns Daewoo mit der madagassischen Regierung nach schweren Unruhen in der Bevölkerung.
Der Plan sah vor, 1,3 Millionen Hektar Ackerland
– etwas mehr als die Hälfte der Insel – für einen
Zeitraum von 99 Jahren zu einem Schleuderpreis
an Daewoo zu verpachten. Derartige Formen von
Landraub sind eine Folge der in den letzten Jahren zunehmenden Spekulationen auf den Rohstoffmärkten. Länder wie Südkorea, die im Verhältnis zu
ihrer Bevölkerungsgröße nur über geringe Anbauflächen verfügen, versuchen in einem rücksichtslosen Wettkampf, sich ertragreiche Böden in Kambodscha, Laos oder im Sudan zu erkaufen.
Gerade der Sudan war jahrelang das Sinnbild
dieser hochgradig perversen Entwicklung: Während
das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen Millionen von Sudanesen mit Nahrungsmitteln versorgte, exportierte das Land sein Getreide
ins Ausland. Ausländische Investoren wiederum
rissen sich um sudanesische Ackerflächen, die größer
waren als das Saarland. So wurde die „Kornkammer“
Afrikas zu einem Negativbeispiel dafür, was passiert,
wenn die Ziele des Millennium-Programmes der
Vereinten Nationen mit denen einzelner Nationalstaaten kollidieren.
Waffen in Staaten, deren Menschenrechtsverletzungen aktenkundig sind, sowie langfristig
ein Stopp der Rüstungsproduktion in Europa.
Positiver Nebeneffekt wäre das Freiwerden enormer
Geldmengen in den Verteidigungshaushalten der
Das eigene Gewissen beruhigt sich in der EU-Staaten. Oberstes Ziel dieser souveränen EU
wäre jedoch die moralische, politische und
Fremde leichter
Afrika und andere Weltregionen sind heutzutage wirtschaftliche Autarkie jedes Staates. Eingriffe
immer noch von Ausbeutung bedroht, weil die ehe- von außen dürften nur dann erfolgen, wenn die
maligen Kolonialstaaten die Entwicklungsländer Eingreifenden hinter den Rechten stehen, die sie
weiterhin in Abhängigkeit halten – einerseits be- vertreten wollen.
Für die konsequente Umsetzung des Millengründet über horrende Verschuldungssummen, die
in US-Dollar abgerechnet werden und somit die ein- nium-Programms bräuchten die Vereinten Natiozelnen Länder an das Währungssystem der USA nen ein Menschenrechte-Tribunal mit weltweit anbinden – andererseits begründet über falsche Hilfs- erkannten Befugnissen. Leider scheitert dieses Geanreize, die den betroffenen Ländern jede Eigen- dankenspiel derzeit an einer zerfaserten Welt, in der
ständigkeit absprechen und aberziehen. Sein Ge- durch die Globalisierung jeder jedem hineinregiert,
wissen in Afrika zu bereinigen, während man im ihn entmündigt, seine Rechte missachtet, ihn auseigenen Land Menschenrechtsverletzungen kalt beutet und letztlich für seine eigenen Zwecke misslächelnd beiseite wischt, ist eine neue Form des braucht. Ein Netzwerk mündiger Staaten, in der
Kolonialismus, die darauf abzielt, andere Länder jeder für sein Handeln verantwortlich ist und auch
moralisch untertan zu machen. Kein Land der EU Rechenschaft darüber abzulegen hat; ein „Reich
kann sich ernsthaft rühmen, moralisch ein Vorbild der Zwecke“, zusammengehalten durch die Werte
zu sein. Kein Land, in dem
der Allgemeinen Erklärung der
Menschen unter der ArmutsMenschenrechte; ein Netzwerk,
grenze leben, Kriegswaffen für
in dem niemand unterdrückt
Als bloSSes
wird – das wäre ein wahrer
Zweckbündnis wird
Diktaturen produziert und
Menschenrechte systematisch
Weltstaat, die schönste Utopie,
die EU untergehen.
verletzt werden, ist ein wirtdie hier auf Erden zu haben
schaftliches oder ein soziales
ist. Natürlich handelt es sich
Vorbild.
bei diesen Formulierungen letztlich um Träume,
Was wäre also zu tun? Notwendig wäre zum deren Umsetzung ungewisser denn je scheint. Oder,
einen ein geregeltes Insolvenzverfahren für de facto wie Kant es ausdrückt: „Es ist doch süß, sich
bankrotte Staaten, um die gigantische Über- Staatsverfassungen auszudenken, die den Forderschuldung abzubauen, die die eigenständige ungen der Vernunft (vornehmlich in rechtlicher
Entwicklung ganzer Weltregionen verhindert. Absicht) entsprechen; aber vermessen, sie vorDamit einhergehen muss ein umfassender zuschlagen, und strafbar, das Volk zur Abschaffung
Schuldenerlass für die armen Länder in der der jetzt bestehenden aufzuwiegeln.“ Er mag recht
Nachfolge der HIPC-Schuldenerlass-Initiative. Ein haben – sein Einwand mindert jedoch nicht die
Schuldenerlass würde mit der paradoxen Praxis ungeheure Brillanz dieser Vorstellung.
brechen, dass die Schuldenländer mit ihren Rückzahlungen dazu beitragen, teilweise die Defizite der
reichen Industrieländer zu finanzieren. Die so frei
werdenden Gelder müssten dann in die für 2015
geplante vollständige Umsetzung der MillenniumZiele fließen.
Weitere Maßnahmen wären ein Abbruch sämtlicher aktiver Kriegsbeteiligungen der Europäischen
Union, kurzfristig ein sofortiger Exportstopp von
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Ein
Hildesheimer Wald
für Tanzania
TS: Nein, nein. Kurze Zeit, nachdem ich in Afrika
war, kam Joseph – sozusagen mein Gegenpartner von
Radio Fadeco – hierher und hat dann zwei Monate
bei mir gewohnt. Eines Tages sind wir spazieren
gegangen – ich wohne im Hildesheimer Wald – und
da wurde die Idee geboren. Manchmal sage ich: »Ich
bin wie die Jungfrau zum Kind gekommen.«
MS: Welche Rolle spielt das Bürgerradio als
Informationsplattform in dieser ländlichen
Der Hildesheimer Thomas Sklorz engagiert sich für das Projekt »Ein
Hildesheimer Wald für Tanzania«. In Zusammenarbeit mit Radio
Tonkuhle und Fadeco Community Radio in Karagwe sollen 600.000
Bäume eine ausgetrocknete Region im Nordwesten Tanzanias wieder
begrünen.
Interview: Marion Starke
entfernt, im tansanischen Karagwe, sind die
an Brenn- oder Bauholz zu gelangen. Die Menschen
zerstören damit ja ihre eigene Lebensgrundlage,
weil sie keine Alternativen sehen.
Menschen von der Verödung ganzer Landstriche
MS: Werden die Menschen auch persönlich in
Marion Starke: 13.524 Kilometer mit dem
Auto und 6.500 Kilometer mit dem Flugzeug
bedroht. Das Projekt »Ein Hildesheimer Wald
für Tanzania« soll helfen. Welche Idee steckt
hinter dem Projekt?
Thomas Sklorz: »Pflanzen von Wäldern mit gleichzeitiger Bildung der Bevölkerung.« – so könnte man
das Projekt »Ein Hildesheimer Wald für Tanzania«
beschreiben. Bis jetzt haben wir einen Musterwald auf
einem Privatgrundstück mit 1.000 Bäumen gepflanzt.
Das dient der Evaluation. Wir gehen davon aus, dass
60 bis 80 Prozent der Pflanzen überleben werden.
MS: Was genau wird im Musterwald untersucht?
TS: Wir müssen schauen, welche Bäume gut
wachsen und welche Sorten gut nebeneinander
auskommen. Aber mein Projektpartner in
Tansania, Joseph vom Radio Fadeco, hat ein gutes
Netzwerk und kennt auch den Regionsförster,
der auch für sein Dorf Kayanga zuständig ist. Da
werden wir gut beraten.
MS: Das Projekt hat also zwei »Baustellen«:
Aufforstung und Bildung. Was sind eure
Schwerpunkte?
TS: Es werden Sendungen zum Wiederaufbau und
Erhalt von Wäldern sowie zur Umweltgestaltung
gemacht. Dabei werden auch die kritischen
Themen wie die Feueraktionen angesprochen, bei
denen ganze Landstriche abgebrannt werden, um
die Arbeit mit einbezogen?
TS: Joseph hat ein Ausbildungs- und Trainingscenter und macht Nachhaltigkeitsschulungen.
Er unterrichtet, wie man Bäume so pflanzt und
pflegt, dass sie in den kommenden 20 Jahren
meterhoch wachsen können. Die Menschen aus
der Region lernen aber nicht nur Baumpflanzung,
sondern auch ganz klassische Landwirtschaft wie
Ackerbau und Viehzucht.
MS: Wie bist du zu diesem Projekt gekommen?
TS: Über das Radio-Austauschprogramm zwischen
dem Landesverband Bürgermedien Niedersachsen
und den Bürgerradios in Tansania. Radio Tonkuhle
wollte gerne mitmachen, es mangelte aber an
Personalkapazitäten. Also haben sie irgendwann
mich gefragt. Ich moderiere seit Jahren die
wöchentliche Musiksendung »Offbeats«, da kennt
man sich gut.
Schließlich bin ich als Projektpate für zwei
Monate nach Tansania geflogen, um erst einmal
zu schauen, wie die Lage vor Ort ist und wie eine
Zusammenarbeit überhaupt aussehen könnte.
Dann habe ich grundlegend darüber berichtet.
MS: Das heißt, es ging erst einmal nur um
einen Bürgerradio-Austausch. Ein konkretes
Projekt war also nicht die Ausgangsbasis?
Region Tansanias?
TS: Es gibt nicht überall Strom und Gas, viele
Menschen besitzen keinen Computer, keinen
Fernseher. Radio und Handy sind die einzigen
Kommunikationsmedien. Das Radio ist für
die meisten die einzige offizielle Informationsplattform.
MS: Dein Partner Fadeco ist Organisator
und Initiator von mehreren Projekten?
TS: Ja, vor allem betreut er das Ausbildungs- und
Trainingscenter, das Medienschulungen, also
Computerkurse, aber auch Nähmaschinenkurse
anbietet. Es kann mit einer Solaranlage ein paar
Computer für zwei bis drei Stunden am Tag
betreiben. Dort entstehen Radiosendungen, die
ebenfalls mit entsprechenden Schulungen begleitet
werden. Denn nachhaltiger Umweltschutz und
Aufforstungsbemühungen können nicht ohne eine
Sensibilisierung und Ausbildung der Bevölkerung
in Tansania geschehen.
MS: Und abseits des Centers?
TS: Joseph von Radio Fadeco organisiert auch viele
weitere unterstützenswerte Aktionen, etwa zum
Thema AIDS-Prävention, zur Integration Behinderter
sowie zur Landwirtschaft und Energieversorgung.
MS: Gab es Schwierigkeiten zu Beginn des
Projektes?
TS: Es war ein hartes Stück Arbeit, alle Beteiligten
vor Ort zu überzeugen. Sie dachten sich: »Was macht
denn der Weiße hier und warum pflanzt er Bäume
in diese Gegend?« Ich habe mit vielen verschiedenen
Menschen geredet. Mit Schülern, Nachbarn und
Auszubildenden aus dem Trainingscenter sowie
politischen Vertretern der Region. Ich habe sogar
den Sohn des letzten Königs von Karagwe getroffen.
Noch heute stoße ich auf Situationen, in denen ich
mich und meine Arbeit immer wieder erklären muss.
MS: Das Projekt ist seinen Kinderschuhen
entwachsen.
Du
warst
schon
zweimal
in
Karagwe und planst für diesen Winter deine
nächste Reise. Das Ganze wächst mehr und
mehr. Du musst sehr stolz sein.
TS: Sicherlich. Das Projekt läuft jetzt erst eineinhalb
Jahre und dafür ist wirklich viel geschehen.
Allerdings muss ich auch sagen, dass ich mir heute
drei Mal überlegen würde, ob ich so ein großes
Projekt aufbauen würde. Hätte ich gewusst, dass
es so viel Energie kostet… ich bin da relativ naiv
dran gegangen. Ich habe mir gedacht: Wenn jeder
Hildesheimer nur einen Euro spenden würde, dann
hätten wir über 100.000 Euro und könnten viele
Bäume pflanzen.
MS:
Wenn
du
heute
eine
große
Spende
bekommen würdest, sagen wir mal 10.000
Euro, was wäre damit möglich?
TS: Wenn ich 10.000 Euro hätte, wäre es
theoretisch möglich, zwischen 30.000 und 40.000
Bäume zu pflanzen. Gleichzeitig bekämen wir
aber auch die Möglichkeit, ein bis zwei Mal die
Woche ein Bildungsprogramm zu senden. Mit
dem Geld könnte uns der Regierungsförster als
Supervisor beraten, Helfer hätten die Chance,
sich im Trainingscenter anzugucken, wie man
Bäume richtig und nachhaltig pflanzt und ich
könnte auch in die Schulen gehen und den Kindern
sagen: "Heute machen wir einen »Pflanztag«,
indem wir das Schulgelände mit Obstbäumen
bepflanzen. Alle von euch bekommen einen
Patenbaum und wässern ihn dann auch." Mit
den Schulen arbeiten wir eng zusammen. Wir
wollen, dass die Kinder in zwölf, 15, 20 Jahren die
Mangos, Papayas und Avocados von ihren Bäumen
pflücken können.
MS: Also: Wenig Geld, viele Partner, viele
helfende
Hände
und
eine
riesengroße
Wirkung am Ende.
TS: Genau, so sieht das aus. Es geht ja darum,
dass die Menschen etwas für ihre Zukunft
tun. Man könnte Projekte ohne Ende machen:
Wasserspeicher, Solaranlagen und so weiter. Man
kann dort drei Wasserspeicher mit je 50.000 Liter
Fassungsvermögen für 5.000 Euro bauen. Ich habe
schon viele Projektanfragen erhalten.
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MS: Was kann ich persönlich tun, um das
Projekt zu unterstützen?
TS: Es ist viel möglich. Man kann aktiv mitarbeiten,
hier oder vor Ort in Tansania, oder einfach nur
spenden. Mit dem Projekt »Weltwärts« ist es möglich,
im Rahmen eines Freiwelligen Sozialen Jahres in
das Dorf Kayanga zu fahren und mitzuarbeiten.
Momentan ist eine FSJler vor Ort. Das ist aber noch
ausbaufähig. Natürlich nicht zu sehr, es soll ja auch
die Sprache gelernt werden, aber es ist auch möglich,
mich selbst zu begleiten. Ich versuche jährlich
hinzufliegen und organisiere die Reise gerne.
MS: Das wäre eine spannende Reise. Wie
kann man dich kontaktieren?
TS: Wer weitere Informationen wünscht oder
sich selbst engagieren will, kann auch direkt
Kontakt zu mir aufnehmen: Thomas Sklorz,
dr.thosch@gmx.de
oder telefonisch unter 05121 / 75 84 060.
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MS: Fehlt noch etwas ganz Konkretes?
TS: Ja – und wie! Ich würde gerne eine Internetseite
für dieses Projekt haben. Wenn es da jemanden gibt,
der zwar kein Geld spenden kann, aber Ahnung
von Websitegestaltung und -programmierung hat,
würde ich mich sehr freuen, von dieser Person zu
hören! Das wäre sehr viel wert.
Ebenso fehlt mir Manpower, um Projektanträge
zu schreiben. Ich würde gerne Wasserspeicher und
Solaranlagen beantragen. Dafür gibt es auch in der
Region Karagwe selbst entsprechende Institutionen.
Alleine schon, um Wasser aus Brunnen hoch zu
pumpen. Und wo man ebenfalls gut ansetzen
könnte: Heißwasser-Solaranlagen, mit denen man
in Krankenhäusern heißes Wasser für die Küchen
produzieren kann. Jeder, der helfen möchte, ist
herzlich willkommen!
MS: Was macht dir an deiner Arbeit am
meisten Spaß?
MS: Es gibt immer wieder Vorbehalte bei
TS: Das Projekt wachsen zu sehen. Das ist das
Wundervolle. Es ist in nur einem Jahr so viel
geschehen und ich freue mich schon, in 20 Jahren
meinen Ruhestand dort im Schatten meiner selbst
angepflanzten Bäume zu verbringen. Ich möchte
die trockene, schwüle Region in eine gemäßigtere
Klimazone umwandeln. Und vielleicht betreue
ich dann einige Praktikanten und WeltwärtsHelfer. »Hildesheimer Wald für Tanzania« ist mein
Lebensprojekt geworden.
Hilfsprojekten, ob das gespendete Geld
MS: »Pole, pole« – »langsam, langsam«!
wirklich ankommt oder im Verwaltungs-
Das ist die tansanische Redensart, das
apparat versickert. Da du für alles
Sie sich zu Herzen nehmen. Das Projekt
persönlich verantwortlich bist, ist ein ver-
soll ganz nach dem Sprichwort langsam,
antwortungsvoller Umgang mit den Spenden
aber bedacht und nachhaltig durchgeführt
sichergestellt. Wie kann ich spenden?
werden. Ich wünsche viel Glück! Danke für
MS: Wo liegen die Unterschiede und Vorteile
gegenüber anderen Entwicklungsprojekten?
TS: Es läuft alles direkt. Und es ist alles möglich!
Jeder, der sich einbringen oder einfach informieren
will, kann mich jederzeit kontaktieren. Mit dem
Projekt »Ein Hildesheimer Wald für Tanzania«
initiieren wir Netzwerke vor Ort, die zukünftig
auch für andere soziale oder ökologische Projekte
genutzt werden können.
TS: Spenden sind jederzeit möglich. Die Kontoverbindung lautet:
Afrika Karibuni e.V.
Stichwort Hildesheimer Wald
Kreissparkasse Peine
BLZ 252 500 01
Kto 008 306 881 7
Bitte achtet darauf, das Stichwort mit anzugeben!
Es wird künftig auch weitere öffentliche Aktionen
und Gelegenheiten zum Spenden geben.
das Gespräch.
Weitere Informationen: Auf Facebook
unter: »Hildesheimer Wald für Tanzania«,
auf Tonkuhle.de und demnächst auch auf:
www.hildesheim-tanzania.de/ oder unter:
http://www.fadeco.org/
Foto: Joseph Sekiku
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Atomare
Eigenständigkeit
S
Die Inseln des Pazifiks galten während des Kalten Krieges als ideales
Versuchsgebiet atomarer Projekte. Auch Frankreich nutzte diese Gelegenheit
und entzieht sich bis heute der Verantwortung.
Text: Hendrik Buhr
eit 2011 veranstaltet die NGO Moruroa
weder die Einheimischen in den Testgebieten, noch
e tatou in Französisch Polynesien eine
die eigenen Streitkräfte als Testobjekte zu schade.
Gedenkwoche für den zweiten Juli 1966,
Zwischen 1966 und 1996 führte Frankreich auf dem
an dem damals die erste französische Atombombe
Moruroa und dem Tureia Atoll insgesamt etwa 200
im Pazifik auf dem Moruroa Atoll, 1300 Kilometer
Atombombentests durch.
von Tahiti entfernt, getestet wurde. Noch immer
Bis 1974 wurden auf beiden Atollen insgesamt
sind die Folgen zu spüren.
41 überirdische Tests durchgeführt. Tureia musste
Nachdem Algerien 1962 undafür 1968 evakuiert werden.
abhängig geworden war und die
Durch sie kam es in der folgenWüste dort nicht mehr als TestNeben der Belastung
den Zeit auf den umliegenden
gelände genutzt werden konnte,
Inseln immer wieder zu Fallouts
in der Luft kommt
wich man auf die noch immer
– auch auf Tahiti. Die restlichen
noch die Gefahr der
unter französischer Verwaltung
Tests fanden unterirdisch, als
Nahrungsaufnahme
sogenannte vertikale Tests, statt.
hinzu.
stehenden Inseln im Pazifik
Dazu wurden tiefe Löcher in den
aus. Auf den Marshall- und den
Basaltsockel der Atolle gebohrt
Weihnachtsinseln waren bereits
und mit Beton verschlossen. Ob Basalt dazu
durch Großbritannien und den USA über- und
geeignet ist, strahlende Rückstände für immer zu
unterirdische Atombombentests durchgeführt
verschließen, wurde nicht überprüft. Die Folgen
worden. Die Vorteile lagen dabei auf der Hand:
sprechen dagegen: unterseeische Risse haben sich
Fern der Heimat, beinahe menschenleeres Gebiet und
vergrößert, die Stabilität der Atolle ist gefährdet und
Möglichkeiten für atmosphärische und unterirdische
Plutonium in Fisch nachgewiesen wurde. Neben
Tests, bei denen die Folgen für Mensch und
der Belastung in der Luft kommt noch die Gefahr
Umwelt geheim untersucht werden können.
der Nahrungsaufnahme hinzu. Ein Großteil der
Darüber hinaus konnten die Ergebnisse dieser Tests
an den „Minderheiten“ durch Atommächte gegebenLebensmittel stammt aus dem Meer, und stellt so für
enfalls gefälscht werden. Die abgelegenen Inseln im
die Einheimischen eine weitere Möglichkeit dar, an
Pazifik waren somit der ideale Raum für die DrohKrebs zu erkranken. Da die Krankenversorgung noch
gebärden der westlichen Staaten im Kalten Krieg.
immer unter französischer Verwaltung steht, liegt
Charles de Gaulle träumte von Frankreich als
es nicht in der Hand der Polynesier, das häufige
einer „Force de frappe nucléaire“, die unabhängig
Vorkommen von Leukämie, die geringe Lebensvom US-amerikanischen Atomschirm sein sollte.
erwartung und die hohe Kindersterblichkeit auf die
Eigene Bomben und eigene Tests sollten dies der
Strahlung – von Frankreich anerkannt – zurückWelt zeigen. Für diese Utopie waren der Regierung
zuführen. Die Kosten hierfür mussten die Polynesier
65
tragen, nicht Frankreich. Doch nicht nur gegenüber ihnen, sondern auch vor Angehörigen des
Militärs leugnete die französische Regierung
bis 2001 jeglichen Zusammenhang von vielen
Strahlungserkrankungen und den sich über 30
Jahre hinziehenden Tests.
Vor Frankreich hatten bereits die USA den
Pazifik mit seinen abgelegenen Inseln als Testgelände genutzt. Auf einigen Inseln des Bikini
Atolls wurde zwischen 1946 und 1954 unter
anderem die Wasserstoffbombe gezündet. Inseln
fielen dem zum Opfer, ebenso die einheimischen
Mikronesier, die umgesiedelt und sich als
Versuchskaninchen durch Rücksiedlung freiwillig
missbrauchen ließen. Mittlerweile ist die Strahlung auf einigen Inseln wieder so niedrig, dass
sie touristisch genutzt werden, während viele
Krankenakten der Einheimischen noch immer als
militärisches Geheimnis gehandhabt werden.
Als sich 1986 die Anrainerstaaten in der Südsee
im Rarotonga-Vertrag auf den Verzicht von Atomwaffentests und Lagerung von solchen einigten,
traten die USA und Frankreich diesem erst
zehn Jahre später bei.
Für Freiheit und
Unabhängigkeit gab sich
der französische Staat
der atomaren Versuchung
hin und ging damit in den
moralischen Bankrott.
Erst 1996, nach
dem Abschluss einer
weiteren Testreihe,
konnte Frankreich
nach eigenen Angaben auf weitere Tests verzichten und auf digital
Simulierte umsteigen.
Neben den jeweils Einheimischen in Algerien
und Polynesien waren bei den französischen Tests
noch 150.000 Soldaten beteiligt, die der Strahlung
zu Testzwecken und Arbeitsgründen in hohem
Maße ausgesetzt wurden und von denen heute 35
Prozent an Spätfolgen leiden. Erst 2008 wurden
einige Leiden als strahlungsbedingt durch das
Morin-Gesetz anerkannt. Nach einer Überarbeitung
2010 sollen endlich mehr Geschädigte Geltungsansprüche stellen können, was bis heute jedoch
schwierig ist, da am Ende das Militär über die
Entschädigung entscheidet.
Für Freiheit und Unabhängigkeit gab sich der
französische Staat der atomaren Versuchung hin
und ging damit in den moralischen Bankrott.
Denn wirkliche Verantwortung für die Zukunft
konnte damit niemand mehr übernehmen.
In den Sieben Äckern 2
31162 Bad Salzdetfurth, Groß Düngen
Telefon (0 50 64) 80 26
Telefax (0 50 64) 80 67
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www.b-und-w-druck.de
02
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66
67
D
Hildesheimer
Rassenkunde
Darf Bürgerkriegsflüchtlingen, die im Vorschulalter mit ihren Eltern
nach Deutschland flohen und seit 17 beziehungsweise 26 Jahren in
Deutschland leben, unter Hinweis auf angebliche türkische Vorfahren
das Aufenthaltsrecht entzogen werden? Der Fall der Familie Siala/
Salame aus Schellerten bei Hildesheim bietet einen tiefen Einblick in die
Abgründe deutscher Ausländerpolitik.
Text & Foto: Kai Weber
ie Familien Salame und Siala
Amina (7) zur Schule brachte. Gazale kam zunächst
bei entfernten Bekannten der Eltern in Izmir unter.
gehören der Minderheit der
Unter erbärmlichen Umständen brachte sie am 31.
Mhallami an. Viele Angehörige
August 2005 ihren Sohn Gazi zur Welt.
dieser ursprünglich aus der Türkei stammenden
Ahmed Siala, der in Deutschland mit großen
arabischen Minderheit flohen ab 1920 vor der
Begriffen wie Demokratie und Rechtsstaat aufgeaggressiven Politik Atatürks, die einen einheitlichen
türkischen Nationalstaat begründen sollte, in den
wachsen ist, entschloss sich, nicht klein beizugeben und
Libanon. Im Zuge der Eskalation des libanesischen
für seine Rechte und die seiner Familie zu kämpfen.
Bürgerkriegs suchten in den achtziger Jahren viele
Am 21. Juni 2006 entschied das Verwaltungsgericht
Mhallami-Familien erneut ihr Heil in der Flucht.
Hannover zu seinen Gunsten: „Das ist sehr dünn“,
Auch den Familien Salame und Siala gelang es
urteilte der Vorsitzende Richter über die vom
Mitte der achtziger Jahre, der „Hölle von Beirut“ zu
Landkreis angegebenen Gründe für den Entzug der
entkommen. Als „staatenlose Kurden“ erhielten beide
Aufenthaltserlaubnis und verwies darauf, dass die
Familien hier im Rahmen der niedersächsischen
Familie Siala aufgrund der vorgelegten Dokumente
Bleiberechtsregelung von 1990
seit Anfang der fünfziger Jahre
ein Aufenthaltsrecht.
im Libanon gelebt hatte. Am
Gazale Salame und Ahmed
„Der Versuch,
zweiten Oktober 2007 hob
Siala waren zum Zeitpunkt ihrer
die Tragödie der
das niedersächsische OberFlucht sechs beziehungsweise
verwaltungsgericht diese EntFamilie durch einen
sieben Jahren alt. Sie absolvierten
scheidung jedoch wieder auf
politischen Deal
und erklärte die Verweigerung
endlich zu beenden,
in Deutschland die Schule,
einer Aufenthaltserlaubnis an
endete in einem
lernten sich kennen und lieben
Fiasko.“
und gründeten eine Familie.
Ahmed Siala mit der Begründung
Wahrscheinlich wären sie längst
für rechtmäßig, Ahmed habe
eingebürgert, wenn der Landkreis
türkische Vorfahren und dies
Hildesheim ihnen – wie andere Ausländerbehörden auch gewusst. Insofern habe er über seine Herkunft
in vergleichbaren Fällen – ihr Aufenthaltsrecht weiter „getäuscht“ beziehungsweise müsse sich das
verlängert hätte. Der Landkreis Hildesheim jedoch entsprechende Handeln seiner Eltern zurechnen
witterte Betrug: Im Jahr 2000 beziehungsweise lassen.
Dass Bundesverwaltungsgericht korrigierte am
2001 präsentierte er Auszüge aus dem türkischen Personenstandsregister aus dem siebziger Jahren, die 27.01.2009 die Entscheidung des niedersächsischen
nach Auffassung des Landkreises belegen sollten, OVG und wies den Fall unter Bezugnahme auf
dass die Väter beziehungsweise Großväter von Artikel 8 der Europäischen MenschenrechtsAhmed und Gazale in der Türkei registriert wurden konvention (EMRK) zur erneuten Beratung an das
und daher (auch) die türkische Staatsangehörigkeit Oberverwaltungsgericht zurück. In der mündlichen
besäßen. Unter Bezugnahme auf diese Unterlagen Verhandlung drängte Gerichtspräsidentin Frau
verweigerte der Landkreis Hildesheim die Ver- Eckertz-Höfer darauf, Ahmed Siala nach den Vorlängerung der Aufenthaltserlaubnis und drohte gaben der Europäischen Menschenrechtskonvention
beiden Bürgerkriegsflüchtlingen samt ihren Kindern zum Schutz des Privatlebens (Art. 8 EMRK ) und der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
die Abschiebung an.
Am 10. Februar 2005 ließ die Ausländerbehörde Menschenrechte die erstrebte Aufenthaltserlaubnis zu
die zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alte Gazale Salame erteilen, um weitere jahrelange Rechtsstreitigkeiten
in die Türkei abschieben. Die Polizei überraschte zu vermeiden.
Um das nun schon acht Jahre dauernde Verdie schwangere Frau in ihrer Wohnung, während
ihr Ehemann gerade die Töchter Nura (6) und fahren abzukürzen und endlich eine Entscheidung
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herbeizuführen, die Gazale eine Rückkehr
möglichkeit verschaffen würde, entschloss sich
die Familie, einem mit dem Innenministerium
ausgehandelten Kompromiss zur Ermöglichung
einer politischen Lösung über die Niedersächsische
Härtefallkommission zuzustimmen: Sollte diese eine
Annahme empfehlen, würde der niedersächsische
Innenminister sich der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht widersetzen. Der Versuch, die
Tragödie der Familie durch diesen politischen
Deal endlich zu beenden, endete jedoch in einem
Fiasko: Von den sieben anwesenden Mitgliedern
der Härtefallkommission stimmten in der
entscheidenden Sitzung im Frühsommer 2011
vier für eine Annahme des Falls, zwei stimmten
dagegen, ein Mitglied enthielt sich der Stimme. Das
erforderliche positive Quorum von mindestens zwei
Drittel der anwesenden Mitglieder war damit knapp
verfehlt.
Da weder beim Landkreis Hildesheim noch
beim Niedersächsischen Innenministerium die
Bereitschaft zu erkennen war, in dem Fall eine
politische Lösung doch noch zu erreichen, wurde
2011 eine neue Kampagne zur öffentlichen
Skandalisierung dieses für Außenstehende absurd
anmutenden Falls gestartet. Dabei gingen die
Unterstützer_Innen in ihrer Argumentation zurück
auf die Ausgangsfragen der Auseinandersetzung:
•
Was
haben
die
in
Beirut
geborenen,
im Alter von sechs beziehungsweise sieben
Jahren mit ihren Familien nach Deutschland
geflohenen,
Flüchtlinge
Ahmed
Siala
und
Gazale Salame mit der Türkei zu tun?
• Werden der verfassungsmäßige Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit und die EMRK beachtet,
wenn hier aufgewachsene Kinder nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Deutschland für
angebliche Fehler ihrer Eltern bestraft und
in ein ihnen unbekanntes Exil – die Türkei –
abgeschoben werden?
• Warum spielt das Wohl der Kinder von
Ahmed und Gazale für das behördliche Handeln
keine Rolle?
69
Der Entzug des Aufenthaltsrechts für die hier
aufgewachsenen, jahrzehntelang in Deutschland
lebenden Bürgerkriegsflüchtlinge unter Bezugnahme auf das angebliche Herkunftsland ihrer
Großeltern trägt völkisch-rassistische Züge.
Für diese Entscheidung spielte es keine Rolle,
wo die Betroffenen sich zu Haus fühlten und
ihren Lebensmittelpunkt hatten, entscheidend
sollte vielmehr sein, ob alte Registerauszüge die
Abstammung von Staatsangehörigen eines anderen
Landes belegten. Zur Durchsetzung dieser Politik
wurde die Familie durch Abschiebung getrennt und
Gazale in die Türkei verbannt, wurden die Kinder
traumatisiert und um ihr Recht auf Erziehung und
Fürsorge durch beide Eltern gebracht.
Die Verantwortlichen im Landkreis Hildesheim,
die die Abschiebung von Gazale im Jahr 2005
angeordnet haben, sind bis heute in ihren Funktionen.
Sie werden vom Landrat und dem niedersächsischen
Innenministerium politisch gedeckt und führen
ein Rückzugsgefecht um jeden Meter. Aber es gibt
seit sieben Jahren auch einen bemerkenswerten
Widerstand und ein nicht nachlassendes öffentliches
Interesse an dem Fall. Rund 1.500 Menschen,
darunter Prominente wie Herta Däubler-Gmelin
und Heiner Geißler, Dr. Rita Süßmuth, der
ehemalige Bundesinnenminister Rudolph Seiters,
Prof. Lothar Krappmann, Prof. Dr. Klaus Bade,
Wilhelm Schmidt und viele andere, haben einen
neuen, von Heiko Kauffmann (Pro Asyl) initiierten
Aufruf unterschrieben, der die flagrante Verletzung
der Kinderrechtskonvention sowie der Europäischen
Menschenrechtskonvention im Fall der Familie
Siala/Salame beklagt und fordert, Gazale Salame die
Rückkehr zu ihrer Familie zu ermöglichen, von der sie
vor sieben Jahren durch Abschiebung getrennt wurde.
Unsere Hoffnung, dass die schreckliche
Tragödie der Familie bald ein Ende finden könnte,
hat sich jedoch bislang nicht erfüllt: Zwar wird
die älteste Tochter Amira (15) demnächst ein
Aufenthaltsrecht nach § 25a AufenthG erhalten.
Nach wie vor weigert sich das Niedersächsische
Innenministerium aber, dies zum Anlass für eine
Aufnahmeerklärung nach § 22 AufenthG – ähnlich
wie im Fall der vietnamesischen Flüchtlingsfamilie
Nguyen aus Hoya – zu nehmen und der Familie
endlich ein gemeinsames Leben zu ermöglichen.
Selbst der von Gazale gestellte Visumsantrag für
einen Besuchsaufenthalt wurde abgelehnt: Gazale
sei, so die denkwürdige Begründung der deutschen
Botschaft, nicht genügend in der Türkei verwurzelt,
um eine Rückkehr in die Türkei nach Abschluss des
Besuchsaufenthalts zu gewährleisten.
Statt einer Lösung inszenierte die CDU im
Landtag einen Eklat wegen angeblicher Beleidigung
des für die Menschenrechtsverletzungen an der
Familie Siala/Salame verantwortlichen Innenministers: SPD-Fraktionschef Stefan Schostok
hatte Innenminister Uwe Schünemann (CDU)
heftig kritisiert und dabei Wissenschaftler zitiert,
die dessen Flüchtlingspolitik als „institutionellen
Rassismus“ werteten (siehe auch: HAZ 20.06.2012).
Politiker der CDU reagierten darauf empört und
verlangten eine Entschuldigung. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Jens Nacke,
sprach von einer Entgleisung und nannte es
„schmutzigen Wahlkampf “, der Landesregierung
Rassismus vorzuwerfen. Niemand dürfe sich „dazu
hinreißen lassen, dieser Landesregierung Rassismus
vorzuwerfen.“ Die Aufregung um das RassismusZitat würde sich möglicherweise legen, wenn die
besonders lautstark auftretende Männerriege in der
CDU-Fraktion mehr auf eine Auseinandersetzung
mit den Sachargumenten, die zu diesem Vorwurf
führten, setzen würde. Die Reaktion offenbart
nicht nur erhebliche Wissensdefizite zum Begriff des
„institutionellen Rassismus“, sondern macht auch
deutlich, dass zumindest Teile der Landesregierung
nicht bereit sind, sich mit den Argumenten des von
einem sehr breiten und prominenten Kreis von
Unterstützer_innen getragenen Protestes gegen
die Flüchtlingspolitik der Niedersächsischen Landesregierung auseinanderzusetzen.
Die Perspektive, die Uwe Schünemann der
Familie aufgezeigt hat – Besuche der ältesten Tochter
in den Sommerferien und frühestens 2016 eine
Familienzusammenführung – ist jedenfalls nichts als
purer Zynismus. Ob die von der Schünemann’schen
Politik zu verantwortenden Verletzungen an Leib und
Seele sich je wieder heilen lassen, wird die Zeit zeigen.
Die Geschichte der Familie wird uns in jedem Fall
erhalten bleiben – als exemplarisches Beispiel, wie viel
Unmenschlichkeit unser Rechtssystem zuzulassen
bereit ist.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist auf
dem Stand von Juli. Seitdem gab es weitere Kundgebungen und es ist durchaus möglich, dass sich in dem
Fall in den vergangenen Wochen einiges geändert
hat. Wer sich also weitergehend über die aktuellen
Geschehnisse um die Familie Siala informieren
möchte, kann dies in der Hildesheimer Geschäftsstelle
des Flüchtlingsrat Niedersachsen, Langer Garten 23B,
oder auf dessen Internetseite: www.nds-fluerat.org
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Kultur
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K
Diskursarenen und
Havelschwäne
Die sich wandelnde Kreativwirtschaft und ihre alten Umhängetaschen voller Bürokratie bereiteten viel Kopfzerbrechen bei der ersten Pfingstakademie des Instituts für Kulturpolitik der
Universität Hildesheim. Von armen Poeten und einem Sommerschloss in der Mark.
Text & Foto: Martina Krafczyk
inder spielen im Stroh oder tragen aus konservatorisch-kuratorischen Gründen nicht.
Kätzchen umher, während sich die Schließlich ist Paretz bis heute für sein „Schloss
Touristen mit ihren Fahrrädern über Still-im-Land“ bekannt, das Königin Luise und ihr
das Kopfsteinpflaster räkeln. Der Dorfparkplatz ist Gatte Friedrich Wilhelm III. als ihren bürgerlichen
mal wieder voller Ausflugsautos. Der Kioskbesitzer ist Sommerwohnsitz errichten ließen. Doch im Gegensatz
sich sicher, heute seinen Umsatz zu machen. Vielleicht zu Schloss Sanssouci und anderen preußischen Bauten
gewinnt er sogar ein paar neue Gäste für sein zwei ist das Paretzer Schloss eher ein minimalistischer
Kilometer entferntes Strandbad. Auch die Schafscherer Ruhepol als eine repräsentative Sommerresidenz.
Zum Abschluss des Rundgangs
auf dem Erlebnisbauernhof sind
noch eine Gruppenrezitation eines
glücklich. Es ist der 1. Mai und
Gedichtes von Theodor Fontane,
es herrscht Feiertagsstimmung
„Erfüllt in dieser
ein paar Gläser Sekt. Eine gute
bei Sonnenschein und klarem
Maienlust // Eine
Himmel. Einen ersten Eindruck
tiefe Sehnsucht mir
Gruppenatmosphäre für die bevordie Brust.“
von Paretz, einem 400-Seelendorf
stehenden, arbeitsintensiven Tage
war hergestellt.
im westlichen Brandenburg bei
Ketzin, in der Nähe von Potsdam,
gewann ich als Teil der Vorbereitungsgruppe der Von Utopien in der kreativen Arbeitswelt
ersten Pfingstakademie. Der zweite Eindruck folgte
Nach der Gewöhnung ans Dorf bäumten sich die
rund vier Wochen später während der eigentlichen kulturpolitische Krisen auf: Schlecht bezahlte TheaterPfingstakademie, die vom 29. Mai bis zum 1. Juni autoren berichten live, man hörte Schlagwörter wie
stattfand.
„Strukturförderung“ und „Planungssicherheit“. Der
Kaffee und Kuchen mit Freunden und Fremden. Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, Kreativität
Eine Vorstellungsrunde mit Fotos von utopischen und und Kopfzerbrechen zwingt arme Poeten dazu, sich mit
realen Lieblingsarbeitsplätzen. Der erste Kontakt, die der Künstlersozialkasse und einem bedingungslosen
ersten Reden, alles ist gespannt, besonders auf den Grundeinkommen zu beschäftigen.
inszenierten Dorfrundgang. Welcher Bildhauer hat
Die Pfingstakademie stand somit ganz im Zeichen
das Luisen-denkmal geschaffen? War es a) Hans Arp des Projektsemesters „Arbeit (er)finden“, welches sich
– seine dadaistischen und surrealistischen Tendenzen diesen Sommer durch viele Seminare und Arbeitswirkten sich klar auf das Denkmal aus, oder b) Georg gruppen an der Universität Hildesheim zog.
Kolbe – das von ihm geschaffene Luisendenkmal Dabei ist die Frage nach verschiedensten Möglichschmückt heute sogar eine Briefmarke, oder doch keiten eines Berufseinstieges im kreativen Bereich
c) Johann Gottfried von Schadow – für „Die genauso wichtig wie die Begleitung in der weiteren
Prinzessinnengruppe in der Friedrichswerderschen Entwicklung. Neue Jobs und Perspektiven wollen
Kirche in Berlin“ sollen Luise und ihre Schwester nicht nur erfunden werden, sie müssen geprüft und
sogar nackt posiert haben? Eins, zwei oder drei – letzte wenn nötig angepasst werden. Das alte System mit
Chance, vorbei! Das bekannte Kinderspiel diente seinen Umhängetaschen voller Bürokratie trifft auf
zum Abfragen von angesammeltem Wissen, das an ein neues System der Kreativwirtschaft, welches
Stationen wie der Kirche, dem Friedhof oder dem sich netzwerkend verbreitet und ausbaut. Doch ohne
Schloss durch unterschiedliche Aktionen vermittelt das alte kann es nicht existieren. Denn jedes neue
wurde: beim Nachdenken über seine eigene Berufung, Arbeitsfeld benötigt neue Rahmenbedingungen, die
literarischkreativ auf den Spuren von Paretzern mit wiederum nicht losgelöst von dem althergebrachten
ihren verschiedenen Berufen – Ortschronist, Ruhe- System, quasi frei-schwebend,
standspfarrer, Schulze, Ziegeleibesitzer und natürlich
Schlossverwalter – und beim InformationsSpeeddating auf der Wiese nahe dem Schloss.
Auf die eigentliche Schlosswiese durften wir
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pa-pa-paretz. eine pfingstakademie.
alles fake, alles asbest
paulquappen, vogelsang
pfauenschrei, ziegengemecker
motorengeratter, sektperlen
was machen wir mit dem hausboot?
wir loten uns aus
machen yoga, gehen schwimmen
laufen bis ans ende des dorfes
bis ans ende der nächsten stadt
wie dorfidylle dorf und idylle ist
ob gegensatz oder stiftungszwang
stiftungsheiterkeit,
die wellen platschen langsam ans ufer.
ob fontane animiert oder
spuren im sand bleiben,
wasser wird sie wegspülen.
aber der ein-druck bleibt doch:
stechuhr, arbeitswut, brutto-sozial-produkt,
harder, better, faster, stronger
und noch ein antreiber
angetrieben von uns selbst und
sandkörnern im getriebe.
barfuß und blind,
dunkel und viel,
til schweiger – wurde abgelehnt,
am theater.
in der diskursarena von schlagenden
argumentwellen unterbrochen und überrollt,
das haifischbecken öffnet sich,
die zähne fletschen,
ring frei
(für den hahnenk(r)ampf).
institutsinsolvenz?
schulterklopftheater und den nagel
ins bühnenbild schlagen.
planungssicherheit
burn out.
das sonderproblem kulturarbeit,
über dem stetig das damoklesschwert hängt.
über wem hängt es noch?
über – lebenskunst.
über – arbeitswelt.
über – dir mir.
wenn autobahnen zu dorfstraßen
werden, durch neues kopfsteinpflaster
getragen und damit immer
noch lärm erzeugen.
konstruiert werden können. Erst, wenn dies zusammengetragen und beleuchtet wurde, hatte noch
bedacht ist, gibt es die Möglichkeit, dass Künstler mit der Feststellung dessen zu tun, was eigentlich das
von ihrer Kunst leben können.
alte System ausmacht und wo seine Probleme liegen.
Wie solche Veränderungen konkret aussehen Doch neben den utopischen Vorstellungen von einem
können, zeigen bisher nur wenige Beispiele. Da gibt neuem System, wurde auch gefordert, was unbedingt
es Existenzgründer, die mit ihrer Idee Kultur und nötig ist: Die politische Umsetzung von HandUnternehmen zusammenbringen wollen: Fabrik- lungsweisen, die dazu führen sollen, dass ein weiter
arbeiter erkunden fotografisch ihren Arbeitsplatz Kulturbegriff als Fundament allen kreativen Tätigen
auf kreative Art und Weise und präsentieren die und ihren Unterstützern dient.
Ergebnisse anschließend in einer
Ein letzter Eindruck von
Ausstellung. Ein anderer kontinuParetz brennt sich ins Gedächtnis,
ierlicher Versuch der Veränderung
Über allem
als die Schlossführung vorbei
des alten Systems besteht im
ist. Von Lustarchitektur war die
schwebt die Frage
Einsatz von Kulturagenten in
Rede, bitte nichts anfassen, die
der finanziellen
Lüfter in den Räumen sollten
Sicherheit.
Schulen (ein Berliner Pilotprojekt),
wohl gar nicht verdeckt werden
die Schulklassen mit Kulturund die Papiertapeten haben
institutionen zur Zusammenarbeit
anregen und sie gegenseitig vermitteln. Doch es ist eigentlich ihr bestes gegeben. Aber so wie das Schloss
nach wie vor schwer, sich den neuen Strukturen der und der Ort uns mit einer leichten Verunsicherung
Kreativwirtschaft vollkommen hinzugeben. Über trotz der Schönheit und Einmaligkeit zurückließen,
allem schwebt die Frage der finanziellen Sicherheit. war die Arbeit während der Akademie mit Idealen
Wäre dafür ein bedingungsloses Grundeinkommen gespickt, die noch unfertig scheinen und bald,
vielleicht auf der nächsten Akademie, zusammeneine Rechtfertigung?
So wurde gebastelt, gegessen, diskutiert, gefragt, gesetzt werden können.
zusammen gekocht, im Gras gelegen und der Ausblick
genossen. Ein Ausblick auf ein dörfliches Leben –
denn so könnte es auch sein – und auf die nächsten
Stunden, Tage, Wochen und Monate. Ein Ausblick
auf die kommenden Semester, in denen sich weiterhin
über Utopien und ihre Realisierbarkeiten unterhalten
werden kann. Vieles, was auf der Pfingstakademie
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Marienburger
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·
Hildesheim
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Woran forschen
Komponisten heute?
Stephan Meier (l.), Prof.
Matthias Rebstock (3. v. l.)
und Studierende des Seminars.
Foto: Andreas Hartmann
Unter dem Motto √Musik = Energie2 findet in diesem Jahr das Musik 21
Festival vom 08. bis 11. November 2012 zum ersten Mal in Hildesheim statt
und untersucht die Grenzen zwischen neuer Musik und Wissenschaft.
Text: Julia Mauritz
M
it der Eröffnung des Symposiums
Komposition und Forschung am
Donnerstag starten wir in das
Festival. Direkt weiter geht es am Freitag mit dem
Eröffnungskonzert und einer anschließenden GetTogether-Party im Nil! In einer Kooperation mit
der Universität Hildesheim ist das Symposium vom
Institut für Musik und Musikwissenschaft initiiert
und wird von Prof. Matthias Rebstock und Dr. des.
Alan Fabian geleitet. Von Donnerstag bis Samstag
erwarten euch auf dem Kulturcampus Domäne
Marienburg spannende Vorträge von Gästen aus
Berlin, New York, Bern und Lugano zu aktuellen
Fragen und Beziehungen zwischen Wissenschaft
und Musik.
Auch Studierende der Universität Hildesheim
und der Hochschule für Musik, Theater und Medien
Hannover (HMTM) werden eigene Beiträge auf dem
Festival präsentieren: Der „Tag der Klänge“ bietet
Gelegenheit am Samstag ihre Klanginstallationen
auf der Domäne Marienburg zu hören. Bereits
vorab, im letzten Semester, haben sich Studierende
mit dem Klang neuer Musik in einem Seminar
beschäftigt und über die Festivalorganisation
und das potenzielle Publikum diskutiert. Unter
dem Titel „Festival Neue Musik 2012. Ansätze
aktueller Musikvermittlung“ wird dieses Seminar
im Wintersemester fortgesetzt. Gastdozent ist
Stephan Meier, der auch die künstlerische Leitung
von Musik 21 Niedersachsen und des Musik 21
Festivals innehat.
Neben weiteren Konzerten bietet das Festival
ein interessantes Rahmenprogramm: Eine kleine
Einstimmung auf das Thema bietet der Filmabend
des Hochschulkinos am Mittwoch, 24. Oktober, bei
dem Dokumentar-Portraitfilme unter anderem über
John Cage oder Iannis Xenakis gezeigt werden.
Einen Einblick in den Bereich zur Gravitationswellenforschung könnt Ihr bei der Exkursion zu
Geo600 in Sarstedt am Samstag, bekommen. Die
Schirmherrschaft für das Festival hat Prof. Dr.
Johanna Wanka, die Niedersächsische Ministerin
für Wissenschaft und Kultur, übernommen.
Alle Studierenden sind herzlich zu den Veranstaltungen eingeladen! Der Eintritt zum „Tag
der Klänge“ beträgt fünf Euro, zu allen anderen
Konzerten gibt es Ermäßigungen für Studierende.
Im Rahmen des Herder Kollegs ist die Universität Hildesheim Kooperationspartner des Festivals.
Gefördert wird es durch Musikförderung in Niedersachsen, Stiftung Niedersachsen, Friedrich Weinhagen
Stiftung, Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur/Kulturelle Zusammenarbeit mit
dem Ausland, British Council, und der Schweizer
Kulturstiftung ProHelvetia.
Das detaillierte Programm und weitere Informationen findet Ihr unter:
www.musik21niedersachsen.de
Besucht außerdem unsere Facebook-Seite:
www.facebook.com/Musik21
Stephan Zum Eröffnungskonzert am 09.
November 2012 um 20 Uhr wird das
Ensemble Laboratorium aus der Schweiz
im Roemer- und Pelizaeusmuseum zu
Gast sein. Die Komponisten geben eine
Konzerteinführung um 19 Uhr.
Foto: Priska Ketterer
Was macht Musik 21 Niedersachsen?
Das Projekt vernetzt Niedersachsens Akteure der Neuen Musik, schafft einen Rahmen für die
künstlerische Weiterentwicklung der Neuen Musik im Bundesland und hat das Ziel, eine große
Hörerschaft zu erreichen. Projektträger ist Musik 21 – Niedersächsischen Gesellschaft für Neue
Musik e.V. mit Sitz in Hannover, zugleich Veranstalter des Festivals Musik 21 Niedersachsen.
Musik 21 Niedersachsen wird gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft
und Kultur. Das Kulturbüro der Landeshauptstadt Hannover fördert Musik 21 – NGNM e. V.
institutionell. Der Kulturpartner ist NDR Kultur.
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Goldrausch
Die Tür ist geschlossen, der Platz verlassen – doch die
Ästhetik des Alltäglichen erzählt mehr als erwartet,
wir müssen nur im Moment der Leere einen Blick
wagen. Von der Abwesenheit und ihren Spuren.
Foto: Claudius Dorner
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Nassmacher
Text & Illustration: Marlene Klünker
Einer will mir an die Kehle!!! Gut, dass ich ihn nicht verfehle,
als ich ihn mit großer Tücke zwischen meine Schenkel drücke.
Jämmerlich erstickt er da, BEISST mich fast noch um ein Haar…
zappelt wild an meinen Waden, doch ich nehme keinen Schaden.
Löwe, Eisberg, Hund und Haie. Ob ich mir das je verzeihe?
War das nicht der pure STUSS? Wann ist mit dem Huren Schluss?
Hoffend, mal so groß zu werden, aus dem Meer mich RAUS zu erden,
WILL ICH SELBST MIR INSEL SEIN!!! (Scheiß drauf, sei sie noch so klein.)
Auf der Insel könnt’ ich warten auf erleuchtete Piraten,
die von Meeresnixen SATT, mir sich nähern durch das Watt.
Warten halte ich für Stärke, will jedoch sofort zu Werke!!!
Rastlos wieder selbst am Ruder bin ich mir Piratenbruder.
Werde immer ungestümer, raube fremde Eigentümer.
„Jede Frau an Heim und Herd ist gefedert und geteert;
weiß nicht, was sie hier VERPASST…“, schreie ich vom höchsten Mast.
Leider weiß ich schon im Schrei: Auf dem Mast bin ich nicht frei.
Wünsche mir ’nen Mann mit Säge, der mit Mut den Mast erlege.
Plötzlich einer (Du vielleicht?), der sich um den Mast anschleicht.
Wunderschön und groß und kühn… DICH mein Freund, lass’ ich nicht zieh’n.
„Hey, Kollege, nimm die Säge, weil ich große Träume hege.“
Mein geiles Schiff der Utopien, ob geklaut oder geliehen,
auf dem Meer, das mich umwässert, hat Kombüsen voller Messer.
In den Nächten STECHEN sie… in die See der Utopie,
unterwegs in einen Hafen, um (mit Dir vielleicht?) zu schlafen.
Mit dem Fernrohr eng am Auge prüfe ich, ob er was tauge.
Ich versuche, zu erkunden, ob er einer von den Hunden,
Haien oder Löwen ist… Einer, der mich doch nur frisst.
Nichts dergleichen wird entdeckt, dieser Mann scheint mir perfekt.
Fröhlich werfe ich die Taue, um das Meer, das tiefe, raue,
für den Landgang zu verlassen und mich willig zu verprassen.
Bietest Du ’nen starken Poller, treibe ich es umso doller,
tausche froh des Meeres Möwen gegen DICH, erhitzten Löwen.
NEIN, verdammt. Er ist aus Eis… HILFE, und er sägt bereits!
Hört nicht auf, mich zu erregen, und ich falle ihm entgegen.
Möwen warnen mich: „Gefahr!“ Derer bin ich mir gewahr:
Eisbergmänner zu erwärmen kann ’ne Frau total verhärmen.
Du zerfleischst mich, das ist klar! Für ’ne Zeit auch wunderbar.
Wird mein Blut dabei zu knapp, leg’ ich besser wieder ab.
Aus dem Hafen auszulaufen braucht zwar hartes Komasaufen,
doch nach wildem Sex mit Tieren heißt es: Schön desinfizieren!
Ehe mich das Eis verletzt, springe ich mir selbst ins Netz.
Nage an verwestem Wal und behaupte: „Scheißegal!“
Männer tun ja doch nur weh, darum bleibe ich auf See…
wild von rechts nach links geweht… Ist das noch die Pubertät?
Während ich betrunken bin, rafft mich so ein Hund dahin.
„Nüchtern hätt’ ich nie mit dem…“, denke ich total beschämt.
Ist mir aber auch egal, denn der nächste Killerwal
bringt mich schon zurück zum Schiff, dafür reicht ein kurzer Pfiff.
Ich bin eins mit zähen Huren: Bunten Gallionsfiguren,
die aus meinem Holz geschnitzt, sitzen, wo es mächtig spritzt!
Vorn am Bug, von Gischt umspült, wird das Wasser aufgewühlt…
Feucht und fröhlich, kalt und hart, stehe ich auf volle Fahrt.
EISBERG, mieser Widersacher! Dich zu treffen ist der Kracher.
Schiffbruch leider ebenfalls; kaltes Wasser bis zum Hals.
Weiter geht es mit den HAIEN. Leider nichts für Liebeslaien.
Haie beißen megascharf… Aber hey, ich hab’ Bedarf.
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Ohrenschmaus
Rezension: Gudrun Kramer
H
in und wieder schaue ich mich nach
neuen Progressive-Rock-Perlen im
europäischen Umfeld um. Irgendwie
vermisst man doch oft den frischen Ton aus der
Ecke komplexer Rhythmen und intellektueller
Halbglatzen. Alles war schon mal da, ob es nun
mit „Canterbury“, „Math“ oder „Kobaïanisch“
etikettiert wird. Dann fliegt mir plötzlich die
Empfehlung einer Band namens Jaked Off Shorts &
Loaded Heads (JOSaLH) ins Haus.
Süddeutschland, schon wieder, denkt sich
vielleicht der ein oder andere Progressive-RockHörer. Mit einem Hauch von Berliner Biographie,
aber doch unverkennbar süddeutsch. Querdenker
wie Panzerballett und Fitzcarraldo haben mittlerweile eine Art bayerisch-schwäbischen Progressive
Jazzmetal gegründet, dem sich JOSaLH wunderbar
anschließen könnten. Das Originelle an dieser
Gruppe ist ihr Computer-generierter Einschlag, der
Vollblutmusikern zuerst gallig aufstoßen könnte,
doch mit etwas Geduld feisten Charme entwickelt.
Zum Beispiel in „Voodoo Goat Sacrifice“ präsentiert
sich die saitenstarke Band als Spaßmacher. Industrial,
Weirdcore, Hardcore, alles kein Problem, irgendwie
kennt man diese Kombinationen von größeren
Bands. Doch plötzlich springt der Frontmann vom
Geschrei in den Sprechgesang und die Band hat
plötzlich eine Art Ska-Moment. Mit digitalen
Hi-Hats, wohlbemerkt. Ein bisschen unbeholfen
wirkt das. Aber der Coolnessfaktor hält das aus
und gegen Ende hat die Platte ihren siebten oder
achten Durchlauf erreicht. Erinnerungen an 90er
Jahre-Filme kommen auf, in denen Crossoverbands
berauschte Ecstasy-Girls und gepiercte Cyberpunks
in Untergrundclubs zum Pogen bringen. Die sechs
Titel haben die Masse von The Dilliger Escape Plan
und den Groove von Soul Coughing. Ruhigere
Momente wie in „Sciaphobia“ lockern die sonst
wuchtige EP auf und sorgen für klug gesetzte
Verschnaufpausen.
Summa summarum ist „Flamingo Room“ eine
dynamische Metal-EP mit leichten Melodieschwächen. Die Jungs von JOSaLH sind jedenfalls echte
Sympathieträger und bemühen sich, nicht den
Kontakt zur (potentiellen) Fanbasis zu verlieren.
Wer Musik made in Germany unterstützen will, der
sollte bei dieser Empfehlung anfangen.
L
ógos, die im griechisch-hellenistischen
Weltgesetz alles durchdringende Weltvernunft, hat eine eigene Tonfarbe.
Sie besitzt sogar unterschiedliche Tempi, die von
largo ma non troppo bis zu vivace con brio reichen.
Also zu neudeutsch: mal sehr ruhig, mal mit
einem wummernden, tanzbaren Beat. Die lockere
Musikerkombo Log.Os vereint Bläser, Gitarren und
Percussions zu einem elektronischen Intermezzo, das
unter die Haut geht.
Die kurzen Stücke sind teilweise im Tempo so
relaxed wie wir sie von Massive Attacks berühmten
Mezzanine-Album kennen, aber erstaunen ebenso
mit tranceartigen Beats, die nur wenige Atemzüge
später durch die Lautsprecheranlage jagen. Durch
die fragmentierten, oft stolpernden Rhythmen
wird man als Hörer die ganze Zeit auf neue
Gipfel phantastischer Klangketten geschleudert.
Dazu kommen die verfremdeten Instrumente,
die sich nach und nach zu einem abstrakten
Geräuschteppich verdichten, über dem dann
und wann ein paar verführerisch gesungene
Worte zu hören sind. Insbesondere „Kyoto“ reißt
einen mit einer losbrechenden Energie von den
Socken, während unter treibenden Drums eine
samtene Männerstimme das Ende der Zivilisation
beschwört.
Und so lautet auch das gesamte Albenprinzip:
Jeder Song scheint zu pulsieren, alles summt und
brummt wie der arbeitende Körper eines
Marathonläufers. Log.Os verschlucken den Hörer
vollständig in ihrem tickenden, langsam zerfallenden Kosmos.
Nur eine einzige Beanstandung gibt es: λόγος
hat eine Dauer von 30 Minuten. Das Gros der zehn
Lieder wirkt wie eine Reihe von Teasern, die auch
noch motivisch in lauter Teilchen zerbröselt sind.
Man sucht nach einem Link zwischen den Tracks,
aber findet ihn nicht.
Mit λόγος ist Log.Os nichtsdestotrotz ein
kreativer Ohrenschmaus gelungen, der vor Ideen
nur so strotzt. Man darf hoffen, dass die Nachfolgeplatte mindestens ebenso unverbraucht und
kreativ ausfallen wird. Und wesentlich länger.
Künstler: Jaked Off
Shorts & Loaded Heads
Album: Flamingo Room
Künstler: Log.Os
Album: λόγος
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Cinematische
Leckerbissen
D
Es weihnachtet
sehr!
Jeden Mittwoch, 20.15 Uhr (Einlass 20 Uhr) Hörsaal 1 oder Audimax
der Universität Hildesheim (genaue Infos bitte den aktuellen Flyern
entnehmen) 1,50 Euro + einmalig 0,50 Euro Mitgliedsbeitrag/
Doublefeature 2,50 Euro
as Hochschul-Kino ist mit fast 30
Jahren die älteste aktive AStAInitiative der Universität Hildesheim.
Jeden Mittwoch in der Vorlesungszeit werden hier
Höhepunkte der Filmgeschichte und des aktuellen
Filmgeschehens gezeigt.
Wir präsentieren euch politisch, gesellschaftlich
oder ästhetisch wertvolle Filme und kooperieren in
Rahmen dessen auch gerne mit anderen Initiativen,
Projekten oder Institutionen. Jeder der mag, kann
uns thematisch passende Filme vorschlagen und so
den Abend mitgestalten.
Unsere Highlights in diesem Semester sind:
„Musik im Technischen Zeitalter“ in Kooperation
mit Musik 21 Niedersachsen als Auftakt des Musik
21 Festivals (8.–11. November 2012), „Take Shelter“
zusammen mit der KHG/ESG, ein HalloweenMusical-Special bestehend aus der „Rocky Horror
Picture Show“ und „Little Shop of Horrors“ sowie
dem traditionellen Weihnachtsspecial mit Glühwein
und Keksen.
Neugierig? Dann kommt doch einfach mittwochabends zu uns und taucht ein in die cineastischen
Tiefen des Wintersemesterprogramms 2012/13.
Wenn ihr Filmwünsche oder Kooperationsvorschläge
habt, dürft ihr euch sehr gerne an uns wenden –
persönlich oder per Mail: hoki@asta-hildesheim.de
Wir freuen uns auf EUCH !
Euer HoKi Team
Wir suchen Verstärkung!
Du bist filmbegeistert, gestaltest gerne Plakate
und bist an der Mitarbeit beim HoKi interessiert? Oder kennst dich mit der Gestaltung
und Verwaltung von Internetseiten aus und
möchtest unser neuer Webmaster werden?
Dann melde dich oder schau mittwochs im
Audimax/H1 vorbei und sprich uns direkt an!
Text & Foto: Hans-Ulrich Borchert
J
„Advent, Advent, ein Studi singt“ – oder liest vor,
improvisiert und zeigt akrobatische Fähigkeiten. Deine
fünf Minuten auf der Bühne gibt dir auch dieses Jahr
das Kulturkafé.
edes Jahr in der Vorweihnachtszeit veranstaltet der AStA in Zusammenarbeit mit aufgenommen wurde. Musikalisch überzeugten
Univent das Kulturkafé. Bei reichlich Glühwein außerdem Franziska Ringe, Singer-Songwriter
findet in der Mensa der Universität Hildesheim ein PeteJones, die Jazzcombo der Uni und die Band
buntes Kulturprogramm statt. Studierende aller Funkin’ Further. Zum Abschluss legten Florian
Fachrichtungen haben hier die Möglichkeit, sich Kochen und sein Kollege Arne Dreske auf.
auf der Bühne zu präsentieren. Das Ergebnis ist Ein genauso abwechslungsreiches Programm soll
dann oft eine Mischung aus Live-Musik, Singer- es auch in diesem Jahr wieder geben. Und darum
heißt es nun wieder: Ob
Songwriter, Zirkus-Artistik,
Gedicht, selbst getex-teter
Improvisationstheater und v. m.
oder
interpretierter
Song,
Auch diesmal wird all das in
Das Kulturkafé
Akrobatik-Einlage, Rezitation
einer weihnachtlich fröhlichen
findet am 29.
aus Faust oder Tango – du
Party enden.
November 2012 ab
bestimmst mit deinem Beitrag,
20.00 Uhr in der
Im letzten Jahr führte
Mensa der Uni
Alexander Polikowski – vielen
was das Publikum beim
Hildesheim statt.
sicherlich aus dem Unikino
Kulturcafé zu sehen und hören
bekommt! Denn das Kulturkafé
bekannt – mit seiner gekonnt
geht in die nächste Runde und
lockeren Art durch das Programm. Den Auftakt machte das russische ihr sollt es wieder mitgestalten. Und natürlich
Volksmusik-Ensemble mit traditionell-russischer brauchen wir wieder einen Moderator und einen
Musik, gefolgt von Hannah, die das Publikum mit DJ für die anschließende Party.
ihrer Harfe in den Bann zog. Für eine gelungene
Egal ob KuWi, Lehrämtler, IIMler, SOP/ORG
Zirkus-Atmosphäre sorgte Gregor Pellacini am oder was auch immer du studierst – wenn dich die
Diabolo. Die Improvisationstheatergruppe Mischpoke Lust packt, beim Kulturkafé in der Mensa auf der
stellte ihre neuen Mitglieder in einem Programm Bühne etwas zum Besten zu geben – egal ob fünf oder
vor, welches vom Publikum mit Begeisterung 20-Minuten-Auftritt – dann melde dich bis zum
1. November 2012 unter www.kulturkafe.de an!
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wir haben
(keine) angst
Kirche macht Kultur
I
Die katholische Hochschul- und evangelische Studierendengemeinde stellen sich vor.
Text & Foto: Björn Stöckemann
In Hildesheim gibt es genau genommen
zwei Hochschulgemeinden: die Katholische
Hochschulgemeinde und die Evangelische
Studierendengemeinde. Wer uns allerdings in der
Braunsberger Straße 52 unweit der Uni aufsucht,
der wird uns als KHG/ ESG kennen lernen. Wir
wollen kooperatives Miteinander statt unbeteiligtem
Nebeneinander. Das heißt aber nicht, dass wir
unsere Wurzeln vergessen. Wir sind katholisch und
evangelisch sowie ökumenisch.
Unser Mitarbeiterkreis setzt
sich aus engagierten Mitgliedern
beider Konfessionen zusammen
und unser Programm richtet sich
an alle Studierenden und Mitarbeiter der Universität sowie der
HAWK.
Das Angebot ist vielfältig:
Sportliches, Kreatives, Politisches und natürlich
Religiöses. Während der Vorlesungszeit organisieren
wir – neben den regelmäßigen Aktionen wie unseren
Gottesdiensten und Andachten, einem Chorprojekt,
der Aktion der Christen für die Abschaffung
der Folter (ACAT) und einem Radioworkshop
26. Freitag:
– auch Angebote wie Podiumsdiskussionen oder
Exkursionen.
Ein zentraler Punkt in unserem Programm sind
die Gottesdienste mit jeweils unterschiedlichen
Konzepten: Von klassisch-liturgisch, experimentell mit
Anleihen aus Kunst und Kultur bis hin zu meditativen
Formaten. Mit solchen spirituellen Impulsen können
wir die Anspannung des Studienalltags lösen, zur
Ruhe kommen und neue Kraft schöpfen.
Besonders wichtig ist uns
auch die Internationalität. So
bieten wir im Café Kolja eine
Plattform für internationalen
Austausch und veranstalten regelmäßig Länderabende, bei denen
ausländische Studierende ihre
Heimat und Kultur vorstellen.
Wir engagieren uns darüber
hin-aus im Notfonds für ausländische Studierende in
Hildesheim e.V., der bei Geldnot mit Beratung und
finanzieller Hilfe zur Seite steht. Pastoralreferent
Clemens Kilian und Hochschulpastorin Uta Nadira
Giesel bieten außerdem Hochschulseelsorge für
alle Lebens- und Glaubensfragen an.
Wanderung zur Obstweinschänke
Ab dem 30.
November
Dezember
jeden Dienstag:
Chor
07. Mittwoch:
Kirchen entdecken: St. Andreas
08. Donnerstag:
20:00 Uhr Schmidts Katzen
09. Freitag:
Mahnwache, Nacht der Lichter
12. Montag:
Literarischer Abend
14. Mittwoch:
Boomwhacker
22. Donnerstag:
Werwolf-Abend
03. Montag:
Adventsfenster, Gemeinsam kochen
28. Freitag:
Europäisches Taize-Jugendtreffen
in Rom
Januar
15. Dienstag
bis 17. Donnerstag:
HAWK-Mensa-Aktion
Das vollständige Programm sowie weitere Informationen
findet ihr auf: www.khg-esg-hildesheim.de
Oktober
ich kann mich nicht entscheiden
ja oder nein oder vielleicht
sind die optionen
die mir bleiben
die mir auf den rücken klopfen
und sagen
alles wird gut
du machst das schon
wir unterstützen dich
außerdem kannst du immer noch wechseln
mach dir keinen stress –
lass die luft raus
der druck singt dir das lied vom tod
Mehr von Martina Krafczyk auf
www.krakauliterarisch.blogspot.de
nur wir sind es
die verstehen und folgen.
nur wir sind es
die am ende davor stehen.
dann fragen wir uns:
war es das wert? war es richtig?
bin ich fertig, was gibt es sonst noch zu tun?
für nichts und wider nichts
sich abkämpfen und bezahlen
entschleunigungstraumata hoch drei
egal wie viele möglichkeiten und module es
gibt wir schaffen das schon
einmal volltanken bitte
nur die ruhe
um weiterzukommen ist vieles nötig
distanz und zugewandtheit
mut und verdrussabbausynonyme
eine mischung aus radikal und sanft
die uns nicht vergessen lässt
wer wir in dem ganzen trubel eigentlich sind
in dem glücksrad
in dem wir uns täglich drehen:
gib mir ein ja
gib mir ein nein
oder ein vielleicht.
Du interessierst dich für Campus-Journalismus und im World Wide Web
fühlst du dich wie zu Hause?
Dann würden wir uns freuen, dich in der NERV-Redaktion als Webmaster_in
unserer neuen Homepage sowie App willkommen zu heißen.
Fragen und Bewerbungen per Mail bitte an die unten angegebene Adresse.
Für die nächste Ausgabe suchen wir
ab jetzt Text- und Bildbeiträge zum
Überthema
„Nebenan“.
Schickt uns eure Ideen einfach an
nerv@asta-hildesheim.de.
Redaktionsschluss ist der 15. Januar 2013.
Aktuelles sowie weitere Informationen
findet ihr auf unserer Homepage
www.nervmagazin.de, unserer Facebookseite
und unserem twitter-Account.
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