Sichtweisen - Landkreis Esslingen

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Sichtweisen - Landkreis Esslingen
Sichtweisen
Heft 10 | Älter werden mit Behinderung
Berichte, Meinungen, Informationen,
Themen aus der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie
Sichtweisen 10/2009
Sichtweisen
Editorial
mit dieser neuen Ausgabe der Sichtweisen erscheint jetzt das Heft mit der Nummer 10, das wir
Ihnen als kleines, aber engagiertes Redaktionsteam hiermit überreichen. Wir, das sind vor allem
Betroffene und ehrenamtlich Engagierte. Die Koordination erfolgt über mich als den Sozialplaner in
der Behindertenhilfe- und Sozialpsychiatrie des
Landkreises Esslingen. Wir hoffen, dass wir mit
Ihnen wieder eine interessierte Leserschaft ansprechen können. Gerne nehmen wir Ihre Anregungen, Kritik und Rückmeldungen entgegen.
Vielleicht haben Sie beim Lesen Lust bekommen,
bei uns mit zu arbeiten oder einmal selbst etwas
zu schreiben.
2007 auch bei den Sichtweisen einen Neuanfang
gemacht. Redaktionsmitglieder sind ausgeschieden, andere erstmals hinzugekommen. Einige
Redakteure standen für Kontinuität und haben
den neuen Teilnehmerinnen und Teilnehmern den
Einstieg erleichtert. Gerade für ein Projekt wie die
Sichtweisen ist solch ein Wechsel nicht einfach
zu gestalten. Er birgt die Gefahr, dass das Engagement „einschläft“ und sich nicht mehr genug
ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
finden. Dieser Gefahr konnten wir gemeinsam
widerstehen. Die Veränderungen werden mit
Erscheinen des Heftes 10 auch durch ein anderes
Layout dokumentiert. Wir hoffen, dass dieses
neue Erscheinungsbild Ihnen als Leserinnen
und Leser zusagt.
Nach der beruflichen Veränderung von Frau Nora
Burchartz, die gemeinsam mit einigen „Volunteers“ das Magazin aufgebaut und eine Vielzahl
von Themen aufbereitet hat, haben wir im Herbst
Auf das Thema „Älter werden mit Behinderung“
haben wir uns rasch verständigt und waren motiviert, Informationen und Artikel zu sammeln. Der
Schwerpunkt unseres Heftes hat somit nicht nur
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Älter werden mit Behinderung
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Sichtweisen 10/2009
in Fachkreisen der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie eine gewisse Aktualität inne.
Mitglieder der
„Sichtweisen“
im Eingangsbereich
Bedingt durch den schrecklichen Holocaust unter
der Naziherrschaft erreicht erst jetzt eine größere
Zahl unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger mit
Behinderungen das Rentenalter, Ältere stellen bislang die Ausnahme dar. Mit alt gewordenen Menschen mit Behinderungen gibt es in Deutschland
noch kaum Erfahrungen. Ihre Lebenswelten, ihre
Bedürfnisse und Wünsche sind noch wenig bekannt bzw. erforscht. Das vorliegende Heft
möchte aus unterschiedlichen Blickwinkeln einen
kleinen thematischen Beitrag leisten, aus fachlicher Sicht, aus persönlicher Betroffenheit und aus
der Perspektive von Angehörigen. Aufschlussreich
und sehr anschaulich sind meines Erachtens die
Interviews mit Betroffenen und Fachleuten. Das
aktuelle Heft wird in Anknüpfung an alte Traditionen durch einen Infoteil und durch Artikel zu beratenden und helfenden Diensten ergänzt.
des Johanniterstifts
in Plochingen –
dem langjährigen
Domizil von
Redaktionsbesprechungen.
Im Namen des Redaktionsteams danke ich allen
Mitwirkenden, den Co-Autorinnen und -Autoren
für die interessanten Beiträge, den Redaktionsmitgliedern und besonders meiner Praktikantin
Frau Kerstin Junginger, die wesentlich zum Erscheinen dieses Heftes beigetragen hat, für die
Vorarbeiten und konstruktiven Impulse.
Liebe Leserinnen und Leser, Ihnen wünsche ich,
dass Sie dem Heft 10 mit Interesse und Neugier
begegnen.
Ihr Michael Köber
Inhalt
Vorwort...........................................................2–3
Die Redaktion stellt sich vor ...................4–5
Älter werden mit Behinderung.............................
Aufbruch in die Dritte Lebensphase .......6–7
Fachlichkeit in der Lebensbegleitung
von Menschen, die als geistig
behindert gelten, mit Demenz..............8–10
Die Sicht einer Familie ..............................11
Erfahrungen aus dem Wohnbereich
der Lebenshilfe Esslingen...................12–13
Texte „Älter werden“ ...............................14
Was ist doch
aus meinem Kind geworden ....................15
Wenn ich einmal alt wär .....................16–17
Die Bedeutung von Erinnerungen
für autistische Menschen ...................18–20
Interviews ...........................................................
mit Annerose Klingmann ....................20–21
mit Bewohnern
der Lebenshilfe Esslingen ..................22–25
mit einem Besucher des Zentrums
für Arbeit und Kommunikation ...........26–28
Sichtweisen 10/2009
mit Dr. Martin Roser...........................29–32
mit Klaus Dinter..................................33–34
Gedicht Depression..................................34
Infoteil ..................................................................
Regionaltag ........................................35–37
Stadtteilgang in Nellingen ........................38
Tage der Menschen
mit Behinderungen...................................39
Gustav Mesmer .................................40–41
Garrincha ..................................................42
Beratende und helfende Dienste
im Landkreis Esslingen ................................
Beratungsstelle für Ältere
und deren Angehörige..............................43
FUGE........................................................44
Wohnberatung –
auch ein Thema für Menschen
mit Handicap ............................................45
Marktplatz............................................................
Büchermarkt & Reisen .......................46–49
Impressum.................................................5
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Sichtweisen
Die Redaktion stellt sich vor
Michael Köber
Die „Sichtweisen“ sind ein
Forum für einen Gedankenund Erfahrungsaustausch
zum Leben mit Behinderungen. Kreativität, Ideenvielfalt,
persönliche Verbundenheit
und Begeisterung zeichnen
das kleine Redaktionsteam
aus. Die gemeinsame Arbeit bereitet mir Freude,
sie stellt eine besondere Ebene in den Aufgaben
der Behindertenhilfe- und Psychiatrieplanung dar.
Die „Sichtweisen“ regen für Veränderungen an,
sie bilden Erfahrungen aus dem Alltag von Menschen mit Behinderungen ab. Ich bin auf die
nächsten Ausgaben gespannt.
Annerose Klingmann
Über die neue Ausgabe der
Sichtweisen freue ich mich
besonders, weil ich von Anfang an dabei bin. Ich bin
selbst durch Behinderung betroffen und engagiere mich
bei den Sichtweisen, weil
mir der Austausch mit anderen Menschen wichtig ist und ich etwas Positives
für behinderte Menschen beitragen möchte. Ich
war früher sehr aktiv bei der „Amsel“ tätig, über
die ich dann zu den Sichtweisen gekommen bin.
Die Arbeit bei den Sichtweisen ist mir sehr wichtig
und ich wünsche mir, dass noch viele Ausgaben
dazu kommen, an denen ich mitarbeiten kann.
Martina Bell
Die zehnte Ausgabe ist
„meine“ dritte Ausgabe.
Und es macht immer noch
Spaß. Die Artikel unterschiedlichster Menschen,
die Redaktionsmitglieder,
die Unterhaltungen, das Erscheinen des Heftes – viele
Dinge, die die Sichtweisen für mich spannend machen. Mittlerweile habe ich die Rubrik Reisen und
Bücher übernommen und ich hoffe, dass ich ein
paar gute Anregungen geben kann, rund ums Reisen und Lesen, die Lust auf mehr machen.
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Daniela Goth
Ich bin 38 Jahre alt und
mehrfach behindert,
gehe seit 2004 in eine
Werkstatt in Zell!
Ich möchte auf die Lebenssituationen behinderter
Menschen hinweisen.
Es beschäftigt mich besonders, dass behinderte Menschen so große
Probleme haben, Arbeit zu finden. Über Integration darf nicht nur gesprochen werden.
Handeln ist angesagt!
Irmtraut Altenmüller
Aus meinem Berufsleben
heraus habe ich noch viele
Kontakte zu Menschen mit
Behinderungen, zu einigen,
die einmal meine Schüler
waren, ab und zu auch
zu anderen.
Seit einigen Jahren arbeite
ich bei den „Sichtweisen“ mit. Ich möchte in
meinen Beiträgen nicht über Menschen mit
Behinderungen schreiben, sondern ich möchte
mit ihrer Hilfe dazu beitragen, dass sie selbstverständlich anerkannt in ihrer Art und als Mensch
geachtet, unter uns leben können.
Manfred Tretter
Mit der Literatur bin ich
in fremden Ländern und
anderen Zeiten schon ganz
schön weit herumgekommen. Von Jugend an begleiten mich Bücher. Im Beruf
gab es viele Gelegenheiten
für mich zum fachbezogenen Schreiben. Jetzt entdecke ich die vielfältigen
Anregungen aus dem Bereich des kreativen
Schreibens, um zur eigenen literarischen
Produktion zu gelangen.
Für die „Sichtweisen“ fühle ich mich doppelt
vorgeprägt: Ich bin blind und kann mich als
behinderter Mensch äußern und ich kann
meine beruflichen Erfahrungen aus der Sozialarbeit damit verbinden.
Sichtweisen 10/2009
Kerstin
Junginger
Ich studiere Soziale Arbeit an
der Evangelischen Fachhochschule Ludwigsburg und war
bis August im Rahmen meines Praxissemesters
im Landratsamt bei der Behindertenhilfe- und Psychiatrieplanung tätig. Für mich ist die Mitarbeit bei
den Sichtweisen eine sehr spannende Aufgabe.
Vor allem die Zusammensetzung der Redaktion
mit den unterschiedlichen Persönlichkeiten und
Zugängen zu der Thematik empfinde ich als sehr
wertvoll.
Wenn Sie uns schreiben wollen oder wenn Sie
Fragen zu unserem Projekt haben, wenden Sie
sich bitte an die
Telefon
(0711) 3902-2634
Sekretariat
(0711) 3902-2503
Markus Pelkmann
Computerspezialist in der
Softwareentwicklung. Ich bin
48 Jahre alt, verheiratet und
lebe seit 2001 mit meiner
Familie in Ostfildern, Scharnhauser Park. Unser 10-jähriger Sohn Dennis ist aufgrund einer seltenen Stoffwechselkrankheit von Geburt an mehrfach behindert. Ich bin vor ca.
1 ½ Jahren zur Redaktion der „Sichtweisen“
gestoßen und werde versuchen, meine Erfahrungen und „Sichtweisen“ einer betroffenen
Familie in die jeweiligen Themen einzubringen.
E-Mail:
Koeber.Michael@lra-es.de
Neumann.Dagmar2@
lra-es.de
Marco Heinz
Altenpfleger und kreativer
Ausdauersportler. Durch
meinen Beruf als Altenpfleger erfahre ich viel über
Menschen, die mit Einschränkungen leben müssen. Neben der Altenpflege
fasziniert mich der Sport.
Zu meinen sportlichen Ideen gehören ein „Netz“
von Fahrradtouren und Wanderungen durch
Deutschland und Teile der Nachbarländer und
zwei Schwimmreisen mit Gepäck auf einem Surfbrett im Schlepp in Bodensee und Lahn. Bei den
Sichtweisen interessieren mich insbesondere
historische Themen.
MitarbeiterInnen:
Irmtraut Altenmüller, Martina Bell,
Daniela Goth, Marco Heinz, Annerose Klingmann, Kerstin Junginger,
Markus Pelkmann, Manfred Tretter
Sichtweisen 10/2009
Redaktion
»Sichtweisen«,
Michael Köber
c/o Dagmar Neumann
Landratsamt Esslingen
73726 Esslingen
am Neckar
Sichtweisen 10 2009
ein Projekt der Behindertenhilfeund Psychiatrieplanung
des Landkreises Esslingen
Herausgeber:
Landratsamt Esslingen
Redaktion:
Gesamtverantwortlich:
Michael Köber
Satz und Gestaltung:
www.logowerbung.de
Abbildungsnachweise:
Landratsamt Esslingen (1, 2, 17, 28,
43, 50), Michael Köber (3), Lebenshilfe Esslingen (12, 13, 18, 22, 23,
24, 25, 34), ARBES (35, 36, 37),
Jürgen Zimborski (38), Stefan Hartmaier (40, 41), Stadt Esslingen (45)
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Aufbruch in die Dritte Lebensphase
„Jeder Mensch möchte alt werden, aber niemand möchte alt sein.“
Wenn über das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung im Alter gesprochen wird – ein
Thema, das aufgrund der Besonderheiten unserer
deutschen Geschichte ziemlich neu ist und das
uns zu überfordern scheint – dann könnte man
manchmal den Eindruck gewinnen, dass für sie
dieser Spruch aus dem Volksmund in besonderer
Weise zu gelten scheint. Denn in der Regel werden dann die Gesichter lang, die Stirnen gerunzelt, die Stimmen besorgt. Es ist vom Abbau die
Rede, vom „altersbedingten Pflegeaufwand“ und
wenn es um die Suche nach Lösungen geht, von
„tagesstrukturierenden Maßnahmen“.
Natürlich, auch bei Menschen mit geistiger Behinderung nehmen im Alter die Gebrechen tendenziell zu. Auch sie werden vielleicht vergesslicher,
brauchen für manches mehr Zeit, dafür umso häufiger den Arzt.
Aber wäre es nicht eigentlich auch schön, wenn
man es mal so sehen könnte:
Im Alter muss Herr Müller nicht mehr jeden Tag
zum Arbeiten gehen, also auch nicht zwangsläufig
um sechs Uhr aufstehen. Endlich hat er Zeit, mal
wieder einen alten Freund anzurufen – oder vielleicht auch zu besuchen? Mittwochs nachmittags
gibt es einen Malkurs in der Volkshochschule, den
kann Herr Müller jetzt auch endlich besuchen. Die
Kursleiterin setzt sich manchmal zu ihm, sieht ihm
über die Schulter und ruft aus: „Herr Müller, Herr
Müller, wie konnten Sie nur all die Jahre Ihre Begabung so vor der Welt verstecken und nicht
malen?“ „Ich wusste ja gar nicht“, sagt dann Herr
Müller, „dass ich die habe.“ Dabei zwinkert er
Frau Schmidt am Nebentisch zu, eine nette ebenfalls ältere Dame, die er hier im Malkurs kennen
gelernt hat. Hin und wieder gehen die beiden
zusammen einen Kaffee trinken, und vielleicht
wollen sie im Herbst sogar gemeinsam an einer
Städtereise nach Wien teilnehmen.
Eine Sozialromanze, die mit der Lebenswirklichkeit von alten Menschen mit geistiger Behinderung nichts zu tun hat? Da ist was dran, die Frage
ist nur, woran das eigentlich liegt. Wenn Menschen mit Behinderung nach ihrer Pensionierung
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nicht so leben können, dann dürfen wir das nicht
vorschnell damit erklären, dass das nun mal an
ihrer Behinderung läge. Oder vielleicht doch, aber
Sie wissen ja: „Behindert ist man nicht, behindert
wird man.“ Wer oder was behindert Menschen
mit geistiger Behinderung also an einem Leben,
das sich so ähnlich gestaltet wie dasjenige von
dem erfundenen Herrn Müller?
Nun, fangen wir mal bei der eigenen Nase an:
Es sind zum Teil sicherlich die Einrichtungen für
behinderte Menschen, die sich manchmal eher
von dem Gedanken leiten lassen, wie die nach
dem Ausscheiden aus der WfbM entstandene
„Versorgungslücke“ zu füllen ist. Die Herrn Müller
nicht ausschlafen lassen, denn um 8:15 Uhr beginnt ja die „tagesstrukturierende Maßnahme“.
Diese versorgt Herrn Müller, bis der reguläre
Gruppendienst des Wohnheims ihn dann übernimmt. Ein Besuch des Malkurses der VHS wird
gar nicht erforderlich, denn Angebote im jahreszeitlichen Basteln finden ja auch regelmäßig in der
Tagesgruppe statt.
Ich bin mir der Polemik meiner Worte durchaus
bewusst, aber es fällt mir auch nicht schwer, nun
mit Blick auf die kommunale Seite ausgleichende
Gerechtigkeit walten zu lassen: Denn der KVJS
setzt in Sachen „Behinderung“ noch eins drauf
und empfiehlt Herrn Müller – und zwar als Ausdruck von „Normalität“ und zur Deckung seines
„altersbedingten Pflegeaufwands“ – den Umzug
ins „Fachpflegeheim“. Am geschicktesten wäre
dieser Umzug direkt nach dem Ausscheiden aus
der Werkstatt. Wir drücken dabei mal ein Auge zu,
dass das nicht ganz der „Normalität“ entspricht
(denn das durchschnittliche Aufnahmealter im
Pflegeheim liegt derzeit schon bei mehr als 85
Jahren). Der Betreiber des benachbarten Altenpflegeheimes freut sich übrigens über den Vorschlag des KVJS, denn in seinem Haus stehen ohnehin viel zu viele Betten leer. Und als Zeichen
des guten Willens zur Einstellung auf die neuen
fachlichen Anforderungen bringt er an seiner im
Augenblick ungenutzten Station schon einmal ein
Schild mit der Aufschrift „Fachpflegeheim für
Menschen mit geistiger Behinderung und/oder
psychischer Erkrankung“ an.
Sichtweisen 10/2009
Im Ernst: die von manchen schon als „Last-Minute-Inklusion“ bezeichnete Idee des Fachpflegeheims wird sich hoffentlich nicht durchsetzen,
denn sie beraubt Menschen mit Behinderung
nicht nur ihres Anspruchs auf Teilhabe, sie ignoriert einfach auch die Erkenntnis, dass man einen
alten Baum nicht verpflanzt. Warum sollte denn
gerade für Menschen mit geistiger Behinderung
die Zielsetzung nicht gelten, ihnen ihren Wohnort,
der Heimat bedeutet, wo immer es irgendwie
geht, zu erhalten?
Als einziger Grund für eine Ausnahme von diesem Prinzip käme eine Situation im Einzelfall in
Frage, in der ein Bedarf an medizinischer Behandlungspflege besteht, der so erheblich ist, dass die
Einrichtung, in welcher der behinderte Mensch
bisher gelebt hat, von sich aus erklärt, dass sie
diesen Hilfebedarf nicht mehr decken kann (und
sie sollte sich eine solche Erklärung überhaupt
nicht leicht machen, denn selbstverständlich sind
Einrichtungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen auf Pflege eingestellt, und das
nicht erst im Alter). Die Rechtslage ist hier übrigens eindeutig: die „Verlegung“ eines behinderten Menschen in ein Pflegeheim gegen seinen
Willen kann nach § 55 SGB XII, wenn überhaupt,
nur dann in Frage kommen, wenn die bisher betreuende Einrichtung eine solche Erklärung abgibt. Wenn Sozialhilfeträger (bislang gottlob nur
im Einzelfall) Wohnheimbewohner ab – sagen wir
mal – 55 Jahren systematisch daraufhin überprüfen wollen, ob überhaupt noch ein Bedarf an Eingliederungshilfe besteht oder ob nicht schon „die
Pflege im Vordergrund stünde“, dann ist das nicht
nur rechtswidrig. Ich finde es auch beschämend.
Der Gesetzgeber hat es übrigens an anderer
Stelle mit Herrn Müller auch nicht sehr gut gemeint und behindert ihn dadurch, dass er vor ein
paar Jahren den so genannten „Zusatzbarbetrag“
für Heimbewohner abgeschafft hat. Im Klartext:
von seiner Rente darf Herr Müller jetzt nichts
mehr behalten. Was ihm einzig bleibt, ist ein monatliches Taschengeld von wenig mehr als 90
Euro, von dem er auch noch immer häufiger Medikamente bezahlen muss, welche die Krankenkasse nicht mehr übernimmt. Ein gelegentlicher
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Kaffee wird vielleicht noch drin sein. Der Malkurs
ist schon grenzwertig, und für die Wienreise wird
es ganz sicher nicht mehr reichen.
Sie finden, ich habe nun genug gelästert und
könnte mal positiv formulieren, worauf es
für Herrn Müller ankommt? Da will ich es
kurz machen:
1. Herr Müller muss auch im Alter selbst entscheiden, wo er wohnen will. Das gilt übrigens
auch, wenn er bislang nicht im Wohnheim
lebte, sondern ambulant betreut in der eigenen
Wohnung. Auch dort soll er so lange bleiben
können, wie er es wünscht. Wenn es trotz aller
ambulanten Unterstützung einmal nicht mehr
gehen sollte, kommt er dann in ein Heim für
behinderte Menschen oder „ins Pflegeheim
nebenan“? Fragen wir ihn doch einfach selbst,
was er will!
2. Ein „Fachpflegeheim für Menschen mit Behinderung“ brauchen wir nicht. Bestehende
Wohneinrichtungen für behinderte Menschen
sind, wo dies noch nicht geschehen ist, räumlich, ausstattungsmäßig und personell so zu
qualifizieren, dass sie auch einen ansteigenden
Pflegebedarf ihrer Bewohner decken können.
3. Betrachten wir das Alter von Herrn Müller als
Chance zur Inklusion, zur gesellschaftlichen
Teilhabe. Hierzu bedarf er nicht so sehr einer
Versorgung in „tagesstrukturierenden Maßnahmen“, sondern individueller Möglichkeiten der
Teilhabe an Angeboten in seiner Heimatgemeinde. Realistisch kann das nur dann funktionieren, wenn professionelle Begleitung und
bürgerschaftliches Engagement miteinander
vernetzt werden. (Die Begleitung zu einer
Tasse Kaffee ist nicht immer eine anspruchsvolle heilpädagogische Aufgabe.)
4. Am wichtigsten für Herrn Müller ist ohnehin
Frau Schmidt. Sie wünsche ich ihm mehr als
alles andere.
Rudi Sack, Geschäftsführer
der Lebenshilfe Baden-Württemberg
7
Fachlichkeit in der Lebensbegleitung von Menschen,
die als geistige behindert gelten, mit Demenz.
Als die Literaturnobelpreisträgerin, Pearl S. Buck im
Jahr 1950 ein Buch über ihre kognitiv beeinträchtigte
Tochter herausbrachte, gab sie der schmalen englischsprachigen Originalausgabe den Titel „The Child
Who Never Grew“[1]. Seltsam alterslos erschien der
Schriftstellerin sogar noch die zur Frau Herangewachsene. Ein Arzt versicherte ihr, nie könnten Menschen
mit angeborener geistiger Behinderung intellektuell
über die Gedankenwelt eines Vorschulkindes hinausgelangen und nie würden sie aller Voraussicht nach
ein hohes Lebensalter erreichen.
Mittlerweile ist die Lebenserwartung dieser Menschen, die sich selbst als Menschen mit Lernschwierigkeiten[2] bezeichnen, deutlich gestiegen.
Die Sterbeziffern näheren sich denen der Gesamtbevölkerung an.[3]
Unterstützungssysteme für Menschen mit Lernschwierigkeiten und oft auch mehrfacher Behinderung[4] sind also gehalten, sich auf den demographischen Wandel mit einzustellen. Sie sind gehalten,
die Erfahrungen, die sie mit Menschen mit so genannter geistiger Behinderung machen konnten,
nämlich, dass diese Menschen selbstverständlich
einen Erwachsenenstatus erreichen können, auch
auf die Phase des Alterns zu übertragen. Und sie
sind darüber hinaus gehalten, sich mit einer möglichen Erkrankung im Prozess des Alterns auseinanderzusetzen, die auch Menschen mit Lernschwierigkeiten/mehrfacher Behinderung betreffen kann,
nämlich mit Demenz. Von dieser Form der Erkrankung sind Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung prozentual ähnlich stark betroffen, wie Nichtbehinderte, eine Ausnahme bilden Menschen mit
einem Down-Syndrom, die demgegenüber ein
deutlich erhöhtes Risiko aufweisen, an Demenz zu
erkranken.[5]
Was dies für die Fachlichkeit bedeutet, sei im Folgenden anhand eines Fallbeispiels[6] erläutert:
Herr H. lebte bis vor wenigen Jahren in einer offenen Wohngruppe mit anderen Menschen mit eher
leichten kognitiven Beeinträchtigungen im Rahmen
einer Großeinrichtung. Auf einer anderen Wohngruppe in der Einrichtung hatte er die Funktion eines
Haushaltsmitarbeiters inne. Er übernahm selbstän-
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dig Einkäufe, führte einfache handwerklich Reparaturen durch (Glühbirnenwechsel, Aufhängen von Bildern, etc.), stets zur Zufriedenheit der MitarbeiterInnen. Die „Entlastung“ von dieser Tätigkeit erfolgte
für ihn abrupt und unfreiwillig aufgrund einer Umstrukturierungsmaßnahme. Schon bald bemerkten
die MitarbeiterInnen der Wohngruppe, in der Herr
H. lebte, Veränderungen an ihm. Er wurde vergesslich. Auch fielen ihm immer öfter Worte, die er zuvor
problemlos aus dem Gedächtnis abrufen und aussprechen konnte, nicht mehr ein – ein Umstand, der
ihn zusehends ungeduldig mit sich und anderen
werden ließ. Während eines Ausflugs zeigten sich
bei Herrn H. nun auch zeitliche und räumliche Orientierungsprobleme, so musste er sich mehrfach nach
dem Tagesplan erkundigen und fand nach einem Toilettengang in einer Gastwirtschaft nicht mehr allein
zur Gruppe zurück. Nach einiger Zeit traten die
räumlichen Orientierungsschwierigkeiten auch in
seinem gewohnten Umfeld auf. Er konnte nicht
mehr den Weg ins nahe gelegene Einkaufszentrum
finden. Die MitarbeiterInnen unterbanden somit ein
selbständiges Einkaufen. Bald gelang auch die Orientierung auf dem Außengelände der Einrichtung
nicht mehr. Es erfolgte die Verlegung in eine Wohngruppe mit höherer personaler Ausstattung. Herr H.,
der noch vor zwei Jahren im lebenspraktischen Bereich über hohe Kompetenz verfügt hatte, kleidete
sich unvollständig, mochte sich aber nicht beim Ankleiden helfen lassen, auch vergaß er zuweilen,
dass er etwas gegessen hatte und forderte erneut
eine Mahlzeit, zudem wurde er inkontinent. Nach
Aussagen der MitarbeiterInnen nahmen Verwirrtheit
und motorische Unruhe im nächsten halben Jahr
auf der neuen Wohngruppe stetig zu. Mittlerweile
gab er lediglich noch Satzfragmente von sich, wie
„arbeiten, arbeiten…“, oder „Cola kaufen…“, oder
„sortieren, sortieren …“. Nach einem schweren
Sturz, bei dem sich Herr H. eine Platzwunde zuzog,
wurde eine nächtliche Fixierung diskutiert und nachdem Herr H. mehrfach gelungen war, die Wohngruppe unbegleitet zu verlassen, wurde sogar eine
vorübergehende Fixierung bei Tag in Zeiten personeller Unterbesetzung gefordert.
Das Zusammenspiel zwischen Herrn H. und den
MitarbeiterInnen der Einrichtung kann nicht als optimal betrachtet werden. Einige Aspekte sollen hier
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angesprochen werden, die in der professionellen Arbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten / mehrfacher Behinderung und Demenz bedacht werden
müssen.
Differentialdiagnostik: Eine sorgfältige differentialdiagnostische Abklärung erweist sich als notwendig, da Demenzen in Zusammenhang mit spezifischen Erkrankungen wie z. B. Tumoren oder Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems unter Umständen rückbildungsfähig sind, während
Demenzen vom Alzheimer Typ (DAT) sowie Multi-Infarkt-Demenzen (MID) von medizinischer Seite aus
lediglich in ihrem Voranschreiten abgemildert werden können. Im Fall von DAT oder MID erweist sich
der Verlust kognitiver Fähigkeiten als gering beeinflussbar, während jedoch auf die sekundär sich entwickelnden psychosozialen Probleme durch fachgerechte heilpädagogische und sozialpädagogische Interventionen deutlich eingewirkt werden kann.[7]
Diese Differentialdiagnostik mit Menschen mit geistiger Behinderung durchzuführen, erfordert eine
enge Kooperation zwischen Fachkräften der Medizin und der Behindertenhilfe.
Erfassen von Stärken: Die Fallgeschichte des
Herrn H. erzählt sich schnell als eine Geschichte des
Verlustes, eine Geschichte der zunehmenden
Sprachlosigkeit, Verwirrung, Desorientierung. Gerade hier gehört es entscheidend zur Fachlichkeit
von MitarbeiterInnen der Behindertenhilfe, den Blick
auch immer wieder gerade auf die Stärken zu richten. Denn über Stärken verfügt Herr H. durchaus.
Immer noch interessiert sich Herr H. für das Einkaufen („Cola kaufen…“), er will weiterhin eine anerkannte Tätigkeit leisten („arbeiten, arbeiten …), sein
Ankleiden selbst durchführen, er fordert Essen, außerdem ist er in Bewegung.
Bildung: Eine Heilpädagogik, die sich ausschließlich am Paradigma des Förderns orientiert,
hat dem Faktum einer Demenz nichts entgegenzusetzen. Ein ganzheitlich ausgerichteter Bildungsbegriff jedoch geht über den Aspekt des Förderns weit
hinaus. Der Humboldtsche Bildungsbegriff – in der
Zusammenfassung von Hartmut v. Hentig – definiert: „Bildung sei die Anregung aller Kräfte eines
Menschen, damit diese sich über die Aneignung der
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Welt in wechselseitiger Ver- und Beschränkung harmonisch proportionierlich entfalten und zu einer sich
selbst bestimmenden Individualität oder Persönlichkeit führen, die in ihrer Idealität und Einzigartigkeit
die Menschheit bereichere“[8]. Wenn Bildung als unteilbar[9], d. h. für alle Menschen zugänglich, angesehen werden sollte, dann bedeutet es für die Fachlichkeit in der Behindertenhilfe, diesen Ansatz auf
die Situation von Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz zu übersetzen. Bildung ist hier
ganzheitlich aufgefasst, es geht um die Anregung
von Kräften im Sinne eines Empowerment[10] also
um Selbstbestimmung, wobei Selbstbestimmung
nicht autonomes Handeln voraussetzt. Fachliche Assistenz, auf die ein Mensch mit geistiger Behinderung und Demenz angewiesen ist, kann vielmehr
eine Bedingung dafür sein, dass Selbstbestimmung
sich entfalten kann. Betont wird bei Humboldt die
Anregung aller Kräfte, also nicht nur derjenigen, die
sich in eine Institution stromlinienförmig einfügen.
Hier gilt es, bei den Interessen von Betroffenen, bei
ihrer Individualität und Persönlichkeit anzusetzen.
Herr H. zeigt für ein Bildungsangebot zahlreiche Ansatzpunkte. So hätte ein Bildungsangebot, das den
Übergang in den Ruhestand zum Thema macht,
Herrn H. sicherlich unterstützen können, Alternativen zu entwickeln.[11] Später hätte ihm begleitetes
Einkaufen unter Zuhilfenahme von Fotos der gewünschten Lebensmitteln seine Fähigkeiten und
Neigungen in diesem Bereich noch über einen langen Zeitraum hinweg erhalten können. Auch hätte
er zu kleineren Hilfestellungen im Alltag, wie z. B.
beim Anbringen von Bildern an einer Pinwand in der
Wohngruppe hinzugezogen werden können. Hilfsmittel an seiner Kleidung, wie beispielsweise Klettverschlüsse, hätten ihm noch länger die Selbstständigkeit beim Ankleiden ermöglichen können. Kochen im Alltag der Gruppe mit allen Sinnen, das Abschmecken und das Kosten zwischendurch
verlängern den Essvorgang und könnten möglicherweise für deutlicheres Gefühl von Sättigung
sorgen.[12] In der Phase der leichteren Demenz hätte
ein Realitätsorientierungstraining[13] (ROT) die zeitliche und räumliche Orientierung erleichtert. Während
in der Phase der sich verstärkenden Demenz die
Methode der Validation[14], welche insbesondere
darauf abzielt, dass Fachkräfte Betroffene in ihrem
Gefühlserleben verstehen und begleiten, Herrn H.
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Fachlichkeit in der Lebensbegleitung von Menschen,
die als geistige behindert gelten, mit Demenz.
geholfen hätte, etwas besser mit den Gefühlen von
Verärgerung und wohl auch mit seinen Ängsten umzugehen. Gut ausgebildete Fachkräfte der Behindertenhilfe, die wissen, dass Menschen mit geistiger
Behinderung und Demenz bis zuletzt bei ihren Bedürfnissen abgeholt werden können, sei es durch
das Bildungsangebot der basalen Stimulation[15],
welches insbesondere über Berührung Betroffenen
hilft, den eigenen Körper in angenehmer Weise zu
spüren, oder der basalen Kommunikation[16], welche
die nicht-sprachliche Verständigung festigt, erleben
sich in der Arbeit als handlungsfähig und durch die
Arbeit mit Betroffenen durchaus bereichert.
Problem der Fixierung: Fachlich versierte
Kräfte wissen, dass eine Fixierung nur bei Gefahr für
Betroffene bzw. Dritte gerechtfertigt werden kann.[17]
Aus der Forschung hinsichtlich der Sturzprophylaxe
sollte mittlerweile bekannt sein, dass Fixierung bei
Gangunsicherheit eben gerade keine geeignete Vorbeugemaßnahme darstellt, sondern dass im Gegenteil ein stetig durchgeführtes Gehtraining zur Erhaltung der Gehfähigkeit wesentlich beiträgt.[18]
Wohnen: Gemeindenahes Wohnen in kleinen
Gruppen von vier bis höchstens acht Bewohnerinnen und Bewohnern mit Lernschwierigkeiten /
mehrfacher Behinderung gerade für ältere behinderte Menschen und gar für behinderte Menschen,
die auch noch von Demenz betroffen sind, hat in
Deutschland noch nicht die Verbreitung gefunden,
die aus fachlicher Sicht geboten wäre. Der Anteil
der älteren Menschen mit geistiger Behinderung,
die in Großeinrichtungen untergebracht sind, ist derzeit allen fachlichen Empfehlungen zum Trotz, überproportional hoch.[19] Sinnvoll wäre ein Wohnmodell,
das mehrere kleinere Einheiten in einem Wohnge[1] Buck, P. S. (1952): Geliebtes unglückliches Kind, Wien
[2] vgl.: Kniel, A. / Windisch, M. (2005): People First. Selbsthilfegruppen von und für Menschen mit geistiger Behinderung, München/Basel; insbesondere: Kap. 3.1 Zum Begriff „Menschen mit
geistiger Behinderung“, S. 16ff
[3] vgl.: Havemann, M. / Stöppler, R. (2004): Altern mit geistiger Behinderung. Grundlagen und Perspektiven für Begleitung,
Bildung und Rehabilitation, Stuttgart
[4] vgl.: Theunissen, G. / Schirbort, K. / Hoffmann, C. (2002):
Altenbildung und Behinderung. Impulse für die Arbeit
mit Menschen, die als lern- und geistig behindert gelten,
Bad Heilbrunn, S. 7ff
[5] vgl.: Havemann, M. / Stöppler, R. (2004); insbesondere Kap. 2.3
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biet umfasste, sodass bei einem Mehrbedarf an
Personal in den einzelnen Wohnungen auf einen
größeren Personalstamm zurückgegriffen werden
könnte, damit Betroffenen länger in vertrauter Umgebung leben und vielleicht erst bei hohem Pflegeaufwand in eine Kleinstpflegeeinrichtung, welche in
das Wohnmodell integriert ist, umziehen können.
Selbstsorge von Fachkräften: Zur Fachlichkeit von MitarbeiterInnen auf allen Ebenen der
Behindertenhilfe gehört es, regelmäßig Fort- und
Weiterbildungen wahrnehmen zu können, die das
professionelle Wissen erweitern, auf den neuesten Stand bringen und Sicherheit geben können
für das Handeln im beruflichen Alltag. Auch Supervision, Fallbesprechungen, kollegiale Beratung helfen, sich im praktischen Handeln professionell verhalten zu können und das Privatleben nicht über
Gebühr zu belasten.
Zur Fachlichkeit von MitarbeiterInnen auf
allen Ebenen der Behindertenhilfe gehört ferner
der Einsatz in Fachverbänden, das vehemente Eintreten für inklusive Ansätze in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung, und zur Fachlichkeit von
MitarbeiterInnen auf allen Ebenen der Behindertenhilfe gehört, eine fachgerechte Personal- und
Sachausstattung zu fordern, um gemeindenahes
Arbeiten z. B. in kleinen Wohneinheiten überhaupt
erst realisieren zu können. Nur MitarbeiterInnen,
die für fachlich begründete Konzepte und für die
Bereitstellung entsprechender Ressourcen eintreten, können Empowerment tatsächlich glaubhaft
an Menschen mit Behinderung weitergeben.
Prof. Dr. Nina Kölsch-Bunzen
Hochschule Esslingen
Sozial-demografische Entwicklungen und Lebenserwartung
[6] Hierbei wird auf ein Beispiel zurückgegriffen, das sich bei Theunissen et al. (2002) , S. 143–145 findet
[7] vgl.: Stoppe, G. (2006): Demenz, München/Basel; insbesondere
das Kap. 6 Diagnose und Differentialdiagnose des Demenzsyndroms
[8] v. Hentig, H. (2004): Bildung. Ein Essay, München/Wien, S. 39
[9] vgl.: Rödler, P. / Berger, E. / Jantzen, W. (Hg.) (2000): Es gibt keinen
Rest! – Basale Pädagogik für Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen, Neuwied/Kriftel/Berlin
[10] vgl.: Theunissen, G. / Plaute, W. (2002): Handbuch Empowerment
und Heilpädagogik, Freiburg i. Br.
[11] vgl.: Hollander, J. / Mair, H. (2006): Den Ruhestand gestalten. Case
Sichtweisen 10/2009
Älter werden mit Behinderung.
Die Sicht einer Familie, die noch nicht alt ist!
Zu dem Schwerpunkt dieser
Ausgabe gehen mir viele Aspekte
durch den Kopf, die sich andere Familien nicht stellen müssen. Ich
stehe als Familienvater gemeinsam
mit meiner Frau von einem schwer
mehrfach behinderten Sohn zwar
noch nicht heute und morgen, aber
dennoch mittel- und langfristig betrachtet vor mehreren Problemen, die durch das Älterwerden von
Eltern behinderter Menschen entstehen.
Sohn als viele andere Eltern mit gesunden Kindern.
Da ist zum Beispiel unser Sohn. Er wächst
und wächst, wird größer und schwerer während
die Eltern kontinuierlich an Kraft verlieren. Physisch
gesehen: unsere Rücken erfahren immer mehr Belastung und auch Schmerz, auch wenn es viele
Hilfsmittel gibt, die die tägliche Pflege erleichtern.
Aber auch psychisch gesehen: wie lange können
wir den täglichen Belastungen noch standhalten?
Dem Druck, immer bereit zu sein, auch in der
Nacht. Aber auch dem Druck der Behörden oder
Krankenversicherung, immer und immer wieder
Streit um die erforderlichen Hilfsmittel, Medikamente oder sonstigen Maßnahmen.
Auch die finanziellen Fragestellungen schwirren mir durch den Kopf. Heute leben wir in unseren
eigenen vier Wänden, einer nach unseren Vorstellungen und Bedürfnissen geplanten und gebauten
Wohnung, glücklich und zufrieden. Wo wird unser
Sohn mal in seinem zweiten Lebensabschnitt wohnen, während wir uns langsam auf unser Rentendasein vorbereiten? Was geschieht mit der Eigentumswohnung, wenn wir einmal nicht mehr da sein
werden? Erbt alles „Vater Staat“, der ja auch viel
Geld für unseren Sohn ausgibt und ausgeben wird
für Pflegegeld, Pflegeheim, Pflegepersonal etc.
Oder schaffen wir es, mit einem durchaus möglichen Testament, am Staat vorbei das Geld so verwalten zu lassen, dass es unserem Sohn zur Verfügung steht. Zur Verbesserung seiner Lebensbedürfnisse über die staatliche Versorgung hinaus? Dürfen wir als Eltern aber so etwas überhaupt in
Erwägung ziehen bzw. so einen Weg wählen, oder
ist das ethisch gesehen bedenklich, denn der Staat
zahlt viel, warum soll er nicht einen Teil davon von
den Eltern bekommen oder nehmen? Wer beantwortet solche Fragen?
Irgendwann wird der Tag kommen, an dem
wir die täglich erforderlichen Hilfs- und Pflegeleistungen nicht mehr erbringen können. Wie wird es
dann weitergehen? Wer wird unseren Sohn dann
pflegen? Wird er verstehen, warum wir das nicht
mehr selbst tun können? Werden wir damit klar
kommen, den letzten Lebensabschnitt ohne unseren Sohn zu verbringen, auch wenn dieser gut untergebracht ist und wir ihn jederzeit besuchen können? Können wir loslassen? Denn wir leben, so
glaube ich zumindest, viel intensiver mit unserem
Sie, liebe Leserinnen und Leser wissen sicher oft auch selbst, wovon ich hier schreibe. Älter
werden mit Behinderung heißt eben nicht nur, dass
behinderte Menschen älter werden und aus der
Behindertenwerkstatt in die Rente wechseln, wie
Gesunde aus dem Arbeitsplatz ausscheiden. Auch
die Angehörigen behinderter Menschen werden
älter und müssen dabei Wege finden, für die es
keine vorgefertigten Formulare gibt oder Landkarten, wo man den Weg nachlesen kann, den man
einschlagen soll.
Markus Pelkmann
Management in der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen, Düsseldorf; und vgl.: Mair, H. / Roters-Möller, S. (2007): Den
Ruhestand gestalten lernen – Menschen mit Behinderung in einer
alternden Gesellschaft; in: Cloerkes, G. / Kastl, J. M.: Leben und
Arbeiten unter erschwerten Bedingungen. Menschen mit Behinderungen im Netz der Institutionen, Heidelberg, S. 211 – 240
[12] vgl.: Biedermann, M. (20042): Essen als basale Stimulation,
Hannover
[13] Ruff, R. (2004): Realitätsorientierungstraining (ROT); in: Lauber, A. /
Schmalstieg, P. (Hg.): Prävention und Rehabilitation, Stuttgart,
S.152 – 161
[14] vgl.: Feil, N. (20044): Validation in Anwendung und Beispielen. Der
Umgang mit verwirrten alten Menschen, München/Basel
[15] vgl.: Bienstein, Ch. / Fröhlich, A. (2003): Basale Stimulation in der
Pflege. Die Grundlagen, Seelze-Velber
[16] vgl.: Greving, H. / Niehoff, D. (2003): Methoden der Heipädagogik
und Heilerziehungspflege. Basale Stimualtion und Kommunikation,
Toisdorf; insbesondere Kap. 5 Basale Kommunikation (nach Winfried Mall)
[17] vgl.: Stolz, K. / Warmbrunn, J. / Schmolz, J. /Elsbernd, A. (2008):
Betreuungsrecht und Pflegemanagement. Konzepte – Beratung –
Unterstützung, Stuttgart/New York
[18] vgl.: Elsbernd, A. (2008): Konzeptentwicklung in der Pflege; in:
Stolz, K. et al., S. 52 – 66
[19] vgl.: Havemann, M. / Stöppler, R. (2004); insbesondere das Kap.
13 Wohnen im Alter
Sichtweisen 10/2009
11
Älter werden mit Behinderung.
Erfahrungen aus dem Wohnbereich der Lebenshilfe Esslingen
Seit mehr als 30 Jahren bietet die Lebenshilfe Esslingen Wohnplätze für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Wer in eine der
Wohngruppen einzieht, bleibt häufig bis ans Lebensende dort wohnen. Besonders Bewohnerinnen und Bewohner mit sehr hohem Hilfebedarf
leben bis jetzt dauerhaft im Wohnheim.
Nur wenige der Bewohnerinnen und Bewohner, die in den vergangenen 30 Jahren aufgenommen wurden, sind bisher verstorben. Während manche von ihnen bei bester Gesundheit ihr
Rentnerleben genießen und die Angebote der Tagesbetreuung für Senioren bis ins hohe Alter begeistert in Anspruch nehmen, spüren andere genauso wie nichtbehinderte Menschen die Lasten
des Alters.
Die Beobachtungen und Erfahrungen zeigen, dass die Lebenserwartung von Menschen
mit geistiger Behinderung genauso gestiegen ist
wie in der gesamten Bevölkerung. Häufig jedoch
beginnt das Altern früher. Inzwischen ist bekannt,
dass z.B. Menschen mit Down-Syndrom oft schon
um das 50. Lebensjahr Anzeichen einer Demenzerkrankung aufweisen. Dennoch erreichen sie
häufig ein Alter von bis zu 70 Jahren.
12
Menschen mit geistiger Behinderung scheinen ein höheres Maß an Toleranz und Geduld für
ihre eigenen, aber auch für die Gebrechen und
Leiden anderer Menschen aufzubringen. Im Zusammenleben einer Wohngruppe kann man erleben, wie groß das gegenseitige Verständnis ist,
wenn eine Mitbewohnerin oder ein Mitbewohner
erkrankt oder alt wird und ihm seine bisherigen
Fähigkeiten nach und nach verloren gehen. Mit liebens- und bewundernswerter Selbstverständlichkeit werden Hilfestellungen untereinander angeboten und der alternde Freund wird so angenommen, wie er ist. Gewiss spielt die Haltung der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Wohnstätten dabei eine wichtige Rolle. Mit viel Engagement setzen sie sich dafür ein, dass „ihre“ alten
Wohngruppenbewohner in der eigenen Gruppe
bleiben können und lehnen eine Verlegung in eine
„Pflegegruppe“ ab. Gegenseitiges Geben und
Nehmen wird gefördert und vorgelebt, so dass
jüngere Bewohner nicht selten schwächer werdende Mitbewohner unterstützen wollen.
Im Rahmen der Eingliederungshilfe versuchen Mitarbeiter der Wohngruppen, alle Fähigkeiten des alternden Bewohners so weit und so
lange wie möglich zu erhalten. Solange Bewohne-
Sichtweisen 10/2009
rinnen und Bewohner schlucken können, wird
ihnen unabhängig von der Zeit, die sie zur Nahrungsaufnahme brauchen, dass Essen gereicht
und nicht mit der Sonde zugeführt. Zuwendung
und die lebensnotwendige und lebenserhaltende
zwischenmenschliche Kommunikation werden
den alten Bewohnern in dieser Zeit entgegengebracht, während die jüngeren und mobilen Bewohner Aufmerksamkeit und Förderung beim gemeinsamen Verrichten von hauswirtschaftlichen
Tätigkeiten oder im Freizeitbereich erhalten.
Die derzeitigen Angebote in der wohnheiminternen Tagesbetreuung für Senioren reichen für
die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse behinderter Menschen nicht aus. Während die Einen aktive
Angebote im Bereich der Erwachsenenbildung
außer Haus wünschen, bevorzugen andere Beschäftigungsangebote im Haus. Da Menschen mit
geistiger Behinderung sehr häufig nicht lesen können, sind sie auf Information und Begleitung bei
Freizeitangeboten angewiesen. Wer nicht lesen
kann, sich aber für die Tageszeitung interessiert,
braucht Menschen, die ihm – in einfache Sprache
übersetzt – vorlesen. Wer sich räumlich nicht orientieren kann, braucht ebenfalls Begleitung. Wer
nicht zählen kann, benötigt beim scheinbar einfachen „Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel“ Unterstützung. Während nichtbehinderte alte Menschen
ihre Lebensphase als Rentner selbst gestalten
können, benötigen die meisten Menschen mit
geistiger Behinderung Anregung, Motivation, Begleitung oder Assistenz. Dies erfordert ausreichend Personal.
Die Erfahrungen der Lebenshilfe Esslingen
zeigen, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung bis ins hohe Alter an Angeboten und zwischenmenschlichen Begegnungen teilhaben wollen. Hierzu benötigen sie Begleitung und Hilfestellung. Da die Familienangehörigen der Wohnheimbewohner inzwischen mehrheitlich verstorben
sind, erhalten nur noch wenige regelmäßige Besuche. Es gilt deshalb, ehrenamtliche Helfer und
Menschen, die Wohnheimbewohner besuchen zu
gewinnen. Im Jahr 2018 wird das Durchschnittsalter der jetzigen Bewohner bei 60 Jahren liegen.
Bis dahin müssen die Angebote der Tagesbetreuung weiter differenziert und ausgebaut werden.
Antonia Romero
Bereichsleitung Wohnen
Inklusion
Dazugehörigkeit!? Ach wirklich? Und warum sind
wir Behinderte noch in einer Werkstatt? Finden
keinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt!?
Weil wir „unvermittelbar“ sind! „Das ist ja der
Witz“, wenn man nur lachen könnte!!! Dann
würde ich das machen, aber mir bleibt es wie ein
Kloß im Hals stecken!!!
Und dazu kommt noch, dass man, je älter man
wird immer weniger die Chance bekommt, sich
mal wenigstens vorzustellen.
Eingeschlossen! Das trifft mehr den wunden
Punkt! Es muss zuerst in den Köpfen „klick“
machen! Und dann wäre es möglich, in Kontakt
mit uns zu treten, uns so zu akzeptieren, wie
wir sind und was wir tun!
Dann ist es möglich, dass wir den Begriff
„Dazugehörigkeit!“ gestalten können!
Hoffentlich finden wir einen Spross, der stetig
wächst und farbig aufblühen kann!
Daniela Goth
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Älter werden
Gedicht
Mit 13 Jahren fing es an, das Leben ganz anders wie geplant! Das Leben mit Behinderung! Konfrontiert mit meiner Halbseitenlähmung, meiner totalen Stummheit und meiner Bettlägerigkeit,
musste ich mich auf den Weg machen alles neu zu
erlernen! Wie ein Baby eben!
15 Jahre später hab’ ich gedacht, jetzt alles
hinzubekommen, was wichtig ist für ein Leben mit
Behinderung!!! Jedoch hab’ ich mich getäuscht! Ich
musste mich wegen meines Augeninfarktes umkrempeln von visuell auf taktil! Mit 28 Jahren, die
Diagnose zu bekommen: „Glaukom an beiden
Augen!!!“ war hart für mich, denn mein inniger
Wunsch nach Kindern war für immer ausgeträumt!!! Zusätzlich musste ich mich auch noch umschulen lassen! In eine ganz fremde Stadt Namens:
„Veitshöchheim“! Und da ein Internat für Blinde und
Sehbehinderte besuchen!
Am 38. Geburtstag dann endlich sagt meine
Schwester als ich wieder einmal geklagt habe über
meine „Wehwehchen“: „Du wirst halt alt und Du
hast halt Arthrose!“ Mit 38 Jahren Arthrose?
„Super, toll und genial!“ Sonst noch was im Angebot? „Danke für das Gespräch!!!“ Für wie alt hält
sie mich denn überhaupt? Und wenn ich mal
in den Genuss komme und 70 Jahre werde, wie
wird’s dann aussehen mit meinem Leben mit Behinderungen?
Ich komme z.B. kaum noch raus, sitze den
ganzen lieben langen Tag bloß im Haus herum und
sinniere, was ich noch lukratives machen könnte?!
Weil ich Angst habe wieder mal hinzufallen, bleib ich
stocksteif auf meinem Sessel sitzen und warte was
passiert!!!
Werde ich ganz gebückt mit Krücken oder
aber per Rollstuhl ins Altersheim eingeliefert werden? Wie wird es da sein? Geht es mir dort gut?
Lerne ich da Menschen kennen mit denen ich auch
reden und fortgehen kann? Und wie sieht’s dann
mit meiner medizinischen Versorgung aus? Wird sie
mir komplett ersetzt? Oder muss ich sie teilweise
immer noch brav bezahlen? Werde ich das ganze
überhaupt finanzieren können? Oder muss ich mich
machtlos aus Fördermitteln bezahlen lassen? Älter
werden mit Behinderungen ist echt schwer! Und
ich muss mich immer wieder aufraffen, das Leben
zu nehmen so wie es ist!!! „Denn, schlimmer geht
immer!“
Daniela Goth
Mit dem Alter kommen manche „Wehwehchen!“ und „Zipperlein“. Man kann sich nicht mehr so
bewegen , weil alles schmerzt!
Logischerweise muss man
häufiger zum Arzt rennen! „Aber
Moment mal“: ist die Praxis auch
barrierefrei oder mit Aufzug bestückt? Man ruft in der Praxis an und fragt nach! Die
meisten Praxen sind im 1. oder im 2. Stock ohne
Aufzug. Und jetzt? Was soll man tun, wenn man
einen Rollator hat oder sogar im Rollstuhl sitzt, ohne
Aufzug? Wie kommt man dann zu dem Dr.? Bei vie-
len Internisten ist es besonders ärgerlich, weil man
dort auch keinen Aufzug, nur Treppen vorfindet!
Endlich hat man eine Praxis mit Aufzug gefunden, ist der Aufzug zu eng für einen Rollstuhl!
Oder aber mit ein paar Stufen bevor man in den
Aufzug hinein kommt! Also wieder nix!!!
Frustration breitet sich aus! Aus Verzweiflung ruft man die Klinik an, die spezialisiert ist für
das Leiden, dass man hat. Ob’s klappt steht in
den Sternen! Schwierigkeiten überall, wohin man
nur schaut! Denkt man sich! Das ist zum Haare
ausreißen! Verflixt noch mal! Soll man trotzdem
mit einem Lächeln dann älter werden?
Drei Jahre blieb ich dort! Es waren drei sehr
schöne Jahre! Nach einem Jahr „daheim“ entschloss ich mich für eine Werkstatt!!! Diese Werkstatt verfolgt mich vermutlich bis zum „bitteren
Ende“! Durch meine vielen Unfälle bin ich noch eingeschränkter geworden, als ich von vorne herein
schon war!
14
Wenn was passiert!!! Und wenn was passiert, dann sind das meine ständigen Unfälle!!! Und
die Wunden, die ich mir einheimse gehen sehr, sehr
langsam zu! Fast eine Ewigkeit und „drei Tage“ dauern sie bis sie endlich zu sind! Kaum verheilt kommen neue Wunden hinzu!!! Das ist jetzt mein „tagtägliches Brot!“ Tätowieren brauche ich mich nicht.
Weil ich schon genug Farben an mir hab!
Sichtweisen 10/2009
Älter werden mit Behinderung
Was ist doch aus meinem „Kind“ geworden?
Die Frage an mich lautete: Was wünschen
sich Menschen mit Behinderung für ihren Lebensabend? Wie verhält es sich mit der Sorge von Eltern: Was passiert mit meiner Tochter bzw. meinem
Sohn, wenn ich nicht mehr kann? Wie steht's mit
Selbständigkeit und Selbstbestimmung im Alter?
Eine Antwort kann aus meiner Sicht nicht allgemeingültig für „die“ Menschen mit Behinderung
gegeben werden. Sie ist abhängig von Art, Schwere
und Zeitpunkt der Schädigung und damit Art und
Schwere der Beeinträchtigung. Ein Beispiel: Die
Probleme und Fragestellungen der Menschen mit
geistiger Behinderung und ihrer Eltern sind andere
als die einer Person, die z.B. durch Kinderlähmung
„nur“ körperlich behindert ist, ansonsten aber einen
vollwertigen Beruf ausüben und ihr Leben weitgehend selbst in die Hand nehmen kann – also selbstständig und selbstbestimmt. Dagegen sind Menschen mit geistiger Behinderung – und auf die
möchte ich meinen Beitrag beschränken – in der
Regel lebenslang auf gezielte Förderung und fürsorgliche Begleitung angewiesen. Mit umfassender
Förderung in den Anfangsjahren sind Eltern und Angehörige in der Regel überfordert, hierfür gibt es ergänzend „Familienentlastende Dienste (FeD)“ und
z.B. Kindergärten sowie Schulen mit besonderem
Lehrplan, wie es auch für andere Kinder und Heranwachsende die Schulpflicht und verschiedene schulische Angebote gibt.
Was kommt dann nach der Schule? Den
Sprung in den „normalen“ Arbeitsmarkt schaffen
nur sehr wenige. Deshalb wünschen sich die Heranwachsenden und ihre Eltern auch hier Möglichkeiten, bei denen die „Kinder“ – ohne dass das
seither Erlernte verkümmert – eine ihnen gemäße
sinnvolle Arbeit leisten können. Wenn auch dies
wegen der Schwere der – oft auch mehrfachen –
Behinderung nicht möglich ist, sind Förder- und Betreuungsgruppen hilfreich. Beides bieten z.B. die
Werkstätten Esslingen-Kirchheim W.E.K. an, die
von den Lebenshilfen Esslingen und Kirchheim und
dem Verein für Körperbehinderte getragen werden.
Wenn die Eltern oder Angehörigen die lebenslange Begleitung zu Hause nicht mehr leisten
können oder wollen, wünschen sie sich genau so
Sichtweisen 10/2009
wie die Menschen mit geistiger Behinderung
selbst geeignete Wohnformen, wie sie z.B. die Lebenshilfe Esslingen in sehr differenzierter Form anbietet. Und wenn dann der „Lebensabend“ beginnt, wünschen sich die Menschen mit geistiger
Behinderung, dass sie in ihrer gewohnten Umgebung verbleiben können und dies in angenehmer
Gesellschaft, aber auch der Möglichkeit, sich in ein
eigenes Zimmer zurückziehen zu können – und diesem Wunsch gilt auch die Sorge der Eltern. Hier
stellt sich heute vermehrt die Frage nach einer geeigneten, begleiteten Tagesstruktur. Da die Finanzierung hierfür noch nicht befriedigend geregelt ist,
sind wir von der Lebenshilfe dankbar für Ergänzung
der hauptamtlichen Fachkräfte durch ehrenamtliche
Helfer/innen, die hier ihr Engagement und ihre
Hilfsbereitschaft sinnvoll einbringen können.
Dies gilt auch für die Freizeitgestaltung aller
Altersgruppen. Auch hierfür engagieren sich Junge
und Ältere, Gruppen und Einzelpersonen in dankenswerter Weise, koordiniert und organisiert von
unseren „Offenen Hilfen/Familienentlastenden
Diensten“.
Bleibt noch die Frage nach Selbständigkeit
und Selbstbestimmung im täglichen Leben. Richtig
verstanden sollten sie ein Ziel jeder verantwortungsvollen Betreuung, Förderung und Begleitung
aller Kinder und Heranwachsenden von Anfang an
sein. Wie weit dieses Ziel erreicht werden kann,
hängt wiederum von Art und Schwere der Behinderung ab. Für uns von der Lebenshilfe ist es erfreulich und beglückend, wie selbstbewusst und
freundlich viele derer, die als Kind vor 45 Jahren
von ihren Eltern in unsere Sirnauer Tagesstätte für
geistig behinderte Kinder gebracht wurden, heute
auch in der Öffentlichkeit auftreten. Nicht zuletzt
tragen sie dadurch selbst viel dazu bei, dass dieser
Personenkreis immer besser von ihren Mitmenschen, der Gesellschaft, angenommen und akzeptiert wird. Und darüber sind auch die Eltern, so sie
noch leben, froh und glücklich: „Was ist doch aus
meinem „Kind“ geworden – so habe ich mir’s gewünscht!“
Eugen Fritz Wagner, Ehrenvorsitzender
der „Lebenshilfe Esslingen e.V.“
15
Älter werden mit Behinderung
Wenn ich einmal alt wär…
Kennen Sie Tevje? Tevje war ein jüdischer
Milchmann. Er lebte mit seiner Frau und seinen
drei Töchtern im ukrainischen Dorf Anatevka. Tevje
war arm. Und wer arm ist, sehnt sich meist nach
Reichtum. So auch Tevje. Seine Sehnsucht brachte
er in einem Lied zum Ausdruck: „Wenn ich einmal
reich wär’.“ Tevjes Wunsch nach finanziellem
Reichtum blieb unerfüllt, wie so manche seiner
anderen Sehnsüchte auch. Seine traditionsbewusste Lebensgestaltung geriet im Laufe der Zeit
ins Wanken, der politische Druck nahm zu, und als
er alt war, wurden er und all die anderen Juden
aus ihrem Dorf vertrieben. Zu diesem Zeitpunkt
war ihm möglicherweise der finanzielle Reichtum
nicht mehr wichtig. Im Alter verändern sich Wünsche, Sehnsüchte und Maßstäbe.
Alt zu werden, diese Sehnsucht hat kaum
jemand! Viele Menschen möchten selbstverständlich alt und auch älter werden. Aber das Altsein
dann auszuhalten und zu akzeptieren, das ist
schon etwas Besonderes.
Wie es sein kann, alt zu sein, zeigt das Märchen der Gebrüder Grimm.
Der alte Großvater und der Enkel. Es war
einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen
trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den
Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf
das Tischtuch, und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau
ekelten sich davor, und deswegen musste sich
der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die
Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein
irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal
satt! Da sah er betrübt nach dem Tisch, und die
Augen wurden ihm nass. Einmal auch konnten
seine zittrigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge
Frau schalt, er sagte aber nichts und seufzte nur.
Da kauften sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für
ein paar Heller, daraus musste er nun essen. Wie
sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier
Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen.
„Was machst Du da?“ frage der Vater. „Ich mache
ein Tröglein“, antwortete das Kind, „daraus sollen
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Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.“ Da
sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen
endlich an zu weinen, holten allsofort den alten
Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an
immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein
wenig verschüttete.“
Wir können aus diesem Märchen mindestens drei
aktuelle sozialpolitische Bezüge herauslesen:
1. Der Großvater wohnt nicht im Heim. Damit ist
die Forderung erfüllt: ambulant vor stationär.
2. Der Alte lebt in einem Mehrgenerationenhaus.
3. Ausgrenzung wandelt sich in Integration.
Gute äußere Lebensbedingungen sind im
Alter wichtig. Daneben hat das individuelle Empfinden des Altseins auch eine große Bedeutung.
Haben Sie sich schon einmal konkret vorgestellt,
wie Sie sich erleben werden, wenn Sie selbst einmal alt sind?
Wie wird Ihr Leben dann aussehen?
Ich stelle mir das so vor: Wenn ich dann einen
Artikel über das Altsein schreiben soll, werde ich
das Ansinnen möglicherweise zurückweisen, weil
es ein fast unüberwindbares Hindernis zu werden
scheint. Und wenn ich es dann trotzdem tue,
werde ich Angst haben, meinen und anderen
Ansprüchen an gutes Schreiben nicht gerecht zu
werden. Ich werde am Ende eines formulierten
Satzes nicht mehr wissen, wie der Anfang war.
Mir werden täglich Missgeschicke passieren, die
mich in Aufruhr versetzen und mich gleichzeitig
lähmen. Ich werde Gegenstände und gute Gedanken verlegen und vergessen. Die Alltagsgestaltung, die ich jetzt routiniert erledige, wird mich
Anstrengungen und einen großen Teil meiner
Zeit kosten. Gesundheit wird ein nicht mehr erreichbares Gut sein. Krankheit wird meine Gedanken und Gefühle beherrschen. Die Funktion von
technischen Apparaten werde ich möglicherweise
nicht mehr verstehen. Vielleicht wird es meine
größte Herausforderung sein, mich selbst neu
kennen zu lernen als ein Mensch mit Behinderung, der ich derzeit nicht bin. Dann werde ich
denen anders nahe sein, die ich heute beruflich
begleite.
Sichtweisen 10/2009
Das alles klingt nicht so erfreulich. Keine Spur von
Sehnsucht.
nicht mehr“. Dadurch könnte ich zum Meister in
der Gestaltung meines Abhängigseins werden.
In Geschichten und Märchen werden einem
manchmal drei Wünsche verheißen. Für mein Altsein hätte ich die drei folgenden:
3. Auch wenn ich es mir nicht vorstellen kann und
will, muss ich in Betracht ziehen, dass möglicherweise ein millimetergroßes Blutgerinnsel über
meine Zukunft entscheidet. Vielleicht werde ich
dann auf Pflege angewiesen sein. Aber ich
möchte kein Pflegefall werden. Und ich möchte
dann Menschen um mich herum haben, die diesen Unterschied verstehen, die mir Halt geben
und die nicht nur den Menschen, sondern – und
das ist ein anspruchsvoller Wunsch – auch den
Sterbenden lieben.
1. Ich möchte nicht ausgeschlossen werden,
weder vom Tisch noch von Kommunikation, Einflussnahme, Eigenaktivität und Kultur. Partizipation am gesellschaftlichen nahen und fernen Umfeld soll Bestand meines Lebens bleiben. In Anlehnung an Tevje, wäre das mein Reichtum
2. Ich möchte mich auch noch im Alter weiterentwickeln. Zum Beispiel dadurch, dass ich eine Haltung herausbilde, die dem „Ich kann es noch“
mehr Bedeutung beimisst, als dem „Ich kann es
Sichtweisen 10/2009
Kai Hölcke ist Supervisor,
57 Jahre alt
und lebt in Schwäbisch Hall
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Die Bedeutung von Erinnerungen für autistische Menschen
von Dietmar Zöller
Als ich damit begann, über das Thema „Autismus und Alter“ nachzudenken und dazu meine
Gedanken tagebuchartig aufschrieb, beschäftigte
mich die Frage, welche Bedeutung für mich Erinnerungen haben und im Alter haben könnten. Es
wurde mir klar, dass bei meiner Förderung alles
getan wurde, um mir Erinnerungen zu ermöglichen, obwohl das zu keinem Zeitpunkt ein erklärtes Therapieziel war. Rückblickend staune ich über
den Einfallsreichtum meiner Mutter, die Zeit meines Lebens meine wichtigste Therapeutin war. Sie
hat nämlich zu einer Zeit, als sie über meine Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen noch gar kein
detailliertes Wissen haben konnte, mir geholfen,
Ordnung in mein Wahrnehmungschaos zu bekommen. Als ich schreiben konnte, habe ich den Satz
geprägt: „Am Anfang war das Chaos.“ Und so war
es auch. Was ich hörte, sah und fühlte, passte
nicht zusammen, war unverständlich. Und nun
wurde mir in einem verhaltenstherapeutischen
Training beigebracht, wie ich einzelne Wahrnehmungen isolieren und mit Namen versehen
konnte.
18
Ich bekam mehr und mehr eine Ordnung in
mein Bewusstsein und konnte mich dann auch an
Einzelheiten erinnern.
Ich möchte die Hypothese aufstellen, dass
es keine Erinnerung geben kann, wenn es bei
dem „Wahrnehmungsbrei“ bleibt, den offensichtlich viele Kinder mit einer autistischen Behinderung aushalten müssen.
Wer das Alter bestehen will, sollte etwas
haben, an das er sich erinnern kann. Alte Menschen leben von ihren Erinnerungen. Sonst haben
sie ja in der Regel nicht viel, womit sie sich beschäftigen können. Bei autistischen Menschen ist
das alles noch viel schlimmer. Sie hatten Zeit ihres
Lebens Mühe, Beziehungen aufzunehmen, Kontakte zu pflegen. Sie werden zwangsläufig im
Alter sehr einsam sein.
Man muss unbedingt den autistischen
Menschen, während sie noch jung sind, Erlebnisse verschaffen, an die sie sich erinnern können.
Sichtweisen 10/2009
In meinem Fall haben gemeinsame Reisen mit
meinen Eltern einen positiven Erinnerungswert.
Ich werde davon zehren bis an mein Lebensende.
Man könnte aber auch regelmäßig wiederkehrende Rituale so gestalten, dass der autistische Mensch sie nicht vergessen kann. Ich denke
zum Beispiel an Rituale im Zusammenhang mit
dem Zubettgehen: Musik hören, ein Gebet sprechen, in den Arm genommen werden. Ich könnte
mir auch regelmäßige Spaziergänge vorstellen,
bei denen jemand ausschließlich für den autistischen Menschen da ist, sich ihm zuwendet, mit
ihm redet, auch wenn er keine Antwort erwarten
kann. Wichtig ist, dass das alles sprachlich in einer
Weise begleitet wird, dass die unterschiedlichen
Wahrnehmungen geordnet werden.
Vielleicht hilft es auch, wenn man am nächsten Tag an das gemeinsam Erlebte erinnert. Ich
habe die Vermutung, dass nur das Erlebte vom
Langzeitgedächtnis bewahrt wird, was eine Struktur bekommen hat. Ich erinnere mich gut an Episoden einzelner Reisen, über die ich etwas geschrieben habe, was ich also strukturiert habe, als
das Erlebte noch neu war. Vielleicht erinnere ich
mich besser an das, was ich geschrieben habe,
als an das Erlebte selbst, was durchaus auch
chaotisch war.
Ich möchte daraus einen Schluss ziehen:
Man sollte autistische Menschen, wenn es eben
geht, zum Schreiben bringen. Schreibend lassen
sich nämlich die chaotischen Wahrnehmungen bewältigen.
Bei dem Streit um die gestützte Kommunikation, bei dem es immer nur um die Frage ging,
ob die Probanden wirklich selbst schreiben oder
ob sie sich vom Stützer beeinflussen lassen, hat
man viel zu wenig bedacht, welche Bedeutung
das Schreiben haben kann, um besser mit dem
Wahrnehmungschaos zurecht zu kommen.
Erinnerung setzt immer Zeitgefühl voraus.
Wer sich an etwas erinnert, muss ein Bewusstsein dafür haben, dass etwas vergangen ist und
dass das Selbst jetzt in einer anderen Zeit lebt.
Sichtweisen 10/2009
Ich selbst habe im Vorschulalter gelernt Zeitbegriffe zu verstehen und konnte später diese Begriffe richtig einsetzen. Ich lernte das nicht spontan, sondern meine Mutter dachte sich Übungen
aus, um mir die Zeitbegriffe nahe zu bringen. Ich
lernte mit Hilfe von Fotos, dass meine Eltern auch
einmal Kinder waren, also eine Vergangenheit hatten. Auch lernte ich im Laufe der Zeit, was es bedeutet alt zu sein. Irgendwann begriff ich, dass
meine Eltern alt werden und dass ich selbst eine
Zukunft habe.
Ein autistischer Mensch lernt das alles nicht
von allein. Man sollte das Thema bei der Förderung berücksichtigen. Es reicht aber nicht aus, einmal mit dem Thema konfrontiert zu werden. Man
muss immer wieder darauf gestoßen werden,
dass unser Leben ein Leben in der Zeit ist, dass
unser Leben einen Anfang und ein Ende hat.
Ich halte es nicht für sinnvoll, wenn das
Thema Tod ausgeklammert wird. Auch der autistische Mensch hat ein Recht darauf, auf das Sterben vorbereitet zu werden.
Ich kann mich, wie ich an anderer Stelle
schon erwähnt habe, sehr gut an den Tod meines
Opas erinnern. Ich habe damals täglich darüber
etwas geschrieben, so dass das Erlebte und
meine Gefühle eine Ordnung bekamen. Ich kann
mich sehr gut an alle Einzelheiten erinnern und
bin sicher, dass ich diese für mich wichtigen Erinnerungen auch noch im Alter haben werde. Meine
Einstellung zum Sterben ist maßgeblich von diesen Erinnerungen bestimmt. Ob ich mich an das
Erleben damals auch erinnern könnte, wenn ich
nicht darüber geschrieben hätte, bezweifle ich.
Ähnlich ist es mit meinen Erinnerungen an
die Geburt und die ersten Lebensjahre meines
ersten Neffen, dessen Pate ich wurde. Schreibend
verarbeitete ich meine Eindrücke. Unvergesslich
ist mir das Staunen über die Entwicklung eines
kleinen Menschen. Ich wurde mir bewusst, was
Zeit bedeutet und wie Lebenszeit vergeht.
Ich finde es auch wichtig, dass sich ein alter
Mensch geborgen fühlt. Das ist aber nur möglich,
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Die Bedeutung von Erinnerungen für autistische Menschen
von Dietmar Zöller
wenn er als Kind Geborgenheit sinnlich erfahren
hat. Die Erfahrung von Geborgenheit ist eine Erfahrung, die über den Körperkontakt zustande
kommt. Das kleine Kind fühlt sich in den Armen
von Mutter oder Vater geborgen.
Am Ende muss es möglich sein, das Kind
in den Armen zu halten. Dieses positive Erlebnis
führt dazu, dass ein Gefühl der Geborgenheit
aufgebaut wird, das bis ins hohe Alter erinnert
werden kann.
Was ist nun, wenn ein autistisches Kind
den Körperkontakt gar nicht verträgt und ablehnt?
Eine Zeit lang wurde das forced holding propagiert
und man knüpfte hohe Erwartungen daran.
Richtig war sicherlich an diesem Ansatz die
Überlegung, dass das Kind die Erfahrung machen
muss, geborgen zu sein.
Aus: Dietmar
Zöller (Hrsg.),
Autismus
und Alter
Was autistische
Menschen, ihre
Angehörigen,
Menschen,
die mit ihnen
arbeiten und
Verbände zu
diesem Thema
zu sagen
haben, Weidler
Buchverlag
Berlin, 2006
Ich lehne aber das gewaltsame Festhalten
ab und propagiere stattdessen, dass man sich
allmählich mit Berührungen, die richtig dosiert
sein müssen, dem Kind annähert. Man muss
ausprobieren, ob das Kind eher feste Berührungen
braucht oder sanft angefasst werden muss.
Ich selbst hätte von Anfang an fest angefasst
werden müssen.
Interview mit Annerose Klingmann
„Wie es mir heute geht“
Da ich von Anfang an bei den Sichtweisen dabei
bin, haben diese mich bei meinem Alt-Werden begleitet. Ich habe bereits viel über mein Leben berichtet
und so habe ich auch in dieser Ausgabe zum Thema
„Älter werden mit Behinderung“ etwas beizutragen.
Ich bin mittlerweile 55 Jahre alt und lebe aufgrund meiner Multiple-Sklerose-Erkrankung, seit meinem 39. Lebensjahr, auf einer Spezialstation für junge
MS-Kranke im Johanniterstift in Plochingen.
Es heißt so schön, dass man auch im Alter
selbstbestimmt leben soll. Doch auch ich merke, dass
heute vieles anders ist als früher. Es wird immer viel
dem Alter zugeschoben. Ich will es nicht wahrhaben,
aber dennoch ist es so. Als ich ins Johanniterstift mit
39 Jahren kam, konnte ich mich noch selbstständig duschen. Heute geht das und vieles andere nicht mehr,
da ich meine Hände und Arme nicht mehr bewegen
kann. Aufgrund meiner Erkrankung ist meine Selbstbestimmung in vielen Dingen eingeschränkt.
20
Sichtweisen 10/2009
Jedoch ist es mir noch möglich, Dinge wie
z.B. Arztbesuche und Fahrdienste, selbst zu organisieren. Zum selbstbestimmt Altern gehört meiner Meinung nach auch dazu, selber zu entscheiden, wann man ins Bett gebracht werden will
oder die Akzeptanz des Pflegepersonals, wenn
man den Wunsch äußert, dass die Körperpflege
nur durch weibliche Pflegerinnen durchgeführt
werden soll. Darauf wird im Johanniterstift Rücksicht genommen.
Ein wichtiger Teil meines Lebens ist die
Amsel-Selbsthilfegruppe. Früher war ich noch sehr
aktiv dabei, doch jetzt musste ich auch hier kürzer
treten.
Der wöchentliche Termin am Dienstagmittag
ist für mich jedoch immer noch ein fester Programmpunkt, in meinem Wochenplan. Dann fahren zwei weitere Frauen aus dem Johanniterstift
und ich, zusammen mit unserem „Gruftiezivi“,
nach Wernau.
Hinter der liebevollen Bezeichnung Gruftiezivi, steht ein Herr der im Rahmen seines Rentner-Daseins bei uns bürgerschaftlich engagiert
tätig ist.
Unsere Kontaktgruppe Wernau trifft sich einmal die Woche in der St. Magnus Kirche in Wernau. Mittlerweile sind wir Dienstagnachmittag
immer an die 25 Personen. Wir trinken dann gemeinsam Kaffee, unterhalten uns, manchmal wird
uns vorgelesen oder wir bekommen Besuch vom
Gemeindepfarrer.
Hin und wieder machen wir Ausflüge. Im
Mai waren wir in Tripsdrill und diesen Herbst fahren wir z.B. nach Elzach in den Schwarzwald.
Die Amsel-Gruppe ist sehr wichtig für mich.
Die Gemeinschaft tut unglaublich gut und es ist
schön, wenn man von den anderen gefragt wird,
ob man beim nächsten Mal auch wieder dabei ist.
Auch in meiner Familie ist der Alterungsprozess deutlich spürbar. Mein Vater hat mittlerweile
das stolze Alter von 90 Jahren erreicht und lebt in
Sichtweisen 10/2009
einem Altersheim in Kirchheim. Mein Sohn hat
vor kurzem erneut geheiratet. Früher hat er mich
sehr häufig besucht. Jetzt hat er mir mitgeteilt,
dass er nun durch seine eigene Familie nicht mehr
so oft kommen kann.
Das ist für mich als Mutter schwer zu verstehen. Ich habe Sehnsucht nach meinem Sohn!
Aber ich muss lernen, es zu akzeptieren!
Das geht anderen Müttern bestimmt auch
so, nur ich habe wahrscheinlich mehr Zeit darüber
nachzudenken.
Ich habe meinen Sohn all die Jahre sehr in
Anspruch genommen. Er musste mich viel unterstützen und mir unzählige Male vom Boden aufhelfen.
Er musste als junger Mensch schon immer
sehr zuverlässig sein und mir immer sagen, wohin
er geht und wann er wieder kommt.
Vielleicht benötigt er jetzt einfach eine gewisse Zeit und den Abstand für sich. Er weiß ja,
dass ich hier gut betreut werde.
Hin und wieder telefoniere ich mit ihm. Was
mir immer sehr gut tut! Wenn er mir z.B. solche
Dinge erzählt, wie dass er bald in Urlaub geht,
dann kann ich an seinem Leben teilhaben.
Das macht mich glücklich!
Mein Sohn ist mir sehr wichtig, aber ich
habe auch viele Bekannte und Freunde, die für
mich da sind und die mich ablenken.
Jedoch muss ich auch daran arbeiten, dass
ich und mein Körper das Wichtigste sind.
In unserer Abteilung für junge Schwerbehinderte wird sehr darauf geachtet, dass man nicht
bettlägerig wird. Durch meine Mitbewohner, die
auch alle MS haben, habe ich aber die Verschlechterung der „Krankheit der 1000 Gesichter“ immer vor
Augen und die Angst davor ist dauerhaft präsent.
Annerose Klingmann
21
Interviews mit Bewohnern der Lebenshilfe
„Ich bin auch bald alt. Ich habe schon graue Haare!“
Auch in der Esslinger Lebenshilfe leben mittlerweile viele ältere Menschen mit geistiger Behinderung. Viele von ihnen arbeiten in Werkstätten
für behinderte Menschen.
Mit dem Austritt aus der Arbeit und dem
Eintritt in den Ruhestand entfällt auch für sie die
gewohnte Struktur und ein bedeutender Inhalt
ihres Lebens. In ihr fanden sie meist Bestätigung,
Anerkennung, Struktur, Halt und soziale Kontakte.
Damit der Verlust nicht allzu gravierend ausfällt,
muss diesem im Vorfeld und in der folgenden
tagesstrukturienden Maßnahme der Tagesbetreuung entgegen gewirkt werden.
rend hinzu, dass in den meisten Fällen auch keine
Kinder vorhanden sind und zu Geschwistern nur
noch sporadischer Kontakt besteht. Um soziale
Kontakte aufrechtzuerhalten bzw. neue zu knüpfen, benötigen sie hierbei Unterstützung durch
Mitarbeiter, Freunde, Angehörige oder Bürgerschaftlich Engagierte.
Um einen kleinen Einblick in das Leben von
Menschen mit geistiger Behinderung zu bekommen, habe ich das Wohnheim der Lebenshilfe
Esslingen in der Palmstrasse besucht. Hier leben
zurzeit insgesamt 24 erwachsene Personen auf
drei Wohngruppen verteilt. Jede Wohngruppe be-
An den wenigsten Menschen, auch Menschen ohne
Behinderung, geht dies reibungslos vorbei. Auch sie
müssen versuchen, den durch
den Wegfall der Arbeit, nun
fehlenden Lebensinhalt zu füllen. Sie müssen ihre Freizeitgestaltung organisieren, bereits bestehende Hobbys intensivieren oder neue Freizeitgestaltung finden.
Es gibt viele ältere Menschen, deren einziger sozialer
Kontakt der zu den Arbeitskollegen war. Fällt auch dieser
noch weg, so ist eine Vereinsamung schnell die Folge. Die
Sozialen Kontakte zu den Arbeitskollegen, Angehörigen,
Freunden müssen weiter gepflegt bzw. neue Kontakte erschlossen werden.
Auch alten Menschen
ohne Behinderung fällt dies
oftmals schwer. Bei vielen
Menschen mit einer geistigen
Behinderung sind oftmals die
Eltern bereits verstorben
oder selbst pflegebedürftig.
Hier kommt noch erschwe-
22
Sichtweisen 10/2009
steht aus acht Einzelzimmern, einem großem
Wohnzimmer und großer Küche mit Eßbereich.
Jeweils zwei Bewohner teilen sich ein Bad, welches an ihr Zimmer grenzt. Sowohl die drei Terrassen wie auch der Hinterhof werden bei schönem
Wetter häufig genutzt.
Brigitte Fricker
Im Untergeschoss befindet sich seit 2001
die Tagesbetreuung für Senioren. Es haben sich 4
Bewohner bereit erklärt, auf meine Fragen Rede
und Antwort zu stehen, so dass wir kleine Steckbriefe erstellen konnten. Wir erfahren ein wenig
aus ihrem Leben, ihrer Arbeit, zu Ihren Hobbys
und ihren Freunden.
Mit 46 Jahren
bezog sie 1992,
als eine der ersten
Bewohnerinnen,
die Palmstrasse.
ist 62 Jahre alt und
zog mit 32 Jahren
ins Karl-Reiz-Haus
der Lebenshilfe.
Wo arbeiten Sie?
Ich arbeite in der Neckartalwerkstatt in Stuttgart-Hedelfingen.
Was arbeiten Sie dort gerade?
Wir arbeiten gerade mit Schläuchen. Die
Schläuche sind in Tüten verpackt und da
müssen wir Zettel, zwei Knüppel und noch
eine Tüte Schrauben hinzufügen.
Wie verstehen Sie sich mit den Kollegen? Haben
Sie auch außerhalb ihrer Arbeit Kontakt zu
ihnen?
Ich verstehe mich gut mit ihnen. Wir treffen
uns dann auch immer in der Pause oder
beim Mittagessen in der Kantine.
Wenn man ein gewisses Alter erreicht, muss man
ja nicht mehr arbeiten gehen. Wissen Sie
wie alt man da sein muss?
Ja, 65 Jahre alt.
Das dauert bei Ihnen ja nicht mehr allzu lange.
Freuen Sie sich darauf?
Ja
Warum?
Ich habe lange gearbeitet.
Haben Sie dann schon eine Idee wie Sie ihren Tag
verbringen wollen?
Dann werde ich auch wie die anderen in die
Tagesbetreuung gehen.
Dann haben Sie ja auch noch mehr Zeit für ihre
Hobbys. Was machen Sie denn gerne?
Stricken und Häkeln und ich interessiere
mich für Fußball. Ich bin ein großer VFB-Fan.
Gibt es irgendwelche Tätigkeiten auf ihrer Gruppe
die Sie besonders gern machen?
Ja. In der Küche mithelfen.
Sichtweisen 10/2009
23
Haben Sie noch regelmäßigen Kontakt zu ihren
Angehörigen oder Freunden, außerhalb der
Wohngruppe?
Ja zu meinen Eltern. Zu denen gehe ich
noch oft heim. Ich fahre dann ganz alleine
mit dem Bus in die Stadt.
Peter Schanbacher
ist 1988 in die
Außenwohngruppe
der Lebenshilfe
in der Schorndorferstrasse gezogen
und lebt nun seit
2000 in der Palmstrasse.
Wie alt sind Sie?
Ich bin 66 Jahre alt.
Und Sie wohnen auch in der Palmstrasse?
Ja unter dem Dach. Aber ich habe zu Hause
auch noch ein Haus.
Wenn Sie 66 Jahre alt sind, dann sind Sie ja schon
seit einem Jahr in Rente?
Nein, ich bin schon seit zwei Jahren in
Rente
Wo haben Sie gearbeitet?
In der Neckartalwerkstatt in Stuttgart Hedelfingen.
Was für Aufgaben hatten Sie dort?
Ich habe Schrauben gemacht, Schläuche verpackt und andere Sachen.
Hat Ihnen die Arbeit Spaß gemacht?
Ja
Und fehlt sie Ihnen jetzt?
Nein! Ich gehe immer noch mittwochs zum
Arbeiten hin und verpacke dann Schrauben.
Aus welchem Grund gehen Sie noch mittwochs
dort hin?
Ich hol mittwochs immer meine Freundin
von dort ab. Und meine Mitarbeiter sehe ich
dann auch immer und ein bisschen arbeiten
kann ich ja noch.
Und wenn Sie frei haben, wie verbringen Sie dann
ihren Tag?
24
Wenn das Wetter schön ist, dann gehe ich
Fahrradfahren oder gehe runter in die Stadt.
Ich fahre dann alleine mit dem Bus. Ansonsten bin ich in der Tagesbetreuung.
Und was machen Sie in der Tagesbetreuung?
Ich spiele Melodica oder Klavier. Ich habe
das in der Schule gelernt. Beim Tischdecken
helfe ich auch.
Und wenn Sie keine Lust auf Tagesbetreuung
haben. Ist es Ihnen dann auch möglich, nicht
hin zu gehen?
Ja, das geht, ich muss mich halt abmelden.
Und was machen Sie noch gerne?
Ich gehe sonntags immer in Hohenkreuz in
die Kirche zum Gottesdienst. Manchmal geh
ich auch auf den Friedhof zu meiner Mama
oder ich sitz auf dem Balkon und rauche
meine Pfeife. Auch meine Freundin Inge besuche ich oft oder sie kommt zu mir.
Jetzt wo Sie nicht mehr arbeiten müssen haben
Sie ja viel Zeit. Gibt es da irgendwas besonderes was Sie gerne machen wollen oder
wo Sie gerne hinfahren wollen?
Ja, bei schönem Wetter kann man auf die
Alb fahren oder ins Kino. Ich geh manchmal
auch ins Dick runter, zum Bier trinken.
Jürgen Kott
lebt seit 2006
in der Palmstrasse.
Wie alt sind Sie?
Ich bin 54
Jahre alt.
Und wo arbeiten
Sie?
In Zell in der
Werkstatt
Was für Arbeiten müssen Sie da zurzeit machen?
Ich tüte Schrauben ein.
Sie sind ja einer von den ersten der morgens
das Haus verlässt, um mit dem Fahrdienst
pünktlich in die Werkstatt zu kommen.
Wenn Sie dann mal nicht mehr arbeiten
gehen müssen, können Sie ja dann
z.B. länger schlafen. Freuen Sie sich darauf,
Sichtweisen 10/2009
nicht mehr arbeiten gehen zu müssen?
Ja, Ja!
Und glauben Sie, dass Sie die Arbeit vermissen
werden?
Nein! Nein, die vermiss ich nicht.
Und was machen Sie dann?
Dann bleib ich hier in der Tagesbetreuung
oder oben in der Wohnung.
Haben Sie Hobbys, die sie gerne machen?
Immer samstags gehe ich zum Club82 nach
Denkendorf. Da bin ich Mitglied und gehe
schon lange hin. Da machen wir verschiedene Sachen, Ausflüge und manchmal
Sport. Ich schaue auch gerne fern mit meinen Mitbewohnern oder gehe gern ins Kino.
Vor kurzem waren wir erst im Kino.
Helfen Sie gerne auf der Wohngruppe mit?
Ja, ich koche und backe gerne.
Haben Sie noch Kontakt zu Angehörigen oder
Freunden außerhalb der Wohngruppe?
Ich habe noch einen Bruder, der in Freiberg
bei Stuttgart lebt. Der kommt ab und zu hier
her. Zum Geburtstag und ab und zu auch so.
Manchmal schreibe ich auch Karten an ihn,
wenn ich z.B. im Urlaub bin. Letztens war
ich in Heilbronn.
Elke Wörz
zog 1984 ins
Karl-Reiz-Haus
und lebt seit 1992
in der Palmstrasse.
Wie alt sind Sie?
45 Jahre alt
Wo arbeiten Sie?
In Hedelfingen in der Neckartalwerkstatt
Welche Aufgaben müssen Sie dort
zurzeit machen?
Ich schneide gerade Schläuche.
Wie kommen Sie mit ihren Kollegen zurecht? Und
haben Sie da jemanden mit dem Sie sich
besonders gut verstehen?
Klappt gut. Ja, mein Manne, das ist mein
Sichtweisen 10/2009
Freund. Der wohnt im Haus Elizabeth.
Wenn Sie mit 65 Jahren nicht mehr arbeiten
gehen müssen, was machen Sie dann?
Ich weiß auch nicht. Hier in der Palmstrasse
gibt es ja schon einige die nicht mehr arbeiten gehen müssen.
Was machen die?
Die gehen in die Tagesbetreuung. Da geh
ich dann auch hin.
Wissen Sie was man in der Tagesbetreuung
macht?
Ja, wir basteln, kochen, singen oder spielen.
Wenn Sie dann nicht mehr in die Werkstatt müssen, glauben Sie dass Sie die Arbeit, Kollegen und Mitarbeiter vermissen werden?
Net immer, manchmal bin ich schon müde.
Was machen Sie gern, wenn Sie frei haben?
Tisch-Deckelchen häkeln und fernsehen, z.B.
die Sportschau. Wir waren auch schon im
Fußballstadion. Dort müssen alle laut
schreien, dass der VFB gewinnt! Bei der
Theatergruppe bin ich auch dabei. Ich tanze
auch gerne, aber ins Ake zum tanzen gehen
wir nicht mehr, jetzt tanzen wir einmal die
Woche hier.
Helfen Sie gerne auf der Gruppe mit und wenn ja,
was?
Bett machen, Küchendienst, Vesper richten.
Das mache ich alles alleine. Patricia und ich
machen den Küchendienst für den Heinz,
der kann das nicht mehr, weil es ihm nicht
gut geht, der ist alt.
Bei manchen Menschen, die alt werden, ist es so,
dass sie manche Sachen nicht mehr so gut
können oder alles etwas langsamer geht,
dann muss man demjenigen helfen oder
ihm mehr Zeit lassen.
Ja. Mein Papa ist auch alt gewesen und ist
gestorben. Die Mama ist jetzt alleine, das
geht doch nicht! Der Mama geht es auch
nicht so gut. Sie ist auch schon alt. Und
wenn die Mama stirbt, hab ich keinen mehr.
Ich bin auch bald alt. Ich habe schon graue
Haare. Papa war auch alt und hatte graue
Haare.
Die Interviews wurden geführt durch
Kerstin Junginger
25
Hans Egbert Baldszus:
Landmarken auf unsicherem Grund – Bekenntnisse
„Als psychisch Kranker machst du doch keine
Karriere“
Ich bin in eine
schlimme Zeit hineingeboren, das
war in Ostpreußen
im Jahr 1939. Mit
dem deutschen
Überfall auf Polen
hatte eben der
zweite Weltkrieg
begonnen. Wir,
das war die Mutter
mit vier Kindern.
An meinen Vater
kann ich mich nicht
mehr erinnern, ich
kenne ihn nur von
Bildern. Er kam
wohl in den Heimaturlaub von der Front, zurückgekehrt ist er dann nicht mehr. Die Mutter hat später
nicht mehr geheiratet. Dann kamen die chaotischen Jahre der Flucht vor der Roten Armee in
den Westen, die schließlich in Esslingen endete.
Diese Jahre, die wir heute als schlimm und lebensbedrohlich kennen, waren für uns Kinder
spannend und abenteuerlich; jedenfalls blieben
wir am Leben. Durch die Schule bin ich gut durchgekommen. Das Lernen fiel mir damals nicht
schwer. Naturwissenschaften waren meine
Stärke. Da lag es nahe, nach dem Abitur Physik zu
studieren. Als Studienort entschied ich mich für
Frankfurt am Main. Aus dieser Zeit erinnere ich
mich an erste psychische Zusammenbrüche mit
Krankenhausaufenthalten. Ich lief oft verwirrt, von
großer Unruhe angetrieben und ganz abgerissen
in der Stadt herum. Da brachte ich auch nicht
mehr die Konzentration auf, das Studium in den
gesundheitlich besseren Phasen zu beenden.
Später habe ich verschiedene Jobs gehabt; längere Zeit hielt ich es bei der damaligen Deutschen
Bundespost aus. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob ich doch noch etwas Vernünftiges hätte
lernen sollen, nachdem die schlimmste Zeit meiner Erkrankung vorüber war. Aber Arbeit gab es
damals immer, so dass ich lieber Geld verdienen
ging, ohne über den Tag hinaus zu planen.
26
„Als psychisch Kranker machst du was mit“
Ich bin froh, dass es mir schon lange ganz
gut geht, und dass ich seit bald 40 Jahren psychiatrische Kliniken nur noch als Besucher sehe.
Schlimm waren meine Jahre zwischen 20 und 30.
Es war wie eine doppelte Folter, da war meine
Zerrüttung im Innern und von außen die Härte, mit
der darauf reagiert wurde. Also ich meine die
Überwältigung durch die Männer in weiß, die Sanitäter, wenn ich unruhig war und dann im Krankenhaus die Isolierung und das festgebunden werden. Die Medikamente wirkten früher wie Keulenschläge, wurde doch gleich mal eine große Dosis
angesetzt, um die Patienten matt zu setzen. Nachdem ich mich dann ein wenig von den akuten Krisen erholt hatte, konnte ich mich mit dem Leben
in den Anstalten ganz gut arrangieren. Ich erinnere mich noch lebhaft an den Kehrtrupp und die
Gärtnerei in Zwiefalten, wo ich zur Arbeit eingeteilt war. Zur Belohnung gab es in den sechziger
Jahren in der Woche ein Päckchen Zigaretten. Ich
bin ein guter Esser, und damals wurden die Mahlzeiten auf den Stationen noch aus großen Kesseln
geschöpft und nicht vorportioniert angeliefert, wie
das heute oft der Fall ist. Ich will damit sagen,
dass ich mir wenigstens in diesen Häusern den
Magen vollschlagen konnte. Beinahe hätte ich
mich daran gewöhnt und wäre in Zwiefalten als
sogenannter Langzeitpatient hängen geblieben.
Man hat mich dann doch eines Tages hinauskomplimentiert. Mit den wenig tröstlichen Abschiedsworten, dass das Leben zwar grausam sei, aber
ich sollte es doch draußen probieren, ging diese
Zeit zu Ende. Mir ist es gelungen, seither in Esslingen weitgehend stabil zu bleiben. Psychopharmaka nehme ich nun schon bald 50 Jahre und ich
bin überzeugt davon, dass es mir damit besser
geht, als wenn ich die Medikamente weglassen
würde. Natürlich ging das nicht alles spurlos an
mir vorbei. Mein Weg durch die Psychiatrie hat
auch dazu geführt, dass ich meiner Geschäftsfähigkeit beraubt wurde, also ich unterstand einer
Pflegschaft, wie das damals hieß. Heute ist das
die gesetzliche Betreuung. Ich danke es Hermann
Schwarz, dass er mir geholfen hat, meine Bürgerrechte wieder zu erlangen, indem er dafür sorgte,
die Pflegschaft aufzuheben. Überhaupt danken
Sichtweisen 10/2009
wir Hermann Schwarz in Esslingen viel, der als
Sozialarbeiter in Heime und Krankenhäuser fuhr,
um Menschen aus Esslingen zu suchen, die man
dort verwahrte. Die Anfänge der Gemeindepsychiatrie gehen auf ihn zurück. Also mir ist es in
den letzten Jahren gut gegangen und ich habe viel
Schönes erlebt.
„Reicher könnte ich auch sein“
Wenn man so in eine unruhige Existenz hineingeworfen ist, dann ist es schwer zu planen
und sich vorzustellen, was in Zukunft sein wird
und wie man das am besten angehen könnte.
Das verdiente Geld ist schnell wieder draußen gewesen. Ich habe schöne Reisen gemacht und andere Freuden nicht verachtet. Lange ging das mit
dem Arbeiten auch nicht gut. Als ich 50 war, hat
man mich in Rente geschickt. In diesem Zusammenhang hatte ich sogar gegen das damalige Arbeitsamt beim Sozialgericht ein Verfahren gewonnen. Aus der Eigentumswohnung oder dem Reihenhäusle auf dem Zollberg, wo sich viele Vertriebene niedergelassen haben, ist also bei mir nichts
geworden. Aber bei der Baugenossenschaft
wohne ich auch gut. Die Familiengründung ist
auch so eine Sache, wofür man ein gewisses
Maß an Zukunftsfestigkeit braucht. Davor habe ich
zurückgeschreckt, war ich mir doch nicht sicher, erneut krank zu werden. Chancen hätte ich wohl gehabt, aber dann Kinder in die Welt setzen, denen
ich als psychisch kranker Vater vielleicht nicht gerecht geworden wäre. Diesem Risiko wollte ich
mich nicht aussetzen. Ich habe das Gefühl gehabt,
von diesen Träumen Abstand nehmen und auf
dem Boden meiner Realität bleiben zu müssen.
Jetzt macht mich das Wissen ein wenig traurig,
dass mir niemand nachfolgt.
„Ich kann nicht glauben, dass bald alles aus
sein soll“
Ich lese viel in philosophischen Büchern und
auch in der Bibel. Von meinem protestantischen
Glauben bin ich nicht abgefallen, wenn ich auch
vieles in der Religion nicht ganz wörtlich nehmen
kann. Dass mit meinem Tod alles aus sein soll,
kann ich nicht annehmen, ob vielleicht doch etwas
Sichtweisen 10/2009
Geistiges bleibt? Manchmal frage ich mich auch,
wie das nach dem irdischen Jammertal verheißene Paradies aussehen soll. Ich kann mir davon
kein rechtes Bild machen. Das mit dem Jammertal empfinde ich besonders schmerzlich, wenn
Freunde oder Bekannte sterben. Besonders wühlt
es mich auf, wenn sich jemand aus meinem Umkreis selbst tötet. Während der ganzen Jahre, da
ich an den Menschen in der Gemeindepsychiatrie
Anteil nehme, musste ich schon oft hinter einem
Sarg hergehen. Ich versuche dann, mich moralisch
wieder aufzurichten, wobei mir die Freunde und
die Mitarbeiter der Gemeindepsychiatrie wichtige
Gesprächspartner sind.
„Zu guter letzt“
Es ist schon einige Jahre her, da musste ich
für einige Zeit in der Wohnung bleiben, Fuß verstaucht, glaube ich. Es dauerte nicht lange, bis
eine „Suchaktion“ gestartet wurde. Man fand
mich dann schnell zu Hause und alles war in Ordnung. Die Sorge war unbegründet, mir wäre
schlimmeres geschehen. Über die vielen Kontakte
in der Gemeindepsychiatrie bin ich sehr froh. Da
habe ich Menschen gefunden, mit denen ich mich
schon viele Jahre verbunden fühle. Ein paar Mal in
der Woche gehe ich ins ZAK, der Esslinger Tagesstätte zum Schraubendrehen, wofür ich einen kleinen Lohn bekomme. Der ist mir ein willkommenes Zubrot. Dann spielen wir auch Schach und zur
Tasse Kaffee kommt bei mir die obligatorische Zigarette. Ein Laster muss man haben, sage ich mir,
und der Internist auf dem Zollberg hat noch nichts
Kritisches gefunden. Ich weiß, damit soll man
nicht spaßen, denn das kann schon morgen anders sein. Das Rauchen also, das werde ich mir
wohl nicht mehr abgewöhnen. Ich lade auch
gerne Freunde in meine Wohnung ein; wir essen
dann meist eine Kleinigkeit und schauen uns
Filme an. Jetzt im Alter von 68 fühle ich mich
noch ganz rüstig, wenn es einmal nicht mehr so
gut laufen sollte, dann – so haben mir die Sozialarbeiter versprochen – könnte mich der psychiatrische Pflegedienst daheim unterstützen. Ich halte
mir auch ganz nüchtern vor Augen, einmal in ein
Altenheim zu ziehen, wenn es selbstständig in
der Wohnung gar nicht mehr geht. Aber daran
27
Hans Egbert Baldszus:
Landmarken auf unsicherem Grund – Bekenntnisse
brauche ich jetzt hoffentlich noch nicht zu denken.
Wenn wir im Freundeskreis zusammensitzen und
uns wieder mal Geschichten von früher erzählen,
dann sage ich gerne so als zusammenfassende
Erfahrung, dass mir das Lachen auch schon vergangen ist. Aber dann dauert es gewiss nicht sehr
lange, bis meine innere Fröhlichkeit wieder durchkommt und mich ein Lachen schüttelt. Das ist
dann ein Lachen dessen, der Bescheid weiß, was
man schweres erleben kann. Dieses Lachen wird
manchmal von einer klammheimlichen Freude beflügelt, wenn die Medien melden, dass einer von
den Schönen und Reichen ins Straucheln gekommen ist. Aber das ist nur ein kurzer Moment, der
schnell verfliegt. Sicher hat es niemand, sage ich
dann und man muss mit den Gegebenheiten fertig werden, ohne mit dem Schicksal zu hadern.
Ich denke oft an berühmte Persönlichkeiten, mit
deren Werken ich in Berührung gekommen bin
und denen ein Krankheitsschicksal auferlegt war.
28
Erst vor kurzem habe ich beispielsweise erfahren,
dass der Gründer der deutschen Kulturwissenschaften, der Hamburger Bankierssohn Aby Warburg, schwer erkrankt war. Mit diesen großen
Leuten vergleiche ich mich natürlich nicht. Aber ich
erkenne etwas allgemeingültiges, das zur
menschlichen Existenz gehört – und meine Ärzte
haben mir es oft bestätigt – psychische Erkrankungen kommen auf der ganzen Welt vor und
auch aus geschichtlicher Zeit sind sie bekannt. Mit
diesem Wissen gelingt es mir besser, mein eigenes Leben anzunehmen. Der Seismograph meiner Nervosität schlägt jetzt im Alter schwächer
aus. Da bleibt mir mehr geistige Kraft für das Interesse und die Anteilnahme an den Menschen und
der Welt um mich. Daran möchte ich mich noch einige Jahre erfreuen.
Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit
Manfred Tretter von der „Sichtweisen“-Redaktion
Sichtweisen 10/2009
Interview mit Dr. Roser
Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Im Landkreis
Esslingen gibt es 2
Psychiatrien, die
auch für ältere Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose zuständig sind.
Eine davon ist
die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums
Kirchheim-Nürtingen.
Sie ist für die stationäre Vollversorgung
der Räume Kirchheim, Nürtingen und für das Fildergebiet zuständig. Aufnahmen aus Esslingen, dem Raum Plochingen und von außerhalb finden im Rahmen
freier Kapazitäten statt.
Unter anderem verfügt sie auch über ein
Gerontopsychiatrisches Zentrum mit einer Tagesklinik für ältere Menschen.
Herr Dr. med. Martin Roser erklärt sich bereit für die Sichtweisen zum Thema „Älter werden
mit Behinderung“ Rede und Antwort zu stehen.
Er ist seit 1. März 2007 neuer Chefarzt der Klinik
für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums
Kirchheim-Nürtingen und damit Nachfolger von Dr.
Andreas Schlingensiepen, der Ende Februar 2007
in Ruhestand ging.
Erzählen Sie doch ein wenig aus ihrem persönlichen Leben. Das interessiert unsere Leser
natürlich auch deshalb, weil Sie noch relativ neu
als Arzt beim Landkreis Esslingen arbeiten. Sie
sind jetzt 46 Jahre alt und so etwa in der Mitte
ihres beruflichen Lebens.
Dass ich Arzt werden wollte, wusste ich
schon ziemlich früh, so mit 15/16. Mein Vater war
zu der Zeit schwer erkrankt, und ich war damals
sehr beeindruckt, wie ihm die Medizin helfen
konnte. Als ich dann Abitur machte, war mir klar,
dass Psychiater oder Kinderarzt für mich in Frage
kommen. Ich war dann als Zivildienstleistender in
Sichtweisen 10/2009
der Kinderklinik und merkte, dass mir die Erkrankungen und die Schicksale der Kinder zu nahe gingen. Es ist mir schwer gefallen, die nötige Distanz, die man im Arztberuf braucht, einzuhalten.
Der Weg zum Psychiater lag für mich auch deshalb sehr nahe, weil ich schon als junger Mensch
viel in dieser Richtung gelesen hatte, Freud natürlich und die anderen Psychoanalytiker. Auch die
Gehirnforschung hat mich sehr angezogen. Überhaupt haben mich die Grundfragen des menschlichen Seins schon früh in ihren Bann geschlagen.
Und wie verlief dann Ihr weiterer beruflicher
Weg?
Ich war zuletzt ärztlicher Direktor in der Klinik Nordschwarzwald in Calw-Hirsau. Dort war ich
für das gesamte Haus mit 400 Behandlungsplätzen zuständig und gleichzeitig leitete ich die Gerontopsychiatrie.
Wie kamen Sie dann nach Nürtingen?
Mich hat bei meiner Bewerbung besonders
gereizt, an einem Haus arbeiten zu können, das
sehr eng mit den Einrichtungen und Diensten für
psychisch erkrankte Menschen im Landkreis verbunden ist. Das ist für die Menschen, die zu uns
kommen, besonders wichtig. Betrachtet man die
Lebensläufe unserer Patienten, dann sehen wir,
dass die Behandlung im Krankenhaus sehr kurz
ist, im Durchschnitt gerade mal einen Monat. Der
Normalfall ist also das Leben in den Gemeinden
und dort verfügt der Landkreis Esslingen über ein
sehr dichtes Netz an Hilfsangeboten. Nürtingen
teilt sich, wie sie wissen, die psychiatrische Versorgung mit Plochingen, so dass es meist kurze
Wege für Angehörige und die Dienste gibt, den
Kontakt zu Patienten aufrecht zu erhalten. Das
war in Calw schwieriger, denn die Klinik dort hat
ein viel größeres Einzugsgebiet und versorgt eine
Million Einwohner.
Unser Heft legt den Schwerpunkt dieses
Jahr auf behinderte Menschen, die älter werden.
Das ist natürlich auch ein Thema für Sie in der Klinik. Welche Bedingungen finden ältere Patienten
vor, die bei Ihnen behandelt werden?
29
Interview mit Dr. Roser
Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
In diesem Zusammenhang muss ich etwas
über unsere Struktur sagen. Große psychiatrische
Krankenhäuser gliedern sich intern nach den
Krankheitsbildern; das nennt man Spezialisierung.
Hier in Nürtingen hat man eine andere Entscheidung getroffen. Wir sagen dazu im Fachjargon
Sektorisierung, d. h. wir haben Stationen, die
nach der Herkunft der Patienten eingeteilt sind.
Wir wollen damit künstliche Situationen vermeiden und den gesellschaftlichen Alltag abbilden,
wo auch ganz unterschiedliche Menschen aufeinander treffen oder zusammenleben. Alle Altersgruppen und Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen werden auf einer Station behandelt. Sektorisierung bedeutet also den Bezug auf den
Wohnort, von wo die Patienten kommen. Wenn
man erneut ins Krankenhaus kommt, sollte man
auf das gleiche Personal treffen, das man von früheren Aufenthalten kennt. Die meist entspannte
Atmosphäre auf den Stationen ist ein positiver Effekt der persönlichen Bindungen zwischen Personal und Patienten. Die Türen sind im Jahresdurchschnitt zu 80 % offen. Um zum Thema der alten
Menschen zu kommen, bei uns gelangen auch die
älteren Patienten auf die für ihren Wohnort zuständige Station, nicht auf eine Spezialabteilung.
Für uns ist die Nähe zu den örtlichen Hilfsangeboten und deren Mitarbeitern wichtig und natürlich
geht es auch um die Einbeziehung der Familien in
die Behandlung. Zu diesem Arbeitsprinzip gibt es
auch kritische Stimmen: ein Durcheinander auf
den gemischten Stationen, die unterschiedlichen
Ansprüche der Patientengruppen usw. Aber in
einem kleinen Haus ist die Organisation kaum anders zu machen und wie ich schon sagte, wir
leben vom Austausch mit der Welt um uns.
Mit welchen Problemen kommen die alten
Menschen zu Ihnen?
Ganz allgemein kann man sagen, Krankheit
bedeutet immer einen Verlust von Freiheitsgraden. Das wirkt sich bei den einzelnen Erkrankungen unterschiedlich aus. Die beiden größten Gruppen von Erkrankungen bei alten Menschen sind
Depressionen und dementielle Erkrankungen. Im
Mittelpunkt unserer Überlegungen steht immer
der einzelne Mensch und die Frage, was in seiner
30
besonderen Situation helfen könnte. Noch ehe
eine vollstationäre Aufnahme erfolgen muss, gibt
es im Vorfeld eine sehr gute Behandlungsmöglichkeit, das ist die gerontopsychiatrische Tagesklinik,
die wir in Nürtingen haben; sie wird sehr gut angenommen. Es besteht ein eigener Fahrdienst,
der morgens und nachmittags die Patienten fährt.
Die Menschen bleiben mit ihrem Lebensumfeld in
Kontakt und können ihren Verpflichtungen zu
Hause so weit wie möglich nachkommen. Dieses
Angebot ist in Zukunft bestimmt ausbaufähig und
soll natürlich auch mit an unseren neuen Standort
in Kirchheim umziehen.
Was muss man in der therapeutischen Begegnung mit alten Menschen besonders beachten?
Ja, da gibt es Besonderheiten. Man muss
viel Geduld haben. Man muss auf Veränderungen
der Befindlichkeit achten und natürlich muss die
Therapie den Bedingungen der älteren Menschen
gerecht werden. Beispiele dafür, was in der Therapie zur Sprache kommt, sind die Grundsatzfragen
ans Leben, Sinnfragen, Ängste vor dem Tod, Auseinandersetzungen mit Kindern, ungelebte Wünsche, frühere Lebenskrisen usw. Um psychotherapeutisch mit älteren Menschen arbeiten zu können, muss man sich speziell weiterbilden. Wir
haben im Haus ein Programm, das nahezu wöchentlich stattfindet. Dabei geht es natürlich auch
um die Themen, über die wir gerade sprechen.
Die Ärzte durchlaufen auf dem Weg zum Facharzt
eine mehrjährige psychotherapeutische Ausbildung. Auch für das Pflegepersonal gibt es einen
Weiterbildungsgang im Fach Psychiatrie in Tübingen. Wir beschäftigen in der Gerontopsychiatrie
auch Altenpfleger, denn auch das ist eine sinnvolle
Qualifikation für uns.
Wie sieht es mit der Medikamentenbehandlung bei älteren Menschen aus?
Die körperlichen Abläufe sind bei älteren
Menschen verändert. Der Stoffwechsel läuft langsamer. Man muss generell viel vorsichtiger dosieren, z.B. die Hälfte oder ein Drittel gegenüber einer
jüngeren Person. Man muss EKG und Laborkontrollen machen und auch mit Dosissteigerungen
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sehr vorsichtig umgehen. Es kommt hinzu, dass ältere Menschen häufig eine Reihe internistischer
Medikamente verordnet bekommen. Da muss
man Wechselwirkungen zwischen den einzelnen
Präparaten beachten. Wir Ärzte sagen, dass man
für jedes Lebensjahrzehnt im Alter ein Medikament ansammelt. Da muss man schon gut aufpassen und abwägen, was für den Menschen im Vordergrund steht. Natürlich haben wir das Ziel, möglichst wenig Medikamente zu geben. Auch die Nebenwirkungen der Psychopharmaka können bei
alten Menschen stärker zur Geltung kommen.
Kommen Psychosen im Alter vor?
Psychosen im klassischen Sinne sind im
Alter selten. Es sind meistens begleitende Symptome oder Vorposten einer beginnenden Demenz.
Es kann zu Wahnbildungen kommen, z.B. bestohlen, bestrahlt oder vergiftet zu werden, auch optische Halluzinationen kommen vor. Das sind dann
aber oft Symptome, die zur Demenz in Beziehung
stehen.
Mit dem älter werden der Menschen kommen auf die Psychiatrie neue Herausforderungen
zu, woran denken Sie in diesem Zusammenhang
besonders?
Ja, das liegt auf der Hand, da die Demenzerkrankungen mit steigendem Alter stark zunehmen. Die wissenschaftlichen Prognosen sind bei
der Frage uneinheitlich, wie die Gesellschaft auf
dieses Problem reagieren wird. Einige Szenarien
gehen von gewaltigen Belastungen aus, denen
man nicht gewachsen sein wird, andere wiederum sehen die kommenden Herausforderungen
auch als Chance an, dass Medizin und Politik positive Antworten finden werden. Schon heute besteht die Tendenz zur Vereinzelung und ich sehe
viele Leute, die zu uns kommen, allein alt werden.
Da braucht man in Zukunft Wohnmodelle, die von
alten Menschen akzeptiert werden. Einen Umzug
ins Heim möchten viele Menschen möglichst
lange aufschieben. Man muss respektieren, dass
die allermeisten alten Menschen in ihrer Wohnung
bleiben wollen, wenn das eben auch zur Folge
hat, dass Vereinzelungstendenzen weiter zuneh-
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men werden.
Können Sie bei der sozialen Integration den
älteren Menschen helfen?
Die Übersichtlichkeit unserer Klinik und die
Kleinräumigkeit der Region schaffen da schon
Möglichkeiten. Wenn man sich beispielsweise in
der Klinik getroffen hat, kann man Kontakte weiter
pflegen. Der Sozialpsychiatrische Dienst für Alte
Menschen (SOFA) hat dabei auch eine wichtige
Aufgabe. Er kann Menschen zu Hause aufsuchen
und die sozialen Netze unterstützen. Die Behandlung in der Klinik soll die Menschen in die Lage
versetzen, wieder selbst mehr Möglichkeiten
wahrnehmen zu können. Wir haben in der Klinik z.
B. die Gesprächsgruppe für alte Menschen, es
gibt Gedächtnistraining und andere Angebote.
Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten der
Behandlung also das, was man erreichen kann?
Man muss da sehr genau die Ressourcen
der Einzelnen sehen. Wir haben auch die Haltung
von fordern und fördern. Geht man immer nur von
Einschränkungen und von Hilfsbedürftigkeit der
Patienten aus, dann kann das dazu führen, dass
sie in ihren eigenen Aktivitäten nachlassen und
sich verschlechtern. Man muss auch die bisherige
Lebenssituation sehen, an die die Menschen gewöhnt sind. Da gibt es langjährige Prägungen des
Lebensstils, die ganz große Veränderungen nicht
mehr erwarten lassen. Wir sind auch damit konfrontiert, dass unsere Arbeit an Grenzen stößt.
Wir wollen den Menschen nichts aufdrängen, was
sie nicht annehmen können oder wollen, auch
wenn wir es für sinnvoll halten.
Als wir dieses Interview im Mai führen, findet zeitgleich der deutsche Ärztetag in Ulm statt.
Eine Frage an Sie, Herr Dr. Roser, die von dort herüberkommt. Können sie den Patienten noch das
bieten, was für die Behandlung notwendig und
von Forschungsstand her wünschenswert ist?
Die Krankenhäuser müssen seit Jahren
mit einem Budget leben, das kaum angepasst
wurde, obwohl alle Kosten stark gestiegen sind.
31
Interview mit Dr. Roser
Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Das hat dazu geführt, dass wir in den letzten 15
Jahren einen erheblichen Personalabbau hinnehmen mussten. Wir haben natürlich viele Abläufe
rationalisiert. Aber das geht hier in der Psychiatrie
nur begrenzt, denn wir brauchen ja keine teuren
Apparate. Bei uns geht es um leibhaftige Menschen, Mitarbeiter, die mit den Patienten in einen
therapeutischen Dialog treten. Die Versorgung ist
auf dem Weg in die Rationierung; auf die Dauer
ist das nicht vermeidbar. Wir haben z. B. einen erheblichen Nachwuchsmangel bei Ärzten. Ich habe
das Glück, dass hier in Nürtingen alle Stellen besetzt sind. Das Arbeiten hier ist attraktiv und
ebenso das Umfeld. Aber der Ärztemangel ist ein
genereller Trend, den wir auch hier in Südwestdeutschland zu spüren bekommen werden. Was
jetzt schon an Rationierung spürbar wurde, das
wird von den Beschäftigten im Gesundheitswesen aufgefangen, die Überstunden machen und
deren Arbeitsabläufe intensiviert wurden. Viele
Mitarbeiter sind daher an ihrer Belastungsgrenze.
Im Grunde ist das deutsche Gesundheitswesen
nicht schlecht. Aber es muss Konsens in der Gesellschaft sein, dass wir dafür auch entsprechend
Geld aufbringen wollen. Wenn, wie man gerne
sagt, Gesundheit das höchste Gut ist, dann muss
einem das auch etwas wert sein. Wir stehen im
internationalen Vergleich ganz gut da und wir sollten uns das Gesundheitswesen auch nicht
Schlechtreden lassen. Das Gesundheitswesen ist
doch auch ein großer Beschäftigungssektor mit
vielen Arbeitsplätzen.
Verändern sich auch die Patienten im Hinblick auf das, was sie vom Gesundheitswesen erwarten?
Ja, das Arzt-Patient-Verhältnis ist heute nicht
mehr so hierarchisch wie früher. Aber die Annahme des mündigen Patienten, der sich seine
Behandlungsbausteine selbst zusammenstellt, ist
eine Illusion. Die Patienten müssen das Wissen
und die Erfahrung des Arztes anerkennen, der das
Fach jahrelang studiert hat und in der Praxis steht.
Man kann Behandlungsverfahren nicht einfach so
vergleichen, wie man es beim Kauf eines Elektrogerätes oder eines Autos tut. Dass Patientenrechte gestärkt werden, finde ich richtig. Dass
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man sich im Internet sehr gut über Gesundheitsfragen informieren kann, ist prima. Da hatten wir
in der Medizin einen Nachholbedarf. Für die Psychiatrie hat das noch einen besonderen Akzent.
Das, was wir tun müssen, ist nicht immer angenehm. Es geht immer um die Konfrontation mit
schwierigen Lebensfragen in der Therapiesituation. Wenn eine Gefahr besteht, muss man eingreifen, wenn der Betroffene es im Moment nicht
einsehen kann. Dass man sich unter diesen Voraussetzungen nach eigenem Geschmack Behandlungsleistungen einkauft, ist nicht sehr realistisch. Gerade in der Psychiatrie wird das nicht
funktionieren. Patienten verfügen über wenig
Geld, erkranken bereits im frühen Erwachsenenalter mit der Gefahr der Chronifizierung. Manche
Patienten lassen bereits wegen 10 Euro Zuzahlung die Medikamente weg.
Möchten Sie zum Schluss des Gespräches
noch über Ihre aktuellen Nürtinger Erfahrungen
berichten?
Ich bin sehr gerne hier im Landkreis. Ich erlebe eine sehr produktive Zusammenarbeit mit
den Gremien des Landkreises und der gemeindepsychiatrischen Versorgung. Ich habe hier eine lebendige Vielfalt vorgefunden. Aber ich bin durchaus besorgt, dass ein Rückbau der Angebote die
Situation von Mitarbeitern und Patienten verschlechtern könnte. Wir müssen das Erreichte unbedingt erhalten und zum Teil brauchen wir noch
einen Ausbau. In Planung befindet sich z. B. die
Tagesklinik auf den Fildern. Wir ziehen mit der Klinik von Nürtingen nach Kirchheim in einen Neubau. Darauf freue ich mich schon sehr, denn die
baulichen Verhältnisse hier an der Stuttgarter
Straße entsprechen nicht mehr dem heutigen
Stand. Wenn ich an die Zukunft denke, dann bin
ich froh, dass ich vieles, was kommen wird, noch
nicht weiß. Ich hoffe, dass man das solidarische
Gesundheitswesen nicht aufgibt, sondern noch
ausweitet.
Wir bedanken uns für das Gespräch. Das Interview
führten Kerstin Junginger und Manfred Tretter aus
der „Sichtweisen“-Redaktion. Dieser Text entstand
nach einer Digitalaufnahme des Gespräches.
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Interview mit Klaus Dinter
Älter werden im Hilfenetz der Gemeindepsychiatrie
Klaus Dinter, Sprecher
des Gemeindepsychiatrischen Verbundes Esslingen, berichtet über psychisch erkrankte Menschen, die älter werden.
Hier folgt die Zusammenfassung eines Gespräches
mit den „Sichtweisen“.
Aus der Redaktion nahm
Manfred Tretter teil.
1. Wege des Älterwerdens:
Die Entwicklung des Älterwerdens verläuft individuell ganz verschieden. Es gibt psychisch erkrankte Menschen, die bis ins hohe Alter mobil
bleiben und selbstständig leben können. Um
diese Autonomie zu unterstützen, bestehen unterschiedliche Möglichkeiten z. B. Alltagsbegleitung
durch den Sozialpsychiatrischen Dienst, Bereitstellung einer Haushaltshilfe, Hausbesuche durch den
psychiatrischen Pflegedienst. Wenn diese Möglichkeiten nicht mehr ausreichen, kann schließlich
eine Heimaufnahme in Frage kommen.
2. Krisenbewältigung
bei älteren Menschen:
Erkrankungsverläufe sind im Alter oft gemildert.
Die Betroffenen können Krisenanzeichen aufgrund ihrer Erfahrung besser erkennen und darauf reagieren, z.B. zeitweise mehr Hilfe in Anspruch nehmen. Langjährige und tragfähige Beziehungen zu den gemeindepsychiatrischen
Diensten erleichtern die Begleitung in Krisenzeiten. Netzwerke untereinander tragen wesentlich
zur Stabilisierung der Lebensverhältnisse auch
im Alter bei. Eine wichtige Plattform hierfür ist
die Tagesstätte, in Esslingen das ZAK, Zentrum
für Arbeit und Kommunikation.
3. Spezialangebote für ältere Menschen
Für diejenigen Personen, die bereits über längere
Zeit erkrankt sind und jetzt älter werden, ändern
sich die Zuständigkeiten nicht. In der Beratung
und bei den Gruppenangeboten besteht der
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Raum dafür, Fragen des Älterwerdens aufzugreifen. Wer hingegen im Alter erkrankt, tritt mit
dem Sozialpsychiatrischen Dienst für alte Menschen (SOFA) in Kontakt. Dort gibt es auch ein
spezielles Gruppenangebot. Psychisch erkrankte
Menschen in Heimen erfahren dort oft nicht die
nötige Ansprache und Anregung zum tätig werden, so dass über Spezialangebote nachgedacht
werden müsste.
4. Besondere Wohnformen im Alter:
Es gibt heute viele Projekte des gemeinschaftlichen Wohnens auch außerhalb des Hilfesystems
für Behinderte. Es muss dabei persönliche Rückzugsräume und Möglichkeiten der Begegnung
geben. Einzelzimmer sind heute Standard. Im
Betreuten Wohnen fehlen noch Finanzierungsmöglichkeiten für höheren Bedarf an Hilfe im
Alter. Auch in Heimen schafft man Gruppenbezogene Wohnsituationen, die den Kontakt fördern.
5. Gesundheitspolitische Aspekte:
Auf Grund der steigenden Zahl älterer Menschen
wird es zukünftig mehr Angebote der Gesundheitsvorsorge und der sinnvollen Lebensgestaltung geben. Ob davon auch psychisch erkrankte
Menschen profitieren können, ist fraglich. Das
liegt daran, dass privat finanzierte Leistungen zunehmen werden. Dabei sind psychisch erkrankte
Menschen benachteiligt; sie erhalten doch häufig
nur geringe Renten, weil es im Erwerbsleben
größere Beschäftigungslücken gab.
6. Chancen des Älterwerdens:
Wenn es gelingt, ein solidarisches Gesundheitswesen zu erhalten und auszubauen, können
auch psychisch erkrankte Menschen die Chancen
des Älterwerdens nutzen. Notwendig ist vor
allem ein Ausbau ambulanter Pflegedienste.
Im Behandlungssektor sind gerontopsychiatrische Tageskliniken sehr erfolgreich; sie fehlen
noch weitgehend in der Region Esslingen.
Die Organisation der Psychiatrie-Erfahrenen und
der Angehörigen müssen mehr politisches Gewicht erlangen, damit die Interessen psychisch
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erkrankter Menschen im Alter mehr Aufmerksamkeit erhalten. Für den Einzelnen ist es oft
schwierig, über das belastende Thema der Erkrankung öffentlich zu sprechen.
Depression
Wie die Zeit mir zerrann.
Aus dem Kind ward ein Mann.
7. Frühe Abschiede:
Die andere Seite des langen Lebens ist der frühe
Tod. Wer mit psychisch erkrankten Menschen beruflich zusammenarbeitet oder private Kontakte
hat, wird damit konfrontiert, dass eine menschliche Existenz plötzlich ausgelöscht wird. Die Rede
ist von Suiziden und davon, dass Mehrfacherkrankungen zum frühen Tod führen können. Mit diesen
vorzeitigen Abschieden werden berufliche und
private Beziehungsnetze zerrissen, die sich über
die Verluste hinweg neu finden müssen.
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Und es schmerzt immer mehr.
Alle Träume sind nun leer.
Aus dem Mann wird ein Greis.
Was wird sein? Und wer weiß,
wie ich meine Tage zähle,
wie ich mich im Alter quäle.
6.8.85 aus: Dietmar Zöller: Ich gebe nicht auf
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Bericht über den Regionaltag in Offenburg
Arbeitsgemeinschaft des Bürgerschaftlichen Engagements
Die Integration von Menschen mit Behinderung
und das Bürgerschaftliche
Engagement wurden
beim Regionaltag der
ARBES, am Ersten in
Offenburg, in den Mittelpunkt gestellt. Wir – die
Redaktion der Sichtweisen, vertreten durch zwei
Redaktionsmitglieder, wurden zu diesem Regionaltag eingeladen, um unser
Projekt vorzustellen.
Bevor wir hier nun aber vom Regionaltag berichten, möchte ich kurz über Inhalt und Arbeit der
ARBES informieren. Die ARBES – Arbeitsgemeinschaft des Bürgerschaftlichen Engagements, ist
ein freiwilliger Zusammenschluss bürgerschaftlich
engagierter Gruppen in Baden-Württemberg. 1994
bildete sie sich aus staatlich gestützten Senioreninitiativen und unabhängigen, örtlichen und kommunalen Projekten. Sie entwickelte sich weiter
und bietet nun vielfältige Angebote und Projekte,
die inzwischen generationsübergreifend, raumund themenumfassend sind.
Ihre Aufgabe ist es als Dachverband des Bürgerschaftlichen Engagements die gemeinsamen Ziele
der Initiativen zu unterstützen und die Vernetzung
zu fördern.
Sie ist ein Teil des Landesnetzwerk Bürgerliches
Engagements, das nicht nur allen Initiativen, sondern auch interessierten Kommunalvertretern und
Verbänden die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch bietet.
Die ARBES vertritt die Interessen des Bürgerschaftlichen Engagements durch Mitarbeit im
Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) in Berlin und beim Centre Europeen
Du Volontariat (CEV) in Brüssel.
Es finden regelmäßig Regionaltage, lokale Konferenzen und Fortbildungsveranstaltungen statt, die
die Entwicklung der verschiedenen Initiativen un-
Sichtweisen 10/2009
terstützen wollen.
In diesem Jahr hat sich die ARBES das Thema Integration und Migration zum Schwerpunktthema
gemacht. In ihrem Flyer zum Regionaltag führen
sie ein Zitat von Prof. Dr. Alfred Sander auf, Forscher und wissenschaftlicher Begleiter von Modellprojekten zur Integration behinderter Menschen an
der Saar-Uni Saarbrücken, der „Behinderung“ folgendermaßen definiert: „Behinderung liegt vor,
wenn ein Mensch mit einer Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein vielschichtiges Mensch-Umfeld-System integriert ist.“
Er führt folglich die Behinderung nicht auf eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung des
einzelnen Menschen zurück, sondern auf die Unfähigkeit des Umfeldes des betreffenden Menschen, diesen zu integrieren. Wie eine Teilhabe
von behinderten Menschen am gesellschaftlichen
Leben durch bürgerschaftliches Engagement ermöglicht werden kann, sollte beim Regionaltag
dargestellt werden.
Hierfür wurde ins Landratsamt nach Offenburg
geladen. Ca. 80 Teilnehmer, die bürgerschaftlich
engagiert sind, reisten aus ganz Baden-Württemberg an. Um 10.15 Uhr fand die Begrüßung durch
den Landrat des Ortenaukreis, Herrn Klaus Brodbeck und das Seniorenbüro statt.
Darauf folgte ein Referat von Heinz Rosié Geschäftsführer des Club 82, zum Thema „Inklusion
und Bürgerschaftliches Engagement, zwei Seiten
einer Medaille?“ Der Club 82 ist ein gemeinnütziger Verein, Mitglied im Paritätischen, der Lebenshilfe und bei Special Olympics Deutschland. Er hat
seinen Standort in Haslach.
Der Verein bietet ein vielseitiges Angebot für
Menschen mit einer geistigen Behinderung und
deren Angehörigen:
- Beratungsstellen
- Kurse und Sportveranstaltungen in homogenen
und heterogenen Gruppen
- Familienunterstützende Dienste
- Fachdienst Integration
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Bericht über den Regionaltag in Offenburg
Arbeitsgemeinschaft des Bürgerschaftlichen Engagements
- Bildungsassistenz; Begleitung bei Kursen in öffentlichen Bildungsträgern wie z.B. die Volkshochschule
- Partnervermittlung „Herzenssache“
mit Hilfe von Aktion Mensch
- Reisen; dieses Jahr werden 50 verschiedene
Reisen angeboten, der Club 82 ist der drittgrößte Anbieter für Reisen für Menschen mit
geistiger Behinderung
Herr Rosié stellte beispielhaft dar, wie unterschiedlich die Einsatzmöglichkeiten für Bürgerschaftlich Engagierte bei ihnen im Club 82 sind.
Angefangen bei der Betreuung von Kleinkindern,
zur Entlastung der Eltern, über Einkaufsbegleiter(in), Unterstützer(in) für Sportgruppen, Freizeitgestalter(in) bis hin zur Reisebegleiter(in).
In seinem Vortrag wies er darauf hin, dass Menschen mit Behinderung eine Gesellschaft ohne
Ausgrenzung fordern. Sie wollen Bürger sein – uneingeschränkt und unbehindert. Er betonte jedoch, dass Visionen Fahrpläne bräuchten. Diese
sollten mittels bürgerschaftlichen Engagements
umgesetzt werden, denn Bürgerschaftliches Engagement sei entscheidend für Nähe, Vertrautheit, das Kontaktknüpfen von Menschen mit Behinderung zu Menschen ohne Behinderung. Nur
so könnte Teilhabe an der Gesellschaft gewährleistet werden. Und nur so könnte die Inklusion von
Behinderten in der Gesellschaft gesichert werden.
Anschließend berichtete Frau Lörcher von den
„Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen einer
Behindertenbeauftragten“. Sie hat in Villingen –
Schwenningen seit Anfang 2006, in Form
eines Ehrenamtes die Stellung der Behindertenbeauftragten auf kommunaler Ebene inne.
§13 Amt des Beauftragten der Landesregierung
für die Belange von Menschen mit Behinderung
Der Ministerpräsident kann einen Beauftragten
der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen (Landes-Behindertenbeauftragter) für die Dauer der Legislaturperiode bestellen.
§14 Aufgaben und Befugnisse
Der Landes-Behindertenbeauftragte wirkt darauf
hin, dass die Verpflichtung des Landes, für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit
und ohne Behinderungen zu sorgen, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfüllt wird.
Er setzt sich bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe dafür ein, dass unterschiedliche Lebensbedingungen von Frauen und Männern mit Behinderung berücksichtigt und Benachteiligungen beseitigt werden.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation
(BAR) hat in Zusammenarbeit mit den Beauftragten für Behinderte der Länder ein Handbuch für
Behindertenbeauftragte und Behindertenbeiräte
herausgegeben. Dieses Handbuch verdeutlicht,
dass Aufgaben, Funktionen und rechtliche Grundlagen dieser Arbeit sehr unterschiedlich sind.
Die Aufgaben der Behindertenbeauftragten reichen von der Mitgestaltung und Begleitung von
Gesetzesvorhaben über Informations-, Koordinations- und Öffentlichkeitsaufgaben bis zur Bearbeitung von persönlichen Anliegen von Menschen
mit Behinderung.
Das Landesgesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (L-BGG), das am
20.04.2005 im Landtag beschlossen wurde, beinhaltet zahlreiche Vorschriften, die zu einer gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung führen soll, unter anderem auch das Amt des
Behindertenbeauftragten. Im Vierten Abschnitt des
Gleichstellungsgesetzes ist dies verankert:
36
Sichtweisen 10/2009
nauer informieren wollen.
Folgende Projekte wurden vorgestellt:
• Offene Arbeit mit Behinderten
• Sichtweisen
• Integrative Sportgruppe Elternheim
der „Elterngruppe behinderter Menschen“
• Erfahrbar – Freizeitführer für Menschen
mit Mobilitätsbehinderung
• Reisen mit Behinderung
Es gibt Ansprechpartner/innen im Bund und in
allen Bundesländern.
Seit 1980 gibt es auf Bundesebene einen/eine Beauftragte(n) der Bundesregierung für die Belange
der Behinderten, zur Zeit wahrgenommen von
Frau MdB Karin Evers-Meyer.
Daneben gibt es jetzt in allen Bundesländern Behindertenbeauftragte mit verschiedenen Kompetenzen und unterschiedlicher Anbindung (meist in
Ministerien wie Arbeit und Soziales, Gesundheit
oder auch Inneres und Sport).
Für Baden-Württemberg wurde als Behindertenbeauftragter Herr Staatssekretär Dieter Hillebrand
ernannt. Er wendete sich mit einem Schreiben
vom 12. Oktober 2007 an alle Stadt- und Landkreise und appellierte dafür Behindertenbeauftragte zu bestellen.
Vor dem Mittagessen wurden wir in die Idee des
Erlebnisparcours eingeführt. Es wurden 5 verschiedene Projekte zu dem Thema Integration von
Menschen mit Behinderung und das bürgerschaftliche Engagement vorgestellt.
Die Präsentation der Projekte fand in zwei verschiedenen Räumen statt, so dass sich die Teilnehmer nach dem Mittagessen selbst entscheiden konnten, über welches Projekt sie sich ge-
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Unser Projekt der „Sichtweisen“ wurde in einer
kurzen Präsentation vorgestellt, in der wir vor
allem zum Ausdruck bringen wollten, dass durch
die Arbeit der bürgerschaftlich engagierten Redaktion, Menschen mit Behinderung ein Forum geboten wird, um sich ausdrücken zu können und ihr
Erleben und ihre Weltsicht darzustellen, so dass
Sensibilität im Zusammenleben wachsen kann.
Auch für Menschen ohne Behinderung sind die
„Sichtweisen“ wertvoll, denn so wird ihnen ein
Einblick in die Gedanken und Erfahrungen von
Menschen mit Behinderung ermöglicht, die ihnen
sonst nur allzu leicht verborgen bleiben würden.
Die „Sichtweisen“ dienen zudem auch der Inklusion. Menschen mit und ohne Behinderung bilden
ein gemeinsames Redaktionsteam. Dies zeigt,
dass sich Menschen über Einschränkungen hinweg begegnen können, dass Berührungsängste
zu überwinden sind und Solidarität aufgebaut werden kann und dabei zugleich ein tolles Produkt
entsteht.
Die Resonanz der Zuhörer war durchweg positiv
und von vielen Seiten klang die Forderung, dass
es solch ein Magazin eigentlich in jedem Landkreis geben sollte. Die meisten Teilnehmer waren
vor allem von den autobiographischen Berichten
begeistert.
Somit war es für uns ein sehr erfolgreicher und interessanter Tag und wir konnten viele positive
Rückmeldungen in die nächste Redaktionssitzung
mitnehmen, um erneut gestärkt und motiviert an
die Arbeit zu gehen.
Kerstin Junginger und Manfred Tretter
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Erster Stadtteilgang in Nellingen
des Runden Tisches „Behinderte Menschen in Ostfildern“
Am Samstag, dem 15.09.2007 haben sich
vormittags Betroffene, Angehörige und Mitarbeiter der Verwaltung getroffen, um Nellingen daraufhin zu erkunden, wie gut die Infrastruktur des
Stadtteils für Rollstuhlfahrer und Menschen mit
Gehbehinderung geeignet ist.
Auch die Stadtteile Parksiedlung, Kemnat
und Ruit wurden in bewährter Form kritisch unter
die Lupe genommen. Die Eindrücke wurden dokumentiert und man wird gemeinsam überlegen,
wie aufgezeigte Probleme gelöst werden können.
Nachdem eine kleine Gruppe schon vorweg
eine Route ausgearbeitet hatte, konnten die problematischen Punkte zielgerichtet aufgesucht werden. Für zwei Mitarbeiter war es sehr eindrücklich, sich mit dem Rollstuhl zu versuchen und
damit einen Perspektivenwechsel zu erleben. Bodenwellen im Gehweg, hohe Randsteine oder
Treppenstufen im Eingangsbereich von Geschäften oder öffentlichen Gebäuden, die für gesunde
Menschen problemlos zu bewältigen sind, sind
auf einmal Barrieren, die es mit mehr oder weniger Geschick zu überwinden galt.
Nach ca. drei Stunden intensiven Gehens
und Diskutierens kehrte die Gruppe an den Ausgangspunkt zurück. Aus Sicht aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer hat sich der Stadtteilgang
Nellingen gelohnt, da sowohl die Betroffenen
als auch die Verwaltungsmitarbeiter Problemsituationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln kennenlernen konnten.
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Mittendrin statt außen vor
Tage der Menschen mit Behinderungen in Baden-Württemberg
das REHA_JAZZ-Trio, das mit Dixie den Abend zu
einem unvergesslichen Event machte. Ein gelungener Auftakt!
Am Samstag, 03. Mai und am Montag, 05.
Mai konnten Menschen mit Behinderung, mit der
SSB, gemeinsam an der Endhaltestelle Nellingen
das Ein- und Aussteigen in die Stadtbahn und das
richtige Verhalten in der Bahn mit erfahrenen Fahrlehrern üben. Über 30 Rollifahrer nahmen die Einladung an.
Initiiert wurde diese Veranstaltung durch den
Beauftragten der Landesregierung Baden-Württembergs für die Belange behinderter Menschen,
Herrn Staatssekretär Dieter Hillebrand MdL.
Herr Bolay, der Oberbürgermeister von Ostfildern hatte bereits ein Jahr zuvor in seiner Stadt
den „Runden Tisch für und von Behinderten“ ins
Leben gerufen, an dem regelmäßig behinderte
Menschen sowie betroffene Angehörige aus der
Stadt Ostfildern mit der Stadtverwaltung in Kontakt und Diskussion zur Verbesserung der Lebensqualität für behinderte Menschen getreten sind.
Daraus und auch aufgrund weiterer Eigeninitiativen ergab es sich, dass in Ostfildern im Zeitraum
vom 2. bis zum 8. Mai 2008 einige Veranstaltungen durchgeführt wurden.
Der Startschuss in Ostfildern fiel im Ruiter
Paracelsus-Krankenhaus, von Hr. Dr. med. Beer
bzw. dem Landesverband Aphasie- und Schlaganfall BW organisiert. Dort fand am 02. Mai in den
Abendstunden in der Mehrzweckhalle eine Veranstaltung mit hochrangigem Besuch statt. Nach
dem Grußwort von OB Hr. Bolay sprach der AltOB Stuttgart’s, Herr Manfred Rommel. Selbst seit
Jahren durch schwere Krankheit gezeichnet, rezitierte er aus seinem Leben und trug selbst geschriebene oder geänderte Gedichte und Geschichten vor. Es war ein Erlebnis zu sehen und
zu hören, dass immer noch viel Feuer und Humor
in seinem Herz und seinem Verstand stecken.
Aufgelockert wurde die Veranstaltung durch
drei behinderte Jazz-Musiker aus Hamburg,
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Am Montagabend ging es weiter im evangelischen Gemeindehaus der Dietrich-BonhoefferGemeinde, dem Sophie-Scholl-Haus im Scharnhauser Park. Dort las Fr. Pfarrerin Mirja Küenzlen
aus Ihrem Buch „Neue Wege wagen – christliche
Spiritualität gemeinsam erproben“ und diskutierte
anschließend mit den Bürgerinnen und Bürgern
das Schwerpunktthema Ihres Buches.
Am Mittwochabend begegnete man dem
Thema Behinderung im Stadthaus im Scharnhauser Park. Dort wurde ab 19:30 Uhr der Kinofilm
„El Paradiso“ präsentiert, bei Softgetränken und
dem obligatorischen Popcorn. Der örtliche Bürgerverein „Die SchaPanesen e.V“ luden dazu ein.
Der Film erzählt die packende Geschichte eines
Mannes mit Behinderung, der einen alten Traum
von seinem Vater und ihm selbst, verwirklichen
und auf den 4000-er Berg in den Alpen klettern
möchte. Sein Vater starb bei einem Motorradunfall, ihn selbst fesselt der Unfall an den Rollstuhl.
Ein sehenswerter Film, der die Problematik im
Umgang gesunder und behinderter Menschen
aufzeigt. Wer den Film gern sehen möchte, die
DVD kann bei der Stadtbücherei Ostfildern und
bestimmt auch an anderen Orten ausgeliehen
werden.
Es gibt sicher viel, viel mehr über die ganzen Veranstaltungen im Landkreis Esslingen zu
berichten, von denen es noch viele weitere gab.
Leider war meine Zeit begrenzt, so dass ich nur
über die Veranstaltungen berichte, die ich selbst
quasi live erleben durfte bzw. an denen ich mitgewirkt habe.
M.Pelkmann
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„Ikarus vom Lautertal“
Bericht über den Tüftler und Flugradbauer Gustav Mesmer
Gustav Mesmer, genialer Tüftler und Flugradbauer aus Schwaben, wurde in seinen letzten
glücklichen Jahren "Ikarus vom Lautertal" genannt.
Sein Leben erinnert aber auch ein wenig an eine
andere Figur antiker Mythologie: Sisyphos, der
auf immer einen Stein zu Berge wuchten musste,
der stets ins Tal zurück rollte.
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er ihm seinem antiken Sisyphos als zeitgenössischen Helden zur Seite gestellt.
Sisyphos wurde zur zentralen Figur im Werk
des existenzialistischen Philosophen und Schriftstellers Albert Camus. Nach Philosophie der Existentialisten kann der Mensch die Welt nicht wahrhaft verändern, entscheidend für sein Glück ist allein die Redlichkeit und Intensität seines Bemühens. Somit betrachtete Camus Sisyphos als
glücklich.
Gustav Mesmer wurde am 16. Januar 1903
in Altshausen bei Ravensburg geboren. Beim weiten Blick über die sanften grünen Hügel Oberschwabens, wo man die Wolken bis zu den fernen
Alpen fliegen sieht, lernte er wohl das Träumen.
Die Welt aber kann zu eng werden für weitschweifende Gedanken, gerade in Notzeiten, wie
der des Ersten Weltkrieges, in die Gustav hineinwuchs. Er verfing sich bald in ein Netz von Zwängen, die verrückt machen konnten, "verrückt" im
Sinne von unverstanden oder im Sinne von krank.
Bei Gustav sollte beides über Jahrzehnte fatal verwechselt werden.
Gustav Mesmer lebte mit bewundernswerter Energie und Hingabe seinen Traum vom Fliegen aus purer Muskelkraft. Gewaltig wollten ihm
die Verständnislosen das versalzen, doch die Kraft
seiner Phantasie war nicht zum Schweigen zu
bringen. Hätte Camus ihn gekannt, vielleicht hätte
Von Schulbildung konnte bei ihm kaum die
Rede sein. Lehrer, die seinen durchaus vorhandenen Intellekt systematisch hätten schulen können,
standen alle an der Front. Der tüchtige Junge
musste weit über Land ziehen, um mit allerlei
Hilfsarbeiten die Familie mit durchzubringen.
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Schwestern im Kloster Obermarchtal überzeugten
ihn, für ein Mönchsleben prädestiniert zu sein.
Gustav machte den Fehler seines Lebens und
glaubte es. Nach längerem Suchen fand er Zugang in die berühmte Abtei Beuron im Donautal.
Sechs Jahre lebte er von nun an in einer Welt, die
zu eng war für seine weitschweifenden Gedanken
und ihn krank an der Seele machte. Kurz vor dem
heiligen Gelübde lief er davon. Es dauerte nicht
lange, bis er an die Türe seiner heimatlichen Kirche pochte, dabei laut und wirr schimpfend eine
Konfirmationsfeier störte. "Schizophrenie" vermutete der herbeigerufene Doktor, ein Stempel, den
Gustav über Jahrzehnte nicht mehr los werden
sollte. Da er auch zu Hause einige Male randaliert
haben sollte, wurde er in die Psychiatrische Klinik
Bad Schussenried gebracht. Lange Jahrzehnte
sollte er nun in Anstalten (Bad Schussenried, später auf eigenen Wunsch Weissenau) erleben. Versuche sich zu befreien, sei es durch appellierende
Briefe in die Heimat, sei es durch seine vielen
Fluchten zu Fuß, waren alle zum Scheitern verurteilt. Im Übrigen bewahrten nur seine gute physische Konstitution so wie sein Fleiß und Handwerkergeschick Gustav Mesmer vor den Gaskammern der Nazis.
Alleinigen Halt vor dem Abrutschen in völlige Verzweiflung gewährte sein Traum vom Fliegen. Gustav hatte von Flugversuchen aus purer
Muskelkraft gelesen, ein Gedanke, der ihn fürs
Leben packte. In "Lehrschriften" und Konstruktionszeichnungen konnte er den Traum ein wenig
Leben, aber prompt wurde dies wieder als "Wahn"
interpretiert. Seinen lebenslang unerfüllten
Wunsch, eine Familie zu gründen, nannte man
"Beziehungswahn".
1964 erzwang seine Schwester endlich die
Entlassung aus der Psychiatrie. Eine noch größere
Befreiung aber erlebte er nach Einzug in ein Altenheim der Bruderhausdiakonie in Buttenhausen.
Hier wurde er nicht institutionell eingeengt. Man
erkannte den Wert dieses selten begabten Menschen, der keinem weh tat, aber so viele in der
Seele reicher machte. Mesmer durfte sich eine
kleine Werkstatt einrichten und dort seine genialen Flugfahrräder konstruieren. Man nahm auch
Sichtweisen 10/2009
die Gefahr in Kauf, als er damit steile Abhänge der
Schwäbischen Alb hinuntersauste und doch nie
abhob. Jetzt endlich bekam er den Respekt und
die Annerkennung, deren er wert war. Landauf
landab wurde er als "Ikarus vom Lautertal" bekannt. Seine Konstrukte sind heute anerkannte
Kleinkunst und begehrte Ausstellungsobjekte.
Eines stand sogar im deutschen Pavillon der Weltausstellung von Sevilla. Richtig geflogen sei er nur
ein Mal, erklärte Mesmer, so fünfzig Meter leicht
über dem Boden, was aber keiner gesehen habe.
Er brachte die Behauptung mit der Schalksmiene
eines Lebenskünstlers vor. Gustav Mesmer starb
1992, erfüllter wohl, als manch "normaler"
Mensch.
Halten wir uns das Schicksal des antiken
Ikarus vor Augen: Er konnte sich in die Lüfte
schwingen und wurde übermütig. Der Sonne zu
nahe gekommen stürzte er ab. Gustav Mesmer
verharrte zeitlebens wie Sisyphos im Träumen und
Probieren. Nach Albert Camus muss er also ein
glücklicher Mensch gewesen sein.
Wer Bilder aus Mesmers letzter Lebensphase sieht, muss dem zustimmen. Ein zutiefst
anrührender Zug von Ruhe, Hingabe, Liebe und
Überzeugung, mit der er sein "Hobby" pflegte,
prägten Gustavs Gesicht. Das Glück, welches allein im ehrlichen Bemühen liegt, spricht aus seinem Lachen.
Redaktion Sichtweisen Marco Heinz
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Garrincha
Ein „Zaunkönig“ mit krummen Beinen revolutioniert die Fußballwelt
Der gelb-grün-blaue Dress der Seleçao genannten
Fußballnationalmanschaft Brasiliens zählt man zu
den ehrfurchtgebietenden Monumenten im Weltsport. 50 Jahre ist es nun her, dass den Brasilianern der Sprung gelang von einer großen Fußballnation zur absoluten Weltmacht dieses Spieles. Mit
nie gesehener Geschmeidigkeit, Raffinesse und
Tempo zauberte sich die Selecao 1958 in Schweden zum Weltmeistertitel. Das populäre Spiel erlebte vor allem durch zwei Protagonisten eine
wahre Revolution, das junge Universalgenie Pele
und den so andersartigen Jungen aus dem UrwaldGarrincha. Am 28.10.1933 wurde im brasilianischen
Dorf Pau Grande ein Junge namens Manoel Francisco dos Santos geboren, dessen Beine von Kinderlähmung befallen wurden. Allein eine unter den
im Urwald gegebenen Verhältnissen lebensgefährliche Operation ermöglichte dem Kind, das Gehen
lernen. Die Behinderung blieb ein Leben lang. Das
rechte O-Bein blieb sechs Zentimeter kürzer als
das linke X-Bein. Seine Schwester nannte den Kleinen mit dem komischen Gang Garrincha, den Zaunkönig. Ein Orthopäde riet ihm sich spielerisch zu
bewegen, am besten durch Fußball. Dieser brave
Mediziner ahnte nicht im Geringsten, was er damit
anrichten sollte. Der Zaunkönig brachte es zum
Weltstar des populärsten Sports.
1953 wurde Garrincha dem Club Botafago als Talent angepriesen. Trainer Cardoso entschlüpfte das
böse aber seinerzeit gebräuchliche Wort vom
„Krüppel“ als er ihn sah. Aber der Coach erlebt
sein blaues Wunder. Dieser skurrile Vogel aus dem
Urwald umtanzte seine gestandenen Nationalspieler wie Kokospalmen. Schon sein erster Auftritt hinterließ Erstaunen und Entsetzen.
Heute stellt sich die hypothetische Frage, ob mit
modernen Methoden, etwa der Videoanalyse, Garrincha eigenwillige Bewegungsmuster zu durchschauen und ein Gegenmittel zu finden wäre. Seinerzeit war kein Kraut gegen seine fast wahnwitzigen Tricks gewachsen. Garrincha demütigte geradezu die besten Verteidiger Brasiliens, später jene
der ganzen Welt. Neben seinen sensationellen
Tempodribblings bestachen seine exakten Flanken
und sein glasharter Torschuss. Noch heute gilt er
als bester Rechtsaußen aller Zeiten.
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Im dritten Spiel der WM 1958 rückte Garrincha in die
Selecao und bildete mit Pele ein ebenso geniales
wie ungleiches Paar. Während der solide Pele den
Denker und Lenker gab spielte Garrincha einfach
nur verrückt. In taktischen Besprechungen soll der
Analphabet in Comics geblättert haben, um im Spiel
einfach zu tun, worauf er gerade Lust hatte. Trainer
verzweifelten an ihm, aber keiner mochte auf Garrinchas Sieg bringende Improvisationen verzichten.
Pele und Garrincha verloren gemeinsam kein einziges Spiel. Anfangs der Titelkämpfe 1962 in Chile verletzte sich Pele. Garrincha avancierte zum alleinigen
Führungsspieler, wurde nochmals Weltmeister und
Torschützenkönig des Turniers. Heute gilt bei internationalen Experten Pele als bester Fußballer aller
Zeiten, für manchen Brasilianer steht Garrincha
noch höher. Den seriösen Pele verehren sie, Garrincha lieben sie – auch weil er nur all zu menschlich
war und tragisch am Leben scheiterte.
Journalisten schrieben Garrincha mit blumigen Worten in den Himmel und würdigten ihn mit markigen
Sätzen herab, als bei der WM 1966 in England auch
seine Ballkunst sich als vergänglich erwies. Die öffentliche Figur Garrincha wird geliebt bis heute, den
zerbrechlichen Privatmenschen konnte oder wollte
wohl keiner so richtig stützen. Garrincha galt als
debil, so manche einfältige Antwort in Interviews
wurde geradezu legendär. Ein „Persönlichkeitstest“
1958, wie immer der ausgesehen haben mag, bestätigte ihm den geistigen Stand eines 8 bis 12 jährigen Kindes. Sein wahres Problem – lange unerkannt- hieß schlichtweg: Alkohol. Schon als zehnjähriger will er regelmäßig Cognac konsumiert haben.
Auch in seinen größten Zeiten hing er an dieser
Trost- und Trotzdroge. So nimmt es kaum wunder,
dass er nach seiner Fußballkarriere in den Armenvierteln landete. Da er den Unterhalt für seine 14
Kinder nicht zahlen konnte, machte er auch Bekanntschaft mit dem Gefängnis. 1983 starb Garrincha an Alkoholvergiftung. Die öffentliche Liebe zu
ihm, der so wenig private Zuwendung erfuhr, schlug
nochmals höchste Wellen. Eine ganze Nation hielt
den Atem an, als Garrinchas Sarg durch Rio gefahren wurde. Zehntausende säumten den Weg, es
kam zum völligen Verkehrsinfarkt in der Stadt. Der
Name Garrincha wird in Brasilien niemals sterben.
Redaktion Sichtweisen Marco Heinz
Sichtweisen 10/2009
„Beratungsstelle
für Ältere und deren Angehörige“
Ältere, kranke und behinderte Menschen
möchten trotz ihrer Einschränkungen im Alltag
weitestgehend selbständig und dennoch
gut versorgt zu Hause leben.
Mobilitätseinschränkungen erfordern jedoch eine
entsprechende Unterstützung von Angehörigen
oder durch Serviceleistungen ambulanter Dienste.
Die Stadt Esslingen verfügt über ein gut ausgebautes Netz solcher Hilfen, die jedoch nicht jedermann bekannt sind und deren Details und Finanzierung erstmal unklar bleiben.
Oft sind es jedoch nicht die vorsorglichen Beratungen sondern Krisensituationen, in denen dann Betroffene und auch Angehörige mit der Organisation der täglichen Hilfen überfordert sind. Die Beratungsstelle für Ältere berät und informiert gezielt zu folgenden Fragen: Wer hilft im Haushalt
oder kauft für mich ein? Wer pflegt, wenn Angehörige fehlen oder nicht mehr pflegen können?
Was kosten diese Dienstleistungen und ab wann
zahlt die Pflegeversicherung? Welche Hilfsmittel
gibt es und wer verordnet sie? Was ist eine Patientenverfügung oder wozu dient eine Generalvollmacht? Was bieten betreute Seniorenwohnanlagen und wie setzen sich die Kosten für ein Pflegeheim zusammen? Dies sind nur einige wenige
Fragestellungen, die Menschen beschäftigen,
wenn die eigenen Kräfte nachlassen.
Sichtweisen 10/2009
Ältere, kranke und behinderte Menschen, die ihre
Wohnung nicht mehr gut verlassen können, besuchen wir gerne zuhause und informieren sie vor
Ort persönlich über die Möglichkeiten, die ihnen in
der Stadt Esslingen zur Verfügung stehen.
Die Beratungsstelle für Ältere gibt es nun schon
seit 1993 in Esslingen. Sie ist ausschließlich für
Esslinger Bürgerinnen und Bürger zuständig. Die
Räumlichkeiten befinden sich im Sozialamt, in der
Ritterstr.16.
Frau Latz und Frau Barzen-Meiser,
die beiden Mitarbeiterinnen, sind täglich von
8:30 bis 12:00Uhr und donnerstags auch von
14:00 bis 18:00 Uhr telefonisch zu erreichen.
Persönliche Beratungsgespräche und Hausbesuche finden nach Terminvereinbarung statt. Selbstverständlich beraten wir auch alle Älteren, Angehörige und Interessierte, die sich vorsorglich an
uns wenden.
Kontakt:
Beate Barzen-Meiser
Rita Latz
Telefon 0711/3512-3219
Telefon 0711/3512-3220
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FUGE
Der ehrenamtliche Besuchsdienst im Stadtkreis Esslingen
FUGE ist ein ehrenamtlicher Besuchsdienst
im Stadtgebiet Esslingen, der psychisch erkrankte
ältere Menschen zuhause begleitet. Die Abkürzung steht für „Freiwillige unterstützen gerontopsychiatrisch Erkrankte“. FUGE wird gemeinsam
geschultert von der Arbeitsgemeinschaft der Krankenpflegevereinen in Esslingen und dem Sozialpsychiatrischen Dienst für alte Menschen (SOFA).
Ein Handicap von Menschen mit einer Demenzerkrankung kann zum Beispiel sein, den
Wert des Geldes nicht mehr bestimmen zu können. Demenzerkrankte erinnern sich gut an die
Deutsche Mark oder auch an die Reichsmark, aber
erkennen den Euro nicht als solchen. Unsere Frau
Freigiebig ist demenzkrank. Als Frau von Welt bedankt sie sich, wenn ihr jemand hilft und steckt
ihrem Gegenüber ein "Trinkgeld" zu. Sie macht
den Geldbeutel auf und zieht einen Schein heraus: "…und das ist für Sie!".
Jetzt werden Sie denken: das ist doch kein
Problem. Wieso braucht es da FUGE? Der Mann
von Frau Freigiebig verstarb sehr plötzlich. Vor seinem Tod hatte er Kontakt aufgenommen zu Hansjörg Schaude von SOFA voller Sorge um seine
Frau. Herr Schaude ist dann auch der einzige, der
die Witwe besuchen darf und den sie herein bittet. Er sieht, wo überall Frau Freigiebig nicht mehr
zurecht kommt, doch muss er respektieren, was
alles nicht verändert werden darf. Zum Hausbesuch bringt er eines Tages unsere FUGE-Mitarbeiterin mit und als diese alleine kommt, aber Grüße
ausrichtet, wird sie trotzdem hereingebeten. Frau
Freigiebig hat Vertrauen gefasst und unsere Mitarbeiterin darf mit ihr in die Küche und beim Kaffeekochen oder Geschirrspülen helfen.
In der Nachbarschaft wird man auf die wöchentlichen Besuche aufmerksam. Man hat große
Probleme mit Frau Freigiebig und wagt es, unsere
Mitarbeiterin anzusprechen: Frau Freigiebig verdächtigt alle, ihr Geld zu klauen. Uns ist es klar:
sie hat es eben verschenkt. Das aber hat sie vergessen, sie vermisst die Scheine in ihrer Geldbörse und hat dafür nur eine Lösung: Die Nachbarin war’s! Die Nachbarin kommt in große Not, bisher hatte sie fraglos für Frau Freigiebig die Kehr-
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woche übernommen, doch unter der Anschuldigung kann sie so nicht weiter machen. Hansjörg
Schaude gelingt es, alle Beteiligten an einen Tisch
zu holen, die Nachbarin, das Ehepaar vom Haus
nebenan, unsere Mitarbeiterin. Gemeinsam wird
die Situation von Frau Freigiebig besprochen.
Wichtig sind Informationen über die Symptome
der Erkrankung, sie erklären das verwirrende Verhalten von Frau Freigiebig.
Trotz der inzwischen weit fortgeschrittenen
Demenz wohnt Frau Freigiebig immer noch zuhause. Eine rechtliche Betreuung ist eingerichtet
worden. Alle Hilfen, die nötig geworden sind und
die sich von außen organisieren lassen, werden
von der gesetzlichen Betreuerin beauftragt und
bezahlt per Banküberweisung. Dabei verfügt Frau
Freigiebig sehr wohl weiterhin über Bargeld. In
ihrem Portemonnaie ist immer etwas drin, aber
nun sind es nur noch kleine Scheine. Frau Freigiebig ist dies einerlei, doch wenn sie nun einen 5
Euro-Schein her schenkt, ist das eher im Rahmen
eines Trinkgeldes. Und alle, die häufiger zu Frau
Freigiebig kommen, kennen den Kniff, den ihnen
Hansjörg Schaude beigebracht hat: Wenn Frau
Freigiebig sich mit Geld bedanken möchte, so ziehen sie ein Geldstück aus der Tasche und sagen:
"Danke, Frau Freigiebig – aber Sie haben mir ja
schon etwas gegeben!".
Frau Freigiebig fühlt sich nun sehr wohl zuhause, sie kann in ihrem Nachbarschaftsnetz sicher und vergnügt uralt werden. Jetzt braucht sie
nur noch jemand, der ihr einfach Zeit schenkt und
Zuwendung und Aufmerksamkeit. Und unsere
FUGE-Mitarbeiterin genießt es, wenn sie von dieser warmherzigen Frau, so richtig fest gedrückt
und „durchgeknuddelt“ wird, vor lauter Dankbarkeit für den Besuch.
FUGE-Einsatzleitung in Esslingen:
AG der Krankenpflegevereine
Wäldenbronnerstr. 39
73732 Esslingen
Tel.: 0711-36 55 565
Fax: 0711-36 57 420
fuge@krankenpflegevereineesslingen.de
Sichtweisen 10/2009
Wohnberatung
auch ein Thema für Menschen mit Handikap
Die Wohnberatungsstellen haben
sich zum Ziel gesetzt,
Menschen mit körperlichen Einschränkungen zu helfen, um
ihnen in ihrer vertrauten Umgebung die nötige Sicherheit und
Unabhängigkeit zu erhalten. Deshalb möchten wir unser Beratungsangebot näher
erläutern.
Die Wohnberater führen Beratungen über
Wohnraumanpassungsmaßnahmen direkt in der
Wohnung des Ratsuchenden durch. Bei dieser
Beratung wird die Wohnung nach Hindernissen
und Gefahrenquellen überprüft. Gleichzeitig
empfehlen die Wohnberater passende Lösungsmöglichkeiten und bei Notwendigkeit den Einsatz
von Hilfsmitteln, technischen Hilfen und bauliche
Veränderungen.
Dem Ratsuchenden wird später eine kleine
Checkliste übersandt, in der alles Wissenswerte
aufgeführt wird. Als Auslagenersatz wird ein Betrag in Höhe von 15 Euro in Rechnung gestellt.
Falls Sie eine Hilfestellung benötigen, nachstehend alle Wohnberatungsstellen im Landkreis
Esslingen:
Wohnberatung Kirchheim
erreichbar über das Haus der Sozialen Dienste
Telefon:
07021 / 502-334
zuständig für:
Bissingen, Dettingen, Erkenbrechtsweiler,
Hochdorf, Holzmaden, Kirchheim, Köngen,
Lenningen, Neidlingen, Notzingen, Ohmden,
Owen, Weilheim, Wendlingen, Wernau
Wohnberatung
Leinfelden-Echterdingen
erreichbar über die Seniorenfachberatung
Telefon:
0711 / 16 00-299
zuständig für Leinfelden-Echterdingen
Wohnberatung Nürtingen
erreichbar über das Forum Esslingen
Telefon:
0711 / 35 74 20
zuständig für:
Aichwald, Altbach, Esslingen, Baltmannsweiler,
Deizisau, Lichtenwald, Plochingen, Reichenbach
erreichbar über den Bürgertreff
oder die Diakoniestation
Telefon:
07022 / 75-367 oder 75-366
07022 / 9 32 77-0
zuständig für:
Altdorf, Neuren, Bempflingen, Frickenhausen,
Großbettlingen, Kohlberg, Neckartailfingen,
Neckartenzlingen, Nürtingen, Neuffen,
Oberboihingen, Unterensingen, Wolfschlugen
Wohnberatung Filderstadt
Wohnberatung Ostfildern
erreichbar über die IAV-Stelle
Telefon:
0711 / 70 03-303
zuständig für:
Aichtal, Altenriet, Filderstadt, Schlaitdorf
erreichbar über die Leitstelle für ältere Menschen
Telefon:
0711 / 44 20 71
zuständig für:
Denkendorf, Neuhausen, Ostfildern
Wohnberatung Esslingen
Sichtweisen 10/2009
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Marktplatz
Büchermarkt
Wenn nichts mehr so ist, wie es war…
Von Ina Lorenz,
Engelsdorfer Verlag,
ISBN-10:
3938607971,
ISBN-13: 9783938607978,
18,- EUR
Die Autorin verarbeitet in diesem Roman
unter dem Pseudonym Ina Lorenz ihre eigene Lebensgeschichte.
Nach einem harmlosen Skiunfall wird sie ins
Krankenhaus eingeliefert und nach einiger Zeit
wieder nach Hause entlassen. Dort fällt sie in ein
Koma und ist vollständig gelähmt. Nach fünf Monaten auf der Intensivstation bildet sich die Lähmung linksseitig zurück, doch die Autorin bleibt
dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen. Während
sie darum kämpft, wieder gesund zu werden, erlebt sie eine Katastrophe, als ihr Ehemann sich
ausgerechnet einer Oberärztin zuwendet und die
behinderte Frau ihretwegen verlässt. Während sie
sich mit ihrem neuen privaten Schicksal auseinandersetzen muss, ändert sich auch die gesellschaftliche und politische Ordnung um sie herum, das
Ende der DDR.
Gemeinsam mit ihrer Tochter unternimmt
die Autorin als behinderte Frau jene Reisen, die ihr
zuvor nicht erlaubt waren.
Dem eigenen Leben auf der Spur
Von Felix Bernhard,
Scherz,
ISBN-10:
3502150931,
ISBN-13: 9783502150930,
18,90 EUR
Der Autor feiert seinen Geburtstag zweimal
im Jahr. Das zweite Geburtstagsfest fällt auf den
Tag nach seinem Motorradunfall. Felix Bernhard
sitzt seit diesem Unfall im Rollstuhl.
Auch in diesem Buch geht es um die Bewältigung einer plötzlichen Behinderung. Für Felix
Bernhard führte der Weg auf die bekannteste Pilgerroute Europas. Ungefähr 1200 Kilometer legt
er zurück, von Sevilla nach Santiago de Composte
la. Die Route führt ihn über Wege in sengender
Hitze und durch Regen schlammig gewordene
Pfade. Immer wieder gerät er in Situationen, die
ihn an die Grenze bringen. Sei es durch einen Platten an seinem Rollstuhl oder auch durch Passagen, die mit dem Rollstuhl nicht zu überwinden
sind.
Felix Bernhard gewährt einen tiefen persönlichen Blick in sein Leben vor und nach dem Motorradunfall und seinen Weg, mit der Situation zurechtzukommen. So erzählt er, dass „es noch mal
mehrere Jahre dauert, bis auch der Kopf im Rollstuhl sitzt“.
Ihr Buch endet mit den Worten „Ich habe
mich an mich gewöhnt.“
Es handelt sich um eine außergewöhnliche
Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal,
das Mut und Hoffnung macht für all jene, die mit
eigener Behinderung konfrontiert sind.
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Sichtweisen 10/2009
Normal bin ich nicht behindert!
Von Winfried Palmowski und Matthias
Heuwinkel, Verlag
Modernes Lernen,
ISBN-10:
3861451980, ISBN13: 978-3861451983,
19,50 EUR
In der Vergangenheit bestand Sonderpädagogisches Handeln darin, Menschen mit Behinderung so weit wie möglich an eine sogenannte normale Wirklichkeit heranzuführen. Wie die Menschen mit Behinderung sich selbst und ihre Umgebung wahrnehmen, war zweitrangig.
Palmowski und Heuwinkel versuchen in diesem Buch, nachdem sie eine Einführung in das
konstruktivistische Denken geben, sich an die
Realität von Menschen mit Behinderung anzunähern. Sie zeigen – aufgrund des konstruktivistischen Ansatzes – dass die Menschen unterschiedliche Vorstellungen von Wirklichkeit haben und
dies auch für Menschen mit Behinderung zutrifft.
Sie greifen immer wieder auf Interviews zurück, die im Buch mit abgedruckt sind, die die
Wahrnehmungsweise der Interviewten anschaulich verdeutlicht. So antwortet z.B. ein Interviewpartner auf die Frage, ob er weiß, warum er
auf der Schule für Geistigbehinderte ist, mit dem
Satz: „Weil ich begeistert bin.“ Das Buch überzeugt dadurch, dass verdeutlicht wird, wie facettenreich der Begriff Behinderung ist und dass
nicht Jeder oder Jede, der/die als behindert bezeichnet wird, diese Bezeichnung mittragen kann
und macht begreiflich, dass es bei dem Begriff
„Behinderung“ in erster Linie um eine Konstruktion handelt, die sich an der „normalen“ Realität
unserer Gesellschaft orientiert.
Sichtweisen 10/2009
Verantwortung für Menschen
mit geistiger Behinderung
Von
Martin Th. Hahn (Hg.),
Diakonie-Verlag,
ISBN 9783938306154,
19,- EUR,
Zu beziehen über den Verlag direkt
(07121/278869) oder über die D. Ludwig-SchlaichStiftung (info@ludwig-schlaich-stiftung.de)
In diesem Buch kommen Zeitzeugen zu
Wort, die die Entwicklung der Behindertenhilfe in
Ost- und Westdeutschland nach dem 2. Weltkrieg
schildern. Unter den Autoren befinden sich sowohl Fachkräfte als auch Angehörige von Menschen mit einer Behinderung.
In den persönlichen Schilderungen wird erzählt, wie sich nach der NS-Zeit, in der Menschen
mit Behinderung keinerlei Existenzrecht hatten,
sich deren Lebenssituation wandelte.
Es kommen Zeitzeugen zu Wort, die diese
Veränderung maßgeblich mit begleiteten.
Dadurch hat man die Möglichkeit, einen persönlich geprägten Einblick in die letzten Jahrzehnte der Behindertenhilfe zu erhalten und Zusammenhänge zu erkennen, die für die gegenwärtige Behindertenhilfe wichtig sein könnten.
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Marktplatz
Reisen
NatKo – Tourismus für Alle!
Hand in Hand – Ferienhaus am Bodensee
Die Nationale Koordinationsstelle Tourismus
für Alle: Dieser Ansprechpartner rund um das
Thema „barrierefreies Reisen“ präsentiert sich
mit einer umfassenden Website im Internet. Menschen mit Behinderung finden hier Unterstützung
bei der Suche nach barrierefreien Angeboten für
den Urlaub oder auch für Ausflüge.
Das Ferienhaus mit Blick auf die Stadt Bregenz liegt in einem 2500 qm großen Grundstück
und wird von einer Sozialpädagogin geführt. Diese
hat das Haus im Jahr 1999 eröffnet, mit dem Ziel,
Menschen mit Behinderung ein Ferienangebot
machen zu können und gleichzeitig Familienmitglieder und andere Betreuungspersonen zu entlasten. Wichtig ist dem Trägerverein Ferienhaus
Hand in Hand e.V. u.a. die Schaffung einer Atmosphäre der Sicherheit und des Vertrauens und die
Förderung von Sozialkontakten.
Neben praktischen Infos zu Reisezielen in
Deutschland und Europa wird auf der Website
auch über aktuelle Themen berichtet, wie z.B. eine
öffentliche Konferenz für ein barrierefreies Naturerleben blinder und sehbehinderter Menschen.
Es finden sich umfangreiche Reiseinfos z.B.
zu den Themen Wohnen und Schlafen, Essen und
Trinken, Service und Assistenz aber auch Infos zu
Reiseveranstaltern und regionale Infos.
Wer nicht das passende für sich findet, hat
auch die Möglichkeit, direkt mit der Koordinationsstelle Kontakt aufzunehmen.
Nationale Koordinationsstelle
Tourismus für Alle e.V.
Kirchfeldstr. 149 · 40215 Düsseldorf
Telefon: 0211 – 33 68 001 · Fax: 0211 – 33 68 760
E-Mail: info@natko.de
www.natko.de
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Es werden insgesamt 6 Ferienplätze (Einzelund Doppelzimmer mit Vollpension) für Menschen
mit Behinderung in familienähnlicher Struktur angeboten.
Das Freizeitangebot ist umfangreich: hierzu
gehören Tagesausflüge, Baden und andere sportliche Betätigungen; und auch im Winter ist das Ferienhaus einen Besuch wert. Man kann Pferdeschlitten fahren, ins Thermalbad gehen, etc. Das
Programm richtet sich nach den Urlaubern. Ein
Besuch im Ferienhaus ist ab 122,-€ Tagespauschale zu haben.
Ferienhaus Hand in Hand
Gemeinnütziger Verein e.V.
Bodenseestrasse 19
88138 Sigmarszell / Bodensee
Telefon: 08389 – 264 · Mobil: 0173 – 1524016
E-Mail: rezeption@handinhand-ferien.de
www.handinhand-ferien.de
Sichtweisen 10/2009
Schwarzwald-Guide Geocaching
Stadtführer Barrierefrei durch Tübingen
Lust auf eine Schnitzeljagd? Margot Laufer ist ein
Schwarzwald-Guide. Das heißt, sie ist eine besonders geschulte Natur- und Landschaftsführerin aus
der Region des Schwarzwaldes. Frau Laufer bietet
barrierefreie Erlebniswanderungen an. Auf der
Website wird gut erklärt, welche Touren angeboten werden und mit welchen Steigungen man als
Rollstuhlfahrer zu rechnen hat. Wenn gewünscht,
wird auch eine Unterstützung beim Schieben organisiert.
Auf der Website des Sozialforums Tübingen
e.V. ist ein Stadtführer online abrufbar. In dieser
Datenbank finden sich Informationen zu barrierefreien Geschäften, Ämtern und Einrichtungen in
Tübingen. Neben der Möglichkeit, in unterschiedlichen Kategorien (z.B. Ämter und Behörden, Einkaufen und tägliches Leben) nach einer gewünschten Information zu suchen, finden sich in
der Navigationsleiste auch übergeordnete Begriffe, wie z.B. wo behindertengerechte Toiletten
oder Parkplätze zu finden sind. Hervorzuheben ist,
dass bei der Suche unterschiedliche Anforderungsprofile angegeben werden können, wie z.B.
die Zugänglichkeit zum Gebäude oder auch Hinweise für Blinde und Sehbehinderte.
Der Begriff Geocaching beschreibt eine Art
elektronische Schnitzeljagd. Die „Schatzsucher“
werden mit einem GPS ausgerüstet und losgeschickt. Der Begriff „Cache“ steht hierbei für
Schatz oder Versteck. Mit Hilfe des GPS-Gerätes
müssen über mehrere Stationen hinweg versteckte Hinweise gefunden, knifflige Rätsel und
Aufgaben gelöst werden, um am Ende einen
„Schatz“ bergen zu können.
Auch diese Geocaching-Touren werden barrierefrei angeboten. Man kann wählen zwischen
der Tour „Der Schatz im Teuchelwald“ oder einer
Geocaching-Tour rund um den Marktplatz Freudenstadt, der etwas anderen Stadtführung.
Infos und Anmeldung:
Margot Laufer
Bodelschwinghstr. 10/3 · 72250 Freudenstadt
Telefon: 07441 – 863380
Fax: 07441 – 863381
E-Mail: margot@die-laufers.de
www.schwarzwaldguide.info
Sichtweisen 10/2009
Es gibt auch die Möglichkeit, auf der Website eine PDF-Version herunterzuladen.
Kontakt und Information:
Koordinationstreffen
Tübinger Behindertengruppen
Neustadtgasse 2 · 72072 Tübingen
Ansprechpartnerin Elvira Martin
Dienstag 14 bis 16 Uhr und nach Vereinbarung
Tel:0 70 71 – 2 69 69
Fax: 0 70 71 – 55 17 78
www.sozialforum-tuebingen.de/
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Liebe Leserin, lieber Leser,
wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen
zu den »Sichtweisen« Nr.10.
Leserbriefe mit Ihren Meinungen und Rückmeldungen,
mit Lob und Kritik sind uns immer willkommen.
Wir freuen uns weiterhin über Beiträge „externer“
Schreiberinnen und Schreiber, die auch in dieser Ausgabe
die „Sichtweisen“ mit interessanten Artikeln bereichert
haben. Und sollten Sie sich vorstellen können, regelmäßig
bei den „Sichtweisen“ mitzuwirken, möchten wir Sie gerne
als neues Redaktionsmitglied begrüßen.
Das Redaktionsteam
Älter werden mit Behinderung
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Sichtweisen 10/2009
Gestaltung und Realisation: www.logowerbung.de
Sichtweisen
Michael Köber
Landratsamt Esslingen
73726 Esslingen am Neckar
Telefon (0711) 3902-2634
E-Mail: Koeber.Michael@lra-es.de