Moutschen Linda
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Moutschen Linda
Von wertlos zu wertvoll: Über Wert und Wiederverwertung von Müll in der Kunst Par la présente, je soussignée, Linda MOUTSCHEN, déclare avoir réalisé ce travail par mes propres moyens. 2 MOUTSCHEN Linda Professeure candidate nommée au Lycée Michel-Lucius à Luxembourg Von wertlos zu wertvoll: Über Wert und Wiederverwertung von Müll in der Kunst Luxembourg 2014 3 Kurzfassung: Die vorliegende Arbeit behandelt die vielfältigen Wiederverwertungsmöglichkeiten des von der Gesellschaft abgestoßenen und scheinbar wertlosen Materials Müll. In einem thematischen Einstieg, einer Art Materialkunde, wird der Facettenreichtum des Materials erläutert. Hieraus schließt sich, dass Müll durch Recycling nicht nur zum wertvollen Rohstoff wird, er hat einen weitaus vielschichtigen Mehrwert. Der Hauptteil besteht aus einer Art Künstlerfundus, sowie einer Analyse der vielseitigen Eigenschaften des Mülls im kunsthistorischen Kontext. Um die Problematik von Müll in der Kunstwelt und die Konfrontation von Wertlos und Wertvoll in ihrer Ganzheit zu erfassen, wird eine Art „Mülltrennung“ vorgenommen. Hierbei werden unterschiedliche Eigenschaften von Müll sortiert. Jeder Künstler verfolgt seine ganz individuellen Interessen um mit dem Material zu arbeiten. So wird das Material einer philosophischen Lektüre unterzogen, die stofflichen Parameter werden herausgearbeitet und seine vielseitigen praktischen Anwendungsmöglichkeiten werden wahrgenommen. Der Müll wird als Dokument unseres Alltags, als Erinnerungsstück unseres Lebens sowie als kritischer und aussagekräftiger Zeitzeuge betrachtet. Von Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zum zeitgenössischen Kunstgeschehen bietet die Bühne der Kunst dem Müll vielseitige Möglichkeiten um an Wert zu gewinnen. Es wird erklärt, auf welche Weise Künstler wie Mario MERZ, ARMAN oder Daniel SPOERRI sowie zahlreiche zeitgenössische Künstler und Designer das schäbige Material in einen neuen Kontext setzten und den Wert von Müll als Objekt der Kunst neu definieren. Die theoretische Arbeit wird durch eine Reihe persönliche gestalterische Recherchen untermauert. 4 Von wertlos zu wertvoll: Über Wert und Wiederverwertung von Müll in der Kunst Einleitung Teil 1: Zum Material Müll 1.a Terminologie: Was ist Müll? 1.b Wiederverwertung: Über Leben und Tod im Zyklus der Konsumgesellschaft 1.c Potenzial: Der Wert des Mülls Teil 2: Zum Müll als Objekt der Kunst 2.a Philosophische Lektüre: Die Renaissance des Totgeglaubten, die Transzendenz des Wertlosen und die Ästhetik von Müll 2.b Stoffliche Lektüre: Die Form und Antiform des Materials 2.c Dokumentarische und poetische Lektüre: Die Geschichte des Weggeworfenen 2.d Kritische Lektüre: Mangel, Last und Nachhaltigkeit 2.e Praktische Lektüre: Re-Design und Um-Funktion von Müll Schlusswort Bibliografie 5 6 Einleitung: «Rien ne se perd, rien ne se crée, tout se transforme.»1 Antoine Laurent LAVOISIER (1743-1794) Vor immerhin 250 Jahren etablierte der französische Chemiker LAVOISIER das chemische Gesetz, dass nichts von sich aus verloren geht, kein Material einfach so verschwindet und kein Stoff aus dem Nichts heraus neu entsteht. Jedes chemische Element, Bauteil allen Materials, ist hingegen wandelbar und verändert sich unter bestimmten Voraussetzungen. Ob Wasser, Eis oder Dunst, die Materie bleibt in Bewegung und nichts ist dem ewigen Stillstand geweiht. Aus der Idee der materiellen Transformation entwickelt sich der Leitfaden meiner These. Diese naturwissenschaftliche Erkenntnis lässt sich nicht nur auf molekularer Ebene feststellen. Das Gesetz der Veränderung findet sich auch in Materialien und Dingen aus unserem Umfeld wieder. Sie unterliegen über kurz oder lang Verwandlungen. In der vorliegenden These konzentriere ich mich in erster Linie auf die von der Gesellschaft ausgesonderte Materie: unseren Müll. Das von uns weggeworfene Material soll nicht mehr verloren gehen, sondern uns Menschen erneut vor Augen geführt werden. Durch Recycling, Restauration, Umgestaltung und Wiederverwertung wird dieses Material dem Kreislauf des Konsumguts nicht total entrissen, sondern erhält eine neue Form, eine neue Funktion, einen neuen Kontext, eine neue Bedeutung und somit einen neuen Wert. Mein Interesse für dieses Thema rührt aus eigenen Erfahrungen in meiner Kindheit. Aus Liebe zum Material, aus Sammelleidenschaft und Sentimentalität hob ich bereits damals allerlei Kleinkram auf, den sonst jeder entsorgen würde wie: Muschelschalen vom Abendessen, Baumrinden vom Sonntagsspaziergang, reifenlose Micromachine-Autos von meinen Brüdern, einzelne Barbiepuppenschuhe, zerbrochene Fliesen oder schön rostige Wasserhähne. Auch heute bewahre ich noch jegliches Kleinzeug auf, welches sich bei der Renovierungsarbeit unseres Bauernhofs findet oder das ich jedes Jahr Mitte Juli aus den Mülltonnen der Kunstsäle ziehe; immer mit der Idee, die Dinge, die andere weggeworfen haben, irgendwann noch einmal gebrauchen zu können. Nicht nur, dass ich es zu schade finde Material zu vergeuden. Sobald ich Potential in altem Schrott erkenne, male ich mir bereits neue Formen dafür aus. Zuvor abgestoßene Objekte werden somit in meinem Kopf gleich lebendig, unmöglich sie dann wieder auszurangieren. So ist es auch kein Wunder, dass ich es liebe in voll gestopften Speichern, auf Trödelmärkten, in Brockenhäusern und Recyclingzentren herumzustöbern. Dann bricht in mir das Jagdfieber aus. In diesen Goldgruben findet man gelebte und lebendige Gegenstände zum Mitnehmen, zum Sammeln, zum Verbasteln. So wird der Flohmarkt für mich zum Museum für „take-away art pieces“2,ein Festmahl für die kreative Seele. Durch die aktive Wiederverwertung (franz.: la récupération) habe ich für mich gelernt, meine Sammelleidenschaft kreativ zu nutzen und altes, weggeworfenes, vergessenes, scheinbar wertloses Material zu neuen Formen umzugestalten. Um es mit den Worten der Schüler zu beschreiben: „I pimp my garbage“. 1 LAVOISIERs Gesetz der Massenerhaltung: „Nichts geht verloren, nichts wird geschaffen, alles verändert sich“. 2 Der Begriff „Take-away Art“ wird für Werke von Künstlern wie dem Kubaner Felix GONZALEZ-TORRES oder dem Briten Bill WOODROW benutzt. Sie erlauben den Besuchern ein Stück ihrer Installationen, wie Bonbons oder Münzen, einfach mitzunehmen. 7 Regelmäßig wühle ich dann in meinem Fundus und „tune“ alte Gegenstände, gebe ihnen eine neue Form, eine neue Funktion, passe sie meinem Lebens- und Wohnraum neu an. So nähe ich vererbte Kleider um, bemale und gestalte Möbel neu, bastle Schmuck aus kleinem Krimskrams, setze Fund- und Erinnerungsstücke zu Mosaiken zusammen. 3 In erster Linie treibt mich also meine eigene Leidenschaft dazu, dieses Thema aufzugreifen. Im Verlauf der These habe ich mich immer wieder auf die unterschiedlichen Qualitäten des Mülls sowie auf Möglichkeiten seiner Transformation eingelassen um eigene Produktionen zu erarbeiten. Dieses zyklische Wieder-neu-Aufleben von zuvor abgesondertem Material und ausgedienten alten Dingen beschäftigt mich auch in meiner alltäglichen Praxis als Pädagogin. Im schulischen Rahmen kann ich jungen Menschen den Umgang mit ihrem Müll näher bringen und sie zugleich auf wichtige fachliche Themenkreise aufmerksam machen, ihnen Form, Farbe, Funktion, Materialverarbeitung und –umgestaltung anhand alltäglicher Dinge visualisieren und ihnen den Restwert von Abfall erkennbar machen. Müll ist ein so vielseitiges Arbeitsmaterial. In einem Akt der qualitativen Mülltrennung werde ich seine Facetten aussortieren und unterschiedliche Wege suchen, wie Müll durch materielle, formale, emotionale Transformation aufgewertet werden kann. Ich werde aufzeigen, auf welche Arten Müll wiederverwertet wird, an Wert gewinnt und wertvoll wird. Ich werde erklären aus welchen Überzeugungen heraus unterschiedliche Künstler wertloses, weggeworfenes, unnützes Material wieder in einen aktiven und kreativen Prozess aufnehmen, um so Abgeschobenes und scheinbar Unsichtbares der Welt erneut sichtbar zu machen. 3 Dies ist ein Mosaikspiegel aus Dingen und Fragmenten, die ich bei Aufräumarbeiten in unserem Haus und Garten gefunden habe. Da wir keine alten Fotos des Gebäudes besitzen, sind diese Reliquien für mich zu einer Art Erinnerungsrahmen für die vergangenen 200 Jahre Hausgeschichte geworden. 8 TEIL 1: Zum Material Müll 1.a Terminologie: Was ist Müll? Was ist eigentlich Müll? Ein Material, eine Ansammlung verschiedener Materialien, ein Haufen Abfall, Schrott, Kehricht, Schutt, Ballast, Dreck, Unrat, Gerümpel, Rest, Rohstoff, Konsumwaise…, ein Zustand, eine Eigenschaft, ein Problem? Es existieren jede Menge Synonyme und Nuancen des Begriffs Müll, viele Wörter um das zu bezeichnen, was dem Menschen nicht mehr nützlich erscheint und was er aus seinem Lebensraum verbannt, also wegwirft. Karl-Josef PAZZINI meint: „Müll ist das, was abfällt, beim gesamtgesellschaftlichen Verdauungsprozess.“4 Ist Müll somit unser aller Ausscheidung? Müll ist zu allererst legal definiert, denn unser Abfall hat, trotz Minderwert, ein Recht: eben Abfallrecht. Als Teilbereich des Umweltrechts definiert das Abfallrecht nicht nur den legitimen Umgang mit Müll, seinen Transport sowie seine Entsorgung. Der Hauptartikel des deutschen Abfallrechts (§3.KrWG)5 definiert zudem den Begriff Abfall als „alle beweglichen Sachen (...) Stoff oder Gegenstand, dessen sich sein Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss“. Entledigen bedeutet hier, „die Sachherrschaft über einen Gegenstand aufgeben“. Aber wie erkennt man eindeutig, ob jemand die Absicht hat etwas wegzuwerfen? Der Abfallbegriff scheint somit wohl rechtlich geregelt, diese Definition weist allerdings einen erheblichen Interpretationsspielraum auf und lässt Fragen über die persönliche Bewertung von Müll und Nicht-Müll offen.6 Müll und Abfall sind laut Abfallgesetz gleich bedeutend, doch für einige Theoretiker wie den Schweizer Kunstpublizisten und Ausstellungsmacher Paolo BIANCHI unterscheiden sich beide Begriffe Abfall und Müll voneinander: „Abfall, das meint das Abfallen der Blätter oder eines Apfels vom Baum,... Müll ist menschengemacht, beabsichtigt, recyclierbar und materiell.“ Paolo BIANCHI7. Hier scheint das Abgestoßene gleich etwas poetischer, denn Abfall repräsentiert für BIANCHI eine Art Bewegung des Materials. Der Ausdruck schmeichelt dem Material und meint eher einen natürlichen Rest, einen Anteil, der in einem Prozess dabei ist von etwas Ganzem abzufallen. Das Wort Müll ist hingegen eine direkte Bezeichnung für greifbares Material, welches als feste Instanz im Rhythmus der Konsumgesellschaft mit einkalkuliert ist. Es wirkt wie ein knallhart berechnetes Opfer der Massenproduktion: zuerst wird es besorgt, dann benutzt, dann entsorgt, 4 Karl-Josef PAZZINI wurde zitiert von Paolo BIANCHI, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 38. 5 Das Kreislaufwirtschaftsgesetz, auch KrWG, ist das zentrale Bundesgesetz, welches die Meidung oder Minderung von Abfällen, sowie den nachhaltigen Umgang mit Müll regelt. Ziel ist es, wertvolle Rohstoffe so lange wie möglich in einem Nutzungskreislauf zu behalten. Die Erstauflage geht auf das Jahr 1994 zurück. 6 Ich habe mich auf die deutsche Gesetzgebung bezogen, da ich Missverständnisse bei der Übersetzung vermeiden wollte. Zudem ist eine europäische Direktive zu Müll derzeit noch nicht existent. 7 Paolo BIANCHI, „Alles Abfall“, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 38. 9 sich somit dessen entledigt und endgültig erledigt. Nach dieser Zerstörung besteht allerdings die Hoffnung, wieder kontrolliert neu aufgebaut und in einen temporären zyklischen Nutzungsprozess aufgenommen zu werden. Abfall bleibt sozusagen rein, fruchtbar und funktioniert im Einklang mit der Natur, wohingegen Müll industriell und synthetisch erscheint. Beide Bezeichnungen bieten dem abtrünnigen Material jedoch Aussicht auf einen neuen Lebenszyklus, auf Transformation und somit auf eine Zukunft. Zur Unterscheidung der beiden Begriffe meint der deutsche Soziologe Andreas NEBELUNG hingegen: „Abfall ist das ausgeschlossene Dritte, Müll ist noch systematisierbar, recyclingfähig, verwendbar. Abfall ist es nicht. [Abfall ist] das Entzauberte, Wertlose und Entrechtete, so wird er entsorgt“8. In seiner Auffassung ist Müll konkret greifbares Material und unserem System noch von Nutzen. Abfall hingegen ist ein Zwischenfall, gehört weder richtig zur Konsumgesellschaft, noch zur Natur und fristet somit ein gespenstisches Dasein zwischen zwei Welten. Entgegen den Auffassungen von BIANCHI und NEBELUNG wird auf der online Enzyklopädieplattform Wikipedia9 das Wort Abfall gleichbezeichnend mit Müll aufgelistet. Danach bestimmt es global gesehen „falsches Material zur falschen Zeit am falschen Ort“.10 Was bedeutet eigentlich falsch? Müll ist doch kein „falsches Material“ sondern echtes, reales Material. Müll lässt sich wiegen, anfassen, riechen. Meint falsch vielleicht schlecht, im Sinn von böse oder ungewollt, verbannt aus der Gesellschaft, Opfer unseres unumsichtigen Konsumverhaltens? Und was heißt „am falschen Ort“? Ist der Mülleimer so ein „falscher Ort“? Ist Müll nur an unpassenden Orten als solcher zu erkennen? Wenn Müll nur am „falschen Ort“ existiert, wo ist dann sein „richtiger Ort“? Nehmen wir uns ein praktisches Beispiel: Auf dem Bordstein steht ein älteres, etwas ramponiertes aber funktionstüchtiges Sofa. Es ist kein Umzugswagen in Sicht, doch der kommunale Sperrmülltag rückt näher. Der Umstand, dass das Sofa nicht in seiner Funktion an einem für es bestimmten Ort wie einem Wohnzimmer steht, sondern auf dem Gehweg, erscheint fatal. 11 8 Andreas NEBELUNG, „Das ausgeschlossene Dritte“, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 83. 9 Ich habe diese Quelle gezielt in meine Arbeit aufgenommen, um eine pauschale Meinung und Erklärung zu erhalten und um zu belegen wie unterschiedlich die Definitionen des Wortes Müll in der Gesellschaft sind. Wikipedia ist eine freie Online-Enzyklopädie, die sich zu einem großen Teil aus dem Wissen seiner User zusammensetzt. Jeder hat die Möglichkeit Artikel unentgeltlich zu lesen und zu bearbeiten. 10 http://de.wikipedia.org/wiki/Abfall, eingesehen im Juni 2011. 10 Sperrmüll scheint somit eine Frage des Kontextes zu sein: „Gehsteig“ ist hier gleichbedeutend mit „ab zur Deponie!“. Was für den Sperrmüll der Straßenrand ist, ist für unseren Hausmüll der Rand des Mülleimers. Wie das Damoklesschwert richtet er über die Grenze zwischen richtig oder falsch, gut oder böse. Dieser Rand entscheidet über Leben und Tod eines Objekts. Doch ist der räumliche Kontext der einzige „Übeltäter“? Müll ist zudem ein temporäres aber zyklisches Phänomen. Jedes Objekt kann zu einem bestimmten Moment Müll sein oder auch nicht. Nun gehen einige Passanten an dem deponierten Sofa vorbei. Dem ersten erscheint es wie ein ekliger, übelriechender, von fingergroßen Monsterbakterien durchsetzter Schmuddelberg - bloß schnell weg damit! Ein zweiter Passant ist redlich angetan vom Objekt und erkennt in ihm ein originelles, knallbuntes 70er Jahre Fundstück mit Flair und voll Kindheitserinnerungen. Dieser organisiert sich schnell zwei Kumpel und packt ihn in seine Studentenbude. 12 Was für den einen Müll ist, wird von jemand anderem als nützliches oder wertvolles Objekt angesehen. Wie eine heimatlose herumirrende Waise wird Schrott oder auch Müll abgelehnt oder aber in einem neuen Zuhause aufgenommen. Müll ist also nicht an sich schlecht oder falsch, sondern wird erst durch die Sichtweise und die (Vor-) Urteile jedes Einzelnen zum Unwesen der Gesellschaft. Jeder bestimmt für sich selbst, ob ein Objekt einen Nutzen hat – sei er praktischer oder sentimentaler Natur – und folglich an richtiger oder falscher Stelle steht. Müll definiert sich in meinen Augen somit weder durch Raum, noch durch Zeit, sondern alleine durch die persönliche Bewertung eines jeden Benutzers von einem Objekt. Müll entsteht durch 11 Der Schweizer Konzeptkünstler Eric HATTAN („On the road – Paris“, 2002-03, Fotoserie) und die italienische Kunstfotografin Paola DI BELLO („Concrete Island“, 1997, Diaprojektion) bieten uns zwei fotografische Sichten auf (hin-) ausgesetzte Sofas. 12 Die französisch-türkisch-stämmige, in Zürich lebende Künstlerin und Second-Hand Expertin Aline OZKAN erlaubt uns einen Blick in eine Wohnung, die ausschließlich mit Waren aus zweiter Hand eingerichtet wurde. „Brockenhaus-Zimmer“, Ausstellungsansicht „Alles Abfall? Recycling im Design“, Museum Bellerive, Zürich, 2003. 11 den mentalen und physischen Aussonderungsprozess eines Materials oder Objekts. Der Ausdruck Müll wird in ein Objekt hineininterpretiert oder projiziert und existiert - ähnlich einem Vorurteil oder Fluch - als abstrakter Begriff, als Materialeigenschaft. Das Konsumgut wird schlecht. So bezeichnet der Ausdruck Müll einen relativen und vor allem subjektiven Wesenszustand, den Charakterzug eines Objekts und kein konkretes und definiertes Objekt. Es gibt folglich keine eindeutige Definition von Müll. Eine Definition hat immer etwas Finales, benennt etwas Konkretes, hält einen Begriff fest, doch Müll ist eine schwer definierbare Materie. Müll ist weder zwingendermaßen dreckig oder schäbig, noch kaputt oder gänzlich nutzlos. Müll kann alles sein, ebenso wie nichts wirklich Müll sein muss. Müll ist tot und scheint zugleich mehrere Eigenleben zu führen. Müll ist extrem. Müll ist transformierbar. Müll ist relativ. Müll liegt im Auge des Betrachters. Und genau in diesem unsicheren und gleichzeitig flexiblen Wesen des Materials, in seiner Wandlungsfähigkeit, steckt enormes Potential, ein enormer Wert, den es auszuschöpfen gilt. 12 1.b Wiederverwertung: Über Leben und Tod im Zyklus der Konsumgesellschaft Die Natur regelt ihren Haushalt in einem natürlichen zyklischen Vorgang selbst. Durch die Zersetzung von biologischen Stoffen wird neues Leben, neue Energie erzeugt: der Baum verliert Blätter, die von Würmern und Bakterien zersetzt werden, deren Ausscheidungen den Boden düngen, sodass der Baum wieder neue Nährstoffe erhält um im kommenden Jahr die Blätter wieder sprießen zu lassen. Der Mensch musste allerdings lernen, wie er seinen zusehends synthetischer werdenden Haushalt selbst regelt. Zwar erleichtern künstlich hergestellte Produkte wie Plastikverpackungen unseren Alltag, doch unser Abfall wird dadurch für die Natur unverdaulich. Produkte werden kurzlebiger, natürliche Ressourcen schwinden und die Erde versinkt unter einem Müllberg. Einmal ausgedient wird der Müll schnellstmöglich beseitigt - Endstation Mülldeponie! Die moderne Massenkonsumgesellschaft drängt wertvolle Rohstoffe schnell wieder in einen nutzungsfreien Status zurück, wo sie sich unaufhaltsam ansammeln und zum Problem werden. Die Wegwerfgesellschaft behält ihren Müll in einem wa(h)ren Teufelskreis! Doch führen wir uns kurz vor Augen, was der Begriff „wegwerfen“ eigentlich bedeutet. Heißt es nicht, etwas auf den Weg werfen? Es scheint für den Müll entscheidend zu sein, welchen Weg der Konsument für ihn vorsieht. Entweder verrotten die von ihm erzeugten Abfälle über kurz oder lang auf diesem Weg oder sie werden beWegt, durch Einsammlung, Trennung, Wiederverwertung. So bleibt Müll in einem materiellen und zyklischen Transformationsprozess. Der Zustand „Müll“ ist soweit nicht gezwungenermaßen definitiv. Paolo BIANCHI fordert: „Recycling statt Finalität“13. Durch die Wiederverwertung von Materialien, somit durch Recycling, bleibt das Material in Bewegung, in einem aktiven Lebenszyklus, in einem Nutzungskreislauf. Dem Rohstoff Müll stehen die Wege offen und er ist nicht mehr durch die Deponie zum ewigen Stillstand verurteilt. 14 Recycling ist zum allgegenwärtigen Schlagwort geworden. Unsere verschwenderische Wegwerfgesellschaft wird sich des Problems immer stärker bewusst. Bio, Recycling, Grün, sind nicht mehr nur Ideologie oder Schlagwörter einer konsumsüchtigen und gleichzeitig reumütigen 13 „Alles Abfall“, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 32. Das Recycling-Logo Der Grüne Punkt wurde von Duales System Deutschland entwickelt und ab 1994 in elf Ländern, später europaweit als Kennzeichnungssystem für wiederverwertbare Verpackungsmaterialien benutzt. Er soll dem Endverbraucher die Mülltrennung vereinfachen. Rechts daneben eine Variation des allgemeinen Recyclingsymbols (U+2672), entwickelt von Gary ANDERSON im Jahre 1969 und angelehnt an die unendliche Möbiusschleife. 14 13 Nachkriegswelt, sondern Notwendigkeit. Es unterstreicht den Willen einer Gesellschaft für das einzustehen und das zu kompensieren, was sie der Natur entnimmt.15 Eine umweltbewusste Müllbeseitigung ist fester Bestandteil unserer Erziehung. Die Mülltrennung praktizieren wir meist schon automatisch. Da unser Verbrauch sich jedoch noch nicht drastisch mindert, hat die Industrie stark energiefressende aber rentable Infrastrukturen entwickelt, Müll wieder in funktionales Material umzuwandeln. Wie läuft dieser künstliche Zyklus ab? Als erstes muss der Müllverursacher selbst Hand anlegen. Der Recyclingprozess setzt eine disziplinierte Trennungsgewohnheit der Konsumenten voraus. Hierbei wird der Konsument zum Richter und entscheidet über die Zukunft seines Abfalls: Die graue Tonne bedeutet das Todesurteil, gefolgt von Einäscherung oder Verscharrung in einem Massengrab. Die bunten Tonnen bedeuten Bewährung, also noch mal Glück gehabt! Blaue, grüne, braune oder gelbe Tonnen katapultieren unseren Abfall wieder auf den Weg in ein neues Leben. In die grüne Tonne wandern Bioabfälle, die blaue Tonne bunkert Altpapier und die blauen transparenten16 Varlorluxtüten sind reserviert für Dosen, TetraPak und Plastik.17 Einige Gemeinden bieten die braune Tonne für unkompliziertes Entsorgen von Glas an, ansonsten sind Sammelcontainer an öffentlichen Plätzen vorgesehen. Dann gibt es noch Altkleidersammlung, Sperrmüll und Grünschnitt. Batterien werden in speziellen Behältern gesammelt, giftige Farbbehälter kommen in Kartons für Sondermüll, alte Fliesen kommen in den Bauschutt-Container, behandeltes Holz wieder in einen anderen Container, Kleinzeug, das noch gebraucht werden kann ins Secondhand-Areal und beim restlichen getrennten Müll fragt man einfach den netten Angestellten des kommunalen Recyclingzentrums um Hilfe, Verwirrung vorprogrammiert! Schön waren wohl auch die Zeiten, als man vom Lumpensammler für alte Kleidung noch ein chinesisches Teeservice erhielt und Schweine die Essensreste in saftigen Speck umwandelten! Heute gilt das Trennen als selbstverständlich, der Lohn ist das gute Gefühl etwas für die Umwelt getan zu haben. All diese gesammelten Stoffe werden dann in unterschiedlichen Prozessen recycelt und somit der Konsumwelt kurzfristig entzogen. Es wird getrennt, gefiltert, gesäubert, getrocknet, gesiebt, ausgesondert, zerkleinert, pulverisiert, geschleudert, zusammengepresst, eingeschmolzen und in einer Kette von Prozessen zu neuen heterogenen Stoffen verarbeitet. Bei einem Recyclingvorgang entsteht aus Müll ein so genannter Sekundärrohstoff (z.B. Plastikgranulat), dem man Farbe und Form der vorangegangenen Stoffe meist nicht mehr ansieht. So werden neue Rohstoffe aus alten Konsumreliquien hergestellt. Verlierer der Runde: Der Restmüll! Alles Übriggebliebene landet in der grauen Tonne.18 Zu einem Teil wird dieser Müll vernichtet. In optimierten Verbrennungsanlagen kann so wieder Strom erzeugt werden. Zum anderen Teil wird der Müll unter einer Lehm-Erdschicht vergraben und man lässt „Gras darüber wachsen“. Interessanterweise lautet der Name der größten Mülldeponie 15 Die Bemühungen von Umweltorganisationen wie Greenpeace, WWF, Friends of the Earth oder Robin Wood tragen bereits ihre Früchte. Die Mission des 1993 von Michael Gorbatschow gegründeten grünen Kreuzes, das Green Cross International, lautet, ökonomische und politische Konflikte im Zusammenhang mit Umweltzerstörung zu schlichten. Die Organisation besteht auf eine weltweite Einschreibung der 1992 erarbeiteten Völkerrechtskonvention Erd-Charta in die Grundgesetzordnung. Diese fordert, dass jede Nation sich verpflichtet die Ökosysteme der Erde zu schützen und wiederherzustellen, sowie Schäden zu vermeiden bevor sie entstehen. 16 So erkennt man auf den ersten Blick wer richtig und wer falsch trennt. Schwarze Schafe der Abfalltrennung werden damit bestraft, dass die Tüten vor der Haustür liegen bleiben! 17 Farben und Materialzugehörigkeiten variieren je nach Gemeinde oder Land. 18 Bei der Anmeldung in unsere Gemeinde meinte der Beamte, dass alles getrennt werden könne. Streng gesehen gehören fast nur Babywindeln in die graue Tonne, denn wer amüsiert sich schon diese aufzutrennen?! 14 Luxemburgs „um Fridhaff“, also „auf dem Friedhof“. Es scheint als fänden dort die ausgelebten Dinge ihren ewigen Frieden. Ein Massengrab unserer Gesellschaftskonsumgüter. Hier wird totes Material zu Hügeln aufgeschüttet und ein blühender Schleier des Vergessens drübergelegt. Graue Tonne bedeutet somit für unseren Müll: Scheiterhaufen oder geologische Neugestaltung von Landschaftsstrichen. 19 Das Material verliert durch sein „Abfall“-en aus unserem direkten Lebensraum im besten Fall nur kurzfristig an Funktion. Durch Recycling begegnen wir das von uns abgeschobene Material im Alltag wieder. Ein Art Renaissance, also Wiedergeburt von totgeglaubtem Material. Aus Altglas wird Recyclingglas, aus Papier wird Karton, aus Altmetall entstehen Tetrapakbehälter, aus Tetrapak entsteht Dämmmaterial, leere Plastikflaschen werden zu neuen Plastiktüten, ausgediente Plastiktüten werden eingeschmolzen und zu Kunststoffgranulat aufbereitet, die Grundlage für wieder neue Plastikerzeugnisse, usw. Der Kreis der Produktionskette schließt sich somit nicht, sondern öffnet sich immer neu, wie ein vielschichtiger Lebenskreislauf 20. Die Wiederverwertung macht Müll zu einem wa(h)ren Schatz! 21 19 Persönliche Fotoarbeit über unseren Kehricht, aufgekehrt und angehäuft auf der Deponie „um Fridhaff“, aus der Sicht einer hungrigen Handschaufel. 20 Wir erinnern uns an LAVOISIERs Gesetz, das meine These einleitete. 21 An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich die Themen Atommüll und Tierkadaver bewusst nicht in meiner These erwähne, denn ihre Erläuterung würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Die künstlerische Verwertung von Tierkadavern schließe ich zudem aus ethischen Gründen aus. Atomarer Müll hingegen ist als „Material“ ungreifbar, unerreichbar, nicht steigerungsfähig und verheerend. Atommüll ist zum aktuellen Zeitpunkt nicht recyclingfähig, also auch nicht transformierbar. Jede Art der Renaissance ist demnach ausgeschlossen. 15 1.c Potenzial: Der Wert des Mülls Wertvoll ist entweder etwas, das einen Nutzen hat, etwas, das Geld einbringt, also einen funktionalen oder materiellen Wert hat. Es kann allerdings auch sein, dass ein Objekt einen sentimentalen, einen persönlichen oder gesellschaftlichen, sogar einen künstlerischen Wert in sich birgt. Hierbei bleibt der Wert selbst in vielerlei Hinsicht schwer einschätzbar, ungewiss, ja sogar abstrakt. Das amerikanische Sprichwort bringt es auf den Punkt: „One man's trash is another man's treasure.“ Hat nicht jedermann schon beim Spaziergang ein glänzendes Schmuckstück auf dem Boden gefunden, einen kleinen Schatz, der sich auf den zweiten Blick doch nur als Bonbonpapier entpuppte? Müll kann einen flüchtigen Wert haben, uns etwas vormachen und uns zum Narren halten. Müll kann aber auch einen längerfristigen Wert haben. Einerseits gibt es die Menschen, die ihre Tüten gleich wegwerfen (es könnte schließlich noch ein ekliger Keim in einer Ritze haften), andere benutzen sie mehrmals. Dann gibt es noch die Menschen, die neue Objekte aus alten Plastiktüten herstellen, wiederum andere säubern sie, falten sie sorgfältig und bewahren sie liebevoll in einer Kiste auf, wie meine Oma es machte - für schlechte Zeiten, denn man weiß ja nie! Und nicht zu vergessen die Menschen, die besonders lustige, bedeutende oder seltene Exemplare leidenschaftlich sammeln und katalogisieren. Für jedes Individuum bedeutet Wert und somit auch Müll etwas anderes. Hoch- oder minderwertig, neu oder alt, intakt oder kaputt, Handys vom Vorjahr oder ranziger Joghurtbecher, an sich steht jedes Objekt und jedes Material im Verdacht früher oder später zu Müll zu werden. Die „Müllproblematik“ wird somit in erster Linie zu einer Wertungsproblematik: Was ist Müll dem Verbraucher oder der Gesellschaft noch wert? Betrachten wir den Müll nun einmal im erweiterten Sinn und in sämtlichen Nuancen der Wertvorstellung22, beginnend mit einigen Fakten: Was zahlen wir, damit unsere Abfälle schnellst möglich aus unserem Radius verbannt werden? Konkret: Für eine 240 Liter Restmülltonne, muss man in einer Luxemburger Gemeinde etwa 7,50 Euro pro Entleerung, dazu etwa 200 Euro Grundgebühr zahlen23. Hierfür wird der Restmüll zwei bis vier Mal, lokal sogar öfter im Monat vor der Haustür abgeholt. Teurer Ballast, wenn man sich vor Augen hält, dass in Luxemburg pro Kopf durchschnittlich 700 Kilo Hausmüll im Jahr anfallen24! Was ist aber nun sein wahrer Wert? Ist es der Warenwert, das, was Müll einmal wert war? Im Abfall landen nicht nur mehr ausgediente Verpackungen, kaputte und verbrauchte Dinge oder Nutzungsreste. Immer mehr füllen durch Ersatz entwertete Waren und sogar gänzlich ungenutzte 22 Die unterschiedlichen Werte von Müll werde ich im zweiten Teil meiner These vertiefen, folgende Aufzählungen sind somit erste Denkanstöße. 23 Dies sind die Zahlen für die Gemeinde Bettemburg. Andere Gemeinden berechnen zuzüglich der Entleerungskosten einen Abfall-Kilopreis. Eine Entleerung in Bertrange kostet beispielsweise, neben einer jährlichen Gebühr von 120 Euro, 2 Euro, zuzüglich 0,15 Euro pro Kilo Haushaltsmüll. www.bertrange.lu 24 Mit diesen Zahlen lag das Großherzogtum 2011 EU-weit an vierter Stelle. Gleichzeitig verzeichnen wir allerdings auch mit 42,1% die besten Recyclingquoten Europas. www.tageblatt.lu/nachrichten/luxemburg/story/28610187 16 Güter wie Überproduktionen25 und Modeerscheinungen die Müllcontainer. Einmal kurz abgewaschen könnte solch intakter „Müll“ problemlos weiterbenutzt werden. Dies sind typische Abfallbeispiele unserer verwöhnten modernen Konsumgesellschaft, ein Teufelskreis für das Material, das immer wieder produziert wird und ungenutzt wieder zu Müll wird. Computer und Handys werden nicht mehr repariert, sondern einfach ausgetauscht. War der Fernseher vor zwanzig Jahren noch wertvolles Statussymbol und die Fernbedienung Vaters wohlbehüteter Schatz, so spielen heute bereits die Kleinsten mit dem iPad. Nicht nur der Wert der Waren und des daraus resultierenden Mülls, auch das Wertempfinden an sich hat sich in unserer Gesellschaft verändert. Alles ist kurz- und schnelllebiger, ist austausch- und ersetzbar geworden. Mit dem steigenden Wohlstand unserer Gesellschaft verlieren Objekte schneller an Wert. Konsequenterweise ist unser Müll heute wertvoller als noch vor fünfzig Jahren. Müll hat somit immer noch einen reellen Markt-WERT: Zum einen können bereits benutzte, aber vom Erstbesitzer abgestoßene Waren einen reellen Wiederverkaufswert auf Flohmärkten, in Troc- oder Second-Hand Läden oder auf e-bay einbringen. Hierbei werden nicht nur die Geldbörsen von weniger Betuchten geschont, es gibt mittlerweile auch Luxusvarianten solcher Vintage-Boutiken und Internetplattformen wie www.vestiairecollective.com. Hier kommt man etwas günstiger an modische Luxusware. Da die Käufer in diesen Kreisen kaum auf die Produkte selbst angewiesen sind und ihre Kleiderschränke wahrscheinlich aus allen Nähten platzen, stellt sich die Frage, was die Leute an aussortierter Ware so reizt? Das Schönste für den Einkäufer, der häufig zum Wiederholungstäter wird, ist wohl das Stöbern an sich, wenn einen das Jagdfieber packt auf der Suche nach dem einen Stück Glück, nach dem heiligen Gral, nach dem einen Teil, um das die Freundinnen einen beneiden werden. 26 25 Im August 2013 drohten bretonische Eierbauern damit, täglich hunderttausend Eier zu zerstören. Sie wehrten sich so gegen die von Discountern berechnete Überproduktion und die damit einhergehenden Dumpingpreise. www.welt.de/wirtschaft/article118795949/Bauern-wollen-pro-Nacht-100-000-Eier-zerstoeren.html 26 Zur Idee von Müll als heiligem Gral, als Trophäe des immer Stöbernden, hier ein Bildbeispiel von Gerd ROHLINGs Recyclingplastiken „Wasser und Wein“, 1989-2009. 17 Zum anderen hat unser Weggeworfenes, das bereits die Schwelle des Müll-Seins übertreten hat, einen Preis. Für Rohstoffe wie Altmetall, Altglas oder Elektroschrott wird gut gezahlt, denn nicht erneuerbare, fossile Rohstoffe werden immer knapper und folglich auch teurer. Um dieses selbst gegrabene Loch an Rohstoffen zu schließen ist die Industrie auf Recycling angewiesen. Müll wird somit zur Notwendigkeit, eine greifbare Basis zur nachhaltigen und umweltbewussten Wiederverwertung, also ein konkret verwertbarer Stoff, ein WERT-Stoff. Große Recyclingfirmen verdienen gut an unserem Müll und dessen Ver-WERT-ung. Auch für Einzelpersonen scheint das Geschäft mit dem Abfall profitabel. So bestreiten beispielsweise in Shanghai ganze Stadtviertel ihren Lebensunterhalt mit dem Weiterverkauf von Müll. Diese Menschen (über-)leben auf den Müllkippen der Vororte mit dem Gestank und Gesundheitsrisiko, doch sie verdienen oft das Doppelte bis Dreifache eines Taxifahrers in der Stadt.27 Recycling ist ein lukratives Geschäft. Für eine Tonne Altpapier wird momentan etwas unter 100 Euro gezahlt, weißes Papier ist mehr wert28. Mit Altmetallen und Hightechgeräten29 macht die Branche die rentabelsten Geschäfte. Müll hat somit einen bewährten Marktwert und kurbelt die Wirtschaft immer wieder neu an. Wirtschaft wird zu WERT-schaft, schafft neuen Wert und gibt dem bereits abgestoßenen Material unter ökonomischen Aspekt einen neuen Wert. Ein weiterer materieller Wert von Müll liegt in seiner physischen Beschaffenheit. Dank der Verpackungsindustrie lassen sich durch Aufdrucke (prints) wie Schriftzeichen, Muster, Motive, Texturen unterschiedliche Fabrikate schnell zuordnen. Sie geben jedem Produkt einen markttypischen Wiedererkennungswert. Müll bietet zudem finanziell hilfsbedürftigen Menschen einen direkten Wertstoff. Ausgesondertes Material wiederzubenutzen um neue brauchbare Artikel oder sogar Kunstgegenstände herzustellen ist in Zeiten von Finanzkrise und Geldnot für viele Menschen unumgänglich. 30 27 Mit etwa dreiundzwanzig Millionen Einwohnern produziert Shanghai beispielsweise 30.000 Tonnen Bauschutt, 1.300 Tonnen Essensreste und 1918 Tonnen Altpapier am Tag. www.china-a.de/de/china/doc/shanghai in zahlen.html, eingesehen am 1. September 2014. 28 Laut Recycling- und Entsorgungsdienst Euwid, www.euwid-recycling.de. Die Preise für Wertstoffe schwanken stark. War 2007 eine Tonne Altpapier noch 100 Euro wert, fiel ihr Wert während der Finanzkrise auf 5 Euro. Einige gaben das Papier sogar umsonst her. www.welt.de/wirtschaft/article2720239/Haendler-bleiben-auf-ihrem-Schrott-sitzen.html 29 Ein Mobiltelefon besteht beispielsweise zu einem Viertel aus Metall, wobei etwa 250 Milligramm Silber und 24 Milligramm Gold enthalten sind. Ob wiederverkaufbar oder -verwertbar, auf Internetportalen wie www.wirkaufens.de oder www.handysfuerdieumwelt.de erhält man für sein gebrauchtes Apple iPhone 3G 16GB bis zu 57,16 Euro. 30 Ein in Madagaskar aus einer Getränkedose hergestelltes Modellauto (Citroën CV2) und eine Tränke von Gennady VLADIMIROVICH, 1997, gesammelt vom russischen Künstler Vladimir ARKHIPOV. 18 Auch Abfälle ohne ersichtlichen Marktwert, wie abgelaufene Nahrungsmittel, können immer noch ihren Wert enthalten. Um der Vergeudung von noch genießbaren aber sich jenseits des Verfallsdatum befindlichen Produkten entgegenzuwirken und einen karitativen Beitrag zu leisten, haben sich Vereinigungen wie die Banque Alimentaire (Luxembourg) a.s.b.l. gegründet, die diese Überschüsse vor ihrer Entsorgung retten und direkt unter hilfsbedürftige Leute bringen.31 Neben den materiellen und funktionalen Eigenschaften hat Müll auch einen kritischen WERT. Er sagt viel über unser Konsumverhalten aus, wird zum Sprachrohr der Gesellschaft. Der Müll gibt Aufschluss darüber, wie reich und entwickelt ein Volk oder ein Land ist. Müll ist zeitgleich Opfer und Zeuge einer verschwenderischen Gesellschaft. Somit transportiert das Material Wissen über eine Gesellschaft, Informationen über die Haushaltswirtschaft einer Privatperson und wird zum sozialkritischen Erkennungsfaktor. 32 Müll kann auch einen ideellen WERT haben, viele Menschen trennen sich schwer oder überhaupt nicht von ihrem eigenen Abfall33. Jedes Objekt, egal ob von der Mehrheit der Gesellschaft als wertlos oder als wertvoll bezeichnet, kann eine emotionale Bedeutung für einen Menschen haben, kann ein Erinnerungsstück oder ein unverzichtbares Lebensdokument sein. Sogar der Müll von anderen kann für einige Menschen zum „treasure“, also zum Schatz werden. Ist ein Splitter von Kurt Cobains zerschmetterter Gitarre für den einen bloß ein Stückchen Holz, so wird es für einen Nirvana-Fan zur heiligen Reliquie. 31 2013 verteilte der Lions Club in Luxemburg 55.670 Kilo abgelaufene Nahrungsmittel aus Spenden lokaler Restaurants und Supermärkten an arme Leute. Immerhin sind laut einer Studie der „chambre des salariés“ aus dem Jahr 2013 etwa 14,9% aller Haushalte im Großherzogtum von Armut betroffen. 32 Für einen Paparazzi, der ein brisantes Detail über ein Starlet aus dem Müll fischt, bedeutet der richtige Müll pures Bargeld. Bruno MOURON und Pascal ROSTAIN durchsuchen den Müll der Stars, sondern Unappetitliches aus, präparieren den Rest auf einem schwarzen Hintergrund und fotografieren diese Müllsammlungen. „Michael Jackson“, 1990. Mehr zu dem Künstlerduo ab Seite 68. 33 Siehe hierzu den Absatz über das sogenannte Messie-Phänomen auf Seite 91. 19 34 Müll kann zudem auch einen ganz eigenen ästhetischen Wert haben, bei dem jeder Mensch seine Vorstellung von Schönheit in ein Objekt hinein interpretiert oder projiziert. So kann für ihn jedes Objekt, unabhängig davon, ob es ein Andrer zuvor weggeworfen hat, auf ganz eigene Weise zum Wertgegenstand werden, denn wie David HUME es bereits ausdrückte: „Die Schönheit der Dinge existiert im Geist dessen, der sie anschaut.“35 Erst wenn man genauer hinsieht, erkennt man die Vielseitigkeit, die ungeahnten Qualitäten, den Mehr-WERT dieses scheinbar trostlosen Materials. Sie machen die Arbeit mit Müll so facettenreich und wertvoll. Das weggeworfene, fehlerhafte, überschüssige, verbrauchte Material scheint als solches endlos erschöpfbar. Gerade durch seine Unperfektion ruft Müll eine unglaubliche Dynamik hervor, ein Potenzial zur Veränderung, zur Metamorphose, welches insbesondere in der Kunstszene von vielen kreativen Menschen geschätzt wird. Die Problematik der Wertsteigerung oder Werte-Transition im künstlerischen Wirkungsfeld werde ich im anschließenden Kapitel ausführlich behandeln. 34 Christian BOLTANSKI schafft Monumente der Erinnerung durch Ansammlung von persönlichen Objekten wie Kleidungsstücken. „Personnes“, 2010, Installationsansicht, Monumenta 10, Grand Palais, Paris. Siehe weitere Referenzen zum Künstler ab Seite 67. 35 David HUME: „Philosophie für die Badewanne“, Stuttgart: Kreuz, 2004, Seite 90. 20 Teil 2: Zum Müll als Objekt der Kunst „Als Archäologen der Gegenwart verwandeln die Müllkünstler Relikte des Alltags zu Reliquien des Profanen.“ 36 Die Zeiten, in welchen nur reine, edle Materialien wie Gold, Marmor und feine Pigmente als allein würdig für eine elitäre, repräsentative oder spirituelle Ausdrucksform empfunden wurden, sind längst vorüber. Galt es doch früher als künstlerisch wertvoll, den Ausgangsstoff an sich zu überwinden und in den Hintergrund zu rücken, so wird heute das Material in der Kunst offen zelebriert und thematisiert. Die Idee, Kunstwerke nicht mehr länger aus neuen Rohstoffen zu kreieren, sondern Alltagsgegenstände aus ihrem gewöhnlichen Kontext zu entnehmen, sie zu transformieren und sie in Werken wiederzubeleben, ändert sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts radikal mit der Einführung von Alltagsgegenständen in die Kunstwelt. Pioniere der Kollage und Assemblage haben den Weg geebnet für den Auftritt „unüblichen“ Materials. Bilder mit aufgeklebten Alltagsgegenständen oder Objekte aus unterschiedlichen Materialkombinationen sind aus der Kunsthistorie nicht mehr wegzudenken. Die Institution Kunst gilt mittlerweile als Transformator für jedes erdenkliche Material. Hierbei spielt sich ein Paradoxon der Wertigkeit ab. Wertloses Material trifft unwiderruflich auf wertvolle Kunst. Der Trichter des Systems bietet dem Müll die Möglichkeit, an ästhetischem, spirituellem, kritischem, poetischem, historischem, stofflichem, formalem, funktionalem sowie ökonomischem Wert zu gewinnen. Abfall schafft zudem eine direkte Verbindung zu unserem Alltag und bringt unser aller Leben in die Kunst mit ein. Müll wird zum Kunstschatz, denn das vermeintlich wertlose Material scheint als solches endlos erschöpfbar und transformierbar zu sein. Die Mischung aus unterschiedlichen Materialien, vielfältigen Formen und Farben, sowie der wertvollen Ikonografie und natürlich dem sozialkritischen Punkt, den jede „Müllproduktion“ ad hoc vermittelt, machen die Arbeit mit Abfall zu einer wa(h)ren Herausforderung. „[...] das winzigste authentische Bruchstück des täglichen Lebens sagt mehr als alle Malerei“, Walter BENJAMIN37 Avantgardistische, postmoderne und zeitgenössische Künstler machen sich das vielseitige Potenzial von Müll zunutze. Durch neue Techniken wie die Collage und Assemblage finden abgelebte Dinge in den 1910er Jahren ihren festen Platz in der Kunst. Im synthetischen Kubismus klebten Künstlergrößen wie Pablo PICASSO und Georges BRAQUE Ausschnitte aus ihrem Alltag wie Zeitungsschnipsel, Seile oder Flaschenetiketts in ihre Bildkompositionen ein. 38 Zeitgleich wagte es der damals sechsundzwanzigjährige französische Bildhauer und Maler Marcel DUCHAMP die Schwelle zwischen Gebrauchsgegenstand und Kunstwerk zu übertreten. In einem Akt der Desakralisierung befestigte er eine handelsübliche Fahrradfelge kopfüber auf einem Hocker39. Reine Provokation? Nein, er holte durch diese Geste das Kunstwerk von seinem Podest herunter, wobei sich das neuentstandene Kunstwerk mit einer völlig neuen Wertvorstellung konfrontiert sieht. 36 Paolo BIANCHI, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 35. Der Autor als Produzent, in: Gesammelte Schriften in 5 Bänden, hrsg. V. Rolf TIEDEMANN und Hermann SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt/M. 1972/1982, Bd.2, 2, Seite 692, zitiert von Monika WAGNER in From Trash to Treasure – Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kerber Verlag, Seite 51. 38 Siehe Details hierzu, im Teil 2.b. Ab Seite 42 wird belegt, wie der Müll die Bühne der Kunst betreten hat. 39 „Roue de bicyclette“ (Fahrrad-Rad), 1913. 37 21 Das Ready-made war geboren. Plötzlich wurden uralte Konventionen der Kunst in Frage gestellt. Sogar ein Pissoir konnte plötzlich ein Kunstwerk sein, nur weil jemand irgendeinen Namen und ein Datum draufpinselte.40 Tatsächlich wagte es der junge Künstler sich über alle Dogmen, Konventionen und Klischees hinwegzusetzen und die Kunstwelt neu zu definieren. In einer Zeit, in der sich bereits viele Künstler fragten, wie es mit der Kunst weitergeht und ob Kunst nicht bereits an ihre Grenzen gestoßen sei, schien DUCHAMP die Karten des Kunstspiels neu zu mischen. Er nahm das Kunstwerk einfach von seinem Sockel und entzog ihm somit eine wichtige Existenzgrundlage. Hiermit hat er das Rad, das das Kunstgeschehen in Bewegung hält, neu erfunden und bringt einen neuen Zyklus ins Rollen: den des trivialen Objektes in der Kunst. Seine artistische Kühnheit löste heftige, teilweise noch andauernde Diskussionen über die Schwelle zwischen Kunstobjekt und banalem Gebrauchsgegenstand aus. Marcel DUCHAMP, „Fahrrad-Rad“, 1913, Replik von 1951 und „Fontäne“, 1917, Replik von 1964, Tate Gallery, London, beide Originale gingen verloren Sherrie LEVINE, „Fountain” (After Marcel Duchamp) oder Madonna, 1991, Private Kollektion, London Zwar ist das Ready-made keine „Müllkunst“, doch die Grundideen sind verwandt. Der Akt der Appropriation, also die Aneignung von Alltagsgegenständen an sich ist vergleichbar. Hier spielen sich ähnliche intellektuelle Vorgehensweisen ab. Über den konzeptuellen Weg des „Fertiggemachten“ wird es ermöglicht, nicht nur einfachen Objekten, sondern auch nutzlosem Material wie Müll einen Platz in der Kunstwelt einzuräumen. Beide Objektkategorien haben ähnliche Eigenschaften: Sie stammen aus dem direkten Umfeld des Menschen, sie sind menschengemacht, industriellen Ursprungs, sie sind belanglos, weder besonders anziehend, noch besonders wertvoll und leicht zu beschaffen. Sie unterscheiden sich lediglich in ihrer Benutzbarkeit, denn der Hocker war vor seiner Appropriation noch funktional. Die Konsumware, ob nun zweckentfremdet oder nicht, entfernt das Kunstwerk von der Idee eines Unikats und rückt die Kunst näher an unser alltägliches Leben. Trotzdem stellen wir uns die Fragen: Kann ein Objet trouvé, also ein „ohne jedes ästhetische Vorurteil ausgesuchter Alltagsgegenstand“ (DUCHAMP), einfach so Kunst sein? Wann und wie wird eine Sache zur Kunst? Durch welche Parameter verändert ein Objekt seinen Wert, seine Bedeutung, seine ästhetischen Qualitäten?41 42 40 Beim Flaschentrockner von 1914 war es nicht einmal DUCHAMP selbst, der seinen Namen aufmalte. Seine Schwester signierte ihn in dessen Auftrag. 41 Siehe eine genauere Analyse der Hilfsmittel, die es einem Objekt erlauben zum Kunstwerk zu werden ab Seite 31. 22 Wenn wir von Kunst reden, suchen wir automatisch nach Ästhetik, ja sogar nach Perfektion und begegnen zweifellos den Fragen: Was ist „schön“? Durch den Akt der Entzauberung des Kunstwerks stellt DUCHAMP in seinen Werken die Ästhetik des Objekts und der Kunst in Frage. Marcel DUCHAMP meinte einmal, zu den Auswahlkriterien seiner Ready-mades befragt: «[…] das Entscheidende ist, eines [ein manufakturiertes Objekt] auszuwählen, von dem Sie nicht angezogen werden wegen seiner Form oder sonst was, sehen Sie. Mit dem Gefühl der Indifferenz ihm gegenüber pflegte ich es zu wählen, sehen Sie. Und das war schwierig, weil alles schön wird, wenn Sie es lange genug anschauen.»43 Für den Betrachter allerdings bringt die Appropriation das Problem mit sich, eine klare Grenze zwischen trivialem Objekt und Kunstobjekt zu ziehen, in unserem Fall zwischen Müll und Kunstobjekt. Wann ist nun etwas Müll, wann ist es Kunst? Frei nach dem Motto: Ist das Kunst oder kann das weg?, zeigt uns die so oft zitierte BEUYS-Anekdote von der Putzkraft und der Fettecke44, dass der Grat zwischen Müll und Kunst sehr schmal sein kann. Missverständnisse sind vorprogrammiert! Das Hauptproblem für den Betrachter von Müllkunst besteht in der Erkenn- und Definierbarkeit des „minderwertigen“ Materials Müll als Kunstwerk. Auf welche Weise ermöglicht es nun aber die Kunst, als eine Art Drehtür zu funktionieren, zwischen Alltagsgegenstand (der in unserem Fall bereits ausgedient hat) und wertvollem Kunstobjekt? Kann man einfach einem angesammelten und gepressten Schrotthaufen einen Preis aufsetzen? Bezahlt man Müllkunst auf das Kilogramm, auf den Kubikzentimeter? Welche Rolle spielt der Künstler? Und welche Rolle spielen wir, die Konsumenten45? Dies sind viele Fragen auf die es sicherlich keinen universell gültigen Antworten gibt, doch sie helfen mir, die Müll-Kunst Problematik in ihrer Komplexität zu begreifen und mir Pfade zu ebnen, denen ich im anschließenden Kapitel folgen kann. Auf der Suche nach den Wegen, die unsere alltäglichen, bereits ausgedienten Gegenstände zurücklegen, von der Mülltonne in die Galerien, finden sich unterschiedliche und unendlich viele Konzepte und plastische Umsetzungsmöglichkeiten. Die Plattform der Kunstszene demonstriert uns unzählige variationsreiche Seiten der Müllverwertung. In den folgenden Kapiteln werden verschiedene Herangehensweisen an das Material Müll erklärt und anhand von Künstlerbeispielen belegt. Die einen bedienen sich aus der Mülltonne um ihre Sammelleidenschaft zu befriedigen, einige interessieren sich lediglich für ihre kostengünstige Anschaffung, andere für die rudimentäre aber zugleich aussagekräftige Seite, wieder andere für die Wandelbarkeit des Materials an sich oder eine „Resozialisierung“ dieses schäbigen Materials, 42 Um auf diese Fragen eine vorübergehende und provokante Antwort zu geben, kann man es nehmen wie der Fluxus-Künstler BEN, der meinte „Tout est art“, also alles sei Kunst und geht somit vielen Problemen aus dem Weg, schafft der Situation allerdings auch keinen Ausweg! 43 Marcel DUCHAMP, Serge STAUFFER, Marcel Duchamp - Interviews & Statements, Hatje Cantz Verlag, Schuber, 1991, Seite 215. 44 1986, kurz nach Joseph BEUYS‘ Tod, beseitigten Reinigungskräfte das Werk „Fettecke“ aus dessen Atelier in der Düsseldorfer Kunstakademie. Johannes SCHÜTTER, dem der Künstler die Fettecke geschenkt hatte, verklagte daraufhin die Gesellschaft auf 50.000 Mark, eine Aktion, die in den Medien öffentlich zerrissen wurde. 45 Konsument ist hier im doppelten Sinn zu verstehen: als müllproduzierenden Konsumenten und als Kunstkonsumenten - ob nun Käufer oder visuell und intellektuell konsumierenden Betrachter. 23 für die eklige, erbärmliche Seite unserer „Alltagsleichen“. Unterschiedliche Gesichtspunkte werden beleuchtet, Themenbereiche erforscht, Künstler und Künstlergruppen zitiert, Überlegungen, Schaffensmotivationen und Ziele der Künstler freigelegt und ausgebaut. Auch wenn Künstler ein Material vorwiegend mit einem bestimmten Ziel sprechen lassen, so zeigt das Sprachrohr des Mülls in viele Richtungen. Müll wird also nicht nur wegen einer bestimmten Eigenschaft in einem Werk eingesetzt, sondern die Komplexität und Mehrdeutigkeit macht den Reiz des Materials aus. Um dem Überschuss an unterschiedlichen Künstlerkonzepten und der Vielfalt von Müll Herr zu werden, bietet es sich förmlich an diesen „Müllberg“ zuerst zu trennen – aktive Mülltrennung zur Bewältigung der Massen. Müll hat auch seine ordentlichen Seiten! Die Komponenten werden weder nach Material oder Farbe getrennt, sondern rein nach unterschiedlichen Konzepten und Herangehensweisen an die Müllproblematik: Gleich am Anfang stelle ich mir die Frage, wie sich Müll als Objekt und Material in der Kunst bewährt, besser: „be-Wert“! Wie ist der „Werte-gang“, also die Wertsteigerung von Müll in der Kunstwelt zu erklären und nachzuvollziehen? Zuerst versuche ich gemeinsame Parameter für die Begriffe Kunst und Müll zu finden. Ich forsche zudem nach dem unmittelbaren „Leben-danach“ des zeitweilig toten Materials Müll. Ich wage somit gleich zu Beginn eine besonders abstrakte 24 Herangehensweise an die Müll-Kunst Problematik. Ich taste mich an die „Seele“ des Mülls heran, um zu verstehen, über welche philosophischen Prozesshürden ein so wertloses Material gehoben wird um ein „Second life“46 als Kunstwerk zu erhalten. Ich versuche zu beleuchten wie weggeworfenes, minderwertiges Material zur erhabenen Kunst werden kann und wie die intellektuelle Wertsteigerung vor sich geht, um den darauf folgenden Ideen überhaupt eine Grundlage zu geben. Dann beziehe ich mich auf den Müll als konkretes Material. Müll hat eine Form, eine Substanz, eine Konsistenz, die eine künstlerische Aussage unterstützen und tragen. Ich nehme eine Reihe Künstler unter die Lupe, die sich in ihren Arbeiten auf die materiellen, stofflichen und formalen Eigenschaften des Materials konzentrieren. Anschließend gilt mein Interesse der sentimentalen Vergangenheit des Materials Müll und den unterschiedlichen Methoden, wie gelebte Geschichte wieder neu zum Ausdruck gebracht werden kann und zugleich Geschehnisse dokumentiert. Einige Künstler benutzen Müll vorrangig wegen seines gesellschaftskritischen Beigeschmacks. Müll ist Zeuge des globalen verschwenderischen Umgangs mit wertvollen Rohstoffen. Dieses Zeugnis stellt unsere Gesellschaft an den Pranger. Zuletzt gehe ich auf die primäre Idee der Wiederverwertung als Nutzobjekt ein und konzentriere mich auf die Funktionalität des Materials. Die künstlerische Plattform des Designs bietet Müll die Chance, als Konsumobjekt wieder aktiv in den Lebenszyklus mit eingeschlossen zu werden. Um mir selbst bei dieser Trennungsarbeit einen Leitfaden zu ermöglichen, greife ich auf eigene Produktionen zurück. Mein Interesse gilt der vielseitigen Transformierbarkeit und den unendlichen Ver-wert-ungsmöglichkeiten des Mülls, auf die ich mich auch in meiner Praxis einlasse. Ich probiere unterschiedliche Wege aus, auf denen Müll zum aussagefähigen („Kunst-“) Objekt werden kann. Die Müllplastik mit dem Titel „Recycling Bonsai“, begleitet hierbei meine theoretischen Recherchen. Es handelt sich um einen mit Plastikstreifen umwickelten Bonsaibaum, der eingegangen war. Waren die Ursachen etwa falsches Licht, Überwässerung, Kälte oder Hitze, Mangel an Wurzelpflege oder Überbevormundung, Erschöpfung durch seine Behandlung, Erdrosselung durch die Brutalität seiner Zuchtmaßnahmen, vielleicht aber auch schlichtweg Heimweh? Den Grund für sein Ableben kenne ich nicht. Trotzdem war dieses “Bäumchen Elend“, dieses voll- und geendete Lebewesen mit den drahtumsponnenen filigranen Verästelungen und der knorrigen Stammstruktur, optisch wie emotional so wertvoll für mich, dass es nicht weggeworfen werden durfte. Durch sein Ableben wertlos geworden, gehörte der Bonsai eigentlich auf den Kompost. Angezogen durch die Schönheit der Miniaturverästelungen und Holzmaserungen, hatte ich Mitleid mit ihm und bewahrte ihn auf. Im Rahmen dieser These ließ ich den Baum zu neuem Leben aufblühen und zu meinem leitenden Recyclingprojekt heranwachsen.47 Anhand dieses plastischen Beispiels lassen sich sämtliche Überlegungen, auf welche Weise und aus welchen Gründen sich Müll zum Kunstobjekt entwickelt, nachvollziehen und die Idee der Transformation von wertlos zu wertvoll verdeutlichen. 46 „Second life“ ist ein Online-3D-Plattform, entwickelt von dem Unternehmen Linden Lab (San Fransisco, USA), wo sich etwa 28 Millionen offiziell registrierte User in virtuellen Welten ein zweites, erfolgreicheres Leben vorspielen und sich oft mit ihrem Avatar, ihrem idealisierten zweiten Ich besser identifizieren können als mit ihrem realen Leben. 47 Nur nützlich ist der Baum wohl nicht. Im letzten Kapitel über die Funktionalität bediene ich mich daher alternativer Beispiele. 25 26 2.a Philosophische Lektüre: Die Renaissance des Totgeglaubten, die Transzendenz des Wertlosen und die Ästhetik von Müll Zuerst nähern wir uns dem Zusammenspiel von Müll und Kunst auf philosophischer Ebene. Diese doch sehr abstrakte Herangehensweise an die Thematik hilft uns dabei, nachfolgende Konzepte besser zu verstehen. Es geht hierbei um die Fragen, auf welche Weise diese Transzendenz von wertlosem Müll zum wertvollen Kunstobjekt abläuft und welche Parameter zusammenwirken, wenn Abfall aus seinem gewöhnlichen trostlosen Kontext entrissen und in einen kreativen, aktiven Kunstkontext einbezogen wird. Um die Position von minderwertigem Material gegenüber hochwertiger Kunst einzuleiten, beziehe ich mich auf meine persönliche Arbeit „Recycling Bonsai“: Das Zierbäumchen war verdorrt und die Plastiktüten waren ausgenutzt. Das Material, aus dem sich die Assemblage zusammensetzt, drohte somit auf die Müllhalde, beziehungsweise auf den Komposthaufen zu fliegen. Ich habe dieses Stückchen abgelebte Natur sowie die synthetischen Stoffe, die es umschließen, aus ihrer prekären Situation heraus „gerettet“ und ihren Weg für eine materielle und symbolische Wiederbelebung geebnet. Beginnen wir mit dem Baum, dem formalen und gleichzeitig natürlichen Hauptbestandteil des Objekts. Er symbolisiert das Leben selbst. Bei richtiger Pflege können Bonsaibäume über hundert Jahre alt werden und sie werden äußerst teuer gehandelt. Das kubanische Künstlerduo GUERRA DE LA PAZ übernimmt auch den Baum (Daphne, 2008) und insbesondere die Form des Bonsais als Sinnbild für das Leben, den Anfang der Menschheit und den Garten Eden. Die beiden Künstler gestaltet nicht nur Bäume, sondern auch eine ganze Serie fantastischer Bonsais (Bonsai, 2006 oder Bonsai Jeweled, 2007) aus ausrangierten Textilien48. GUERRA DE LA PAZ, „Daphne“, 2008 und Beispiele ihrer Serie „Bonsai culture“, Ausstellungsansicht, Kashya Hildebrand Gallery, Zürich, 2011 Die Zuchtkultur des Bonsais erinnert uns an die alten Lehren und Traditionen Asiens. Als wichtigste asiatische Glaubensgemeinschaft lehrt der Buddhismus, dass das Leben ein einziger Leidenskampf ist: von der Geburt über Alter und Krankheit zum Tod. Der Glaube an die Wiedergeburt, lässt die Seele hierbei in ihrem zyklischen Zustand unendlich trostlos erscheinen, sozusagen Recycling bis in alle Ewigkeit. Einzig die Überwindung irdischer Laster sieht die Erlösung von diesem quälenden Rhythmus vor und befördert die Seele in das Nirwana, einen Zustand ewiger Leidlosigkeit und Glückseligkeit. Die Emporhebung des sündigen Mülls zum Kunstgegenstand findet ihre Parallelen in dieser göttlichen Idee der Erlösung. 48 Siehe hierzu die kritische Aussagekraft von GUERRA DE LA PAZ‘ Werken ab Seite 83. 27 In meiner Reinterpretation habe ich die Waldkiefer (Pinus sylvestris) mit dünnen Streifen aus ausgedienten Plastikeinkaufstüten umbunden. Sie ummanteln das tote Bäumchen teilweise und befestigen auch einige zerbrechliche Wurzeln und Äste. Die Plastikbänder scheinen im medizinischen Sinn zu bandagieren, so als würde der Müll als Verband mithelfen Gebrochenes zu stützen und zu schützen. Die übliche Mullbinde wird hier zur „Müllbinde“. Der synthetische Müll verbindet den natürlichen Baum und hilft, ihn zu heilen. Der Baum wirkt zudem mumifiziert, eingewickelt um dem Tod zu trotzen, in Erwartung einer Wiedergeburt. So als würden die Bandagen - wie die alten Ägypter es glaubten - den toten Körper auf dem Weg in ein neues Leben konservieren. Die Synthetik scheint hierbei die Natur für die Unendlichkeit bewahren zu wollen. Die ummantelnden Plastiktüten bilden stellenweise Laub- oder Blütenbündel und unterstreichen noch einmal die Idee des Wiederauferstehens. Die lebhaften und künstlichen Farben geben Hoffnung auf eine neue, diesmal jedoch synthetische Lebensweise. Wie eine Art Lebensprothese wird sie dem toten Baum aufgesetzt. Recycling als Renaissance. Hierbei scheinen diese knallbunten Plastikpompoms den Baum zusätzlich an synthetische Kaufhausbonsais „Made in China“ erinnern zu lassen. Falsche Plastikzierpflanzen sind der Inbegriff von Kitsch. Der Begriff Kitsch gilt allgemein als Gegensatz zum künstlerischen Bemühen auf der Suche nach dem Wahren und Schönen. Kitsch und Müll sind sich in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich: abgewertet, unnütz, überflüssig und minderwertig. So fristen beide ein Leben jenseits der allgemeinen Wertschätzung. Kitsch und Müll sind sich zudem in ihrer Wortherkunft sehr nah. So stammt der Begriff Kitsch vom familiären und alten Ausdruck kitschen, welcher für „Straßenschmutz oder Schlamm zusammenkehren“ steht und im Sinn von „zusammengeschmiertem Dreck“ benutzt wird49. Kitsch und Müll atmen sozusagen die gleiche Luft! Die Kitsch-Kunst Beziehung verhält sich somit sehr ähnlich wie die Müll-Kunst-Beziehung. Die drei Bezeichnungen Kitsch, Müll und Kunst sind relativ und unterliegen einer subjektiven Betrachtungsweise. Das Objekt „Recyling Bonsai“ befindet sich allgemein in einem ambivalenten Stadium, zwischen Tod und ewigem Leben, Zerfall und Auferstehung, Bruch und Heilung, Formfesselung und Interpretationsfreiheit, Natur und Synthetik, zwischen Müll und Kunst. Abfall wurde durch eine neue Konfrontation, eine Neubestimmung und Neugestaltung zu einem von sich selbst redenden, interpretierbaren, autonomen Objekt. Müll und Kunst stehen hier auf gemeinsamer Ebene und sind in einem gewissen Sinn gleichberechtigte Spielfiguren in ein und demselben Gesellschaftsspiel. Wie aber definieren wir dieses „Gesellschaftsspiel“ und wie funktioniert eine solche Aufwertung von Müll zum Kunstobjekt, wo haben Müll und Kunst etwas gemeinsam? „Paradox, dass sowohl die Kunst als auch der Abfall etwas Unberührbares haben, wenn auch der Gegensatz nicht krasser sein könnte: das Erhabene und das Eklige.“ Paolo BIANCHI50. Setzt man Müll und Kunst in einen gemeinsamen Kontext, so besteht durch ihre Gegensätzlichkeit zuerst ein Wertungsproblem: Weggeworfenes wird dem geheiligten, goldgerahmten, hinter Glas gesetzten Kunstwerk gegenübergestellt. Kostenloses begegnet Kostbarem, Abstoßendes wird anbetungswürdig, Wertloses wird wertvoll. Es scheint absurd, aber wie gelingt eine solche Transition, nein, nennen wir sie Transzendenz, die Emporhebung des Trivialen in die Heiligtümer des ewig Guten? 49 50 de.wikipedia.org, zur Etymologie des Wortes „Kitsch“, eingesehen am 08.01.2013. Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 32 und 35. 28 Die Position des Mülls in der Kunst ist sehr ambivalent. Beides, Müll und Kunst, sind ungleich in ihrem Anspruch aber gleich in ihrer Undefinierbarkeit. Zwischen Müll und Kunst scheinen Welten zu existieren und doch sind beide sich so nah: Beide sind schwer greifbar in ihrer Existenz. Müll scheint, eben wie Kunst, im Auge des Betrachters zu liegen. Die Begriffe „Müll“ und „Kunst“ bezeichnen im Wesentlichen nicht direkt ein Material, sondern den Wesenszustand, die Charaktereigenschaft eines Objekts oder Materials, welches durch die Hände eines Verursachers gegangen ist. Unter welchen Bedingungen, durch wessen Urteil wird ein Objekt zum wertvollen Kunstobjekt? Unter welchen Umständen kann das gleiche Objekt zu wertlosem Müll degenerieren? Wann ist ein Schrotthaufen Kunst, wann nur Müll? Vor allem aber: Wie wird Müll zur Kunst? Sowie der Rand des Mülleimers eine leere Bierdose entwertet, zu Müll degradiert und somit ihren indirekten „Tod“ vorsieht, so scheint ein goldener Bilderrahmen oder ein Podest dem gleichen Objekt künstlerischen Mehrwert bis hin zu ewigem Leben zu schenken. Um genauer zu verstehen wie dieser Wertewandel funktioniert und die Wertsteigerung von Müll zur Kunst vor sich geht, müssen die Parameter beider Parteien in ihrem Zusammenhang analysiert werden. Bei der Entstehung eines KUNSTWERKS treffen viele verschiedene Mitspieler mit gegenseitiger Beeinflussung aufeinander. Auch der Müll profitiert an dieser Stelle von der Institution Kunst und ihren „traditionellen Spielregeln“ um ewig leben zu können: Zuerst ist der Künstler selbst die Quelle aller Werke. Er initialisiert die Transition von wertlos zu wertvoll durch den Akt des Ent- und Annehmens (fr.: l’appropriation). Er wählt dieses minderwertige Material gezielt aus, dann lenkt er den Weg des Materials und bestimmt Technik, Form, Idee sowie den Spielraum für Kontext und Interpretationsfreiheit. Er verändert es, inszeniert es, um es dem Publikum erneut vor Augen zu führen. Der Künstler lässt sich auf das Material ein, hört ihm zu und entwickelt Konzepte in denen es wieder in den Kreis des aktiven Gemeinschaftsspiels der Kunst aufgenommen wird. Der Künstler aktiviert sozusagen passives Material und setzt es in ein aktives Umfeld. Sobald ein Gedanke in ein Objekt oder Material hineininterpretiert ist und es vorerst nur als Fiktion besteht, hat das Material bereits an Wert gewonnen, und sei es nur an ideellem Wert. Durch die Wiederverwertung werden neue spirituelle, konzeptuelle, nostalgische, persönliche, kritische, wirtschaftliche, formale oder stoffliche Zyklen angeregt. Recycling erlaubt somit nicht nur eine industrielle Wiedereingliederung in einen produktiven Prozess. Durch die Wiederverwertung ermöglicht der Künstler dem totgeglaubten Material auch eine Art Renaissance. Hierfür unterbricht er den Kreislauf des Konsumguts und geleitet das Material in den Kreislauf des Kunstprodukts. Hier wird der Müll vielfältigen Variations- und Interpretationsmöglichkeiten ausgesetzt und das Material kann sich in sämtliche Richtungen entfalten. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Begriff für Wiederverwertung auf Französisch la récupération lautet, wobei das Verb récupérer gleichbedeutend ist mit sich erholen, neue Kräfte sammeln. Die Wiederverwertung kommt in diesem Sinn also einer Genesung sehr nah. Sterbendes Material wird vom „Doktor Künstler“ reanimiert, wie ein verunglückter Patient in den Händen eines Notarztes. Der Künstler diagnostiziert sozusagen den Zustand des Mülls, fühlt seinen Puls und um seinen „Patienten“ nicht zu verlieren, setzt er lebensrettende Maßnahmen ein. Der Künstler wird zum Heiland. Er heilt physische wie seelische Wunden und rettet die Konsumreliquie vor dem sicheren Ende. Auferstehung der Toten, aufgefahren in den Himmel… Wiederverwertung als letzte Chance! In der Mülltonne tut sich das weiße Licht am Ende des Tunnels auf, die Hoffnung auf Wiedergeburt, die Renaissance des bereits Totgeglaubten. 29 Dieser Interpretation stehen die Werke der amerikanischen Künstlerin Nancy RUBINS nah. Sie präsentiert 1992 in ihrer Installation „71 Mattresses and Steel and Wire“ eine gigantische Rebe aus ausgedienten, alten, schmuddeligen Schlafmatratzen. In ihrer zusammengebunden Masse überwältigen sie den Zuschauer, scheinen ihn zu überrollen und einzunehmen. Der mit Mikroben übersäte, abtrünnige Sperrmüll wirkt zugleich schwebend, als auch schwer und gewaltig, wie eine bedrohliche, feindliche Wolke, besser: wie ein keimendes Geschwür, ein bösartiger Tumor, Ursünde, „zur Gestalt gewordenes schlechtes Gewissen unserer Wegwerfgesellschaft“51. Die Künstlerin versucht erst gar nicht die Gebrauchsspuren und Fehler zu verstecken, sondern stellt sie an den Pranger, wie einen Märtyrer hängt sie sie einfach auf. Nancy RUBINS, „71 Mattresses and Steel and Wire“, Installationsansicht Galerie Magers, Köln, 1992 Ein Künstler, der ein solch desolates, sündiges, heidnisches, unkoscheres und ketzerisches Material in seinen Kunstprozess aufnimmt, scheint dem Müll zuerst die Beichte abzunehmen. Er akzeptiert sein fehlerhaftes Dasein, denn er weiß: Müll ist selbstverschuldete Umweltsünde, das Vergehen der Menschheit. Beim künstlerischen Prozess der Wiederverwertung hört der Künstler dem Müll zu, erkennt seine Fehler, wäscht seine Seele rein, erlöst ihn und schenkt ihm ein neues Leben. Drei Vater unser und ein Ave Maria. Dann integriert er ihn wieder in eine Kommune als gleichwertiges Mitglied. Der neuernannte Beichtvater bietet dem Müll die unendliche Erlösung von dem Bösen, die Absolution eines Kunstwerks. Durch das Eingreifen des Künstlers, durch Wiederverwertung und Transformation widerfährt dem Müll eine Transzendenz, eine Emporhebung in die heiligen Hallen der Kunst, getragen von den Flügeln seines Schöpfers. Die Kunst selbst ist hierbei die Religion, an sie müssen alle Beteiligten glauben. Der Künstler als Schöpfer52 haucht dem Müll ein neues Leben ein. 51 Kathrin LUZ über RUBINS Werk in Nancy Rubins: Versöhnungsutopie zwischen Zivilisation und ihrem Ausschluss, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 121. 52 Gott verwertete auch eine Rippe von Adam um Eva zu formen und somit die Menschheit zu erschaffen. 30 Letzterer bedient sich hierbei einiger Hilfsmittel. Auf der einen Seite verfügt der Künstler über ideelle, individuelle Behelfe wie: seine Biographie, sein charakteristischer Arbeitsvorgang, sein Marktwert oder seine Unterschrift53. Alleine durch Spuren seiner Person wertet der Künstler ein Material auf. Auf der anderen Seite nutzt dieser sein technisches Repertoire um neuen Wert zu schaffen. So unterzieht beispielsweise Alicja KWADE triviale, auf dem Gehweg gefundene Steine einem Brillantschliff. Ordentlich poliert und arrangiert werden so aus unbedeutenden Elementen bezaubernde „Bordsteinjuwelen“. Die polnisch-deutsche Künstlerin spielt, wie auch Catherine BERTOLA, die Hausstaub zu zarten Arabesken anordnet54, mit der Qualität der Formgestaltung. Sylvie FLEURY hingegen konzentriert sich auf die Materialität und überzieht eine Mülltonne mit Gold55. Dies sind nur einige Beispiele, wie Künstler ihre Mittel einsetzen um einem wertlosen, banalen Material einen neuen Wert einzuhauchen. Alicja KWADE, „Berliner Bordsteinjuwelen (Die 100 Auserwählten)“, 2008 Die Kunst lebt nicht alleine von und durch ihren Erzeuger und durch dessen Umgestaltung oder Materialveränderung. Es fehlen weitere Voraussetzungen zu ihrem Gedeihen und Überleben: Kunst ist situationsbedingt. Dadurch, dass ein Künstler ein Objekt in einen bestimmten Kontext platziert, scheint eine Tür aufzugehen und das Objekt kann sich mitteilen. Die Präsentation, also der Kontext, beeinflusst die Aussagekraft und somit auch den Wert jeden Materials. Dieser Kontext kann sowohl Rahmen oder Sockel, also Präsentationskontext sein, als auch räumlicher Kontext, also Museum oder Galerie. Jeder dieser Kontexte zieht eine Grenze zwischen Alltags- und Kunstgegenstand. So wie eine Theaterbühne den eigenen Nachbarn zum König macht, so scheint ein ordentlicher Rahmen aus einem bekritzelten Papierfetzen ein Kunstwerk zu zaubern. Der Rahmen schafft hier eine primäre Illusion, eine Fiktion von Kunstwerk. Er flankiert oder eskortiert den Akt der Emporhebung eines Objekts zum Kunstwerk. Die Erben DUCHAMPs, des Meisters der Transzendenz von trivialen Objekten zur heiligen Kunst, sind zahlreich. Insbesondere die Neuen Realisten nutzen die doch traditionellen Präsentationsmöglichkeiten von Rahmen oder Sockel um dem Publikum minderwertiges Material in ihrer neuartigen Zusammensetzung zu offenbaren und prägen hiermit ab 1960 die Objektkunst.56 So sammelt der französisch-US-amerikanische Objektkünstler Armand 53 So sträubte sich beispielsweise Jacques de la VILLEGLÉ dagegen seine Werke zu signieren. Er tat es ausschließlich um ihrem Verschwinden und Vergessen und somit Wertlos-werden vorzubeugen: „Dennoch erleichterte ich mit meiner Schutzmarke die Erkenntnis, und verhüte die Zerstörung. Die Schönheit ist nun einmal den bürgerlichen Verhältnissen tributpflichtig.“ Zitat nach: Dufrène, Hains, Rotella, Villeglé, Vostell Plakatabrisse aus der Sammlung Cremer, Katalog zur Ausstellung, Staatsgalerie Stuttgart, 1971. 54 Siehe Catherine BERTOLAs Bodeninstallation „After the Fact“ auf Seite 76. 55 Siehe Sylvie FLEURYs Plastik „Dream“ auf Seite 39. 56 Siehe zum Thema Materialität im Nouveau Réalisme auch den Text ab Seite 46. 31 Fernandez, genannt ARMAN beispielsweise diverse Gegenstände und bewahrt sie wie Reliquien in Vitrinen auf. In Assemblagen wie „Portrait-Robot d’Yves Klein“ häuft der Künstler den Abfall bekannter Personen und bettet ihn in Plexiglasbehälter. Hiermit gewährt er voyeuristische Einblicke in deren Privatsphäre unterschiedlicher Menschen und verewigt damit deren individuellen Rest. ARMAN zelebriert nicht nur die Person, die sich hinter dem Dreck verbirgt, sondern vor allem das Material Abfall als solches. Er demonstriert die künstlerische Ästhetik des Schäbigen. ARMAN, „Poubelle ménagère“, 1960 und „Portrait-Robot d’Yves Klein“, 1960 Rahmen oder Podest scheinen ein Objekt nicht nur vor Umwelteinflüssen, sondern auch vor dem Vergessenwerden, in unserem Fall vor dem Weggeworfenwerden, zu schützen. Rahmen und Podest ziehen die Aufmerksamkeit auf ein Exponat und grenzen es gleichzeitig von der Umwelt ab. Rahmen und Podest entreißen ein Objekt der alltäglichen Realität und verleihen ihm Gehör. Sie sagten: Achtung Kunst! Ich habe eine Reihe meiner Arbeiten diesem Phänomen der Rahmung gewidmet. In meiner Serie „Cad-re-made in Luxembourg“ konfrontiere ich Rahmen, die ich aus Verpackungsmaterialien typisch luxemburgischer Produkte hergestellt habe (eine Art „Recy-cadrage“), mit unterschiedlichen Hintergründen, sodass ein Dialog zwischen “Rahmeninformationen“ und „Bild“ entstehen kann. 57 57 Unten zu sehen ist das Beispiel „La vie en Rose“, eine Arbeit über die Luxlait-Butter Rose. Siehe auch meine weiteren persönlichen Projekte zum Thema ab Seite 84. 32 Nicht nur Rahmen oder Podest, sondern auch der räumliche Kontext, wie Museum oder Galerie scheinen dem Müll den Maulkorb zu lösen. Sobald etwas präsentiert und veröffentlicht ist, beginnt man generell zu interpretieren und über den Wert – sei er intellektuell, sentimental, dekorativ, kulturell oder wirtschaftlich - nachzudenken. Denn wen interessiert schon eine Kiste Waschmittel, wenn sie bei Mutti im Keller steht? Andy WARHOL setzt sie trotzdem in eine Galerie und macht den ohnehin schon populären Markenartikel zum Kunst-Kultobjekt, zur wa(h)ren Ikone, eine Karikatur der amerikanischen Konsumgesellschaft58. Plötzlich sagt ein trivialer Gegensand mehr aus als in seiner üblichen Umgebung, ja birgt sogar einen ästhetischen Reiz, den man im Alltag übersieht. Der räumliche Kontext funktioniert als Drehtür zwischen Nichtkunst und Kunst. Wie mein Beispiel “Recycling Bonsai“ zeigt, kann der Ort in situ sogar selbst zum Bestandteil eines Werkes werden und verleiht dem Werk eine neue Dimension, neue Perspektiven, neue Entfaltungsmöglichkeiten. Ob nun auf einer Müllhalde oder im Wald zwischen anderen Bäumen, die Außenwelt hat einen Impakt auf die Aussagekraft eines Objekts. In sein ursprüngliches Umfeld zurückgepflanzt, spielt der Kontrast zu den benutzten synthetischen Materialien eine neue Rolle. Die Plastiktütenfragmente scheinen den Baum vor seiner natürlichen Umgebung abzugrenzen und zu schützen. Er wird lange darum kämpfen müssen, wieder gänzlich zum Waldinventar zurückzufinden. Auf einen Ausstellungssockel gehoben und somit endgültig dem Alltag entrissen, sieht sich die Plastik auf eine höhere Ebene erhoben. Der Bonsai erhält in dieser Situation „à part“ eine neue Daseinsberechtigung. Diese Emporhebung erweckt scheinbar tote Materie endgültig zu neuem Leben, macht sie zum lebendigen, aussagekräftigen Subjekt mit Aussicht auf Kunstwerk. Durch diese Geste erhebe ich selbst meine Arbeit zum „Kunstobjekt“, hierdurch scheint Müll die Möglichkeit zu einer spirituellen Neugeburt und zu ewigem Leben zu enthalten. 58 Warhol stapelte 1964 rund 400 Kisten, aus Holz nachgebaute und im Siebdruckverfahren bedruckte Kisten Brillo, Campbell’s Tomatensaucen, Kellogg’s Corn Flakes oder Heinz Tomatenketchup bis zur Decke der Galerie von Eleanor Ward, Stable Galery, New York. 33 Neben dem Künstler und seinen Hilfsmitteln, der Präsentation und dem Kontext gehören weitere Faktoren zum Prozess der Kunst-Werdung. Hierbei erinnere ich mich gerne an eine Folge von „The Simpsons“59, in der der leicht unterbelichtete Familienvater Homer Simpson einen Gartengrill aufbauen sollte und durch sein Ungeschick alles im einbetonierten Chaos endete. Eine Galeristin für Outsiderkunst sah diesen Müllhaufen und Homers künstlerische Blitzkarriere war über Nacht eingeläutet! Sicherlich vertrauen wir als Kunstkonsumenten einflussreichen Sammlern, Förderern und Investoren, kunstkritischen Publizisten, Galeristen und Kuratoren. Sie scheinen „des Königs Kleider“ nähen zu können. Sie entscheiden über den Marktwert jedes Künstlers. Ein Künstler, ein Rahmen und ein Galerist machen noch immer kein Kunstwerk. Der Betrachter, der Empfänger oder Rezeptor und somit der Kunstkonsument selbst scheint aus einem Objekt endgültig ein Kunstwerk zu machen. Passives Material gerät erst durch den Betrachter in einen aktiven Prozess. So assoziiert jeder etwas anderes mit einem Objekt und schafft seine ganz eigene Sicht auf ein Kunstwerk. Ein Werk muss wahrgenommen, be- oder ver-WERTet werden, damit Ideen transportiert, Gedanken, Gefühle oder Kritik vermittelt werden können, damit Kunst lebt. Kunst führt keine Monologe, Kunst kommuniziert. Das Auge, die Seele, der Intellekt, die Interessensbereitschaft des Betrachters, ob in seiner kontemplativen Wahrnehmung, seiner spirituellen Anteilnahme oder seiner eigenen Mitgestaltung, machen ein Werk erst komplett. Das Kunstwerk steht somit inmitten einer Dreiecksbeziehung zwischen Künstler, Kontext und Betrachter. Diese drei essentiellen Grundpfeiler definieren im Wesentlichen den Ausgangspunkt jedes Kunstwerks.60 Was aber definiert MÜLL? Welche Parameter benötigt ein Material um zu Müll zu werden? Hier lassen sich Parallelen zur Dreiecksbeziehung der Kunst ziehen, mit einem Unterschied: Erschaffung und Bewertung von Müll liegen meist in den Händen einer Person. Derjenige, der den Müll produziert, ist zwar nicht zwingend der Gleiche, der den Müll auch entsorgt, wir können ihn aber als gleichen Faktor ansehen. Er ist der Urheber, er produziert und richtet über einen Gegenstand. Joseph BEUYS meinte: „Wenn Du ein waches Auge hast für das Menschliche, kannst Du sehen, dass jeder Mensch ein Künstler ist. Ich war jetzt in Madrid und habe gesehen, wie die Männer, die bei der Müllabfuhr arbeiten, große Genies sind. Das erkennt man an der Art, wie die ihre Arbeit tun und was für Gesichter sie dabei haben. Man sieht, dass sie Vertreter einer zukünftigen Menschheit sind.“61 An diesem Punkt drängt sich noch einmal die Frage nach der Be-Wert-ung von Müll und somit nach der ÄSTHETIK VON MÜLL in Kunstwerken auf. 59 th „The Simpsons“, Episode Nummer 222, „Mom and Pop Art“, 1999, Matt Groening, 20 Century Fox. Hierzu wirken auch andere Parameter auf die Kommunikationsform jedes Kunstwerkes, wie das Medium selbst, die Funktion die das Werk hat, sowie die Botschaft, die es enthält. Was ist Kunst, Maria Carla PRETTE und Alfonso DE GIORGIS, Neuer Kaiser Verlag, Klagenfurt, 1999, Seite 9 und Seite 12. 61 Joseph BEUYS, Basel, 28.10.1985, zitiert von Paolo BIANCHI, im Kunstforum Band 168, Seite 37. 60 34 „[…] Tout est art. Je ne pouvais plus rien jeter, une allumette était aussi belle que la Joconde“.62 Die Materie unterliegt einer persönlichen Wertung. Was für den einen wertloser Schutt ist, sieht ein anderer als wertvolle Reliquie. Für den Müll besteht somit die Möglichkeit durch die Bewertung seines Wahrnehmers zu transzendieren, erhoben über den Weg der Ästhetisierung. Schönheit liegt eben im Auge des Betrachters. Jeder interpretiert seine ganz eigene Wertvorstellung in ein Objekt. Der Gesichtspunkt ist für die Ästhetik von Müll ausschlaggebend. Vincent VAN GOGH erkannte: „Heute bin ich auf dem Fleck gewesen, wo die Aschemänner Müll hinbringen. Donnerwetter war das schön […] Heute Nacht werde ich wahrscheinlich davon träumen.“63 Müll kann unter bestimmten Voraussetzungen anziehend sein, ja sogar Objekt der Kontemplation. Ob nun für Augen oder Intellekt, Müll hat seine attraktiven Seiten. Der Kontext ist auch für den Müll maßgebend, nicht der Goldrahmen in einer Galerie, sondern die Mülltüte im Abfalleimer. Wie die Kunstbühne jedes Material zu Kunst erhebt, so degradiert ein Mülleimer identisches Material zu Müll. Eine Socke kann in einem Museum Bestandteil einer BOLTANSKY Rauminstallation sein64, die gleiche Socke ist auf der Müllhalde bloß Müll. Dieser Kontext muss natürlich vom Betrachter als solcher anerkannt werden. Beide Extreme, MÜLL und KUNST, haben gleiche Wurzeln: Sowohl Kunst als auch Müll sind abhängig von einem bestimmten Kontext. Sie sind von Menschen erzeugte, ungenormte, schwer zu bestimmende Produkte, deren Wertung im Auge des Betrachters liegt. Sie sind in erster Linie nicht zwingend materiell und existieren, ähnlich einer Illusion, in den Köpfen der Menschen. Sie bieten den Menschen Anreiz zur Interpretation und Projektion von eigenen Ideen. Jeder hat somit die demokratische Möglichkeit Müll gleichermaßen wie Kunst nach eigenem Sinn und Unsinn zu interpretieren. So starten Müll und Kunst von der gleichen undefinierbaren Ebene. Die Fusion von Müll und Kunst, dieses paradoxe Zusammenspiel von scheinbar Wertlosem und offensichtlich Wertvollem bietet einer Reihe von Künstlern eine bedeutende Schaffensmotivation. Der 1944 geborene Niederländer Diet WIEGMAN spielt mit diesem Gegensatz von schäbig und schön und bedient sich hierfür der Formensprache der Antike. Aus gesammeltem Schrott und Strandgut wie Schwemmholz, Muscheln oder kaputten Dosen, arrangiert der Schattenkünstler eine scheinbar knorrige und ärmliche Skulptur. Erst aus dem richtigen Winkel beleuchtet, projiziert sich der Schattenumriss von MICHELANGELOs David an die Ausstellungswand. Aus einem schäbigen Haufen Müll lässt der Künstler die Verkörperung der anatomischen Perfektion, den Inbegriff der männlichen Schönheit entstehen, zumindest schafft er diese Illusion. Wiegman 62 Der Fluxus-Künstler BEN (Benjamin Vautier) meinte dies im Zusammenhang mit seiner Einsicht, dass für ihn 1958 die Malerei vorüber ist. Zitiert in Comprendre et reconnaître les mouvements dans la peinture, Larousse-Bordas, Paris, 1997, Seite 186. 63 Brief an Anton VAN RAPPARD, Sämtliche Briefe, Bd. V, Zürich 1968. Zitat nach Anette HÜSCH, From Trash to Treasure - Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kerber Verlag, Kunsthalle zu Kiel, S.16. 64 Siehe Christian BOLTANSKYs Installation „La Réserve du Musée des Enfants I und II“, Seite 68. 35 thematisiert die alttestamentarische Figur des Jünglings David, der gegen seinen körperlich überlegenen Gegner Goliath, in diesem Fall einen scheinbar unförmigen Müllklumpen, triumphiert. David tritt in seiner unerschütterlichen harmonischen Körperhaltung aus dem Schatten seines Feindes hervor. Das klassische Ideal von Gleichgewicht und Proportion scheint die frivole Masse zu überwinden und in der Hintergrund zu rücken, gleichzeitig ist diese Projektion des klassischen Inbegriffs für Ästhetik noch zerbrechlicher als der Müllberg, aus dem er hervorgeht. Diet WIEGMAN, David after Dinner, 1983 Auch die Werke des bereits kurz erwähnten deutschen Künstlers Gerd ROHLING lassen unsere konventionelle Vorstellung von Ästhetik mit der von Müll aufeinandertreffen. Er sammelt auf dem Strand liegengelassene, verblasste, milchig angelaufene Plastikflaschen und sonstige alte PETGegenstände, an denen Wind, Wasser und Sand ihre Spuren hinterlassen haben. Diesen patinierten Strandabfall schneidet ROHLING auseinander und fügt ihn wieder zu neuen alten Trinkgefäßen zusammen. Die Präsentation dieser eigentlich rudimentären Plastikbastelei macht dann den Rest: in gedämpftem Museumslicht, in Glasvitrinen zu passenden Serien angeordnet und wirkungsvoll ausgeleuchtet, erscheint der Plastikmüll dem Besucher wie antike Weinbecher mit weitreichender Historie. Von der Wasserflasche zum Weinkelch, ROHLING scheint die Hochzeit von Kanaan neu zu interpretieren. Wie Jesus in der Vorstellung der Menschen Wasser in Wein umwandelte, so passiert auch hier etwas im Kopf des Betrachters. Erst ein zweiter Blick lässt den aufmerksamen Betrachter erkennen, dass der Schein trügt und ROHLING eigentlich „nur“ modernen Konsumabfall gekonnt arrangiert hat. Meint man, dass Plastik unschön altert, so belehrt uns dieser Künstler eines Besseren. Seine „Plastiken“ verwirren durch die Diskrepanz von Schein und Wirklichkeit, von Original und Imitat und stellen unterdessen die Qualität der heutigen Kultur bloß. Er macht einfache PET-Trinkflaschen zum heiligen Gral, zur begehrten Trophäe, 36 zum Quell des ewigen Lebens. Die Mittel der Kunst stellen diesem Müll ein ewiges oder zumindest ein sehr langes Leben in Aussicht. Als Künstler schafft ROHLING es, aus Wertlosem Wertvolles entstehen zu lassen und bietet kurzlebigen Objekten die Aussicht auf Unsterblichkeit. Gerd ROHLING, „Wasser und Wein“, Serie, 1989-2009 Tina HAUSER erkennt auch im Müll das Ästhetische, nicht umsonst betitelt sie ihre Zeitplastiken „The Beauties“. Ihre fotografischen Werke dokumentieren umfangreiche Abfallansammlungen und aufwändige Müllinstallationen. Sie thematisiert den Prozess der Lagerung und die Idee, dass Dinge in der Zeit ihrer Aufbewahrung an Wert verlieren (wie Wein mit Korkbefall), ihren Wert behalten (wie schlechter Wein, der mit der Zeit auch nicht besser wird) oder an Wert gewinnen können (wie ein guter Bordeaux, der bei richtiger Lagerung ein vielfaches an Wiederverkaufswert erzielen kann). Die Schweizerin sucht gezielt temporäre Abfall-Bildwerke auf Müllhalden und in Verbrennungsanlagen oder präpariert sie selbst in Ausstellungsräumen oder Bunkern. Sie belichtet unpassierbare, überwältigende Müllmassen, die wie bedrohliche Wasser(ab)fälle wirken. Der zwischen dicken Betonmauern hervorquellende Dreck scheint in dem Moment abgelichtet zu sein, in dem er gerade noch im perfekten Gleichgewicht ist. Wird diesen Müllwänden ein Baustein, nur eine kleine Tüte entzogen, so scheint die Lawine mit aller Kraft auf den Betrachter einzubrechen und ihn unter sich zu begraben. HAUSER zeigt, dass Müll die Energie hat, den Menschen mit brachialer Gewalt zu bezwingen. Nicht ganz ungefährlich! Bewaffnet mit Schutzanzug, Funkgerät und Fotokamera, dokumentiert HAUSER selbst vor Ort bis zu 25 Meter hohe Müllberge. „[...] eine paradoxe Schönheit. Nur wenige Müllhaufen erfüllen die Kriterien, damit ich meine Urheberschaft darüber erkläre. Der Bestand umfasst heute 14 Beauties. Es handelt sich um ungeschönte direkte Porträts unserer Sozialkultur.“65 65 Tina HAUSER zitiert von Nadia SCHNEIDER, in „Kunstschlacke“, Müllkunst, Kunstforum international, Band 168, Seite 92. 37 Tina Hauser, „The Beauty #1“, „The Beauty #10“, „The Beauty #5“, 2000 Hierbei wirken die lebensgefährlichen Müllwände fast schon architektural. Formell erinnern die Wirrungen und Verknotungen der Müllbänder an action paintings, was optisch eine Rhythmisierung und Ästhetisierung dieser Müllmassen provoziert. Sylvie FLEURY illustriert die Müll-Kunst Problematik auf charmante Weise. „Dream“66 von 2003 sind insgesamt fünfundzwanzig kleine Mülltonnen, die mit 24-karätigem Gold überzogen wurden. Die schweizerische Künstlerin präsentiert den Mülleimer als wertvolles Geschenk, wie einen Schatz, makellos schön, glänzend veredelt: Was da wohl drin ist? Mülleimer in Gold verpackt, dieses Werk hat mehrere Facetten: Einerseits würde man sich so ein objet très chic als optischen Hingucker sicher in die Küche stellen. Etwas dekadent, seine Essensreste in Gold zu entsorgen!? Andererseits sind die Goldmülleimerchen, wie bei FLEURY stets üblich, ein anmutendes und luxuriöses Designobjekt. Diese kleinen goldenen Mülltönnchen erinnern an Parfümfläschchen von Dior oder Gaultier. Nur riechen tut der Inhalt wohl etwas anders. Fleury interessiert sich generell in ihren Arbeiten für die Prozesse der Ästhetisierung, für das Dekorative an der industriellen Produktionsware. Sie spielt mit den fast schon hypnotisierenden Reizen, mit einschlagenden und blendenden Werbetaktiken von luxuriösen Marken, mit den Vorgängen, die herbeigeführt werden, wenn wir Louis Vuitton Taschen, schnelle Autos oder exklusive Kleider konsumieren. Sie thematisiert und manipuliert den Wert von Objekten. Sie „recycelt“ Konsumgüter (manchmal auch Kunstwerke) und re-interpretiert sie im Sinn einer neuen Ästhetik. Mit dieser Absicht scheint sie auch Autos zu „schminken“, knallrosa, wie mit Lippenstift übermalt (Skin Crimes, 1997). FLEURY führt dem Publikum, mit einem Augenzwinkern und auf sympathische Weise, die Drecksschleuder Mülltonne einfach erneut vor 66 Courtesy Art of this Century, New York/Paris. 38 Augen. Auch auf diesem Weg der Neuinterpretierung werden triviale Objekte zu wertvollen Kunstwerken. Sylvie Fleury, „Dream“, 2003, mit 24-karätigem Gold veredelte kleine Mülltonne Wenn man sich etwas näher auf diese kleinen goldenen Mülleimerchen einlässt und diese ästhetische Kulisse durchbricht, erweckt ihre Arbeit auch ein Bewusstsein für die eigenen Konsum- und Wegwerfgewohnheiten. Wir werfen tagtäglich so viele Dinge sorglos weg! Die Goldmülleimer vermitteln eine unterschwellige Kritik an unserer Gesellschaft. Gold strahlt eine göttliche Aura aus, symbolisiert Erhabenheit, Macht und Ewigkeit. Müll ist aber nun eher überhaupt nicht göttlich. Macht uns diese goldene Tonne nur etwas vor? Kombiniert mit dem Werktitel „Dream“ fragt man sich: Ist dieser Traum nicht eher ein Albtraum? Ist Müll die Zukunft der Menschheit? Ist Müll unser Verderben? Un cadeau empoisonné, wie ein trojanisches Pferd, welches wir uns selbst in unser Haus eingeschleust haben? Wenn von Müll-Ästhetik die Rede ist, befinden wir uns in einer paradoxen Situation, in der uns als Betrachter jedes Urteil schwer fällt. Abstoßend und anziehend zugleich, macht gerade dieser Spagat die Ästhetik von Müll aus. Müllkunst erlaubt dem Künstler wie auch dem Betrachter alle Be-Wert-ungsfreiheiten. Die behandelten Künstlerbeispiele befassen sich mit schäbigem Müll, weil sie in ihm etwas Anziehendes, ja Ästhetisches und schlussendlich auch Wertvolles erkennen. So werden die Mittel der Kunst benutzt um Müll einer Illusion von Ästhetik auszusetzen, um Müll zur monumentalen Architektur, zur idealen Projektion, zum Schmuckstück werden zu lassen. Die Kunst wird für den Müll zum keimenden Geburtskanal auf dem Weg in ein neues Leben. 39 Nachdem die Parameter von Kunst und Müll in ihrem Zusammenhang beleuchtet und eine Reihe Möglichkeiten erfasst wurden, auf welche Weise Müll auf eine höhere Daseinsberechtigungsstufe emporgehoben wird, widmen wir uns nun den greifbaren Stofflichkeit des Mülls in der Kunst. Eine Reihe Künstler sehen eben im Müll das, was man primär als Müll erkennt: dreckigen, übelriechenden, unhygienischen, gärenden, ekligen Abfall. 40 2.b Stoffliche Lektüre: über Form und Antiform von Müll „Es gibt aber Künstler, deren Kreativität total ist, die in den Müll greifen können, und schon entsteht etwas Neues.“67 Als zweiten Punkt behandele ich nun den konkreten Einsatz von Müll in der Kunstwelt. Wie wird Müll für die Schaffung von Kunstwerken genutzt, in all seinen Formen und Nicht-Formen, in seiner Substanz, seiner Stofflichkeit, seiner greifbaren Materialität? Einleitend beziehe ich mich auf die Materialauswahl meines eigenen Recycling Projekts: „Recycling Bonsai“ besteht aus Müll natürlichen und synthetischen Ursprungs. Im Kern ist das tote Bäumchen Holz und somit natürlicher Abfall, Biomüll oder Kompost. Holz zersetzt sich als Stoff relativ leicht in der Umwelt und ist Teil eines natürlichen Verwertungsprozesses. Die feinen Zweige können schnell und einfach von der Erde verdaut werden und geben dem Boden Nährstoffe zurück. Ihm gegenüber steht synthetisches Material, Polyethylen und Polypropylen, also die Plastiktüten. Bunt bedruckt, dienten sie dem Konsumenten zu „Lebzeiten“ als Tragehilfe und der Konsumgüterindustrie als Verpackung und Werbeträger. Leicht, elastisch und doch stabil, künstlich aus Erdöl hergestellt, ist dieser Stoff in der Natur schlecht zersetzbar. Wie funktionieren diese gegensätzlichen Stoffe nun gemeinsam, wie habe ich diese heterogenen Materialien kombiniert und in Form gesetzt? Beginnen wir bei den Wurzeln des Baumes. Sie sind nicht in natürlicher Erde unter einer Mulchschicht gebettet, sondern in eine synthetische Müllschicht verpackt. In feine Bänder geschnitten, scheinen die künstlichen Plastiktüten von den Wurzeln aufwärts den natürlichen Baum materiell zu unterstützen und zu schützen, wie ein Mantel, denn das Holz ist saftlos und brüchig. Die Plastiktüten sind sehr leicht formbar und flexibel. Sie bewahren das Holz vor seinem sicheren Zerfall. 67 Kommentar von Thomas ZAUNSCHIRM in „Ein bisserl narrisch, aber furios“, von Almuth SPIEGLER, Die Presse, Feuilleton, Ausgabe des 27. August 2008, Seite 25. Der Kunsthistoriker bezieht sich auf ein Ausstellungsobjekt des österreichischen Installationskünstler Christian EISENBERGER in der Wiener Galerie Konzett. Mit armen Materialen wie Holzresten, Draht, Klebeband, Klopapier, Rasierschaum oder auch zerdrückten Schnecken bewaffnet, schafft er eine Art symbolträchtige Gerümpelkunst ganz ohne ästhetischen Anspruch. 41 Formell habe ich mich bei meiner Verarbeitung am Verlauf und an der Kraft der Spanndrähte, die das Bäumchen im Griff halten, inspiriert. Sie wirken wie ein Gerüst, welches dem Baum zu Lebzeiten eine Wachstumsrichtung und somit seine typische Form aufzwangen. Die zum Teil verknotete Ummantelung erinnert zudem optisch an eine beliebte Form des Street Art. Beim sogenannten yarn bombing oder urban knitting68 umstricken und umhäkeln sowohl Künstler als auch Großmütter, Kinder und Hobbystricker vorzugsweise Bäume an öffentlichen Stellen, eine freundliche Abwechslung im grauen Stadtalltag. Die Plastikpompoms an den Extremitäten verstärken diese Wirkung und übertünchen die eigentliche Leblosigkeit des Baumes, der in einem künstlich-kitschigen Koma verweilt, behängt wie ein Karnevalsjeck. Die Assemblage funktioniert somit auf der Komplementarität zweier Stoffe die einerseits natürlicher, andererseits synthetischer Herkunft sind. Die Mülltonne hat der Kunst aber noch viel mehr zu bieten: Einige Materialien werden integral in ihrer Gesamtform wiederverwertet, sind sauber oder zumindest ohne großen Aufwand zu reinigen. Andere Substanzen sind schäbig, kaputt, zerrissen, gebrochen, aufgequollen, wiederum andere sind einfach nur abstoßend. Sie gären, verwesen, riechen übel und sind ekelig. Müll ist in seinen diversen Beschaffenheiten und Phasen vielseitig und facettenreich. Während eines künstlerischen Wiederverwertungsprozesses kann der Künstler alle formalen, chromatischen und materiellen Merkmale des Mülls zerstören und neu organisieren, er kann sie allerdings auch konserviert und neu präsentieren. Welche Künstler bedienen sich denn nun wie und aus welchen Gründen aus den Mülleimern und verwerten ihren Inhalt in seinen spezifischen Formen, Qualitäten und Zuständen? Man muss zuerst gestehen, Müll hat einen sehr trivialen aber ebenso praktischen Vorteil: sein Anschaffungspreis! Wie CÉSAR es formulierte: „Parce que ça ne coûtait rien“69. So verwerten einige Künstler den Müll weniger aus Überzeugung, als vielmehr aus finanzieller Not heraus. Die daraus resultierenden Werke sind folglich automatisch mit Müll-Ikonographie behaftet, ob gewollt oder nicht. Sobald ein Künstler Abfall sichtbar in seinen Werken einsetzt, muss er damit rechnen, dass das Matetrial „spricht“. Falsch eingesetzt, kann Müll ebenso gut Kunstobjekte inhaltlich überrüsten. Einfach zu viel des Guten? Die eigentliche Aussage des Künstlers riskiert missverstanden zu werden oder wird durch den „Geruch“ von zu viel Müll übertüncht. Müll ist mit Bedacht einzusetzen, denn er hält seinen Mund nicht! Bevor wir dem materiellen Verstand von Müll auf den Grund gehen, beginnen wir zuerst damit, wie diese Substanz überhaupt die Bühne der Kunst betreten hat: Die Introduktionsphase Müll Kunst verlief nicht wie ein langsames, sanftes Herantasten, sondern wie ein Donnerschlag. Sein Kunst-Debüt feierte der Abfall anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts. Erste Versuche alltägliche Materialien in eine Bildkomposition einzubauen fanden in der Avantgarde statt. Künstler wie die Kubisten Pablo PICASSO oder Georges BRAQUE sowie später auch Dadaisten wie Kurt SCHWITTERS, Raoul HAUSMANN oder Max ERNST entnahmen ihrer direkten Umwelt Elemente und verarbeiteten sie in ihren Werken. 68 Hier ein Beispiel von Tania KREMER-SOSSONG, die Anfang 2014 in Zusammenarbeit mit dem Foyer Scolaire Kiem in der Avenue de la Gare in Luxemburg-Stadt nicht nur ein Fahrradüberdach, sondern gleich auch ein Fahrrad umsponnen hat. 69 Zitiert von Pascale LE THOREL-DAVIOT, Petit dictionnaire des artistes contemporains, Larousse, Paris, 1997, Seite 53. 42 Um Gegenstände nicht nur optisch in allen Facetten wiederzugeben, sondern auch materiell, bedienten sich die Vertreter des sogenannten synthetischen Kubismus aus der Realität. PICASSO und BRAQUE erkannten in der neuen Technik der Kollage die Möglichkeit der Multiplikation von Dimensionen der Realitätswahrnehmung. Flaschenetiketts oder Zeitungsausschnitte ergänzten so ihre Bildkompositionen. Schnipsel, Pappe, Seile, Plastiktischtücher oder ähnliche Materialien wurden passend zum Bildinhalt und zur Farbpalette ausgewählt, zugeschnitten und nahmen einen gezielten formalen Platz in ihren Bildern ein. Diese Fragmente waren nicht bloß eine Referenz zum Alltag, der Alltag selbst floss in ihre Kunstwerke mit ein. Pablo PICASSO, „Stillleben mit dem Rohrstock Stuhl“, 1912 Raoul HAUSMANN, „Der Kunstkritiker“, 1919-20 Der Initiator der hannoverischen Dada-Sektion, Kurt SCHWITTERS, setzte Gegenstände als Gestaltungsrohstoffe oder formgebende Materialien in seinen Bildwerken und Assemblagen ein und er schrieb: „Bei der Merzmalerei wird der Kistendeckel, die Spielkarte, der Zeitungsausschnitt zur Fläche, Bindfaden, Pinselstrich oder Bleistiftstrich zur Linie, Drahtnetz, Übermalung oder aufgeklebtes Butterbrotpapier zur Lasur,[…]“70 Für das breite Publikum wurde die Bedeutung dieser eingeklebten Blickfänger gegenüber der Form des Bildes immer autonomer. Reklamebildchen schaffen eine direkte Verbindung zwischen Kunstwerk und Realität und locken den Betrachter durch ihren Wiedererkennungswert ins Werk hinein. Auch wenn ein „objet trouvé“ als formelles Element in Abfallcollagen eingesetzt wird, so bleibt ein Teil davon immer informell und wird zur Realitätsreferenz, zum Symbol für unsere Konsumgesellschaft: „Eine neue Welt aus Abfällen bauen.“71 Ein Stück Zeitung, welches bei den Kubisten nicht mehr und nicht weniger als dieses gleiche Stück Zeitung war, konnte nun als von-sich-selbst-erzählendes Bezugsobjekt, als kritischer, verwirrender oder ironisch interpretierbarer Zeitzeuge verwendet werden. So war ein auf dem 70 Kurt SCHWITTERS, Die Merzmalerei, in: Der Zweemann, Hannover, 1919, Seite 18, zit. nach Annette WEISNER, From Trash to Treasure - Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kerber Verlag, Kunsthalle zu Kiel, Zusatzheft Wertewandel, Seite 6. 71 Frei übersetzt von: „Construire un nouveau monde avec des débris.“, Kurt SCHWITTERS, zitiert von Florence DE MÈREDIEU, Histoire matérielle et immatérielle de l’art moderne, Editions Bordas, Paris, 1994, Seite 218. 43 Boden gefundenes und eingeklebtes Zugticket nicht nur ein Stück einfaches gelbes Papier, sondern erzählte von einer Reise zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort, barg also eine eigene Geschichte in sich. Konkret bedeutet dies für den Müll: Wiederverwertetes hat einen neuen formalen, stofflichen und intellektuellen Wert, vor allem aber eine ikonologische Autonomie erhalten. Die Avantgarde öffnete die Tür für die neuen Techniken der Kollage und Assemblage und von da an ließ sich in der Kunstwelt die Flut an unterschiedlichsten Materialzusammensetzungen nicht mehr bremsen, die Kunstbühne war fortan für jede erdenkliche Art von Materialinput frei. Die Kunst bedient sich von dem, was die Müllhalde so hergibt. Egal ob nun stofflich „arm“ oder „reich“, die neue Materialpalette macht alles möglich: Einerseits gibt es die natürlichen „armen“ Materialien. Es sind ursprüngliche Stoffe, welche meist in ihrem Rohzustand eingesetzt werden, wie Holz, Laub, Gras, Erde, Steine, Staub, Stroh oder Nahrungsmittel und alles was sonst noch auf den Kompost gehört. Auch bearbeitete Stoffe natürlichen Ursprungs wie Papier, Wolle, Filz, Jute, Keramik oder Glas können als „arme“ Materialien bezeichnet werden. Auf der anderen Seite haben wir die synthetischen, nennen wir sie „reichen“ AbfallMaterialien. Zu ihnen zählen homogene Stoffe wie Plastik, PVC und Styropor, aber auch heterogene, zusammengesetzte Stoffe wie beschichtete Isoliermatten oder Verpackungsmaterialien wie Tetrapak. In Mülleimern oder Recyclingcentren findet man zudem oft noch vollkommen intakte Objekte wie veraltete Haushaltsgeräte, Spielzeug, Stühle oder Geschirr. Müll ist somit nicht gezwungenermaßen kaputt oder nutzlos, eben nur abgewertet und dadurch für seinen (Hin-) Richter wertlos geworden. Nach dem zweiten Weltkrieg macht die Kunst einen Abstecher in die Kompostanlagen. Seit den späten Sechzigern interessieren sich eine Reihe von Künstlern immer mehr für den Müll, der für die allgemeine Gesellschaft als wertlos gilt, mit dem Ziel, der Sterilität der modernen Welt entgegenzuwirken und mit banalen Materialien auf die Wirren der Nachkriegszeit zu reagieren. In Italien formte sich um Germano CELANT die Künstlerbewegung Arte Povera, die mit unterschiedlichen Kombinationen, dieser sogenannten armen Materialien experimentiert. Wie der Name es bereits andeutet, arbeiteten Künstler wie Michelangelo PISTOLETTO, Mario MERZ oder Jannis KOUNELLIS vorzugsweise mit scheinbar reizlosen, einfachen, primitiven Materialien um „Arme Kunst“ zu schaffen. „Arm“ bedeutet in diesem Sinn, willentlich losgelöst von kulturellen Errungenschaften, somit einfach und unvorbelastet durch die konsumhungrige Kulturindustrie der Zeit. Brutal banale, schnörkellos schäbige, allzeit verfügbare und leicht zu beschaffende Materialien fanden so ihre Autobahn in Richtung Kunstmarkt. So scheint PISTOLETTOs „Venus der Lumpen“ von 1967, als Inbegriff für klassische Traditionen, Kultur, Ästhetik, Weiblichkeit und Wert, einen desolaten Haufen Altkleider auszusortieren. Wie eine Galionsfigur kümmert sich die industriell reproduzierte Venusstatue um den Müll der Modewelt. Klassisch-antike Rarität begegnet hier zeitgenössischer Überschussware. PISTOLETTOs Worte erklären die Installation am besten: „Mit meiner Lumpen-Venus und anderen Werken, die als Arte Povera bezeichnet werden, gelang es mir zu zeigen, dass auch der Konsum ein Ende haben kann. Die Lumpen sind das Ende der Mode, Endstation dieses Systems, konsumierter Konsum.“72 Michelangelo PISTOLETTO, zitiert von Valérie PAILLÉ, Michelangelo Pistoletto – Ein furchtloser Künstler für Arme zückt den Vorschlaghammer, www.arte.tv/de/michelangelo-pistoletto-einfurchtloser-kuenstler-fuer-arme-zueckt-den-vorschlaghammer/6457028,CmC=6455804.html, eingesehen am 22. Januar 2013. 72 44 „Die Venus bringt einen neuen Geist, gibt diesem Material einen neuen Impuls. Es geht darum, durch die Kombination aus Schönheit und Hässlichkeit, Altem und Neuem einen neuen Weg zu finden, und über diese Verbindung müssen wir nachdenken.“73 Michelangelo PISTOLETTO, „Venus der Lumpen (Venere degli stracci)“, 1967/74 und „Walking Sculpture (Scultura da Passeggio)“, 2010, Philadelphia PISTOLETTO sollte im gleichen Jahr für eine Ausstellung ein publikumsnahes interaktives Werk, welches in direktem Kontakt mit dem Zuschauer steht, erarbeiten. Komplexes Thema simpel gelöst: Er knüllte ganz einfach Zeitungspapier zu einer Kugel. Die „Walking Sculpture“ rollte er dann wie ein Mistkäfer durch die Straßen von Genua bis in die Galerie. Sein Werk interagierte auf diesem Weg mit den Passanten, die die Kugel herumreichten oder mit ihr Fußball spielten. An diesem Beispiel demonstriert PISTOLETTO zugleich die geniale Einfachheit und Bodenständigkeit des Materials Müll, gepaart mit dem inhärenten Potenzial zur Vermittlung sozialen Engagements.74 Gerade dieses Engagement ist das Hauptanliegen der Künstlerbewegung. Die Arte Povera Künstler lassen ihre Werke durch das Material sprechen. Das Material, der Stoff selbst wird so zum Leitfaden und zum Träger des Werkinhaltes an sich. In einfacher, fast ritueller Weise benutzen auch die Vertreter des Art brut Abfall und minderwertige Materialien für ihre Arbeiten. Ihre Objekte und Bilder entstanden „avec les moyens du bord“, also mit dem, was sie so fanden. Ohne finanziellen Aufwand kombinierten sie unterschiedliche Stofffetzen zu Kleidern, Keramikscherben oder Muscheln zu Möbeln, Holzabfälle und Büchsen zu Spielzeug, Heu und Stroh zu Reliefbildern. Zur Gesellschaft des Art brut75 gehören namhafte Künstler wie Jean DUBUFFET, André BRETON oder Antoni TÀPIES, aber auch einige „Künstler“, die selbst keinen Anspruch an die Kunst erhoben. So gehören zu den Mitgestaltern des Art brut Fundus, sowohl anonyme Gefängnisinsassen, als auch psychisch kranke Menschen, die aus gemanschtem Brotteig Burgen bauten, aus Schnürsenkeln Schlüssel formten und auf diesem Weg kunstvoll feine aber gleichzeitig rudimentär einfache „Kunst“ schufen. 73 PISTOLETTO zitiert auf www.steiermark.orf.at/tv/stories/2535301, 31. Mai 2013, eingesehen am 22. Januar 2013. 74 PISTOLETTO wiederholte und variierte diese Aktion einige Male. Im Rahmen des The long Weekend 2009, rollte und schipperte er beispielsweise mit zahlreichen anderen Beteiligten die „Walking Sculpture“ in die Londoner Tate Gallery of Modern Art. 75 1947 gründete Jean DUBUFFET mit einem Kreis von Gleichgesinnten in Paris die Compagnie de l'Art brut, deren Ziel es war, alternative Kunst zu dokumentieren und zu sammeln. 45 Joseph GIAVARINI, alias Der Gefangene von Basel, „Vengo sulla tribuna presto“, 1928-34, Brotskulptur Judith SCOTT, ohne Titel, 1993, ein „Objet secret“ aus Wolle Die Vertreter des Nouveau Réalisme, eine Künstlerbewegung, die sich ab 1960 vor allem in Frankreich und der Schweiz formierte, nahmen ihre Realität und somit auch ihre materielle Umwelt verändert und neuartig wahr. Sie etablierten neue Techniken und bislang unbeanspruchte Werkstoffe in der Kunstszene. So führten sie beispielsweise den Begriff der Assemblage in die Literatur ein und erkannten den schäbigen Abfall als vollwertiges, oft sogar eigenständiges Arbeitsmaterial und schufen hiermit sogenannte Objektkunst. Als einer der Gründungsmitglieder der Bewegung erkennt Daniel SPOERRI76, dass das alltägliche Leben materielle Spuren hinterlässt. Der Schweizer Künstler mit rumänischen Wurzeln dokumentiert sein Leben anhand von „objets trouvés au hasard“77 oder halb bis ganz konsumierten Resten, die für ihn stets mit Erinnerungen behaftet sind. Er definiert sich selbst über seinen eigenen, alltäglich hinterlassenen Abfall und meint: „Mein Zimmer und der Mist gehören zu mir“78. Sie gehören nicht nur ihm, sie gehören zu ihm, sie definieren ihn. Er beseitigt dieses Inventar der Erinnerung nicht, er räumt seinem Leben nicht hinterher, sondern bewahrt es, so wie es ist, „la réalité telle qu'elle est sans y changer la moindre miette de pain“79, als eine Art Lebensdokumentation auf. SPOERRI hält die Einzigartigkeit und Zufälligkeit eines Tages fest und klebt hierfür einen Moment an die Wand. Durch das Medium Kunst macht er seine Lebensbahnen, bestehend aus Abfall, für die Ewigkeit dingfest. Memento mori, er hängt sein (Still-) Leben und somit seinen Lebensstil auf, wie andere Leute ihr Hochzeitsfoto. Er fixiert seine horizontal ausgerichtete Esstischplatte samt Geschirr und Mahlzeitresten als eine Art Momentaufnahme vertikal an die Ausstellungswand. Er verschiebt ordinäre Dinge aus ihrer üblichen Horizontale in die vertikale Lage. Hiermit erteilt er dem Betrachter eine, wie er sie bezeichnet, „leçon optique“, eine optische Lektion, stellt ihm eine Wahrnehmungsfalle, „piège“, durch die schnörkellose, unmissverständliche Verschiebung der gewohnten Sichtweise. Seine 76 Eigentlich Daniel Isaac FEINSTEIN. Frei übersetzt: „ zufällige Fundobjekte“. 78 Zitiert von Paolo BIANCH, „Subversive Botschaft“, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 54. 79 Frei übersetzt: „die Realität, sowie sie ist, ohne den kleinsten Brotkrümel dran zu ändern“, Pascale LE THOREL-DAVIOT, Petit dictionnaire des artistes contemporains, Larousse-Bordas, Paris, 1996, Seite 242. 77 46 „tableaux-pièges“ sind zudem als Dokumentation der Vergänglichkeit des Augenblicks und des Lebens selbst zu verstehen. 1961 geht der Künstler so weit, dass er per Stempel gewöhnlichen Lebensmitteln das Siegel des Kunstobjekts aufdrückt. In einer Kopenhagener Galerie80 verkauft SPOERRI mit Müll angereicherte Brotlaibe, ein kritischer Zusammenschluss, der Müll, Kunst und „täglich Brot“ in einen Topf wirft. Der Künstler vor einem seiner „tableaux-pièges“ im Stadtmuseum Graz, März 2011 Daniel SPOERRI, „Assemblage mit dem Kopf eines Pferdes“, 1990 und „Brote“, 1965 Abfall löst beim Betrachter Reaktionen aus: Ablehnung, Übelkeit, die Angst vor der eigenen körperlichen Verderblichkeit und vor seiner Nichtigkeit. Ob tot oder lebend, im Müll steckt immer ein gewisses „Ekelpotenzial“, wobei auch hier die ganz subjektive Grenze gezogen werden kann. Insbesondere der verderbliche, organische Anteil von Müll ist abstoßend, triefend, fest oder weich in der Konsistenz, klebrig, schmuddelig und sogar schädlich. Abfall löst mit seinem 80 Die Ausstellung „L’Epicerie“, Der Krämerladen, fand 1961 in der Kopenhagener Galerie Koepcke statt. 47 Gärungs-, Moder- und Verwesungsgestank, den schwarz-grünen Verfärbungen oder Schimmelpilzen, die körperlichen Alarmglocken, also Übelkeit und Brechreiz aus. Natürlich sind dies in erster Linie negative Potenziale und machen Müll zu einem gesellschaftlichen Tabuthema. Doch einige Künstler sehen gerade darin den Reiz und nutzen das Material Müll gezielt in seinem desolaten, aber dafür nicht weniger interessanten Zustand der Verwesung und scheinen provokativ mit den Urängsten der Menschen vor Vergiftung und Tod zu spielen. Dieter ROTH gehört dazu. Der Schweizer Dichter, Aktions- und Objektkünstler demonstriert in seinen Werken organische Zersetzungsprozesse von Lebensmitteln. Natürliche Lebenszyklen rufen bei dem Betrachter nicht nur Gedanken an die Vergänglichkeit der Dinge, sondern ebenso gut Ekelgefühle hervor. Schon beim Eintreten in seinen Ausstellungsraum strömt dem Besucher ein strenger Verwesungsgeruch entgegen. ROTH häuft Inseln81 aus Essensresten auf oder formt Kaninchen aus ihren Kotknödeln82. Er lässt seine Kunst absichtlich vergammeln, verfaulen und langsam zersetzen. Dieter ROTH provoziert durch den Ekeleffekt seiner Kunstwerke. Ein plakatives Beispiel hierfür ist sicherlich seine Antwort auf einen Auftrag der Baseler Werbeagentur GGK. Der gelernte Grafiker sollte einhundertzwanzig Weihnachtsgeschenke für Angestellte und Kunden produzieren. Reisegutscheine waren ihm wohl zu einfallslos und so schuf der Künstler gleich ganze Inseln, für jeden eine. Kleiner Haken: Diese Inseln waren auf Holzplatten festgenagelte und übermalte, zum Teil verderbliche Abfälle. Die Beschenkten machten beim Anblick und vor allem Geruch dieser „Schimmelhaufen“, sicherlich Luftsprünge! Mit der Verwendung von organischen Werkstoffen bezieht ROTH den Prozess des Verfalls mit in sein Werk ein und macht ihn zum konstituierenden Bestandteil. Diese vergängliche Kunst ist der Zersetzungsgefahr ausgesetzt, arbeitet immer weiter und verändert im Laufe der Zeit sowohl Form als auch Materialität. Selbst nach dem Tod des Künstlers arbeiten Bakterien hinter Plexiglasverkleidungen an seinen Werken weiter. Dieter ROTH, „Kleine Insel“, 1968 81 Dieter ROTHs „Insel“, besteht aus Brot, Küchenabfällen, Draht und Nägeln, Gips, Acryl- und Ölfarbe auf Spanplatte, 1968, Dieter Roth Foundation, Hamburg. 82 „Köttelkarnickel“, 1969/1975, Dieter ROTH Foundation, Hamburg. 48 Müll ist aus stofflicher Sicht zugleich totes, wie auch lebendes Material. Tot, weil abgelebt, abgeschoben, verbraucht, nutzlos, gebrochen, entfernt, ermordet durch seinen Konsumenten. Lebendig, weil keimend, wuchernd, gärend, mikrobenverseucht, krankheitserregend, von Kleintieren, Insekten, Schimmelpilzen oder Bakterien befallen. Manche Müllkunstwerke leben eben physisch weiter, verändern sich, ein Work in Progress. Das Thema der Verwesung gehört somit zum Müll wie sein Gestank. In diesem Sinn zeigt die englische Videokünstlerin Sam TAYLOR-WOOD dem Betrachter im Video Still Life83 von 2001 eine Art fast romantische Sicht auf verwesende Obstschalen, die im Zeitraffer von saftigem Obst über ungenießbaren, schimmeligen, pelzigen, modrigen Abfall wieder zu neuem Leben erwachen. Die Künstlerin gibt den Prozess der „Zur-Kunst-Werdung“ sowie das Überleben ihrer Werke aus ihrer Hand. Auch sie überlässt die aktive künstlerische Phase dem natürlichen Lauf der Dinge. Sie hält fest, wie aus altem Leben neues Leben gedeiht. Sam TAYLOR-WOOD, „Still Life“, 2001, Videoauszüge Hat Müll nicht gerade im süffelnden und tabuisierten Zustand auch etwas Erotisches? Gärend, schmelzend, klebrig, weich, brutal und stinkend. Irgendwie eklig und doch instinktiv anziehend, so im Dreck zu wühlen, diese Welten der pulsierenden Körpergerüche und Ausscheidungen. 83 Still Life ist ein 3:18 minutiger Film, von 2001, der die Zersetzung von Obst über eine Zeitspanne von mehreren Wochen im Zeitraffer zeigt. Vorbilder waren die Stillleben des 17. Jahrhunderts mit ihrem klassischen Bildaufbau. 49 Einige Künstler, wie der Wiener Aktionist Otto MÜHL, scheinen sich regelrecht im Dreck wohlzufühlen. Er meint: „…manchmal [habe ich] das Bedürfnis, mich wie eine Sau im Schlamm zu wälzen. Mich provoziert jede glatte Fläche, sie mit intensivem Leben zu beschmutzen. Ich krieche auf allen Vieren darauf herum und schleudere den Dreck nach allen Richtungen.“84 Piero MANZONI treibt das „Privileg“, dass alles was vom Künstler abfällt, Kunst ist, auf die Spitze. So vermarktet er 1961 neunzig kleine signierte und durchnummerierte Konserven mit jeweils dreißig Gramm seiner Exkremente85. Er brachte damals alle Dosen „Merda d'artista“ an den Mann, obwohl oder gerade, weil er seinen Stuhlgang mit dem damals aktuellen Goldpreis aufwog. Die Wertsteigerung ist enorm und auch heute erfreuen sich die Dosen noch immer reger Beliebtheit. Eine dieser Dosen erzielte 2008 im Auktionshaus Sotheby's einen Preis von umgerechnet 132.000 Euro. Durch die Parameter der Kunst wird sogar menschliche Ausscheidungen zu Gold. Piero MANZONI, „Merda d’artista“, 1961 In den frühen 60er Jahren hatte Müll noch das Potenzial, das verwöhnte Kunstpublikum zu brüskieren. Mittlerweile hat sich das internationale Kunstpublikum an organische Abfälle bis hin zu körperlichen Ausscheidungen gewöhnt. Müllkunst in ihrer schäbigsten Form vermag bestenfalls noch zu irritieren, doch ihre schockierende Wirkung ist heute verblasst. Trotzdem bleibt Müll Provokation! Er provoziert sein Publikum durch seine Unwertigkeit, durch seine Ekelhaftigkeit, seinen Geruch, seine Unreinheit, seine ungewisse Herkunft und stößt oft auf Ablehnung und Entrüstung, bleibt vor Kraftausdrücken nicht verschont! Auch die SPRINKLE BRIGADE setzt Körperausscheidungen neu in Szene. Die drei amerikanischen Street Art Künstler Jeremy DAVIS, Jeff CHURCH und Matt MURPHY nutzen vorhandene tierische Exkremente für ihre rudimentäre Straßenkunst. Sie dekorierten Hundekot aus ihrer Heimatstadt New York in humorvolle „Poop Art-Pieces“ um. Unter dem Slogan: „just leave it. we got it.“ erlauben sie sich allen Spaß mit dem Hundedreck und inszenieren die Knödel in situ, stecken sie in nette Kleidchen, schmücken sie wie einen Weihnachtsbaum, nutzen sie als Kriegskulisse für Spielfiguren. Die Idee für ihre mittlerweile lukrative „Kunst“ entstand aus dem 84 Otto MÜHL, Aufsatz zum „psycho-physischen Naturalismus“, 1963. Ausscheidungen sind auch Müll. Hierbei erinnern wir uns an das Zitat von PAZZINI: „Müll ist das, was abfällt, beim gesamtgesellschaftlichen Verdauungsprozess“, warum dann nicht auch vom Verdauungsprozess eines Künstlers? 85 50 Zufall heraus, als ein Mitglied aus Verachtung und Langeweile Popcorn auf einen Hundehaufen schmiss. Der Betrachter hat die Möglichkeit diese Aktionen als kritische Gesellschaftskunst einzustufen, er kann sie aber auch nehmen wie sie sind: als neckische Spielereien, die fotografiert oder gefilmt im world wide web kursieren und mittlerweile sogar in Galerien zu beschnuppern sind. SPRINKLE BRIGADE, „Treasure hunt“, „Double header“, „Law and Order“, 2006, New York Um diesem Klischee noch eins draufzusetzen, scheint Wim DELVOYE bewusst Kot-Mosaike zu arrangieren und eine Kot-produzierende Riesenmaschine zu entwickeln. Die besagte „Cloaca“ wandelt in einem komplizierten künstlichen Verdauungsprozess wertvolle Nahrungsmittel und Sternemenüs in mechanisch erzeugte Ausscheidungen um. Der belgische Künstler demonstriert hierbei aufwändig, wie aus wertvollem Rohstoff Dreck wird. Kunst mal umgekehrt: Er produziert vorsätzlich Abfall und verpackt diesen in Tütchen. Der Prozess selbst, bei dem ein Objekt „abfällt“ und zu Müll wird, wird hier in einer gigantischen, mit großem Aufwand betriebenen Maschine dem Publikum vorgeführt. Der „Werteverlust“ der Nahrungsmittel wird transparent. Diese Transformation, dieser paradoxe, fast schon perverse Schritt Fäkalien absichtlich herzustellen, mit allen dazu gehörigen Produktionsgerüchen, wirft Fragen auf über Wert und Unwert, über Materialität und Form der Kunst, sowie den Prozess des Zur-Kunst-Werdens. Wim DELVOYE, „Cloaca 2000-2007“, Installationsansicht, Casino Luxemburg, 2007-08 51 Wim DELVOYE, „Cloaca“, 2007, „Mosaik“, 1990, Dokumenta IX, Kassel Müll ist nicht nur eklig und stinkend, sondern kann in seiner Substanz ebenso gut sauberes und intaktes Material sein, synthetischen Ursprungs, rein und reich an Farben, Symbolen, Funktionen und anderen qualitativen Merkmalen, eben reiches Material. Der französische Neue Realist César Baldaccini, genannt CÉSAR und der vom abstrakten Expressionismus inspirierte US-Amerikaner John CHAMBERLAIN, finden ihren Schrottschatz auf dem Schrottplatz. Zerdrückter und verformter Metallschrott wird bei beiden zu einer Art Handschrift. Zu massiven, minimalistischen Bauklötzen und eleganten, fast barocken Altblechskulpturen gepresst, leben Autowracks ein neues Leben als Kunstobjekt. Die beiden Künstler basieren ihre Schaffensidee auf die Ästhetik des Mülls und lassen stoffliche Spuren des vergangenen Objekts sichtbar. Sie lassen Material (Blech, Glas, Plastik, Gummi), Form (Scheinwerfer, Türgriffe, Lenkräder) und Symbolik (Mercedesstern, markentypisches Design) ineinander- und aufeinander wirken. So sieht man zugleich den knallbunten, strahlenden Lack, der an den Zustand des neuen Autos erinnert und, ihm gegenüber, Schrammen, Dellen und Rost. Die Autoschrottskulpturen erinnern sowohl an den Wagen als Statussymbol als auch an dessen Vernichtung. Der Kunstmarkt schleudert den Schrott wieder zurück in das Stadium „Statussymbol“. CÉSAR, „Honda Monkey“, 1976 John CHAMBERLAIN, „Hatband“, 1960 und „Incidentallyneutered“, 2008 Abfälle wie Haushalts-, Elektro- und Autoschrott haben zudem eine sehr technische, mechanische Seite. Auch wenn ein weggeworfenes Gerät nicht mehr voll funktionstüchtig ist, so 52 kann es durchaus noch bewegliches, leuchtendes, steuerbares, Lärm erzeugendes, aktives Restpotential enthalten. Es erfüllt nicht mehr seinen eigentlichen Zweck und kann zu Schrottinstallationen oder kinetischen Kunstwerken verarbeitet werden. Müll ist daher nicht gezwungenermaßen unbeweglich, stoisch oder starr. Neu zusammengefügt, geraten schwere Metallgerüste wieder in Wallung, quietschen, keuchen, winden sich, mal schwer und quälend, mal leicht wie eine Feder. Jean TINGUELY erschafft bewegte Skulpturen aus Schrott, moderne Monster in einer Welt der Mechanisierung und Technologisierung. Mit Motoren und beweglichen Teilen ausgestattet, reanimiert der Schweizer den Zyklus des Materials durch Bewegung und Zufall. Einige seiner kinetischen Kunstwerke sind unnütz (wie auch traditionelle Kunstwerke frei von unmittelbarem Nutzen sind), andere entfalten eine Art Teil-Nutzen. Zusammengesetzte Schrottberge werden zu Wasserspeiern, Beleuchtungen, Ventilatoren und sogar zu teils selbständigen Zeichenautomaten. Ob nun mehr oder weniger nützlich, seine Schrottskulpturen scheinen sinnlos, sich ziellos bewegend und drehend. Für seine Balubas, trostlose und zugleich amüsante, vertikal ausgerichtete Müllassemblagen, die sich gelegentlich laut und frenetisch rütteln, verwertet TINGUELY Fundgegenstände. Bei diesem Beispiel von 1961-62 stellt ein von der Deponie geretteter, dreckiger Blechkanister sowohl den Sockel des Kunstwerkes, als auch einen Bestandsteil des Ganzen dar. Er lässt die Skulptur und damit auch seine Arbeitstechnik gewollt arm und nach Bastelei aussehen. Er parodiert hiermit sowohl die Konsum- als auch die Kunstindustrie. Seine Maschinenplastiken, wie auch die MétaMatics oder seine autodestruktiven Werke aus Schrottteilen sollen nicht auf Unsinn abzielen, sondern laut Künstler „Kritik an der Gleichförmigkeit industrieller Vorgänge und der Produktion von unnützen Dingen“86 vermitteln. Jean TINGUELY, „Baluba“, 1961-1962, Centre Georges Pompidou, Paris und „Cyclograveur“, 1960, Kunsthaus Zürich 86 Rudolf SUTER, „Stillstand gibt es nicht“, Neue Zürcher Zeitung, 16. http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/stillstand-gibt-es-nicht-1.18004162. 53 Februar 2013 Das Schweizer Künstlerduo Peter FISCHLI und David WEISS bauen aus Abfällen, Liegengelassenem und Ungebrauchtem humorvolle Gleichgewichtsinstallationen oder perpetuum mobiles. In „Der Lauf der Dinge“ von 1987 nimmt ein Müllobjekt Einfluss auf das Nächste und löst eine Kette der Reaktionen aus. Peter FISCHLI und David WEISS, „Der Lauf der Dinge“, Fotoserie der Aktion, 1987 Letztere Künstler entnehmen der Umwelt den Müll um ihn in ihren Werken wiederzubeleben. Sie geben Abfällen ein eigenes bewegtes, vom Zufall gelenktes Leben zurück. Andere Künstler sind darauf bedacht, keinen künstlerischen Moment dem Zufall zu überlassen und produzieren sogar ihre Rohstoffe selbst. DELVOYE stellt Ausscheidungen künstlich her und packt sie in kleine Tütchen. ARMAN zertrümmert in seinen experimentellen Spätwerken mutwillig Geigen oder verbrennt Klaviere87 um daraus Assemblagen herzustellen. Um einen weiteren Selbstversorger dieser Art, handelt es sich beim niederländischen Künstler Jan HENDERIKSE. Um den symbolischen Wert von Geld zu thematisieren, zerkleinert er im Reißwolf vorsätzlich Geldscheine und verpackt sie hübsch in einer schwarzen Kiste. Diese Künstler beschleunigen den Zerfallprozess von Dingen und beziehen die vorsätzliche Destruktion von intakten Gegenständen in ihren kreativen Arbeitsvorgang mit ein. Der Zerstörungsakt, also der kurze Prozess des „ZuMüll-Werdens“, gehört zum Werk dazu. In diesem Sinn wird der Künstler zum „Müll-Er“, dem Müller, der das Mehl seines täglichen Brotes selbst ma(h)lt. Jan HENDERIKSE, „Shreddered Value (a321a)“, 1989 87 „Colère de violon“, 1962 oder „Chopin’s Waterloo“, 1962. 54 An diesem Punkt gehe ich noch einmal gezielt auf den synthetischen Müll in seiner häufigsten Form ein: die Ansammlung. Sie definiert Müll nicht in seiner Qualität sondern in seiner Quantität. Müll ist meist ein gesamtes Phänomen, seltener ein isolierter Einzelgegenstand. Der griechische Philosoph HERAKLIT bemerkte bereits um 500 v.Chr., dass ihm „Die schönste Welt“, “wie ein planlos aufgeschütteter Kehrichthaufen“ erschien und bezeugte somit eine Ästhetik des Chaos. Auch Leonardo DA VINCI kommt in seinem Werk „Traktat der Malerei“88 zu dem Schluss: "Durch verworrene und unbestimmte Dinge wird nämlich der Geist zu neuen Empfindungen wach.“ Die Vielfalt, die Unordnung, der Überfluss an scheinbar unnützen Dingen erzeugen einen gewissen Anreiz. Eine Anhäufung von abgeschobenem Lebensballast ist zeitgleich abstoßend und spannend, symbolkräftig und mystisch, skandalös, interessant im Detail und doch irgendwie widerlich, treibt einem Schauder über den Rücken, ist unperfekt wie das Leben selbst. ARMAN scheint von dieser Unperfektion angezogen. Er hat die Kunst des Sammelns, Aufbahrens und Aufbewahrens für sich entdeckt. Als „Zeuge seiner Gesellschaft“ meint er: „…lange Zeit hat mich die Tatsache, dass eines seiner sichtbarsten materiellen Resultate die Überflutung unserer Welt mit Abfall und ausgemusterten, übriggebliebenen Objekten ist, in Angst versetzt.“89 Dies kann erklären, weshalb der Künstler begonnen hat sich eine gewisse Sicherheit durch das Ansammeln und Präsentieren von ausgedienten Objekten zu schaffen. In seinen „Accumulations“ oder „Poubelles“ arrangiert ARMAN Gasmasken, kaputte Instrumente, Spielzeug, Tischlampen, Essbesteck, alte Schreibmaschinen, benutzte Farbtuben, Zahnprothesen oder auch organische Materialien in rhythmisch komponierten Assemblagen. Er ästhetisiert das triviale Objekt, das nicht als Einzelstück sondern in der Gruppe wahrgenommen wird. Diese Sammelaltäre aus „Unnützem und verschiedenartigen Objekten“90, setzt er, wie in einer Schaufenstervitrine, hinter Glas. Seine Gasmasken wirken so aufgebahrt, zugleich mahnend wie auch unantastbar, wie eine Soldatenfront. Mit seinen Sammelbildern aus Allerlei stellt ARMAN auf ironische und provokative, aber zugleich auch poetische Weise die Vergänglichkeit von Massenprodukten in Frage. 1960 antwortet ARMAN auf eine von Yves KLEIN konzipierte Ausstellung „Le Vide“ 91 mit „Le Plein“92. Hierbei stopfte er die Galerie Iris Clert in Paris randvoll mit Abfall. Diese allesüberflutende, zufällige, schnelle Kunstform der nahezu wahllosen Ansammlung, kommt immer wieder neu auf. Zehn Jahre danach verschüttet George BRECHT93 haufenweise Abfälle auf einen Galerieboden. Nur eine rudimentäre Kordel trennte den Müll vom Betrachter, ein schmaler Grat, der den Unterschied zwischen Müll und Kunst, wertlos und wertvoll demonstriert 88 „Trattato della pittura“, um 1500. RUHRBERG Karl, SCHNECKENBURGER Manfred, HONNEF Klaus, Hrsg. WALTHER Ingo F., Kunst des 20.Jahrhunderts, Benedikt Taschen Verlag GmbH, Köln, 2000, Seite 518. 90 „inutilités et objets hétéroclites“, wie ARMAN sie selbst bezeichnet. 91 Die 1958, von Yves KLEIN in der Galerie Iris Clert arrangierte Exposition „le Vide“, enthielt tatsächlich nichts als weiße Wände und blaue Fenster. 92 Dies war der Auslöser zur Formierung der Künstlerbewegung des Neuen Realismus an der beide Künstler, wie auch namhafte Größen wie Daniel SPOERRI, Jean TINGUELY, Jacques VILLEGLÉ oder aber Pierre RESTANY Teil hatten. 93 Eigentlich George MacDiarmid, ist ein US-amerikanische Fluxus-Künstler. Fluxus ist eine Form der Aktionskunst, deren Ziel es ist, alle Grenzen zwischen Kunst und realem Leben, sowie dem Künstler und seinem Publikum aufzuheben und somit eine neue kollektive Lebensform entgegen der traditionell elitären Kunst zu erschaffen. 89 55 und gleichzeitig seine Grenzen zwischen Todernst und Publikumsbelustigung zieht! Thomas HIRSCHHORN präsentiert Ende 2010 im Museum Dhondt-Dhaenens im belgischen Deurle sein Projekt Too Too - Much Much. Er befördert Berge an zerdrückten alten Getränkedosen auf den Museumsboden. An einigen Stellen stapeln sich leere Dosen, Schaufenstermannequins tragen Müllbikinis und Dosenmode, auch eine Dosenkamera findet dort ihren Platz und einige dicke graue Plastikrohre scheinen die Müllberge optisch zu rhythmisieren aufzulockern. Müll scheint in seiner Masse zu faszinieren. Thomas HIRSCHHORN, „Too Too - Much Much“, 2010, Deurle Im n.b.k., dem Neuen Berliner Kunstverein war 201194 eine originelle Installation von Karin SANDER zu sehen. Die deutsche Künstlerin ließ zwischen dem Ausstellungsraum im Erdgeschoss und den administrativen Büroräumen in der ersten Etage fünf Fußball-große Kernbohrungen vornehmen. Die im oberen Stockwerk arbeitenden Museumsangestellten fanden an den Stellen, wo sonst Papierkörbe standen, genau diese Löcher wieder. Nutzten sie diese, wurde ihr Abfall direkt auf den Ausstellungsboden befördert. Der Besucher fühlt sich, als hätte er eine Reise in einen Papierkorb vorgenommen. Die passenden Sehenswürdigkeiten plumpsen ihm hierbei häppchenweise in Form von Briefverkehr, Zugtickets, Einladungen, Künstlerbiografien, Taschentüchern oder Locherkonfetti95 direkt vor die Füße. Achtung, Kunst von oben! So macht die Kulturmaschine in beiden Wortsinnen „ihr Geschäft“. Und der Ausstellungsbesucher kann offen seinem Voyeurismus frönen: Wer ist letzten Samstag mit dem Zug nach Straßburg gereist? Welche Zigarettenmarke raucht der Direktor? Welche Randnotizen wurden über die Ausstellung nebenan gemacht? Der anfallende Abfall der Angestellten wird einfach ausgestellt. Der Besucher hat zudem Zugang zur oberen Etage, kann 94 Vom 5. März bis 1. Mai (Tag der Arbeit) 2011. Aus hygienischen Gründen, waren die Angestellten darum gebeten, keine organischen Abfälle darin zu entsorgen. Man wollte auf hungrige Mäuse verzichten. 95 56 also schnell auch mal selbst Hand an diese temporäre Kunstinstallation legen. Schneller kann man wohl kaum aus Abfall Kunst machen! Mit dieser Intervention karikiert die Künstlerin unsere kunst- und konsumhungrige Kultur, hinterfragt den allgemeinen Umgang mit Müll sowie die Perzeption von Kunst. Sie scheint dem Publikum an die Nase binden zu wollen, dass es vorbehaltlos jeden Müll als Kunst akzeptiert. Karin SANDER, Installationsansicht ohne Titel, n.b.k. Neuer Berliner Kunstverein, 2011 Das Thema der Ansammlung des so chaotischen Abfalls beschäftigt auch den zeitgenössischen britischen Künstler Tony CRAGG, mit dem Unterschied, dass er ihm wieder eine Ordnung zurückgibt. Seit Anfang der Siebziger macht er es sich zur Lebensaufgabe, alle möglichen Dinge organischer sowie synthetischer Natur zu sammeln, zu sortieren und zu präsentieren: Holz, Steine, Metall, Blech, Bauschutt, aber vorzugsweise Kunststoffteilchen. Hierbei interessiert er sich weniger für das Weggeworfene an sich, sondern vielmehr für die Qualität des zugleich geringwertigen, aber weit verbreiteten und anonymen Materials. Seine Plastikassemblagen bestehen aus ausgewählten, oft heterogenen Objekten wie PET-Flaschen, Behältern, jeglichen Verpackungsmaterialien, Spielzeug oder sonstigem Nippes in unterschiedlichen Farben. Diese werden an einer Wand oder am Boden angeordnet und aus der Distanz betrachtet entstehen Formen, Umrisse, Flächen und Figuren. Die beiden abgebildeten Cowboys wurden noch von Großherzogin Joséphine-Charlotte erworben. CRAGG verschickte sein Werk „All the Streets are full of Cowboys and Indians“ von 1980, in all seinen Einzelteilen: In einer großen Kiste lagen viele kleine gelbe durchnummerierte Plastikkramobjekte mit Bedienungsanleitung. Den Angestellten des Nationalmuseums96 blieb dann die Arbeit, die kleinen Teile zu einem Puzzle zusammenzusetzen. So entstand aus einer unförmlichen Müllansammlung ein Kunstwerk in seiner „fertigen“ Form. CRAGG erstellte somit ein „Müllanordnungskonzept“, das die Käufer selbst zusammenbasteln müssen. 96 MNHA, Musée National d’Histoire et d’Art in Luxemburg. 57 Tony CRAGG geht sogar so weit, dass er die Öffentlichkeit bittet, zu seinen Vernissagen Objekte in einer bestimmten Farbe mitzubringen, die dann irgendwann in einem anderen Werk auf der Welt wieder auftauchen! Seine Recyclingkunst wird so zur interaktiven Aktionskunst. CRAGG bietet dem Betrachter eine leichte, konsumfreundliche Form von Müllkunst, nicht bedrückend als wäre man auf einer Totenwache. Tony CRAGG, „All the Streets are full of Cowboys and Indians“, 1980 Die Idee der Ansammlung, der Häufung von Abfall bietet viele Interpretationsmöglichkeiten. Bei BOLTANSKI erinnern Kleidermassen an schreckliche menschliche Schicksale97, PISTOLETTO benutzt hingegen Kleidunsstücke um eine ironische Verbindung zwischen künstlicher Reinheit und schmutzigem Konsum herzustellen98. Das britische Künstlerduo Sue WEBSTER und Tom NOBEL arbeitet auch mit Müll in seiner Masse. Kunstvoll verschmelzen die beiden Einzelteile wie Hausabfall, Schrott oder auch mal Tierkadaver zu beeindruckenden Schattenskulpturen. Wie der bereits erwähnte Schattenkünstler Diet WIEGMANN rücken auch sie ihren Müll ins rechte Licht. Dichte Materialität durchdringt eine Flut an Immaterialität und wirft ihren Schatten an die Wand. „Dirty White Trash (with Gulls) ist ein Zusammenfluss von Schönheit und Schmutz, Form und Anti-Form. Es ist ein Kunstwerk, gemacht aus dem Prozess seiner Entstehung, eine Verkörperung formalistischer Logik. Gleichzeitig eine Negation von allem, wofür Formalismus steht.“99 Ihre Installationen bestehen aus zwei komplementären Teilen: scheinendes Licht, die heitere, helle Seite der beiden, sowie der zusammengeklebte Müll, den die Künstlerin als dunkel 97 Siehe hierzu sein Werk „La Réserve du Musée des Enfants I und II“, auf Seite 68. Siehe hierzu sein Werk „Venus der Lumpen“ auf Seite 45. 99 Jeffrey DEITCH, Direktor des Los Angeles Museum of Contemporary Art, in „Black Magic“ aus der Ausgabe Wasted Youth, Rizzoli International Publications, New York, 2009. Siehe Bild auf Seite 70. 98 58 beschreibt. Tatsächlich bremsen kunstvoll zusammengefügte Müllhaufen das Licht und hinterlassen einen Schatten, ein scharf konturiertes schwarzes Loch an der Leinwand. Die so entstandenen formal-ästhetischen Silhouetten wirken traumhaft und öffnen dem Betrachter neue fantastische Welten. Wer erinnert sich nicht an die Wölfe und Drachen, die Mutti früher in Schattenspielen an die Schlafzimmerwand projizierte? Man scheint zu vergessen, dass diese Welten aus Müll erbaut wurden. Scheinen die Einzelteile doch zufällig zusammengebracht, so erkennt man erst durch die Erleuchtung, welch akribische Liebe zum Detail, welch leidenschaftlicher, fast zwanghafter Perfektionismus in den Müllklumpen steckt. Die Künstler entlocken dem Müll, den sie sich selbst angesammelt haben, eine Art filigrane zeichnerische Qualität. Ist es doch diese Ausdauer und das Feingefühl der beiden, die aus ekligem Trash wundervoll inszenierte Lichtspiele entstehen lassen. In diesen Inszenierungen begegnen sich Produkt und Projektion, Licht und Schatten, Wahrheit und Lüge, Gut und Böse. Formell betrachtet begegnen sich Abstraktion und Gegenständlichkeit, Chaos und Ordnung, Form und Anti-Form. Sue WEBSTER und Tom NOBLE, „Metal fucking rats’“, 2006 Wilhelm MUNDT ästhetisiert auch seine eigenen Müllansammlungen und bringt sie in Form. Der deutsche Bildhauer sammelt den „künstlerischen Sondermüll“ aus seinem eigenen Atelier: Abgussreste, Materialverschnitte und andere Produktionsrückstände, eben alles, was bei seiner künstlerischen Kreation an- und abfällt. Er bindet diesen Abfall dann mit Klebeband zu einem dichten Knäuel, den er mit Klebeband, dann mit Glasfaser, Polyester und Spachtelmasse umfasst. Anschließend schleift und bemalt er ihn. So in Form gebracht wirken seine Abfallbälle wie befremdliche Kometen oder aber wie große Krankheitserreger. Einige dieser Müllknäuel schließt MUNDT sogar in maßgefertigte Aluminiumkarkassen ein. Diese wirken besonders edel und wertvoll, wie gigantische Goldnuggets von einem anderen Planeten. Diese nummerierten „Trashstones“ sind Müllleiber, die ihren Mageninhalt nur mehr vage erahnen lassen. Er legt seinen Müll nicht frei, sondern konserviert seine Schaffensreste in Kapseln. Deren Ausbeulungen weisen nur mehr im Ansatz darauf hin, dass hier Müll in hübscher Verpackung liegt. Durch diese Verhüllungsstrategie spielt MUNDT mit dem Überraschungseffekt des Ungeahnten, denn stellenweise gewährt er dem neugierigen Betrachter durch kleine Öffnungen Einblicke in ihr Innenleben. 59 Wilhelm MUNDT, „Trashstone 438“, 2008, „Trashstones“, Ausstellungsansicht From Trash to Treasure 2011, Kiel und „Trashstone 394“, 2008, Wuppertal Auf der einen Seite setzt MUNDT seinen selbst verursachten Müll in Form von dicken Klumpen in Wälder und in Galerien aus, auf der anderen Seite sammelt Karsten BOTT kleine unbedeutende Klumpen von den Straßen wieder auf. In seiner „Kaugummivitrine“ (1991/2011) zeigt der deutsche Künstler rund zweihundert Kaugummis, die er auf den Straßen Kiels zusammengekratzt hat. Er zeigt, dass auch von synthetischem Material ein gewisser Ekelfaktor ausgehen kann. Er präsentiert, was auch DALI so faszinierte, das Weiche, Schmelzende, Unförmige. Wessen stinkende Mundflora keimt wohl noch in diesen Gummiagglomeraten? Schon unappetitlich genug, wenn sie an den Schuhen kleben, hier werden sie dem Publikum als wahre Kunstplastiken vorgeführt. Sauber, nett und geordnet hinter Glas ausgestellt, sorgen sie beim Betrachter für emotionale Verwirrung: attraktiv präsentiert, zieht die Sammlung den Betrachter zuerst an, schreckt ihn nach genauerer Betrachtung aber sogleich wieder ab. Nur der sehr hungrige Kunstinteressent verweilt eine Zeit mit der intensiveren Form,- Farb- und Zahnspurenanalyse. Karsten BOTT, „Kaugummivitrine“, 1991-2011 60 Auch die luxemburgische Künstlerin Simone DECKER interpretiert dieses Eklige, Klebrige und Weiche. Sie wirft ihre abgelutschten Kaugummis nicht weg, sondern gibt ihnen einen neuen Wert. Im Rahmen der 48. Biennale in Venedig von 1999 präsentiert die Künstlerin subtile Fotografien, in denen sie Kaugummiskulpturen inszeniert: Kleiner Kaugummi, große Wirkung. „Chewing in Venice“ ist eine nicht retuschierte Fotoserie, welche durch Perspektivverschiebung und ein befremdliches Spiel mit den Größenverhältnissen den Betrachter in Staunen versetzt. Gigantische, zähe, quietschrosa Massen scheinen öffentliche Passagen zu verkleben, so als hätte Barbie ihre Schleimspuren in den Straßen von Venedig hinterlassen. Simone DECKER entwickelte diese Arbeit in Reaktion auf die dort durch Touristen verschmutzten Gehwege. In ihrer Arbeit stellt die Künstlerin die Materialität sowie auch die Grenzen der zeitgenössischen Skulptur in Frage. Im alternativen Pavillon der Ca' del Duca entwickelte sich ihre optisch reizvolle Fotoserie zum Publikumsmagneten. Simone DECKER „Chewing in Venice“, 1999 Müll hat seinen künstlerischen Wert in seiner Stofflichkeit, seiner Materialität, seiner Beschaffenheit und chromatischen Relevanz, in seiner Qualität und seiner Quantität. Müll ist sowohl rein und reich als auch arm und desolat, ist lebender Organismus und Quell des Ekels. Müll hat allerdings auch einen unumgänglichen Wert als aussagekräftiger Ideenträger. Müll trägt die Spuren seines eigenen Seins sowie des Unseren. Im folgenden Kapitel vertieft sich die Idee des Mülls als Transporteur von Ideen, Erinnerungen und Historie. 61 62 2.c Dokumentarische und poetische Lektüre: Die Geschichte des Weggeworfenen „Beide, Müll und Abfall können als Matrix für neue Wahrnehmungen und Bewusstseinswelten und als Archiv der Vergangenheit betrachtet werden. Archive wie Müllhalden sind Arsenale der Erinnerung und zugleich Kläranlagen der Gegenwartskunst.“100 Paolo BIANCHI. Müll birgt in vielerlei Hinsicht Geschichte wie auch Geschichten in sich. Auch mein persönliches Projekt „Recycling Bonsai“ hat Geschichte(n): In historischer Sicht erinnern uns klein gezüchtete Bäume, also Bonsais an fernöstliche Kulturen und Traditionen101. Mit Gewalt wird die Natur gebändigt und daran gehindert sich natürlich zu entfalten. Zehn Meter heruntergezähmt auf siebzig Zentimeter! Unter repressiven Machtverhältnissen wurde ein prächtiges Lebewesen gegeißelt und gegen seinen Willen klein gehalten. Dieses Bäumchen vermittelt durchaus Parallelen zu gesellschaftlichen und politischen Repressionen, welche in der chinesischen Kultur bis heute verankert bleiben. Der kleine Baum erzählt uns auch von seiner eigenen Geschichte, einer Leidensgeschichte: Die Schnittform als Bonsai zeugt von einer für den Baum brutalen, eventuell sogar fatalen Zuchtmaßnahme. Durch regelmäßigen Ast- und Wurzelschnitt, Entrinden zur künstlichen Alterung, Formbändigung durch die Umschnürung mit Spanndrähten und Befestigung durch Schrauben, erhalten solche kleinformatigen Bäume ihre charakteristische Wuchsform. Doch diese Spanndrähte aus Aluminium oder Kupfer scheinen den Baum zu quälen, zu geißeln, zu strangulieren. Waren sie etwa der Grund für das verfrühte Ableben meines Bäumchens? Die Form, in welcher ich den Baum präsentiere, erzählt wieder andere Geschichten: Die Einzwängung durch die Plastikstreifen erinnert an die Praktiken des Bondage102 und lockt den Betrachter mit einem Augenzwinkern in die Welt der Erotik und der fernöstlichen Fesselungskünste. Die ummantelnden Plastikeinkaufstüten berichten durch ihre Schriftzüge, Logos und Gebrauchsspuren von ihrem Leben davor, vom Weg der Produktion über ihre Funktion als schützende Verpackungshülle, handliche Tragetasche und auffälliger Werbeträger, hin zur Aussortierung aus dem Nutzungsfeld. Tüten erzählen von Reisen und Shoppingtouren, von modernen Kaufgewohnheiten und Konsumwahn. Betrachtet man den Boden verschiedener solcher Plastik-Shoppingtüten etwas genauer, kann man einige ausführlich argumentierte Vorzüge von Plastiktüten ablesen. H&M geht soweit und personifiziert seine Tüten. Der Konzern überlässt der Tüte das Wort mit Formulierungen wie: I am a plastic bag, please recycle me! 100 Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 38. Der Bonsai ist heute vorrangig im japanischen Stil bekannt, ist jedoch auf die chinesische Fenjing Gartenkunst aus der Han-Dynastie (um 200 n.Chr.) zurückzuführen. 102 Bondage ist eine Fesselkunst mit japanischen Wurzeln. Das Einschnüren eines Menschen hat die sexuelle Stimulation durch Einengung und Unterwerfung zum Ziel. Bondage wird auch aus ästhetischen Gründen praktiziert. 101 63 Gehen wir die Arbeit nun unter ikonologischem Aspekt an: Der Baum gilt generell als Sinnbild für das Leben. Obwohl dieses Exemplar tot ist, erzählt es uns immer noch, mit seinen nachgeahmten Blätterbüscheln vom natürlichen Zyklus und der Hoffnung auf alljährliche Wiedergeburt. Wie Ruinen scheinen die kahlen Teile des Baumes wehmütig von vergangenen Tagen zu berichten, von der Blüte seiner Existenz zu zeugen. Zusammengesetzt aus den chinesischen Wörtern bon für Schale und sai für Pflanze, stehen die traditionsreichen Topfkulturen für Energie sowie die Harmonie der drei Naturelemente: Die Natur wird durch den miniaturisierten Baum verkörpert. Die Naturkräfte von Bergen und Wasser findet man in Form von Steinen oder Kies wieder. Der Mensch wird durch die manufakturierte Keramikschale repräsentiert. Der Bonsaibaum verkörpert sogleich ein harmonisierendes Weltbild, als auch ein kulturelles Erbe, so wird er gerne vor Rollenbildern mit Berg-, Wald- oder Tierkulissen ausgestellt. Nicht umsonst bezeichneten Schreiber der Ming-Dynastie den Bonsai als „stumme Gedichte“103, sahen in dem ganz Kleinen das ganz Große. Die Geschichte(n), die ein Bonsai erzählt, können sehr ausführlich sein, denn diese werden, bei richtiger Pflege, über hundert Jahre alt. Auch mein abgelebter Bonsai vermag es noch eine ganze Weltanschauung, einen ausgewogenen Mikrokosmos widerzuspiegeln. Interessanterweise liegt die Herkunft beider Komponenten, sowohl die des Bonsai, als auch die der Plastiktüten, sehr nah beieinander: Die asiatischen Kulturen, welche traditionellerweise Bonsais kultivieren, sind gleichzeitig Quelle der weltweiten Massenproduktion. Wegen der aufopferungsvollen Arbeitsmoral der Bürger, der in vielen Staaten praktizierten kommunistischen Lohnphilosophie und den damit einhergehenden konkurrenzlosen Dumpingpreisen, beherrschen die asiatischen Länder den Weltmarkt im Export von Billigmassenwaren. Demzufolge produzieren sie auch den Hauptanteil von dem, was früher oder später unsere Müllhalden füllt. Hier schließt sich der Kreis von Natur und Menschengemachtem, von Tradition und Modernität, von Elite und Masse, von Wert und Discountprodukt. Hier erzählt arrangierter Müll seine Geschichte(n)! Müll ist in erster Instanz Zeuge seiner primären Funktion, dem eigentlichen Sinn und somit seiner Daseinsberechtigung: Verpacken, schützen, wärmen, nähren, befördern, bedienen, alltägliche Handgriffe unterstützen. Müll hatte im Benutzungszustand einen Sinn und gehörte zu jemandem. 103 de.wikipedia.org, Suchbegriff „Bonsai“, eingesehen am 20. Dezember 2012. 64 Oft sind an ihm noch Charaktereigenschaften abzulesen. Verschleißspuren, Schriftzeichen, Bedienungsanleitungen, Nutzungshinweise, Verfallsdaten, Beschreibungen der Herkunftsorte und der Zustand der Objekte zeugen von seinem prätraumatischen „Leben davor“. So ist Müll ein unreiner und stinkender Beweis der modernen Konsumgesellschaft, bezeugt unseren Überfluss und erzählt von seinen Erlebnissen. Abfall dokumentiert den Alltag, das wahre Waren-Leben. Unser Müll ist ein wa(h)rer Zeitzeuge. Er berichtet von vergangenen und gegenwärtigen Kulturen, von Vergangenheit und Vergänglichkeit. Müll schreibt Memorialkunst und zeichnet Zivilisationsporträts. „Von Abfallobjekten könnte man stundenlang reden, und jede Müllhalde auf der ganzen Welt hat eine andere Atmosphäre, einen speziellen Geruch, eine spezielle Konsistenz, Materialität. Da könnte ich nun sagen, dass mich der Abfall als „Kulturbrei“ interessiert. Man könnte sagen, dass man fast alles, was wir über Römer und Griechen oder die Latrinen des Mittelalters wissen, aus den Abfallhaufen stammt, …“104 Abfall spiegelt, als ausgesondertes Restmaterial, die Lebensweise ganzer Gesellschaften wider. Wissenschaftler, insbesondere die Archäologen, haben sich den Müll zunutze gemacht. Sie entlarven die Geschichte der Menschheit durch deren Abfälle. Was haben die Menschen im Mittelalter konsumiert? Wie war der Lebensstil der Römer? Die uralten Müllhalden geben einen wichtigen Aufschluss über die Konsumgewohnheiten und Handelsverhalten alter Völker. Der römische Berg Monte Testaccio105 ist beispielsweise auch heute noch historisches Museum zum Anfassen, ein Mekka für Archäologen. Unter einer dünnen Schicht aus Sedimenten, mit Gras und Bäumen überwachsen, findet man hier auf Schritt und Tritt antike Amphoren und anderen Tongefäße aus der römischen Kaiserzeit. Zu der besagten Zeit war es sogar streng verboten sich von diesem Hügel zu bedienen, denn die Römer, die als reinlichste Nation der Welt galten, waren stolz auf ihre Kippen. Dieser himmelhoch aufgeschüttete Scherbenhaufen demonstrierte jedem Fremden eindrucksvoll den Wohlstand ihrer Zivilisation, denn sie waren nicht darauf angewiesen ihren Abfall wiederzuverwerten. Eine organisierte Entsorgung gehört somit zu einem intelligenten Gesellschaftsmodell dazu. Der französische Psychiater und Psychoanalytiker Jacques LACAN bemerkte zu diesem Thema: „Eine Hochkultur ist zunächst einmal eine Kultur, die eine Müllkippe hat.“106 Wie eignen sich nun die verschiedenen Künstler dieses desolate aber informationsreiche Material an? Wie lassen sie in ihren Werken den Müll von seinen Erlebnissen und von unserer Kultur erzählen? Der amerikanische Archäologie-, Ökologie- und Biologiebegeisterte Künstler Mark DION widmet sich der Geschichte von Abfall und der Aufbewahrung von gesellschaftlichen Reliquien. 1999 stellt der Künstler in der Tate Modern die „erbeuteten Schätze“ aus einer großangelegten 104 Daniel SPOERRI, 1970, zitiert in Hier kommt die Kunst, Kommentarband 2/3, Ernst Klett Schulbuchverlag, Leipzig, 2005, Seite 13. 105 Er ist der bekannteste römische Hügel, der im Römischen Reich bis etwa Ende des vierten Jahrhunderts nach Christus als Halde benutzt wurde. Er besteht integral aus antiken Scherben. Man schätzt etwa dreiundfünfzig Millionen Amphoren, die vor allem Getreide und Öle enthielten. Der Müll hat eine Gesamthöhe von fünfundvierzig Metern und einen Umfang von einem Kilometer. de.wikipedia.org, Suchbegriff „Hygiene im römischen Reich“, eingesehen am 17. Februar 2013. 106 Jacques LACAN, Meine Lehre, ihre Beschaffenheit und ich, 2008, Wien, Seite 73, zitiert von Anette HÜSCH in From Trash to Treasure – Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kerber Verlag, Seite 9. 65 Aufräumaktion an beiden Uferseiten der Themse in einem mächtigen alten Apothekerschrank aus, „Tate Thames Dig“. Wie ein Arzt, der die Knochen seines Patienten wieder zusammensetzt, repariert und reanimiert er Geschichte, fügt sie wieder akribisch zusammen. Er trägt hierbei auf fast archäologische Manier bis dato unbeachtete Fundstücke, bestehend aus kaputten Brillen, Schuhwaisen, Fragmenten von Tabakpfeifen oder alten Münzen zu einem Andenken, einem Altar zusammen. Er erkennt das, was die Themse im Lauf der Geschichte gesammelt und wieder ausgespuckt hat in seiner Vielfalt, trennt, ordnet, strukturiert es und präsentiert seine Ausbeute dem Publikum, bahrt sie auf für die Ewigkeit. Der Künstler verfolgt eine Art dokumentarische Erinnerungsarbeit, konserviert Geschichte, schreibt sie durch ihre Zusammenfügung neu. Er sichert veraltete Spuren und lässt Vergessenes neu (er)leben. Mark DION, „Tate Thames Dig“, 1999, London Jedem objet trouvé haftet Geschichte an, ob nun die seiner Herkunft, die seiner Beschaffenheit, die seiner Form oder die, welche der Finder selbst in das Objekt hineininterpretiert. Der im vorigen Kapitel bereits erwähnte deutsche Künstler und Dingsammler Karsten BOTT widmet sein Lebenswerk gänzlich dem Liegengelassenen. Er führt bereits seit 1988 ein sogenanntes „Archiv für Gegenwartsgeschichte“. Dies ist eine persönlich angelegte Sammlung kurzlebiger vertrauter Einzeldinge. Er trennt, katalogisiert und ordnet akkurat Frauenzeitschriften, Kleiderbügel, Zahnpastatuben, Käsereiben, Küchenlappen, Saftpressen oder Teppichklopfer. Der Künstler selbst hat das Sammeln und Auslegen in seinem Alltag so sehr verinnerlicht, dass er auf der Straße gefundene kleinere Gegenstände oder Fragmente gleich in seiner Hosentasche verschwinden lässt. In dem daraus resultierenden Sammelwerk „Hosentaschensammlung“107, breitet er diese „Schätze“ in chronologischer Anordnung auf einem Tisch aus. Mittlerweile zählt BOTTs Archiv etwa 300.000 Objekte, aufbewahrt in 2500 Bananenkartons. Sein Ziel ist es, diese Unordnung zuzuordnen, digital zu erfassen und in einem „alphabetischen Bestandskatalog“ zu vereinen. 2008 publizierte Karsten BOTT eine „Enzyklopädie vom menschlichen Abfall“ mit dem Titel „One of Each“ und hinterfragt die Relation zwischen Mensch und Objekt: Was behalten wir? Was schmeißen wir weg? Wie viel konsumieren wir?108 Diese Dinge kommen anschließend alle in Form einer Installation wieder zum Vorschein. Er legt sie den Leuten in sich stets verändernder Form vor. Er klassiert und reiht zum Teil veraltete Haus(gegen)stände in subjektiver Ordnung, aber mit verwandten Benutzungszusammenhängen in regelmäßigen Abständen nebeneinander, um sie so zum Zeitdokument werden zu lassen. Diese Dinge beschreibt er selbst als bereits ausrangiert, überholt, zwischen Gestern und Morgen.109 107 Karsten BOTT, „Hosentaschensammlung“, 2006, Kunstverein Gießen und Gruppenausstellung From Trash to Treasure – Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kunsthalle Kiel, 2011. 108 www.karstenbott.de, eingesehen am 15. Juli 2013. 109 Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 50. 66 „Ich möchte eine Kopie, ein netzartiges Abbild unserer Umwelt schaffen“110. Hierbei funktioniert jedes gesammelte Objekt als eine Art Bindeglied zum Nächsten. Egal ob Müll, funktionsuntüchtiges Fragment oder Nutzungsobjekt, jedes Teil belegt seinen Platz in einem Gesamtwerk und gehört wie ein Mosaikstein zu einem Ganzen. Jedes Objekt hat seinen Wert, seine Ordnung, seine Zusammenhänge. In Sammlungen wie „Von Jedem Eins, 600 Quadratmeter“ von 2011 präsentiert er sie als eine Art Müllteppich, ein alles überflutendes Trödelmeer mit Holzsteg, von wo aus man mit angemessenem Abstand seine eigene Gegenwartsgeschichte betrachten kann. BOTT bietet dem Betrachter einen fast schon romantischen Ausblick ins ferne Gestern, Jetzt und Morgen. Karsten BOTT, „Von Jedem Eins, 600 Quadratmeter“, 2011, Installationsansicht, Kunsthalle Mainz Müll ist Zeuge. Er bezeugt nicht nur seine eigene vorangegangene Form und Funktion, er ist Zeitzeuge, Zeuge des Lebens, einer ganzen Kultur. Müll ist Zeuge unserer Geschichte. Als einer der bedeutendsten europäischen Installationskünstler entlockt Christian BOLTANSKI dem Müll und anderen Objekten ihre Vergangenheit, die er in seinen Werken ausgräbt und ans Licht befördert. Der Franzose arbeitet mit gegenständlichen Zeitzeugen und Objekten mit semantischem Gedächtnis. Er konserviert in seinen Werken Erinnerungen, schafft Archive der Vergangenheit. Allgegenwärtiges Thema in BOLTANSKIs Werken ist die Zerbrechlichkeit der Erinnerungen und des menschlichen Lebens. Hierfür lässt er ausrangierte Gegenstände sprechen. 110 www.karstenbott.de, eingesehen am 15. Juli 2013. 67 In seinen gedenkstättenartigen Rauminstallationen stapelt und präsentiert er nicht nur alte Fotos oder Liebesbriefe von verstorbenen Menschen, er lässt auch Gegenstände, die generell als Abfall gelten, zu Wort kommen. So stapelt er an den Decken, Wänden, in Regalen und auf den Fußböden seiner Ausstellungsräume massenweise ausrangierte Telefonbücher oder gebrauchte Kleider. Eine einzelne löchrige Socke in seinem Sammelwerk „La Réserve du Musée des Enfants“ vermag es, den Besuchern die größten historischen Tragödien vor Augen zu führen und sie zu Tränen zu rühren. Wie Relikte, reflektieren diese Objekte die Abwesenheit, den sinnlosen Tod eines Kindes oder die Ausrottung eines ganzen Volkes. Christian BOLTANSKI, „La Réserve du Musée des Enfants I und II“, 1989, Installationsansicht, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris Müll erzählt uns nicht nur etwas über unsere Kultur, sondern auch über uns als Privatperson. Unser eigener Müll kann anderen sogar mehr vermitteln als uns vielleicht lieb ist. Von Essgewohnheiten und Kinderanzahl, über Gasverbrauch bis hin zu Menstruationszyklen. Kennst du den Müll, kennst du den Menschen! Einige Künstler nutzen diese „verräterische“ Qualität von Müll und entwerfen damit wahre Gesellschaftsporträts. So lässt das Künstlerduo Bruno MOURON und Pascal ROSTAIN111 in den Fotografien von arrangierten Akkumulationen den Vorbesitzer, den Entsorger des Mülls sprechen. Sie durchwühlen den Müll von Ikonen unserer Medienkultur und präsentieren den Inhalt von Jack NICHOLSONs oder MADONNAs Abfallcontainer nett aufgereiht auf schwarzem Hintergrund. Die Künstler verzichten bei ihren Müll-Starporträts auf unappetitliche oder zu intime Dinge und trotzdem fühlt sich der Betrachter bei seiner eigenen Lust am Voyeurismus ertappt. Ist alles bloß inszenierte Show, kreative Lüge oder die reine Wahrheit? Darf man das? Der Paparazzo lässt grüßen: Nicht Bild, sondern Müll dir deine Meinung! So fühlt man sich als schnüffelte man wie ein gieriger Hund im Privatleben der Stars, als sähe man hinter die Kulissen der Schein- und Sein-Welt.112 111 Der französische Pressefotograf arbeitete in seiner Karriere für große Magazine wie Paris Match, Stern oder Le Figaro Magazine. 112 Müll kann auch bittere Gesellschaftsporträts erstellen und traurige Geschichten erzählen. Referenzen zum Thema Messie-Syndrom ab Seite 91. 68 Bruno MOURON und Pascal ROSTAIN, „Madonna“, 1996, Fotografie Um eine Müllansammlung mit dokumentarisch-biografischem Hintergrund handelt es sich auch bei dem work in progress mit dem Titel „Continuous Garbage Projekt“ der Kanadierin Kelly WOOD. Auf rund 167 durchnummerierten Fotos ihres eigenen Hausmülls, hält sie ihr Leben als eine Art Tagebuch fest. In diesen Plastiktüten hebt sie einen Teil ihrer Persönlichkeit auf. Für sie bleibt ihr Müll jedoch Privatsache, die sie dem Publikum nur in nüchtern verpackten Tüten preisgibt. Kelly WOOD, „Continuous Garbage Project 1998-2003“, 2003, Installationsansicht, Morris and Helen Belkin Art Gallery, Vancouver Das bereits zitierte Künstlerpaar Sue WEBSTER und Tom NOBLE bewahren auch ihre eigenen gelebten Spuren in ihren Kunstwerken auf. Sie setzen Müll nicht nur des Materials und seiner Form wegen in ihren fantasievollen, traumhaften und zugleich abstoßenden Schattenfiguren ein. In der Werkinstallation „Dirty White Trash (with Gulls)“ von 1998, arrangieren sie ihren eigenen, über eine Zeitspanne von sechs Monaten angesammelten Hausmüll zu einem sehr persönlichen, kritisch-autobiografischen Doppelselbstporträt113. 113 Passenderweise nannte das Künstlerduo ihre erste gemeinsame Einzelausstellung 1996 im Independent Art Space in London „British Rubbish“. 69 „Es gibt zwei Seiten dieser Werke; die scheinende und die dunkle. Auf eine Art spiegelt das die beiden Persönlichkeiten in uns wieder (sic).“114 Diesen Müll sammelten die Künstler zeitgleich mit dem Entstehungsprozess ihres Werkes. Sie verwendeten ausschließlich Abfall, den sie selbst produzierten um in dieser Zeitspanne zu (über)leben. So lässt das Künstlerpaar den eigenen Müll fast auf poetische Weise von sich und seiner Person erzählen. Sue WEBSTER und Tom NOBLE, „Dirty White Trash (with Gulls)“, 1998 Die argentinische Künstlerin Tamara KOSTIANOVSKY verwertet ihre Textilabfälle auch auf autobiografische Manier. Sie gestaltete eine Art Selbstporträt und hängte ihren Müll dafür auf: Nicht an einen Nagel, sondern, wie in einer Metzgerei, zum Ausbluten an einen Haken. Erstaunlich, dass sie nicht mit Tierkadavern arbeitet, sondern mit Textilien. Aus überwiegend eigenen Kleidern115 näht, faltet und arrangiert sie habeas-corpus-Objekte: Fleischklumpen, Rinderfilets, Koteletts und Rippchen mit Muskelgewebe, Knochen, Fettlappen und Fasern. In exhibitionistischer Manier legt sie ihre äußere Haut, somit ihre Kleidung ab und zeigt uns ihr gehäutetes Inneres: ein saftiges Stück argentinisches Black Angus-Steak. Ihre Aussage ist indes weniger gesellschaftskritisch oder tierfreundlich als autobiografisch. Das rohe Fleisch steht für ihre Heimat - verzehrt doch ein Argentinier im Jahr durchschnittlich sechsundfünfzig Kilogramm Rinderfleisch! Ihre Altkleidersammlung dokumentiert hierbei ihre persönliche Geschichte, ihre vielen Umzüge und Reisen, ihre ups and downs. Diese ständigen Begleiter waren mit Emotionen und Erinnerungen behaftet. Unfähig sie wegzuwerfen verarbeitete sie ihre zweite Schicht kurzerhand zu Fleisch. 114 Sue WEBSTER im Interview mit Torben ZENTH, „Interview: Tom Noble and Sue Webster“, 21. März 2007, Kopenhagen, de.wikipedia.org/wiki/Tim_Noble_und_Sue_Webster. 115 Die Künstlerin akzeptiert auch Kleiderspenden von Freunden, sowie Küchen-, Bade- und Betttücher. 70 Tamara KOSTIANOVSKY, „Abacus“, 2008 und „Venus“, 2010 In meiner Fotoreihe „Re-Nest-cance“ erarbeitete ich auch auf eine gewisse Art persönliche, intime Welten aus Abfällen. Diese Müllnester bestehen aus den Resten zurechtgeschnittener Familienfotos. Zusammengefaltet, gebündelt, geflochten, gedreht und geknotet, habe ich die entstandenen „Reste-Nester“ an unterschiedlichen Stellen abgelichtet. Ich bediene mich der Symbolik des Nestes als schützendes Zuhause, als intimer Familienkokon mit Geborgenheitsfaktor, Komfortzone und Rückzugsmöglichkeit, eine Art Zuhause aus Hausmüll. Diese persönliche Neuinterpretierung von „home sweet home“ habe ich an gewöhnlichen und ungewöhnlicheren Standorten festgehalten, wie in einer unterirdischen Parkanlage, einem öffentlichen Mülleimer, unserem Kühlschrank oder meiner Handtasche. Ich stellte mir die Frage, wo man sich zuhause fühlt, wo nicht. Denn die Reste unseres Lebens begeleiten uns überall hin. Sie sind unsere Konstante, ob nun langfristig als Erinnerungen oder kurzfristig als Müll. 71 Mit einem Augenzwinkern arrangiert der spanische Allroundkünstler Jaime PITARCH alltägliche Dinge neu. Er entnimmt unsere ausgedienten Konsumreste aus ihrem routinierten Umfeld und schafft durch simple Manipulationen eine neue Sicht auf banalste Gegenstände. Er setzt sie, wie er selbst sagt „in neuartiger Resonanz“116 wieder zusammen. So sind die Hausputzmittelchen und Seifenverpackungen in seiner Arbeit „Theory of Evolution“ auch nicht zufällig zu einer Spirale arrangiert. Dem interessierten Betrachter fällt beim Durchlesen der Labels und Logos eine logische Reihenfolge auf. PITARCH hat die Entstehungsgeschichte vom Urknall „Big Bang“, über die Geburt von „Sun and Earth“ und den „Planet“-en, sowie die Wirkung von „Oxy Action“, hin zu der Erscheinung der Dinosaurier und deren Aussterben durch den „Impacto“ eines „Comet“-en, rekonstruiert. Die Spirale endet mit der Entstehung des Menschen „Don Limpio“, der spanischen Version von „Mr. Proper“. Seine Installation liest sich fast wie ein cleanes Geschichtsbuch. In seinen Werken thematisiert der Künstler die Absurdität der Symbole unserer modernen Welt. Sie spiegeln für ihn den paradoxen Wunsch, uns den gesellschaftlichen Normen anzupassen und ihnen zugleich zu misstrauen. Jaime PITARCH, „Theory of Evolution“, 2009, Ausstellungsansicht, Saint Louis, Missouri, 2011 Ein weiterer Künstler, der sein Augenmerk auf den Müll als Informationsträger und Dokument legt, ist Georges ADÉAGBO aus dem Benin. In seinen sehr aufgeräumt wirkenden Flohmarktpräsentationen lässt er den Müll sowohl von seiner eigenen persönlichen Geschichte erzählen, als auch Zeuge der allgemeinen Historie werden. Er ordnet alte Magazine, gebrauchte Kleidung, Zugtickets, bedruckte Fragmente, Kehricht und ähnlich wertlose, ausrangierte Dinge jeweils zu einem altarähnlichen Boden- oder Wandteppich. In diesem Patchworks sieht er die einzelnen Objekte als Zeugen, die in den Köpfen der Menschen geschichtliche Spuren hinterlassen. Chaotisch und geordnet zugleich, dahingelegt nach seiner ganz eigenen Logik. Er dokumentiert in seinen Werken sowohl den gefährlichen und korrupten Erzabbau als auch die Geschichte der Missionare in Afrika. Einige Installationen nennt er „L'Archéologie“ (1994), andere „Histoire de France“ (1992) oder „Paris XIe et l'histoire de la vie de Voltaire: l'héritage“ (1996). Seine Installationen wie die 1999 auf der 4. Biennale in Venedig präsentierte „The Story of the Lion“ laden die Menschen ein, seine Art der Weltanschauung anhand von Fragmenten zu entdecken und zu lesen. ADÉAGBO sagte: „Ich habe nicht an einer Kunstschule gelernt, ich bin nur ein Zeuge der Geschichte… Ich komme daher wie ein Philosoph um zu sehen und zu zeigen was in der Natur und in der Welt passiert. Jeden Tag!“117 116 www.manifesta7.it/artists/391?language=0, eingesehen am 31. Oktober 2013. Frei übersetzt aus dem Französischen: „Je n'ai pas appris dans une école d'art, je suis seulement un témoin de l'histoire… Je me promène comme un philosophe doit se promener pour voir et faire 117 72 Fast täglich breitet der Künstler eine Vielzahl an Objekten zu einem Thema in seinem Hof in Cotonou aus, den er mit Nachbarn und Familie teilt.118 Jede alte Installation macht wieder Platz für eine neue, wobei er stets Elemente der vorangegangenen Auflage wiederverwertet, ihnen eine neue Bedeutung zuordnet und sie somit Inhaltlich recycelt. Georges ADÉAGBO, „Paris XIe et l'histoire de la vie de Voltaire: l'héritage“, 1996, „The Story of the Lion“, 1999 Der deutsche Künstler Anselm KIEFER verarbeitet mit seinen ausdrucksstarken und symbolkräftigen Arbeiten auch Geschichte. In seinen mythologischen, monumentalen Werken, integriert er arme und symbolträchtige Materialien und thematisiert hiermit die neuere deutsche Vergangenheit und den Holocaust, der eine entsetzlich bleierne Schwere hinterlassen hat. Für das Projekt „A.E.I.O.U.“119 von 2002 verwertet KIEFER die Bleiplatten vom Langhausdach des Kölner Doms, die nach der Renovierung entsorgt werden sollten. Die Kirche sparte Entsorgungskosten und erhielt eine kleine Finanzspritze für die Renovierungsarbeiten. KIEFER bekam im Gegenzug historienbehaftetes Altmaterial. KIEFER stellt hier eine Blei-Bibliothek, eine wahrhaft „schwere“ Literatur zum Thema Flüchtigkeit der Zeit aus. Sie besteht aus sechzig Büchern gebündelter Bleiplatten. Das Material Blei symbolisiert in KIEFERs Werken die Schwere der deutschen nationalsozialistischen Historie, die noch immer auf dem Volk lastet. Seine graue Farbe bewirkt eine gewisse Melancholie und Traurigkeit, zeigt die Dunkelheit des Geschehenen und präsentiert das Unnennbare. KIEFER benutzt zudem häufig das Buch als Zeichen des Archivierens und des geschichtlichen Gedächtnisses. Er interessiert sich für deutsche, aber auch jüdische Mythen und Literatur und ist eng mit der Poesie des Lyrikers Paul CELAN verbunden. Der Künstler arbeitet bewusst mit den Spuren alter Geschichte, in diesem Fall mit wiederverwerteten Bleiplatten, um so seinen Werken eine weitreichende Bedeutung zu geben. comprendre ce qui se passe dans la nature et dans le monde. Toujours!“ aus L'art africain contemporain, Christophe DOMINO und André MAGNIN, Editions Scala, Paris, 2005, Seite 77. 118 Seine Mitmenschen haben seine chaotischen, aber logisch geordneten Akkumulationen wohl nicht immer verstanden und räumten ihm hinterher. So zerstörten sie regelmäßig seine ohnehin kurzlebigen Installationen. Erst durch die Brille von westlichen Kunstinteressierten gesehen, wurde sein Werk auch von seinem direkten Umfeld wertgeschätzt. 119 „A.E.I.O.U.“ steht für „Alles Erdreich ist Österreich untertan“ (nach einem Zitat Kaiser Friedrichs III), Kiefer-Pavillon, Furtwängler Park, Salzburg. 73 Anselm KIEFER, „A.E.I.O.U.“, 2002, Sicht auf das Bleiregal, Salzburg Der zypriotische Künstler Christodoulos PANAYIOTOU widmet sich in seinen Werken auch der Findung und Erhaltung von Identität und Geschichte. Als ich im Oktober 2013 das erste Stockwerk des Casino Luxembourg - Forum d’art contemporain120 betrat, wehte mir bereits der unangenehme Geruch des Geldes entgegen. Der Künstler hatte hier einen Berg geschredderter Zypern-Pfund-Geldnoten ausschütten lassen. Nachdem diese Währung 2007 dem Euro weichen musste, besorgte sich PANAYIOTOU einen Teil des zerkleinerten Altpapier-Abfalls und stellte ihn aufgehäuft unter dem Titel „2008“ aus. Auch wenn dieses Werk heute durch die weltweite ökonomische Krise einen zusätzlichen Aktualitätsgehalt vorweist, so widmet sich der Künstler ursprünglich der Idee, eine Art Denk- oder Mahnmal mit und für Geld zu errichten. Er möchte seinem Publikum die Nichtigkeit des Geldwertes aber auch den Unwert des Papiers an sich vorführen. Dieses Geld ist zugleich eng mit dem geschichtlichen Kolonialisierungsshintergrund Zyperns verstrickt. Money talks! 120 10.10.2013 — 5.1.2014 CHRISTODOULOS PANAYIOTOU - AND 74 Christodoulos PANAYIOTOU, 2008, 2008, Casino Luxembourg - Forum d’art contemporain Müll erzählt nicht nur in Fetzen, sondern auch in seiner kleinsten Form, seine Geschichte. Kunsthistorisch gesehen nicht neu, nutzte Marcel DUCHAMP die geplante Verstaubung bereits 1920 um einem surrealistischen Werken vergängliche, fragile Substanz und Form zu verleihen121. Erwin WURM widmet auch eine Reihe seiner Arbeiten dem Staub. Alles hinterlässt seine Spuren, auch wenn sie noch so fein sind. Und gerade Geschichte hinterlässt besonders viel Staub. Der Österreicher widmet sein Werk „Montaigne, Descartes, Kant“122 der Erinnerung an vergangene Philosophien. Auf drei weißen Sockeln scheint jeweils ein rechteckiger Staubrahmen übriggeblieben zu sein. Durch die Abwesenheit von Dingen, alleine durch deren scheinbar zurückgelassene Staubspur startet das Kopfkino. WURM spielt mit der Spur, die im Staub hinterlassen wird, wenn etwas seinen Platz verändert. Er thematisiert den Abdruck und die Leere, die ein Objekt und folglich der Mensch hinterlässt. Die Spur stellt den Betrachter vor vollendete Tatsachen, hier ist bereits etwas passiert! WURM zeigt nur mehr einen delikaten Rest von Vorangegangenem und schickt den Betrachter auf fiktive Spurensuche: Standen dort etwa Büsten der drei Denker oder lagen an dieser Stelle ihre wertvollen Manuskripte? Wurden sie entwendet, gestohlen, stand da je etwas oder ist alles nur Illusion? Was hat sich dort „aus dem Staub“ gemacht? Was (ver)ging hier, „von Staub zu Staub“? Erwin WURM, „Montaigne, Descartes, Kant“, 1998, Ausstellungsansicht, Matera und Dijon 121 „Elevage de Poussière“ (Staubzucht), 1920, Staubablagerung auf dem Großen Glas von DUCHAMP, fotografiert von Man RAY, New York. 122 „Montaigne, Descartes, Kant“, 1998, erstellt für die Ausstellung Poussière (dust memories) von 1998, Dijon, Fond régional d’art contemporain, Bourgogne. 75 Für unser Auge ist gewöhnlicher Hausstaub meist erst in der Masse sichtbar. Zuerst fein, leicht, gleichmäßig verteilt und somit fast unsichtbar, schließt er sich im Laufe der Zeit zu unschönen Staubfusseln zusammen. Die englische Künstlerin Catherine BERTOLA beschäftigt sich auch hingebungsvoll mit diesem Fast-Nichts, dem immer Präsenten aber nahezu Immateriellen, dem Staub. Flauschig und haarig, leicht aber lästig, ephemer und zerbrechlich, überall und dennoch transparent, vergänglich und doch immer da. Mit der Zeit legt sich heimlich eine feine Staubschicht über alles. Staub und Zeit sind somit Verbündete. BERTOLA macht dem Betrachter das Unsichtbare und seine Geschichte sichtbar. Jedes einzelne Staubkorn hat bei ihr seine eigene Herkunft und seine eigene Geschichte. Jedes von BERTOLAs filigranen Staubkunstwerken, beginnt mit dem Staubsauger in der Hand. Der Akt der Säuberung und Reinigung ihrer Umgebung gehört mit zum Werk, genau wie Schablonen und Kleber. So stellte ein Kieler Hotel der Künstlerin die nötige Menge an Staub für ihren Beitrag zur Ausstellung „From Trash to Treasure“123 zu Verfügung. Mit dem erbeuteten Beutelinhalt, bestehend aus filzigem Bodensatz, Schmutz und Milben, gestaltet sie delikate, barocke Arabesken, die an edle Velourstapeten vergangener Tage erinnern. Sie fängt kleinste Müllpartikel ein und lässt sie zu wertvoll anmutenden ornamentalen Wandteppichen heranwachsen. Feinste Unsauberkeiten in ihrer edelsten Form. Materiell und formell sind ihre Werke mit der historischen Vergangenheit sowie der britischen Tradition verknüpft. Stellte doch der Papierhersteller Jerome LANYER, im Auftrag des englischen Königs Karls des Ersten 1634, die erste Tapete dieser Art, aus aufgeklebtem Staub gefärbter Wolle, her. Die Künstlerin stellt sich nicht nur die Frage nach dem Wert des Materials, nach einer Ästhetisierung von Müll, sondern vereint Tradition und Geschichte. Catherine BERTOLA, „After the Fact“, 2006, Detailansicht, Lincolnshire Staub ist einerseits so weich, warm und flauschig, andererseits so immateriell, flüchtig und ungreifbar. Ich habe mich auch in meiner persönlichen plastischen Recherche mit diesem Thema beschäftigt. Mein vielgenutzter Trockner spuckt regelmäßig ganze Büschel aus Kleidungsfasern, 123 5. November 2011 bis 26. Februar 2012, Kunsthalle zu Kiel. 76 Haaren, Taschentuchflusen und vereinzelten Knöpfen aus. Auch eine staubige Geschichte! Diese Textilfussel sind feinste Reste meines Alltags in gebündelter Form. Beim Entsorgen fiel mir eines Tages die interessante Materialität dieser Trockner-Reste auf. Leicht zusammengedrückt, formte sich in meinen Händen ein kleines Püppchen. Die Idee, pelzigen, plüschigen Staub vergangener Tage umzumodellieren, führte mich gedanklich und formell bis in meine Kindheit zurück. So begann die Sammelei und ich verarbeitete einen ganzen Jahresertrag an Trocknerabfällen zu einer Nachahmung meines Lieblingsteddys, einem Schaf. In ihm schlummert nun „buntgrauer“ Textilstaub, Haare, undefinierbare Krümel und Sand vom letzten Urlaub, übertüncht von etwas Lenor-Duft. Seine Augen bestehen aus alten Knöpfen aus Omis Sammelkästchen. Sie scheinen dem filzigen Tierchen mit dem Titel „Re-play“ neues Leben einzuhauchen und somit den Müll zu personifizieren. Müll kann somit in unseren Augen durch Assimilationen und durch projizierte Kindheitserinnerungen lebendig werden. „Objets inanimés, avez-vous donc une âme? »124, Alphonse DE LAMARTINE. In leblosen Gegenständen kann wohl eine „Seele“ leben. In ihnen verbirgt sich ein sentimentaler Schatz, den man als aufmerksamer Betrachter in jedem Material findet und dort hineininterpretieren kann. Der Betrachter projiziert eigene Ideen oder Erinnerungen in Gegenstände, verbindet Objekte mit Sehnsüchten, Dinge mit Gefühlen. So „lebt“ ein alter Teddy in unseren Augen wohl mehr als ein Tetrapak Orangensaft. Bereits ab den 50er Jahren bediente sich auch die französische Künstlerin Niki DE SAINT PHALLE beseelter Gegenstände. Um ein Stück ihrer eigenen Geschichte zu verbildlichen, schafft die Neue Realistin eine Reihe Assemblagen und aggressive Schießbilder, welche die Idee der emotionalen Reichweite von Objekten thematisieren. Hierzu präpariert die Künstlerin Leinwände mit alten, zerstückelten Puppen, Spielfiguren, Plastikautos, Kunstblümchen und sonstigem Kram, der sie an ihre Kindheit erinnert. Nachdem sie auch, einige mit Farbe gefüllte Ballons darauf befestigte, übermalte sie die Bilder weiß125, wie mit einem Schleier des Vergessens und der Unschuld überdeckt. Anschließend schoss sie in „auto-therapeutischen“ Aktionen mit einem Gewehr auf diese Wände, zielte sie doch hiermit, im übertragenen Sinn, auf ihren Vater und machte sich aktiv aggressiv daran, ein Kindheitstrauma zu bewältigen. Das mit negativen Erinnerungen behaftete Altmaterial wurde somit ein zweites Mal „verwundet“, „hingerichtet“, 124 De LAMARTINE fragt 1826 in Milly ou la terre natale:„Unbelebte Objekte, habt ihr nun eine Seele?“, zitiert in Chen ZHEN- les entretiens, Jérôme SANS, Vincent HONORÉ, Palais de Tokyo, Presses du Réel, Paris, 2003, Seite 67. 125 Wie Tipp-Ex, der unsere Fehler überdeckt, symbolisiert die Farbe Weiß in der westlichen Kultur nicht nur Unschuld sondern auch Verdrängen und Vergessen, eine Art Korrektur, „Schwamm drüber“! 77 „getötet“. Müll kann auf diese ganz individuelle Weise auch einen therapeutisch relevanten Wert entwickeln. Niki DE SAINT PHALLE, „Tire“, 1962 Vorbereitung sowie Aktion der Schießbilder , 1962, Malibu Viele Künstler lassen die Qualität des Mülls für sich sprechen, bauen nicht nur auf optisch darstellende Reize des trostlosen Materials, sondern auf seine inhärenten philosophischen, symbolischen, geschichtlichen, kulturellen oder (auto-)biografischen Eigenschaften und all ihre Zusammenhänge. Müll beinhaltet darüber hinaus auch sozialkritische Argumente, die seinem Verursacher und Betrachter ein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Unumsichtigkeit vermitteln. 78 2.d Kritische Lektüre: über Mangel, Last und Nachhaltigkeit Müll ermöglicht es der Kunst, etwas näher an unser alltägliches Leben zu rücken, denn Müll war „live“ dabei. Er spiegelt unsere Gesellschaft mit dem globalen, unumsichtigen Rohstoffkonsum und dem materiell verschwenderischen Lifestile. Um den kritischen Aspekt von Müllkunst hervorzuheben, greife ich ein weiteres Mal auf mein persönliches Bonsaibaum-Beispiel zurück. Der Kontrast zwischen natürlichem und synthetischem Müll spricht hierbei Bände: Die Plastikbänder scheinen den Baum zu verschlingen. Synthetik verpackt, bindet, überschattet und ersetzt schließlich unsere Natur. Ein solch feines Bäumchen zersetzt sich innerhalb von zwei Jahren. Eine Plastiktüte braucht, je nach Kunststoff, zwischen hundert und fünfhundert Jahren126, um kompostiert zu werden. Im Meer geht es etwas schneller.127 Im Kontext meines Projekts machen die Plastikhüllen das Bäumchen stabiler, doch sie überdecken seine Rindenstruktur, den Fingerabdruck des Baumes. Unsere Natur wird unter dem Schutzmäntelchen der Synthetik eingemottet und schlussendlich ersetzt. Was bleibt, ist Plastik! Einige Erklärungen zur Herkunft der verwerteten Plastiktüten: Während meiner Sammelphase erbte ich eine private Einkaufstütensammlung von einer Weltenbummlerin. Sie enthielt Tüten aus mehreren Kontinenten und ich freute mich bereits auf kyrillische und chinesische Schriften, auf befremdliche Prints und auf eine multikulturelle Reisedokumentation. Zu meiner Enttäuschung stellte ich keinen wirklichen Unterschied zwischen Tüten aus Luxemburg oder aus China fest: gleiche Schriftzüge, gleiche Marken, gleiche Symbole. Der Massenkonsum ist standardisiert, nichts mit „mülltikulti“. Der daraus resultierende Müll ist Einheitsbrei. Selbst die Identität von Müll geht in der globalisierten Welt verloren und sieht überall gleich aus! Somit symbolisieren die Plastiktüten, die um meinen Baum geschlungen sind, einen weiteren Kontrast: Asiatische Traditionen gegenüber moderner Produktion und Massenkonsum. „Made in Japan“, „Made in China“128, „Made in Taiwan“,… Asien ist industrieller Marktführer und hat Europa und die USA längst überholt. In meinem Projekt kollidieren und vereinen sich nicht nur Synthetik und Natur, sondern alte Tradition und „Schöne neue Welt“129. Man kann es heute kaum glauben, doch vor nur etwa 40 Jahren wurde Müll noch nicht als Umweltproblem angesehen. Müll sollte nur so schnell und günstig wie möglich aus dem Sichtfeld der aufblühenden Konsumzivilisation verbannt werden. Erst mit dem Giftmüll der neuen Technologien, mit dem Weltraumschrott der uns umkreist (und manchmal wieder auf seinen Urheber „zurückschießt“), aber insbesondere mit dem radioaktiv strahlenden Müll hat sich diese Überlegung gewandelt. Der Wuppertaler Ästhetikprofessor Bazon BROCK spricht sogar vom: „[…] Verlust der Zukunft angesichts der Tatsache, dass wir kommenden Generationen nicht bloß Autofriedhöfe hinterlassen, sondern auch atomar strahlenden Abfall, der 126 de.wikipedia.org, Suchbegriff „Plastiktüte“, eingesehen am 08. Januar 2013. Mittlerweile ersetzen bereits (mehr oder weniger umstrittene) kompostierbare Biotüten aus Maisstärke einen großen Teil der konventionellen PE-Tüten. 128 Allein 2012 wurden laut Internetportal www.de.statista.com, Waren im Wert von 2,05 Billionen US-Dollar aus China exportiert, eingesehen am 2. September 2013. 129 Nach Aldous HUXLEYs Roman „Brave New World“ von 1932. 127 79 zum ersten Mal den Ewigkeitsanspruch von Göttern erreicht: Halbwertszeit mindestens 15.000 Jahre.“130 Es ist nicht mehr wegzudenken: Müll ist eine Gefahr! Nicht nur für seine Entsorger, nein für alles Leben. So treiben auf unseren Ozeanen unzählige, sich immer verändernde Müllteppiche, sognannte Müllstrudel. Geschätzte 30% des im Meer entsorgten Plastikmülls bilden an der Oberfläche regelrechte Müllinseln. Im Nordpazifik hat dieses Phänomen sogar einen Beinamen: Great Pacific Garbage Patch131. Reisekataloge sind im Druck! Und der Rest liegt auf dem Meeresgrund. Zerfetzt und pulverisiert gelangt der giftige Mist natürlich auch in die menschliche Nahrungskette! Guten Appetit! Der Mensch ist sich seines umweltfeindlichen Verhaltens bewusst und versucht ab und zu sein Gewissen reinzuwaschen indem er auf umweltfreundlichere Recycling-Produkte zurückgreift. Das Angebot hierfür boomt! Recyclingprodukte scheinen der Überbelastung unseres Ökosystems und der Verschwendung wertvoller Rohstoffe entgegen wirken zu wollen. Aus Müll hergestellte Objekte unterstreichen die Ideologie des umweltbewussten Konsumenten und demonstrieren den Willen, für unsere Konsumgewohnheiten Buße zu tun. Zahlungskräftige Verbraucher werden durch Recyclingprodukte angehalten „die Welt zu retten“. Jedes Wiederverwertungsprodukt, vermittelt seinem Nutzer nicht nur einen gewissen Grad an Absolution, sondern birgt, offensichtlich oder unterschwellig, auch einen kritischen Beigeschmack. Diese Produkte stellen unser Nutzverhalten in Frage: Ist Konsumgut eigentlich schlecht? Müll vermittelt einen kritischen Gedanken und zeigt mit dem Finger auf gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Problemverhalten. Eine Reihe von Künstlern nutzt dieses Potenzial in ihren Werken um sie über Form, Inhalt und Funktion hinaus an nachhaltiger Bedeutung gewinnen zu lassen und sehen Müllkunst als Möglichkeit der Resozialisierung von abtrünnigem, verwahrlostem Material. Die Welt produziert Müll und einige Künstler wie Isa GENZKEN, produzieren aus dem Müll neue Welten. Die deutsche Künstlerin schafft in ihrer Installation „Empire, Vampire, Who kills Death“132 zweiundzwanzig bedrohlich wirkende Miniatur-Müllwelten. In der Rolle der Schöpferin kreiert sie fiktive Lebensräume aus banalem Zivilisationsmüll. Dadurch, dass sie ihre Müllinstallationen nicht nur stadtähnlich arrangiert, sondern ihre Exponate auf zweiundzwanzig weißen Sockeln präsentiert, lässt sie desolates Material und wertvolle Kunstvorstellung aufeinander wirken. Es sind Landschaftseinblicke aus Gläsern, Brot, Spielzeug, Plastikblumen oder Metallkram, organisiert wie Theaterszenen. Kriegsähnliche apokalyptische Assemblagen scheinen die Trostlosigkeit des Materials in ihrer neuen szenografischen Formgestaltung zu unterstreichen. Kleine Spielfiguren „leben“ in diesen abgeschotteten Schrottkosmen, isoliert voneinander, erhoben auf ein künstliches Tablett. GENZKEN scheint uns einen Einblick in unsere, mit Schrott übersäte Zukunft zu gewähren, eine Zukunft, in der unsere Abfälle die Natur beschlagnahmen und ersetzen. 130 Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 39, Paolo BIANCHI kommentiert Bazon BROCKs Essay „Gott und Müll“ aus dem gleichen Band Seite 42. 131 Der Great Pacific Garbage Patch (Großer Pazifikmüllfleck) wurde erstmals beschrieben von Peter HAFFNER in „Eine Ahnung von Apokalypse“ NZZ Folio 07/09/, de.wikipedia.org, Suchbegriff „Müllstrudel“, eingesehen am 08. Januar 2013. 132 2002/03, 22 Teile, gemischte Materialien, Courtesy Galerie Daniel Buchholz, Köln. 80 „Es ist der Tag nach der Apokalypse oder vielleicht auch der Tag, an dem der Schöpfer durchgedreht ist.“133 Isa GENZKEN, „Empire, Vampire, Who kills Death“, 2002-03, Detail und „Empire, Vampire III“, 2004, Detail Steinzeit, Eisenzeit, Industriezeitalter,… vielleicht wird unsere Epoche in Zukunft als die Müll-Ära in die Geschichtsbücher eingehen (insofern es noch Bücher gibt)! Müll ist ein Problem, dem auf unterschiedliche Weise entgegengewirkt werden kann: Um Pendler und Reisende auf das Vermüllungsproblem in Zügen und an Bahnhöfen hinzuweisen, hat das Verkehrunternehmen Eurostar im Brüsseler Bahnhof einen Trash-Union Jack aufgehängt. Er besteht aus zerdrückten Getränkedosen und anderem Müll, der an Ort und Stelle aufgesammelt wurde. Mit der Aufschrift „Welcome to green Britain“, scheint die Message auf dem unübersehbaren Willkommensbanner eindeutig: Touristen achtet auf euren Dreck! Eine sehr beeindruckende Umweltbotschaft bietet uns der deutsche Objekt- und Aktionskünstler HA SCHULT134. Als einer der ersten Künstler der die Kunst mit einer ökologischen Idee verband, entwickelte er 1996 eintausend „Trash People“135, die sogenannte „Schrottarmee“ und schickte sie in einer Art friedlichem Kreuzzug, um die ganze Welt: 1999 nach Paris und Moskau, 2001 nach Gizeh, 2002 auf die Chinesische Mauer, 2007 nach Rom auf die Piazza del Popolo und nach Barcelona an die Ramblas, 2008 nach New York. Seine „Globetrotter“ standen sogar in der Arktis. 220 seiner Figuren machten in diesem Jahr auf der Place Clairefontaine in Luxemburg halt136. Die lebensgroßen Figuren aus Montageschaum und gepresstem Müll, die wie Tonkrieger 133 Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Isa Genzken: Szenographien aus Zivilisationsmüll, Seite 48. 134 Geborener Hans-Jürgen Schult. 135 Der Materialwert einer Müllfigur liegt laut Energieversorger RheinEnergie AG bei zwei Euro Brennwert. Nicht nur der ideelle Wert der Figuren ist weitaus höher, eine der eintausend Figuren kostet aktuell 8.000 Euro. 136 Zu sehen vom 6. bis 14. September 2014, organisiert von der Galerie Clairefontaine im Rahmen des diesjährigen Photomeetings in Luxemburg. 81 aus dem Grab des Ersten Qin-Kaisers137 starr aneinandergereiht dastehen, stellen eine Art Mahnmal für unsere „Dreckswelt“ dar. Der Künstler lenkt mit seiner „Terrakotta-Armee“ aus Abfall die Aufmerksamkeit der Betrachter auf ein globales Problem und übt kritischen Widerstand, eine stille aber ausdrucksstarke Revolution gegen die Vermüllung unseres Planeten. Wie die Schweizergarde demonstrieren die Figuren willensstarken Zusammenhalt für die gute Sache. Mit Müll bewaffnet sorgt das tausend-Mann-Heer treu und tapfer für die Sicherheit der Erde. Die Müllsoldaten leisten sozusagen ihren Ordnungsdienst und ermahnen die Bevölkerung in friedlicher aber eindeutiger Mission zu umsichtigem Umgang mit ihrem Müll. SCHULT gibt dem Müll in seiner überwältigenden Masse Macht. Müll ist hier ein Statement. Er scheint uns einen Ausblick in unsere Zukunft zu geben und uns mitzuteilen: „Sieh her, wir sind die Opfer deiner Sorglosigkeit!“ HA SCHULT, „Pyramids People“, 2002, Gizeh, „Great Wall People“, 2001, Peking und „Trash People“, 2014, Luxemburg 137 Um 210 v.Chr. wurde das Mausoleum des Kaisers Qín Shihuángdì in Xi’an, China, errichtet. Auf einer Fläche von 56 Quadratkilometern befinden sich zirka 7300 lebensgroße Terrakottafiguren sowie zahlreiche Pferdegespanne. 82 Auch der österreichische Fotograf Klaus PICHLER sorgt sich um Entsorgtes und thematisiert in seinen Ablichtungen die dramatische Nahrungsmittelverschwendung. Für seine Fotoserie „One Third“, geht er von einer Studie der FAO138 aus, die belegt, dass rund ein Drittel der weltweit produzierten Lebensmittel im Mülleimer landet. Die andere Seite der Medaille zeigt weltweit 925 Millionen Menschen, die an Hungersnot leiden. Diese Verschwendung und die ungerechte Verteilung von Lebensgrundlagen bewegten PICHLER dazu, eine zugleich kritische aber auch wunderschöne Hommage an unser Essen festzuhalten. In seinen Fotografien präsentiert er uns faulige, mit Pilzen und streuenden Sporen überwucherte Lebensmittel in ihrer makellosen Schönheit, dramatisch inszeniert, in perfekter Symmetrie ausgelichtet. Hier wirkt Abfall in seiner klassischen Eleganz. Mahnend und zurückhaltend zugleich, lenken die Werke durch ihre Qualität, ihre ausgewogenen Kompositionen, den dunklen Hintergrund und die Ästhetik der flauschigen Fäulnis, das Augenmerk auf das Ungleichgewicht unserer Konsumwelt. Klaus PICHLER, „One Third“, 2012 Auch die Schaffensmotivation des bereits erwähnten kubanischen Künstlerduos GUERRA DE LA PAZ liegt in der Kritik am Konsumwahn. Alain GUERRA und Neraldo DE LA PAZ recyceln in der Hauptsache ausrangierte Kleidungsstücke und türmen sie nach Regenbogenfarben sortiert zu meterhohen Müllskulpturen auf. In ihren Augen definieren Kleider nicht nur die Individualität jedes einzelnen Menschen, sie repräsentieren die gesamte Menschheit und ihr Tun. Den Künstlern ist mit der Aussage ihrer Werke daran gelegen, ihr vorwiegend amerikanisches Publikum auf seine verschwenderischen Kaufgewohnheiten aufmerksam zu machen und es dazu zu animieren, weniger aggressiv zu konsumieren, Rohstoffe einzusparen und Recycling zu betreiben. Hierfür bedienen sich Guerra de la Paz - was übersetzt Krieg des Friedens heißt – populärer und einschlägiger Motive. Dazu zählen klassische Ikonen und Umweltmotive wie Bäume, Berge oder Regenbögen. Sie bilden auch menschliche Körper (Sunt, 2008 oder Family, 2007), ganze 138 2011 veröffentlichte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, auch FAO, eine internationale Studie, die besagt, dass weltweit jährlich etwa 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmitteln verloren gehen oder entsorgt werden. 83 Landschaften (Oasis, 2006), Kriegsszenen oder Atompilze aus sauberen, meist knallbunten Altkleidern nach. GUERRA DE LA PAZ, „Indradhanush“, 2008, „Atomic“, 2009 und „Unidentified“, 2011 Meine bereits kurz erwähnte Fotoserie „Cad-re-made in Luxembourg“ behandelt auch den Müll mit seiner kritischen Aussagekraft. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, Recycling in meinem Heimatland unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten, ausgehend von einheimischen Produkten und deren Abfall. Diese neue Ansicht sollte durch einen Rahmen führen, somit seinem Betrachter eine „Durch-Sicht“ erlauben. Ich fertigte barocke aber auch schlichte, geometrisch und organisch geformte Rahmen aus Verpackungen lokaler Produkte wie Rose Butter, Maryland Zigaretten, Milch von Luxlait, Cactus oder D‘fair Mëllech und Bofferding Bier. Ich verwerte sogar eine künstlerisch-kulturelle „Verpackung“, die Fassade einer dem Abriss geweihten Ausstellungshalle. Die daraus entstandenen Rahmen lassen auf unterschiedliche Plätze in Luxemburg durchblicken. Hierbei wirken gerahmtes Motiv und recycelter Rahmen in ihrer Bedeutung aufeinander. Abgelichtet in Frisange, säumt der verschlungene Maryland-Rahmen die vier Kühltürme der Atomzentrale Cattenoms. Die auf der Zigarettenschachtel deutlich lesbare, gesetzlich angeordnete Beschriftung „Rauchen kann tödlich sein“, gewinnt unter dieser Sicht an Mehrwert. 84 Zudem stelle ich den Rahmen mit dem Titel „Merry Maryland“ dem interkommunalen Syndikat der Müllverbrennungsanlage SIDOR in Leudelange entgegen. Der zum Thema „fair/unfair“ angefertigte Rahmen in Einkaufstütenform behandelt das Thema der Nahrungsmittelindustrie in Verbindung mit einem gerechten Umgang mit Nutzvieh. In den Nationalfarben gehalten, habe ich hier einen Rahmen aus Milchtüten der drei größten inländischen Milchlabel zusammengesetzt und auf ein Wahlgeschenk einer konservativen politischen Partei (ADR139) aufgeklebt. Hier bietet sich eine Sicht auf ein Feld in Schouweiler, auf dem ein Anhänger mit Reklametafel der Milchbauernkooperative D’fair Mëllech, also die faire Milch abgestellt ist. Im Hintergrund befindet sich das Lager des Nationalen Kunsthistorischen Museums, dem MNHA, ein Detail, welches die Arbeit in einen national-kulturellen Kontext setzt. Auf dem Foto, das auf die Fleischtheke der Supermarktkette Cactus durchblicken lässt, fragt man sich, was im Endeffekt „fair“ für das Tier ist. Beim nächsten Rahmen habe ich ein Fassadenstück recycelt. Nach einem Besuch der Ausstellung Monopol 2 in den früheren Lagerhallen eines luxemburgischen Kaufhauses erkannte ich, dass hier viel sehenswerte Street-Art Kunst sehr bald zu Bauschutt werden würde. Nach Absprache mit dem Kurator Will KREUZ erhielt ich die Erlaubnis einen Teil dieses Gesamtkunstwerkes vor seinen endgültigen Zerfall zu „retten“. Ich entfernte einen quadratischen Rahmen aus dem Fassadenwerk des luxemburgischen Street-Art Künstlers Michael SANCTOBIN. Diese Graffiti-Arbeit war dem Veranstaltern wohl ein Dorn im Auge, denn zu einem kurzfristig geplanten Event sollte sie ohnehin überstrichen werden. So oder so, das Graffiti war für den Kurator bereits Müll, den ich entnehmen und wiederverwerten konnte. Ich brach einen Teil des Graffitis aus dem Außenputz heraus und fügte die Teilchen wie ein Mosaik wieder neu zu einem Rahmen zusammen. Durch diesen Rahmen ermögliche ich nun neue Blicke auf die institutionalisierte Kunst- und Müllwelt. 139 ADR - Alternativ Demokratesch Reformpartei. 85 Der Werbeslogan des größten luxemburgischen Bierbrauers Bofferding lautet: De sëffege Secret vu Lëtzebuerg140! Als Ende 2013 das alte Verwaltungsgebäude des Werkes in Bascharage abgerissen wurde, um einem neuen Beton-Glasbau zu weichen, bat ich die Arbeiter darum, mir einen Teil des Bauschutts aufzubewahren. Zusammen mit gepressten Dosen, Plastikhüllen und Kartons bildet das florale Fenstersimsrelief das ich erhielt, den Rahmen, mit dem ich einige Standorte luxemburgischer Geheimnisse ablichtete. Ich konfrontierte meine Arbeit mit dem früheren Sitz des Luxemburger Geheimdienstes und dem Justizquartier auf dem Plateau du St. Esprit. Der Rahmen bietet zudem eine Sicht auf den Finanzplatz Luxemburg, der gebannt auf europäische Entscheidungen zum Thema Bankgeheimnis wartet. Müll kann auch aus Mangel heraus zum Kunstwerk werden. Wenn man nichts besitzt, so hat man keine Wahl und nimmt das, was man findet, um irgendwie aus der alltäglichen Trostlosigkeit zu flüchten. Oft sind es ungerechte Missstände, die einzelne Menschen und sogar ganze Dörfer dazu bringen, aus nichts etwas zu machen. Der Not entspringt eben eine Tugend und Not macht erfinderisch. Unter diesem Motto entstehen überwiegend in Entwicklungs- oder sogenannten Schwellenländern141 die unterschiedlichsten Projekte und Werke, hier ein Beispiel: Um den Kindern aus defavorisierten Gegenden eine Entfaltungsmöglichkeit zu bieten wurde in einem Slum in Paraguay das Projekt Landfill Harmonic - The recycled orchestra ins Leben gerufen. Es handelt sich um ein musikalisches Projekt aus Cateura, einem Dorf, welches auf einer Müllhalde (engl.: landfill) errichtet wurde. Mit einer täglichen Anfuhr von rund 1500 Tonnen 140 141 Übersetzt: „Luxemburgs süffiges Geheimnis“. Sogenannte LDC- oder LLDC-Länder (Less oder Least Developed Countries). 86 Abfall, leben die Familien dort ausschließlich vom Recycling und dem Wiederverkauf vom Müll anderer Leute. Es liegt auf der Hand, dass hier die Menschen nicht das Geld haben sich Instrumente zu mieten, geschweige denn, sie zu kaufen. Favio CHÁVEZ, Deponiearbeiter und Musiker, hatte die Idee zu diesem Projekt. Als Direktor des Orchesters unterstützt er Kinder und Jugendliche dabei, selbst Instrumente aus Recyclingmaterialien herzustellen. So entstehen Violinen, Cellos, Querflöten und Trompeten aus Holzabfällen, Benzinkanistern, Blechdosen und Heizungsrohren. Die Schüler treffen sich regelmäßig mit einem Lehrer um ihr Instrument im Orchester spielen zu lernen und Konzerte zu geben. Eine Schülerin meint, ihr Leben wäre wertlos ohne die Musik. CHÁVEZ selbst erklärt: „Menschen realisieren, dass man Müll nicht sorglos wegwerfen soll, man soll schließlich auch keine Menschen wegwerfen142“. Hier wird die Kritik auf den Punkt gebracht. Die Gesellschaft schmeißt nicht nur Müll weg, nein, sie sondert im gleichen Sinn auch die als minderwertig erachteten Bevölkerungsschichten ab. Dieser „Abfall der Gesellschaft“ lebt auf den Mülldeponien und genau diese Familien überleben wiederum durch den Verkauf von Müll, ein Teufelskreis. Der kreative Umgang mit Müll bietet jungen Leuten einen Ausweg aus diesem Kreislauf. So leistet ein geschickter Umgang mit Abfällen einen Beitrag zur sozialen Integration, zur Weiterbildung und zur Vorbeugung von Jugendkriminalität. Beispiel eines Recycling-Sopransaxophons aus dem Projekt Landfill Harmonic, Favio CHÁVEZ und sein Instrumentenbauer Nicolas GOMEZ, alias COLA Auch der Schwarze Kontinent hat eine ganze Reihe von zeitgenössischen Künstlern hervorgebracht die Müll, Abfall und ähnlich minderwertige Stoffe weiterverarbeiten. Afrikanische Künstler verwerten Müll nicht nur, weil er nichts kostet oder um auf den sozialen Notstand von Afrika aufmerksam zu machen, sondern um zu demonstrieren, wie Müll ihre Traditionen mit der modernen Welt verknüpft. Die afrikanische Handwerks- und Kunstszene hat den Müll bereits längst mit in ihre Ausdrucksform aufgenommen. Müll und Schrott sind zum Kulturattribut geworden. Vor allem im Benin scheint das Müllkunstpflaster heiß. Neben Künstlern wie Calixte DAKPOGA gibt es engagierte Größen wie den Bildhauer, Fotografen und Installationskünstler Romuald HAZOUMÉ. Sein Steckenpferd sind Benzinkanister. Für den Künstler sind sie Ausdruck für das Leid in Afrika. In seinen Fotographien verbindet er die Kanister mit der illegalen, lebensgefährlichen Benzinbeschaffung: ein schäbiges Moped, darauf zwanzig prallgefüllte Plastikkanister, wie gigantische Bienenstöcke überwuchern sie den Menschen! Jeden Tag fahren solche rollenden Bomben über die Grenzen. Neben Fotografien ist HAZOUMÉ vor allem berühmt für seine Müllmasken. Der Künstler verwendet nicht nur bunte Plastiktanks, sondern auch 142 „People realize that we shouldn't throw away trah carelessly, well, we shouldn't thow away people either“, www.vimeo.com/52711779, eingesehen am 09. Januar 2013. 87 sonstigen Metallschrott, Holz- und Blechreste, Federn, Steine, Schraubverschlüsse, ausgediente Gummireifen, eben jene mit Dreck behafteten Objekte, die er im Alltag findet. Er „beseelt“ den Müll mit einem sowohl zeitgenössischen als auch traditionellen Geist. In seinen „masquesbidons“ begegnen sich zwei Kulturen: der rituelle afrikanische Totemismus und die Müllkultur. Form und Materie, Tradition und Konsum, sowie Wert und Unwert stehen sich direkt gegenüber und vereinen sich in den Kanistermasken, die denjenigen verstecken, der sie trägt. Entgegen der allgemeinen Annahme gibt es zudem in Afrika fast keine traditionellen Masken mehr. Das Volk hat seine eigene Kultur verschachert. Die meisten Masken befinden sich in den Händen von westlichen Sammlern und Museen, doch die Nachfrage bleibt groß. HAZOUMÉ antwortet darauf folgenderweise: „[…] ihr wollt Masken, ihr bekommt Masken. Ich schicke der westlichen Bevölkerung zurück was ihr gehört, den Müll der Konsumgesellschaft.“143 Calixte DAKPOGA, „Papa Sodabi“, 2002 Romuald HAZOUMÉ, „Internet“, 1997, „Ibedjl Twins (No2)“, 1992, „Twin airbags“, 2004 143 Frei übersetzt aus dem Französischen: „[…] vous voulez des masques, en voilà. Je renvoie aux Occidentaux ce qui leur appartient, c'est-à-dire les rebuts de la société de consommation“, aus L'art africain contemporain, Christophe DOMINO und André MAGNIN, Editions Scala, Paris, 2005, Seite 106. 88 Müll ist somit fester Bestandteil einer Kultur geworden, die sich in einer andauernden Notsituation, in Armut, unhygienischen Zuständen, Krankheit und Hungersnot wiederfindet. Durch die Wiederverwertung von Müll scheint der Alltag etwas erträglicher. Einige Künstler nutzen das Material Müll um auf ein Verschmutzungs- und Verschwendungsproblem aufmerksam zu machen oder einen sozialen Missstand anzuprangern. Andere Künstler nehmen sich zur Aufgabe, selbst anzupacken und die Welt zu säubern, aufzuräumen, zu putzen, der Gesellschaft hinterher zu fegen. Die luxemburgische Künstlerin Su-Mei TSE lässt in ihrer Video- und Toninstallation „Les Balayeurs du Désert“144 fünfundzwanzig computergesteuerte Straßenkehrer in neongelben Warnwesten die unendliche weite Wüste kehren. Unterstrichen wird diese computerinszenierte digitale Endlosschleife durch echte Fegegeräusche Pariser Müllmänner. Melodisch, rhythmisch und fast hypnotisierend ruhig streifen sie ihre grünen Plastikbesen über den Sand und halten immer wieder inne, bevor sie sich erneut ruhig und gelassen an die Fortführung dieser absurden Tätigkeit setzen. Diese Kehrerei, dieses Hinter-der-Gesellschaft-Herputzen ist gleichzeitig Herkules- als auch Sisyphusarbeit. Die Sinnlosigkeit der Aktion hält die Männer nicht davon ab den Sand einfach weiter zu kleinen Häufchen zusammenzukehren. Su-Mei TSE, „Les Balayeurs du Désert“, 2003 „Jeder Hanswurst könne mit etwas Kapital die Welt mit Produkten vollstellen, wahres Genie sei aber gefordert, wenn es darum geht, dieses Zeug wieder aus der Welt zu schaffen.“145 144 Ihr Gesamtprojekt Air Conditioned, der luxemburgische Beitrag zur Biennale in Venedig von 2003, wurde mit dem Goldenen Löwen für die beste nationale Teilnahme prämiert. 145 Kunstforum, Band 167, Seite 39, Paolo BIANCHI kommentiert den Essay „Gott und Müll“, von Bazon BROCK, 2003. 89 Thomas HIRSCHHORN macht die Reinigung, die Entsorgung von desolatem Wohlstandsmüll aus den Augen der Gesellschaft zu seinem Werkthema. So schafft der Schweizer beispielsweise skulpturale, ungerahmte Assemblagen aus armen Materialien und sucht deren direkte Konfrontation mit dem Alltag. Hierfür setzt er seine informellen Müllkollagen auf dem Gehweg aus. Die Bilderreihe „Jemand kümmert sich um meine Arbeit“, dokumentiert, wie die Pariser Müllabfuhr seine Pappcollagen auseinandernimmt und in den Müllwagen stopft. Er gibt seine Werke frei, macht sie zu autonomen Objekten, zu Müll, der seinem Schicksal überlassen wird. Durch die „prekären“ Situationen, in die er sie bringt, antizipiert er ihre Zerstörung und erklärt die Demontage und die Entsorgung seiner Arbeiten zum Teil des Werkes. Thomas HIRSCHHORN, Auszug aus der Bilderreihe „Jemand kümmert sich um meine Arbeit“, 1992, Paris Was aber ist mit den Menschen, die nicht in der Lage sind, ihren Müll selbst aus ihrem Alltag wegzuwerfen, Menschen, die in der Konsumgesellschaft leben und eine falsche Wahrnehmung ihres Mülls haben, ihn weder entsorgen, noch verwerten oder wiederbenutzen, ihn einfach nur horten? 90 Einige Menschen können sich nicht von Objekten trennen, egal ob Familienschmuck oder Klopapierrolle, alles wird behalten. Unfähig Sachen wegzuwerfen, können sie meist keinen objektiven Unterschied zwischen wichtig und unwichtig, notwendig und überflüssig, wertvoll und wertlos machen. Diese Menschen nennt man im Volksmund Messies. Wegen des Verlustes ihrer sogenannten Differenzierungskompetenz häufen sie alles, was sie im Alltag benötigt haben, an. Ursprung und Auslöser dieser Wahrnehmung- und Persönlichkeitsstörung sind noch unklar. Psychologen bemerken jedoch häufig, dass der maßlose Sammelzwang der Patienten eine reflexartige Reaktion auf die belastende, unverdaulich schnelllebige und konsumberauschte moderne Zivilisation ist, in der sie sich als Individuen nicht mehr „normal“ zurecht finden können. Diese krankhafte Neigung zum Chaos manifestiert sich in vollgestopften, übelriechenden und oft unpassierbaren Wohnungen. Der Müllberg selbst scheint besser zu leben, als der Mensch, der darin wohnt, Kleinnager voran! Stapelweise Pappkartons, Plastikverpackungen, Kleiderbügel, kaputte Haushaltsgeräte bezeugen diesen Menschen tagtäglich, dass sie existieren. Ihr Müll gedeiht zu einer Art externer Festplatte. Sie scheinen sich in ihren Müll zu projizieren, sie identifizieren sich durch das, was sie besitzen, ihr Abfall macht sie aus! Oft hat jemand den Betroffenen in ihrer Vergangenheit alles genommen oder sie ihrer Identität beraubt. So speichern sie sich eine neue Identität. Das lückenlose Ansammeln scheint wie eine Entlastung für ihren von Sorgen vollgemüllten Kopf zu sein. Die Betroffenen bewahren materielle Dinge auf, um sich selbst spüren und (er-)leben zu können. Wie bei Hänsel und Gretel scheinen sie sich Brotkrumen zu legen um ihr „inneres Zuhause“ immer wiederfinden zu können, mit dem Problem, dass diese kleinen Krumen mit der Zeit zu unüberwindbaren Barrieren werden und ihr Zuhause undurchdringlicher und verworrener wird. Indem sie sich ihren Lebensraum Schritt für Schritt anschaffen, nehmen sie ihn sich gleichzeitig weg. Diese Menschen bauen Bunker um sich, Schutzmauern aus ihrem eigenen Dreck, aus süffelnden Pizzaschachteln und modriger Wäsche. Eingemottet wie in einem Kokon sind sie unfähig dieses Zuhause zu verlassen. Dass sie sich selbst in dem verwahrlosten Zustand vergiften oder die Mülllast sie unter sich begraben könnte, scheinen die Betroffenen hilflos in Kauf zu nehmen. Die Kunstszene ist interessiert am Phänomen Messie. Einige Künstler wie Jonathan MEESE dokumentieren oder reproduzieren Messiewohnungen mit dem bestimmten Ziel, ihrem Publikum den Wert der im Überfluss vorhandenen Konsumgüter vor Augen zu führen. Sie schaffen oft traurige, dunkle, beengende und deprimierende Einblicke in den Alltag eine Bevölkerungsgruppe, die der modernen Welt nicht gewachsen scheint. Jonathan MEESEs Name scheint hier Programm. Der deutsche Allround-Künstler greift Ende der 1990er Jahre das Thema in Installationen wie „Müllräume“ auf. Die auf der Berliner Biennale 2004 präsentierte Foto- und Collageinstallation „Ahoi der Angst“, bezeichneten die Medien146 als „zugemülltes Jungs-Zimmer“. Der Müllraum wird hier zum Müll-Albtraum jeder Mutter. In seinen vollgestopften Räumen präsentiert der Künstler, vom Boden bis zur Decke, minderwertige aber für den einzelnen bedeutsame Materialien wie Zeitungsseiten, Notizzettel, Fanartikel von Musikgruppen, Schrottgegenstände, wertlosen Kram und sonstigen Fummel aus zweiter Hand. Er spielt mit unzähligen optischen Akzenten und tapeziert Fotos und alte Poster von Claudia Schiffer über Napoleon bis Pippi Langstrumpf an die Wände. Er gestaltet seine Raumvolumen beliebig und dermaßen maßlos, dass man in diesem ganzen Überfluss keine Bedeutungen mehr herausfiltern kann. MEESE sagt selbst: „Alles muss mit allem vergleichbar sein“147 und hebt damit die geltenden Standards für jede Wertungshierarchie auf. Er macht keine Differenzierung mehr 146 Petra AHNE in der Berliner Zeitung vom 29. Januar 2004 im Artikel: „Der Verstörer“. Kathrin LUZ zitiert den Künstler im Artikel „Jonathan Meese: Ein Messie als Messias“, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 128. 147 91 zwischen wertvoll und wertlos und errichtet somit ein Denkmal der Hilflosigkeit des Einzelnen im Konsumdschungel. Jonathan MEESE, „Ahoi der Angst“, 2004 Cat TUONG NGUYEN ist ein weiterer Künstler, der sich mit diesem Sujet auseinandersetzt. In Vietnam geboren und in Zürich wohnhaft, dokumentiert der Kunstfotograf 2001 für die Zeitung „Tages-Anzeiger“ eine Reihe Messiewohnungen148. Das Fotografenauge zeigt die ungeschminkte, traurige und emotionale Wirklichkeit hinter verschlossenen Türen. In Fotoarbeiten wie „Messie“ von 2004 thematisiert er das Gegenwartsphänomen, übt Kritik an Zeit und Konsumgeschehen. Zu Türmen gestapelte Akten wirken wie Zeugen eines ganz schmerzlichen, persönlichen Zerfallprozesses. In seinen brisanten Fotografien greift er politische und soziale Ereignisse auf, Ground Zero calling! Cat TUONG NGUYEN, „Mehr Ordnung, Bitte!“, 2001, Auszug aus der Fotoreihe 148 Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 58. 92 Nicht nur die Kunstszene ist am Messie-Syndrom interessiert, auch die Unterhaltungsindustrie erkennt die Brisanz des Themas, denn das Phänomen ist sehr verbreitet. Alleine in Deutschland leiden geschätzte zwei Millionen Menschen unter dieser Zwangsneurose149. Und das Leid anderer verkauft sich gut: Ab August 2011 läuft bereits im allwöchentlichen Fernsehprogramm von RTL2 die Aufräum-Doku-Soap „Das Messie-Team“. Jeden Dienstag um 20.15 Uhr kann man sich bequem hinsetzten und zusehen, wie Therapeuten und Schädlingsbekämpfer Messies medienwirksam von ihrem Müll befreien. „it’s fun.“! Für den, der es noch hautnäher braucht, jetzt auch in HD! Schlussendlich macht sich auch die Animationsbranche die Problematik von Müll in Massen zu Nutze. Disney-Pixar thematisiert im kritischen Animationsfilm „WALL·E“ von 2008 das unnachsichtige Konsumverhalten der Menschen. Dieser Film erzählt von einem kleinen Roboter, der, siebenhundert Jahren lang alleine auf der Erde, die von Menschen angestauten Müllhaufen in kleine Blöcke presst und sie zu Mülltürmen aufstapelt. Die Hauptfigur verkörpert eine Art Helden der Wiedergutmachung. Haben doch die Menschen Roboter gebaut um den Überfluss an Material zu produzieren, so brauchen sie auch Roboter um den daraus entstandenen Müll wieder aufzuräumen. Spielerisch bekommen so die Kleinsten ein Gefühl für den weltweiten Überschuss an Müllballast vermittelt, den eine Gesellschaft unbekümmert von sich abwirft und die natürliche Landschaft verdrängt. „WALL·E“, 2008, Andrew STANTON, Pixar Animation Studios & Walt Disney Company, Film stills 149 Genaue Zahlen gibt es keine. Unter Medizinern schätzt man 300.000 Betroffene, es kursieren allerdings auch Zahlen von bis zu 2 Millionen. In der Septemberausgabe 2002 des Ärzteblattes sprach Werner GROSS von 1,8 Millionen Menschen die unter dem Syndrom des zwanghaften Hortens leiden, „MessieSyndrom: Löcher in der Seele stopfen“, Seite 419. 93 Wir müssen alle lernen nachhaltiger zu agieren um den kommenden Generationen die nötigen unbehandelten Rohstoffe zum Wohle der Gesellschaft zu garantieren. In meinem Schulalltag ist es mir deshalb wichtig, dass meine Schüler in ihrem formbaren Alter einen bewussten, verantwortungsvollen und gesunden Umgang mit den Resten ihres Alltages kennenlernen. Dadurch, dass die Schüler ihren eigenen mitgebrachten Abfall in der schulischen Institution wieder neu erfahren und umgestalten, lernen sie positive und schöpferische Eigenschaften des Materials kennen. Längerfristig lernen die Schüler durch die handwerkliche und intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Müll, diesen nicht mehr sorglos auf dem Gehsteig zu entsorgen. Sie sollen erkennen, dass man nicht immer alles unbedacht wegwerfen muss. Kraft ihrer eigenen Hände lernen sie, aus wenig viel zu machen. Die Arbeit mit Müll hat somit eine soziale Seite. Die genannten Müll-verwertenden oder thematisierenden Künstler sehen in dem Weggeworfenen die Kraft, den Betrachter für sein unumsichtiges Konsum- und Wegwerfverhalten zu sensibilisieren. Mit der Wertschätzung für das Potenzial, das in unserem Abfall steckt, steigt auch der respektvolle Umgang mit demselbigen. Im Bereich des Designs setzen sich innovative Köpfe daran, der Gesellschaft den Müll erneut vorzusetzen und ihn wieder aktiv und funktional in unseren Alltag zu integrieren. 94 2.e Praktische Lektüre: Re-Design und Um-Funktion von Müll Müll hat nicht nur eine Geschichte, einen sentimentalen Wert, eine poetische Note, sondern ganz neutral: Länge, Breite und Tiefe. Die äußeren Merkmale bieten innovativen Produktdesignern eine kreative Arbeitsvorlage: Entwerfen versus Wegwerfen. Form, Materialität oder Funktion von ausgedienten Waren werden genutzt und weitergegeben, transformiert und zu einem neuen Zweck zurückgeführt. Peter SLOTERDIJKT interpretiert den Beruf des Designers als den eines: „Entwicklungshelfers für Güter auf dem Weg zur Besserung“150. Recycling im Design wertet nicht nur unseren Müll wieder neu auf, sondern schenkt den daraus entstandenen Gegenständen einen Mehrwert, macht aus ausgedienten Materialien das Bestmögliche. Hierbei arbeiten Designer151 gezielt mit Recyclingmaterial um auf eine ökologisch bewusster werdende Gesellschaft zu reagieren. Sie gestalten nachhaltige Produkte mit dem Gedanken an kommende Generationen und nutzen bewusst Sekundarrohstoffe, Recyclingmaterialien, Produktionsabfälle und Überschüsse, ausrangierten Kram oder Müll für ihre Kreationen. Recycling wird in unserer Gegenwart zu einem allgemeinen kulturellen Phänomen, denn Grün, Bio, Organic oder Recycling ist „in“. In der Designbranche auf Müll zurückzugreifen hat viele Beweggründe. Design verbindet im Wesentlichen Aussehen, Funktion und Konsum. Produktdesigner erschaffen Gegenstände, die bequem, praktisch, ästhetisch und zeitgemäß sind sowie in die Umwelt ihrer Abnehmer passen. Im Produktdesign beruht bekanntlich Schönheit auf Zweckmäßigkeit152, was immer wieder die Frage nach der Vereinbarkeit von Kunst und Nutzen aufwirft. Philosophen wie Immanuel KANT entzogen dem funktionalen Gegenstand die Bezeichnungen ästhetisch oder schön153. Erst zwei Jahrhunderte danach, als im Jugendstil und später in Theorien des Bauhaus Wohnen und Kunst direkt miteinander verknüpft wurden, gewann das Nutzobjekt an ästhetischer Bedeutung. Funktionale Produktionen können seither nicht nur als wirtschaftlich wertvoll bezeichnet werden, sondern auch einen künstlerischen Wert erhalten. Abfall hat den „Weg-zurück“ in sämtliche Designsparten gefunden. Kannte man Müllobjekte sonst aus Drittwelt-Bazars oder von Flohmärkten, so ist Müll heute in den Designerbutiken angelangt. Shabby ist chick! Müll ist Trend. Die Kombination Design-Müll ist Alltag. Neben Konsumgegenständen wie Joghurtbecher und Getränkeflaschen aus recyceltem Plastik oder Verpackungen aus Altkarton, wird Müll nicht mehr versteckt, sondern absichtlich sichtbar 150 Der deutsche Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor zum Thema Social Design, Kunstforum international, Band 207. 151 Mitte der 1980er kamen Begriffe wie Ecodesign, Sustainable Design, Green Design oder Green Architecture auf. Sie bezeichnen Gebäude und Produkte, die in all ihren Phasen, von der Planung bis zur Entsorgungen, einer umweltfreundlichen Philosophie folgen. Der nachhaltige Leitgedanke von Designer und Architekten, wie den amerikanischen Architekten William MCDONOUGH und Michael REYNOLDS, ist die Reduktion der negativen Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit. Die Wiederverwertung von Materialien ist hierbei ein wichtiger Grundgedanke. 152 Bereits Ende des achtzehnten Jahrhunderts lautete die Maxime der Glaubensgemeinschaft der Shaker: „Schönheit beruht auf Zweckmäßigkeit“. 153 Immanuel KANT meint hierzu: „Schönheit ist die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.“, aus Kritik der Urteilskraft, 1790, erster Teil Ästhetik, dritter Moment der Geschmacksurteils nach der Relation der Zwecke, die in ihnen in Betracht gezogen sind, §10-§17, Seite 70-93. 95 gemacht. So erhalten Recycling-Produkte nicht nur einen ökologischen Aspekt, sondern werden zudem zum Unikat. Man kennt Möbel aus ausgedienten Telefonbüchern oder Pappkisten154, Körbe und Rangierkästen aus gewobenem Tetrapak (Kitsch Kitchen©155), Taschen und Geldbörsen aus Lastwagenplanen (Freitag©156) usw. Auch große Firmen springen gerne werbewirksam und image-pushend auf diesen Hype auf. Nike entwickelte beispielsweise 2008, in Zusammenarbeit mit dem umweltengagierten Basketballteam The Phoenix Suns den aus Recyclingmaterial bestehenden Schuh „Trash Talk“: ausgewählte Abfallmaterialien in klassischem Nike-Design. Die Schreibwarenmarke Pilot stellt in ihrer umweltfreundlichen Produktreihe BeGreen Kugelschreiber aus Plastikflaschen her. Eigentlich nichts Neues, doch der Hersteller ist zudem gezielt darauf bedacht, sein Vorzeigeprodukt B2P Bottle-to-Pen157 optisch an eine Plastikwasserflasche erinnern zu lassen. Die Marke demonstriert bewusst, dass ihr Produkt recycelt wurde, denn ihr Entstehungsprozess wird dem Käufer formell vor Augen geführt. FREITAG, Modell „Nightclub“, seit 1993 NIKE, „Trash Talk“, 2008 und PILOT, „B2P“, 2008 Es gibt hunderttausende Beispiele von Recycling im Design. Hier nur einige Designer, die auf die stofflichen Qualitäten von manufakturiertem Müll eingehen um daraus Lampen und Schirme zu gestalten: Die portugiesischen Designer Cláudio CARDOSO und Telma VERĺSSIMO (Studio Veríssimo), sowie der britische Designer Stuart HAYGARTH produzieren elegante Lüster aus PlastikKaffeerührern, Brillengestellen oder anderen Plastikabfällen. Mit einem Augenzwinkern verwertet der Ire Ryan McELHINNEY Billigspielzeug und spielt mit dem Kontrast zwischen Ramsch und barocker Eleganz, Toystory ahoi! Müll kann unter bestimmten Voraussetzungen ästhetisch und 154 Der französische Dekorateur Philippe BLOTAS fragt sich „Was machen mit Verpackungspappe, wenn nichts mehr zum Verpacken da ist?“ und stellt seit 1988 Möbel, aber auch Schuhe, Taschen, Spielzeug oder Dekoelemente aus Karton her. „Du côté de chez vous“, Editions Hoëbeke, 2003, Paris, Seite 84. 155 www.kitschkitchen.nl, Rozengracht 8-12 1016 NB Amsterdam. 156 Seit 1993 entwickeln Daniel und Markus FREITAG unter dem Label FREITAG in Zürich Taschen und Börsen aus Lkw-Planen, Sicherheitsgurten und Fahrrad-Gummischläuchen. 157 Pilot engagiert sich in ihrer Produktreihe BeGreen – positive with the Planet die ISO 140001 und 14021 Standards für umweltfreundliche Produkte einzuhalten. Der B2P Bottle-to-Pen ist ein nachfüllbarer Geltintenstift aus 89% nach Gebrauch recycelten Plastikflaschen. Auch die Verpackung ist aus Recyclingmaterial. www.pilotbegreen.us, 11. Februar 2013. 96 dekorativ sein und braucht sich als wertvoller Rohstoff nicht mehr hinter Chrom, Velours oder Edelhölzern zu verstecken. STUDIO VERISSIMO, „Spoon“, 2004 Stuart HAYGARTH, „Tide“, 2004 Ryan McELHINNEY, „Gold Toy Lamp“, 2008 und Detail 97 Man spricht im Kontext des Designs nicht nur von Recycling-Design, sondern auch von ReDesign, bei dem ein unbenutztes Objekt durch Transformation eine neue Identität erhält. Wohlstandsmüll und Produktionsüberreste werden wieder zu brauchbaren Alltagsgegenständen und Recycling braucht sich nicht mehr zu verstecken. Es wird dem Konsumenten sichtbar vor Augen geführt. In einer globalisierten Konsumwelt bietet das Recycling-Design dem selbstbewussten Käufer die Genugtuung ein Einzelstück, ein Unikat zu besitzen und sich von der Masse abzuheben. Dadurch, dass man auf solchen re-designten Produkten oft Details der früheren Funktion und Beschaffenheit wie Materialzusammensetzung, Konsistenz, Farbe, Beschriftung und Datierung oder Produktfotos erkennen kann, bekommen sie eine einzigartige Note. Der Verbraucher erkennt gleich, hier handelt es sich um ein Recyclingprodukt, eine Erkenntnis mit Auswirkung auf sein Kaufverhalten. Natürlich profitiert die Marktwirtschaft vom schlechten Gewissen der Käufer und wirbt mit Botschaften wie: Benutzt Recyclingpapier, meidet Silikone in Shampoos, kauft keine tropischen Hölzer,… Anstatt den tropischen Baumbestand zu lichten, recyceln Möbelhersteller Teak aus alten Brücken, abgewrackten Schiffen oder Häusern. Optisch sind diese Möbelstücke einzigartig, zudem „umweltfreundlich“, rodet man hierfür ja nicht extra jahrhundertealte Teakbäume! Die Rückseite der Medaille zeigt aber, dass die hochwertigen Hölzer an Ort und Stelle durch minderwertigeres Material ersetzt werden. Recycling steht nicht immer auf der guten Seite, das Siegel verkauft sich allerdings blendend. Müll hat für Künstler, Designer, aber auch für uns alle einen sehr wertvollen Vorteil: Er ist günstig. Kein finanzieller Engpass macht einem einen Strich durch die Rechnung. Neuer Wert aus altem Unwert lohnt sich aus ökonomischer Sicht. Dies gilt sowohl für große Designer als auch für Heimtüftler, die für lau eine neue Einrichtung benötigen. Ein Beispiel aus der Rubrik Not macht erfinderisch bietet uns der Russe Vladimir ARKHIPOV. Selbst kein Designer, sammelt der zeitgenössische Künstler in dem Buch „Home-Made“158 über hundert Kreationen, die zu Zeiten der schlechten Konjunktur, während des Zusammenbruchs des Sowjetregimes, von Hausfrauen und gewöhnlichen Heimtüftlern improvisiert wurden. So dokumentiert er, wie er sie nennt: „zeitgenössische russische Volksartefakte“ wie Schneeschaufeln aus Straßenschildern oder Radioantennen aus Gabeln. Vladimir ARKHIPOV, Beispiele aus dem Buch „Home-Made“, 2006, eine Schneeschaufel von Vladimir ANTIPOV, 1998, und eine Fernsehantenne, unbekannt 158 Home-Made Contemporary Russian „Folk Artifacts“, Fuel, London, 2006. 98 Do-it-yourself Trash-Design, auch IKEA zeigt uns wie das geht! Hier findet man Handbücher159 zur Individualisierung der genormten Innenausstattung durch Recycling und Umgestaltung. Die Pariserin Sophie MUTTERER demonstriert, wie man zu Hause aus alten Lenor-Plastikbehältern einzigartige Lampen, aus Weinkisten und Zeitungen bunte Regale oder aus Flaschenstöpseln Uhren herstellen kann. Alles nach Anleitung! Das Recyceln preiswerter Massenmöbel ist bereits Kult und hat einen Namen: IKEA-Hacking. Sophie MUTTERER, „Lumière Tamisée“, 2007 Ein Aspekt, der mich bei der Arbeit mit Müll im Bereich des Design besonders interessiert, ist die a priori Einplanung einer Wiederverwertungsmöglichkeit. Einige Designer denken nicht nur darüber nach, wie sie bereits entstandenen Müll wiederverwerten können, sondern überlegen, wie sie ihre Produkte so gestalten, dass sie nach ihrer Benutzung so unkompliziert wie möglich vom Endverbraucher zu einem anderen Zweck zurückgeführt werden können. Bei meiner Recherche bin ich auf eine in meinen Augen geniale Idee gestoßen. 1963, als noch kein Mensch von der Notwendigkeit von Recycling gesprochen hat, fiel Alfred HEINEKEN während einer Antillen-Reise auf, dass hunderte seiner grünen Heineken Bierflaschen die Strände verschmutzten. Kein gutes Image für seine Marke! Es war jedoch viel zu aufwändig und teuer die Glasflaschen einzusammeln, nach Amsterdam zurückzuschiffen und dort wieder neu zu befüllen. HEINEKEN bemerkte außerdem, dass auf der Insel Baumaterial knapp war. So zählte er zwei und zwei zusammen und entwickelte gemeinsam mit dem niederländischen Architekten John HABRAKEN die Heineken WOBO (world bottle) Glasflaschen. Der große Bierproduzent wurde sich der Bauqualität seiner Verpackungen bewusst und richtete sie gezielt dafür aus. Nach ihrer primären Nutzung konnte man die blockförmigen Bierflaschen als Glasbausteine weiterbenutzen. Lego lässt grüßen! Leider ist das Projekt nie in bedeutender Auflage produziert worden, der Markt war wohl derzeit nicht reif für diese Art von „Instant-Recycling“! John HABRAKEN, „WOBO“ für HEINEKEN , 1963 159 Wie beispielsweise: Sophie MUTTERER, Idées de récup’, Fleurus, Paris, 2007. 99 Ich stelle mir allerdings die Frage, weshalb heutzutage nicht mehr Firmen ihre Verpackungen cleverer nutzen und sie beispielsweise mit userfreundlichen Recycling- oder simplen Basteltipps versehen. Diese Art, den Käufern eine kreative Recyclingmöglichkeit anzubieten, würde nicht nur einen Teil unseres Mülls einsparen, sondern zudem ein Firmenimage verbessern, die autonome Werbekraft des Produkts steigern und könnte sozialpädagogisch relevant eingesetzt werden. Ein Beispiel zur gescheiten Wiederbenutzung von Verpackungen ist mein persönliches Projekt „Re-Packaging“. Hierbei habe ich ganz einfach florale Bildelemente auf eine Amazon-Pappkiste gezeichnet und sie mit einer Scherenlinie umrahmt. Mit einer dazu gelieferten Bastelanleitung und (bei Bedarf und Bestellung) einem Satz Perlen, Nähzeug und Verschlüssen könnte so der/die Nutzer/in seinen/ihren modischen Schmuck selbst herstellen. Für Kinder könnte man die Gestaltung von Spielzeugautos oder Püppchen vorsehen, für Männer Flugzeugmodelle mit solarbetriebenen Miniantriebsmotoren oder unterhaltsame Funkuhren, für Weihnachten etwas Christbaumschmuck, für Valentinstag romantische Bilderrahmen, pop-up Grußkarten für Geburtstage,... Auch wenn der Verbraucher nicht selbst von diesem Angebot profitiert, so bekommt er zumindest den Eindruck vermittelt, die Firma kümmere sich kreativ um ihren Müll. Selbst Hand an seinen Müll legen, also Do-it-yourself-Recycling, ist im Möbeldesign bereits angesagt. Der britische Produktdesigner Jasper MORRISON wurde von der Möbelmanufaktur Established & Sons beauftragt einen Nachttisch zu entwerfen. Nach einer Zeit des Hin und Her stellte er fest, dass eine einfache Weinkiste im Grunde perfekt für diesen Zweck geeignet ist. Daraufhin baute er für die Firma eine verbesserte, stabilere und edlere Version einer Weinkiste. Die Idee hatte zur Folge, dass die Nachfrage und folglich auch die Preise für Rotwein in Holzkisten anstiegen, vor allem jene mit Brandbeschriftungen renommierter Weinhäuser und guter Jahrgänge. So bekam der Weinkasten an sich einen neuen materiellen Wert. Recycling kann somit in vielerlei Hinsicht Impact auf unser Kaufverhalten haben. Jasper MORRISON, „The Crate Series“, 2007 100 Einige Designer nutzen den Müll aus ökonomischem Interesse, andere aus einer ökologischen Ideologie heraus. Sozialdemokratisch motiviert hinterfragt Tord BOONTJE das Edeldesign und macht Design öffentlich zugänglich. Entgegen der elitären Kundschaft der Designbutiken schafft der Niederländer neues Design für die weniger Betuchten, für solche Menschen, die sich eben nur improvisierte Möbel leisten können. Wer erinnert sich nicht an die Bananenkiste aus der Studentenbude? So erarbeitet BOONTJE kostenfreie Herstellungsanleitungen und macht sie über das Internet jedem zugänglich. Der Designer demonstriert mit der Möbelserie „Rough and Ready“160, wie man Restmaterialien in funktionale Möbelstücke umgestaltet. Die Resultate wirken durch ihre bewusst schlechte Qualität improvisiert, einzigartig und selbstgemacht, eben Recyclingmöbel mit Baustellenflair. STUDIO TORD BOONTJE, „Rough and Ready Collection“, „Rough and Ready Chair“, 1998 Von Recycling im Design oder Re-Design sprechen wir nicht nur, wenn Abfälle wiederverwertet werden, sondern auch wenn die Ästhetik, die Formen- und Farbensprache einer bestimmten Epoche recycelt wird. Ganz bewusst arbeiten einige Designer mit der Wirkung von second hand, used look oder vintage style, dem bereits (Ab-) Getragenen und Benutzten. Der Charme von alten Dingen geht nie verloren, denn der Flair vergangener Popkulturen findet immer seine Liebhaber. Rebellisch und nostalgisch geht der niederländische Designer Jürgen BEY an die Möbelproblematik im Alltag heran. Er verbindet in seinen Arbeiten alte Gegenstände mit neuer Technologie. 1999 erarbeitete er für die Firma Doog die Serie Kokon. Sie besteht aus alten, bereits ausrangierten Tischen und Stühlen. Er setzt existierende Möbel neu zusammen und umschließt diese Re-Konstruktion mit einer Plastikhülle. Luft raus, so vakuumisiert er alte Möbel in einer Art Zeitkapsel. Er schützt sie und bewahrt vom Grundmaterial lediglich die Form. Es entstehen formal nostalgische und zugleich materiell recycelte „sous-vide“ Möbelstücke. Jürgen BEY, „Kokon Family Chair“, für DOOG, 1997 160 Studio Tord Boontje, 1998, weitere Beispiele auf www.tordboontje.com. 101 Andere Produktgestalter nutzen das Re-Design für ihre experimentellen Projekte. Auf der Suche nach dem perfekten Stuhl und somit der idealsten Fusion von Funktion, Ästhetik und Konzept schafft Martino GAMPER „Hundert Stühle in hundert Tagen“161. Der Südtiroler Designer fügt in einem sehr spontanen Prozess alte Holz-, Metall-, Textil- und Plastikmöbel, sogar eine Gitarre, zu neuen Einsitzern zusammen. Martino GAMPER, „Hundert Stühle in hundert Tagen“, 2006-07, „Two-some“, 14.Juli 2006 Müll bietet kreativen Köpfen einfach unbeschwerte Narrenfreiheit und einen unerschöpflichen Materialpool. Motivierte Müllbastler sprießen wie Pilze aus dem Boden.162 Auch das alljährliche Recycling-Kunst Treffen „Festival Internacional de Reciclatge Artístic“ in Barcelona zieht immer mehr Müllbegeisterte an. Während diesem so genannten Drap Art Festival163 zeigen bekannte und unbekannte Künstler was sie unter Müll- oder Trash-Kunst verstehen. In Aktionen, Präsentationen, Recyclingwerkstätten und Marktverkäufen bieten sowohl Arbeitslose als auch Designer Nützliches und Unnützes aus Abfallmaterialien an: Totenköpfe aus Trinkwasserflaschen, Kleider aus Kronkorken oder Schmuck aus Computertastaturen. Atelier auf der Drap Art 13, Beitrag von Franco de Leon REYES, ohne Titel, 2013 161 „100 Chairs in 100 Days“, vom 2. Dezember 2006 bis zum 25. Februar 2007. Auf unzähligen Blogs oder auf Internethomepages wie de.dawanda.com, idee-creative.fr, 162 bastelideen.info/html/recyclingbasteln_b.html, www.recyclingbasteln.de oder DIY clothing, stuff, jewelery etc. auf pinerest.com begegnet man Beispielen, wie Müll kreativ, dekorativ und funktional in der Mode und im Haus wiederverwertet werden kann, oft sogar mit Anleitung zum Selbermachen. 163 Drap Art ist eine „nonprofit“ Organisation, welche seit 1995 regelmäßig Festivals, Ausstellungen und Workshops um das Thema Recycling veranstaltet. „Drap“ stammt vom katalanischen Wort für Lumpensammler „drapaire“ ab. Vorreiter dieses Festivals war das seit 1996 organisierte Recycling Marathon of Barcelona. In Barcelona wird das Müllproblem kreativ in die Hand genommen. Öffentliche Institutionen wie das regionale Umweltministerium, das örtliche Kulturinstitut oder aber die katalanische Abfall-Agentur unterstützen diese ausgefallene Müllverwertungsmaßnahme. 162 102 Müll kann auch als Schmuckstück eingesetzt werden. Bernhard SCHOBINGER entwickelt Schmuckkollektionen aus Fundstücken wie Konservendosen, Glasscherben, Eisensägen oder veraltetem Kinderspielzeug und kombiniert sie mit Edelmetallen und Halbedelsteinen. In Einzelstücken wie einer Brosche aus einer alten Lampenfassung, einem schäbigen Textilkissen, einer Tahitiperle und Goldringen werden wertvolle und wertlose Materialien spannend kombiniert. Der Schweizer Goldschmied weist humorvoll und gekonnt auf die eigentliche Schönheit, Eleganz, ja auf den dekorativen Wert des Materials Müll hin. Bernhard SCHOBINGER, „Lämpchen auf Kissen“, 2009 und ohne Titel, 2008 Recycling hat mittlerweile auch seinen Weg auf die Catwalks der Welt gefunden. Im Volksmund heißt es: Kleider machen Leute! Nun heißt es: Leute machen Müll und aus Müll machen Leute wieder Kleider! So schließt sich der Kreis, der Zyklus der Wiederverwendung. Nicht nur organic cotton ist weltweit bereits auf dem Siegesmarsch, Mode wird bewusster und Recycling gehört dazu. Recycling im Design beruht auf unterschiedlichen Schaffensmotivationen. Zum einen recyceln Designer gezielt aus ökologischer Überzeugung. Sie suchen Formen und Wege, ausgedientes Material wieder ansehenswert und funktional in den Nutzungskreislauf zurückzuführen und bestenfalls Produkte zu erzeugen, die selbst wiederum leicht recyclebar sind. Andere sehen im Müll die Möglichkeit, die elitäre Modewelt zu schockieren, zu provozieren, Kontraste und Gegensätze gegeneinander auszuspielen um so interessante (Einzel-)Stücke zu kreieren. Müll versieht Luxusdesign mit einem Hauch Dekadenz und Perversion, radikalisiert absichtlich die Kluft zwischen wertlos und wertvoll. Die Damenhandtaschen von Sara VIDAS164 oder Marc JACOBS bieten uns hier passende Beispiele. Stilvoll, klar, chic und wiederverwertet, überzeugt VIDAS‘ schlichtweiße Tasche im Plastikeinkaufstüten-Look. Die Tasche ist hochwertig verarbeitet und mit Futterstoff aus Lammnappa sowie einem goldenen Trageriemen ausgerüstet. JACOBS geht mit seiner Idee der Edel-Plastiktüte noch einen Schritt weiter und kreierte für Louis Vuitton eine 1500 Euro teure Tasche aus Mülltüten, auf die das Logo der Luxusmarke angebracht wurde. Er preist zudem die funktionalen Vorteile der wasserdichten Regentasche mit Zugbandverschluss, erhältlich in Braun und modischem Grün. Mit einem clin d’oeil macht er zugleich die Modewelt lächerlich. Er spielt geschickt mit den konventionellen Vorurteilen und Wertvorstellungen der Kultmarke, die eine Vielzahl an Kunden anzieht, die alles kaufen würden, worauf das Vuitton-Logo angebracht ist. Luxus versus Müll, Glamour versus Abfall, Konsumgesellschaft versus Wegwerfgesellschaft, die Perversion des Schick. JACOBS treibt den Used-Look auf die Spitze, will gezielt provozieren und polarisieren. 164 Sara VIDAS gewann für ihre Kreation „Plastik Bag“ die Silbermedaille des Designpreises der Züricher Designmesse Blickfang 2012. 103 Sara VIDAS, „Plastik Bag“, 2010 Marc JACOBS, „Raindrop Besace“, für Louis Vuitton, Frühjahr/Sommer, 2010 Müll meets haute-couture! Auch der avantgardistische Modedesigner Martin MARGIELA165 dekonstruiert und rekonstruiert, spielt mit unterschiedlichen Materialzusammensetzungen. So verwertet der Belgier Damenhandschuhe zu Blusen, VHS Magnetbänder werden zu Umhängen gestrickt, Papierverpackungen zu Westen, Jeansfetzen zu Ballkleidern, Socken zu Pullovern. MAISON MARGIELA, „Shades Of Denim“, 2009 Auf den Internetseiten der Welt könnte man sich tagelang satt an Trashmode166 und Abfalldesign sehen. Je mehr Müll produziert wird, desto mehr läuft kreatives Recycling auf Hochtouren. Auch wenn man meint, man hätte schon alles gesehen, so kommen die Leute doch immer auf die verrücktesten und wildesten, oft aber auch einfachsten und genialsten Wiederverwertungs165 1988 gründet der Designer die Modemarke Maison Martin Margiela. Mit seinen intellektuellen, avantgardistischen Modekreationen, mal schlicht und minimalistisch, mal überladen und wild kombiniert, wird er für seine Designs wie einem Haarperückenkleid international gefeiert. 166 Der finnische Blog outsapop.blogspot.com gibt Mülldesign einen Namen und spricht von Müll in Verbindung mit Mode von Trashion. 104 Ideen. In den Seiten des www findet man immer wieder neue Hingucker. Ein paar besonders interessante Beispiele seien hier aufgelistet: • Auf www.platinumdirt.com zeigt Dustin PAGE seine VIN Jackets, Lederjacken aus den Lederinnenausstattungen alter Luxuslimousinen. • Trashy Mülltütenmode gibt es vom amerikanischen Fashion-Designer Jeremy SCOTT auf www.jeremyscott.com. • Traumhafte Plastic Bag www.garbagegoneglam.com. Dresses von Kristen ALYCE sieht man auf Dustin PAGE, „VIN Jacket Cadillac“, 2007-2013 Jeremy SCOTT, „Plastic Trash Bag“, Frühjahr/Sommer, 2011 Kristen ALYCE, „Plastic Bag Dress“, 2008 • Für eine Werbekampagne entwarfen Michael MICHALSKY und Peggy SCHULLER die Kollektion DHL Haute Couture, bestehend aus Verpackungsmaterialien dieses Logistikunternehmens, gesehen auf www.artdecodesign,typepad.com. Michael MICHALSKY und Peggy SCHULLER, „DHL Haute Couture“, DHL Kalender, Juli 2010 105 • Gary HARVEY schneidert in hochwertiger Feinarbeit weit ausgestellte, barock anmutende Damenroben aus alten Jeans, Zeitungen, Dosen, Flaschenverschlüssen, Plastiktüten oder Tetrapak, zu sehen auf www.garyharveycreative.com. Gary HARVEY, „Denim Dress“, 2007 und „Technicolor Dream Dress“, 2004 • Und immer am Ende der Show: Sogar Hochzeitskleider können aus minderwertigem und schäbigem Material so drapiert werden, dass sie „trautauglich“ sind. Jedes Jahr kürt die Internetplattform www.cheap-chic-weddings.com das schönste Hochzeitskleid aus Toilettenpapier. Die Gewinnerin 2013 ist Mimoza HASKA mit ihrem Kleid „Secret Garden“. Mimoza HASKA, „Secret Garden“, 2013 Micaela Schaefer bei der Filmpremiere von Men in Black III, Kleid aus VHS-Tapes, Berlin, 2012 167 Müll kann sehr verschieden interpretiert werden und unendlich facettenreich sein, manchmal edel und verspielt, manchmal sooo trashy und sexy! 167 Als die deutsche C-Prominente Micaela Schaefer 2012 in einem Hauch von Nichts und ein paar sorgsam angeordneten VHS-Bändern auf dem roten Teppich auftrat, sorgte sie international für Furore und fand prompt berühmtere Nachahmer. Wenn weniger, mehr ist, dann vermag auch unser Müll das breite Publikum zu überzeugen! 106 Auch ich habe mich an „Müllmode“ herangewagt: Für dieses Projekt habe ich zahlreiche Stoffetiketten aus Kleidern abgeschnitten und zusammengenäht. Wen kratzen solche Etiketten nicht manchmal an Nacken oder am Gesäß? Ab damit! Sieht man sich diese kleinen Textilzettelchen allerdings etwas genauer an, so erkennt man die Qualität der feinen Webtechnik, die kunstvolle Erarbeitung der winzigen Buchstaben und Motive. So füllte sich meine Etikettendose mit der Zeit und ich nähte mir ein multifunktionales Patchwork daraus. Vielseitig anwendbar, kann man es beispielsweise zu einem Korsett zusammenschnüren, es lässt sich außerdem zu einer Handtasche falten oder zum Buchdeckel binden. Mein Interesse galt bei diesem Projekt nicht nur der Aufbewahrung von reizvollen Textilabfallelementen, sondern auch ihrer Umfunktionierung in polyvalent nutzbare Objekte. Recycling interpretierte ich somit in seiner Vielzahl an möglichen Anwendungszyklen. Eine Ikone des Modedesigns ist sicherlich die Pariserin Sonia RYKIEL, die „Königin des Stricks“. In ihrem unverwechselbaren tricot à mailles-Design wechseln sich Farbreihen mit schwarzen Ringelstreifen ab. Dieses für ihr Label so charakteristische Streifenmuster habe ich in meinem Projekt „Sonia Recykiel“ aufgegriffen. Inspiriert vom Design der 2010er Strickkollektion in Kooperation mit der Billigmodenkette H&M, habe ich sowohl Schnitte wie Muster und Farben recycelt, also re-interpretiert. Ich habe die Markenidentität zitiert und bewusst Plastiktüten günstiger Bekleidungsmarken wie H&M, aber auch S.Oliver, Mexx, C&A, Eros usw. verwendet. Nicht nur Tüten von Bekleidungsgeschäften, auch banale Mülltüten wurden eingearbeitet. Sogar die Aldi-Metzgerei Renmans findet hier ihren Platz als neugestaltete „Frischfleischverpackung“. Die Arbeit wirkt durch den Kontrast zwischen angedeuteter elitärer Luxusmarke und reeller mainstream Massenware. 107 Durch die Vorreiterschaft der Kunst ist der Müll im Design und somit auch in unserem Alltag angelangt. Müll in der Kunst scheint trotz allem reserviert für einige wenige Kunstliebhaber, die sich gezielt in eine Galerie oder ein Museum begeben. Durch den Design erreicht Müll in neuer Form und Funktion auch die breite Konsumgesellschaft und macht ihn für sie zugänglicher. Recycling im Design öffnet dem Müll neue aktive Lebenszyklen. Design betreibt eine Form des up-cycling168, eine aktive Wiederverwertung von minderwertigem Material. Reste werden genutzt und zu neuen Funktionsgegenständen umgestaltet. Design transformiert den Müll aus einem wertlosen in einen wertvoll(er)en Zustand und gibt uns vom Müll das Beste wieder zurück. 168 Up-cycling nennt man die Form von Recycling, die schäbiges Material in seiner Produktions- und Verwertungskette aufwertet. Ihm entgegen steht das sogenannte down-cycling, wobei hochwertige Rohstoffe nach ihrer Wiederverwertung zu minderwertigeren Stoffen verarbeitet werden, wie beispielsweise weißes Papier zu Pappkarton wird. 108 Schlusswort: Im Alltag irrt unser Müll zwischen wertlos und wertvoll und wirkt durch sein fehlerhaftes Dasein irgendwie menschlich. Alles, was von der Konsumgesellschaft abfällt, erzählt von ihren kulturellen Errungenschaften. Unser Weggeworfenes verbindet die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft: Müll war funktionales Objekt, ist nutzloses Etwas, wird Umweltsünde, Energie, Recyclingmaterial oder Kunstgegenstand. Müll ist facettenreich und unausschöpfbar, simpel und komplex, unendlich interpretierbar, so wertlos und zugleich so wertvoll, reich an Informationen, tolerant, lässt sich alles gefallen und scheint alles zu können, zu sein und zu werden. Müll ist ein Universalgenie. Warum hat Müll bloß noch immer diesen schlechten Ruf? Die Kunstszene macht sich dieses vielseitige Potenzial zunutze. Sie lässt uns diese Genialität des Mülls erst richtig bewusst werden und wird somit zu dessen Sprachrohr. Die Kunst bietet dem Müll einen nahrhaften Boden und schenkt diesem verlorenen Material ein neues Leben. Sie gibt dem Material eine gewisse Ordnung und gesteht ihm einen ehrenwerten Platz in unserer Gesellschaft zu. Bei der künstlerischen Wiederverwertung wertet die Kunst nicht nur den Müll der Welt auf. Nein, der Müll wertet auch die Kunst der Welt auf! Er vermenschlicht die Kunst und rückt sie näher an das reale, alltägliche Leben. Sowie Recycling einen Rohstoff in einem aktiven Zyklus der Wiederverwertung behält, so scheint die künstlerische Aneignung von Müll dem kreativen Stillstand eines Kunstwerkes entgegen zu wirken. Künstler lassen sich auf das Material Müll in diesen diversen Eigenschaften, den unterschiedlichen Formen und Zuständen ein. Ob nun „arme“ oder „reiche“ Abfallmaterialien, ob Staubfussel oder Schrottauto, alle diese Materialien werden in der Kunstwelt wiederverwertet. Müll wird in Kunstwerken inszeniert, damit er von sich erzählt. Selbstredend werden Abfälle neu arrangiert oder in unterschiedliche Formen gebracht und sie tragen einen großen Teil der künstlerischen Qualität von Beginn an in sich. Künstler wie Tony CRAGG oder Karsten BOTT bedienen sich weggeworfener Objekte als Ganzes sowie in ihrer unendlichen Vielzahl und präsentieren sie uns in aufgeräumter Form neu. Kurt SCHWITTERS entwirft Müllcollagen und verwertet Müll in Fragmenten. Wilhelm MUNDT versteckt den minderwertigen Stoff und gibt ihn erst auf den zweiten Blick preis. Gerd ROHLING, Catherine BERTOLA oder Diet WIEGMAN ästhetisieren das Schäbige und rücken es ins richtige Licht. Christian BOLTANSKI und Georges ADÉAGBO dokumentieren mit Müll einen Teil unserer Geschichte. Eine wachsende Anzahl von Re-Designern nutzt den Müll in seiner Form und Materialität und führt ihn uns in neuer Funktion vor. Andere, wie Daniel SPOERRI oder Dieter ROTH schrecken nicht einmal vor gammeligen Essensresten zurück. Die scheinbar perfekte Kunstwelt hat sich mit schäbigen Materialien verbündet. Nun finden wir die künstlerische Vollendung in der Un-Perfektion. Im Makel, im Mangel, in der Sünde, ja im Ekel, da liegt der Reiz, der die Kunst erst richtig spannend zu machen scheint. Die provokative Unperfektion von Müll wirkt wie ein Anziehungspunkt für die sonst so perfekte, saubere Kunstwelt. Paradoxe werden gezielt gegeneinander ausgespielt und verschmelzen zu einer Einheit. 109 Egal wie man die Müll-Kunst Problematik angeht, eines steht fest: Weggeworfenes wird durch die Brille der Kunst nicht nur ver- sondern aufgewertet. Bedeutungslosem wird Bedeutung zugestanden, Unsichtbares wird wahrgenommen, Hässliches wird schön, Beliebiges wird interessant, Wertloses wird wertvoll. Wie bei einem Magneten ziehen sich gegensätzliche Pole an. Trotz ihrer Differenzen sind Müll und Kunst vereinbar. Beide lehren uns etwas über uns selbst, verraten, wer wir sind, halten uns einen Spiegel vor. Mit meinen persönlichen Projekten habe ich versucht unter verschiedenen Aspekten an die MüllThematik heranzugehen und theoretisierte Ideen praktisch zu erfassen, denn in der bildenden Kunst steht das Wort in Verbindung mit der Tat. Auch in Zukunft werde ich desolate Dinge und Materialien in meinen Arbeitsprozess mit aufnehmen und alten Gegenständen eine neue Form geben. Die Wiederverwertung von Müll wird somit immer ein Thema in meinem Leben bleiben. Auch in meiner schulischen Praxis wird mir der Müll stets ein treuer und dankbarer Begleiter sein und immer wieder die Arbeiten meiner Schüler bereichern. Nun tritt allerdings zuerst eine großangelegte Müllentsorgungsphase ein. Vieles Gesammelte und Aufbewahrte, tütenweise Fundstücke, Verpackungsmaterialien und sonstiger Kleinkram, den ich in den letzten Jahren angesammelt habe, kann nun weg und seinen eigenen Weg im Recyclingstrudel finden! Wenn sich ein Zyklus schließt, dann öffnet sich wieder ein neuer. Ich freue mich jedenfalls auf eine materielle Erleichterung, auf mehr Platz... Wem mache ich hier etwas vor, ich trenne mich nicht gerne. Less is more, but mess is better! Mein Speicher wird sich schnell wieder mit neuen alten Dingen füllen - ob nun für mich, für meine Kunst oder für meinen Unterricht! Ich verabschiede Sie, liebe/r Leser/in, nun gerne mit ein wenig Kopfkino: Lehnen Sie sich zurück, schließen Sie ihre Augen, denken Sie an ihr Lieblingslied, an eine Symphonie, die Ihnen die Tränen in die Augen treibt. Nun stellen Sie sich eine einzelne, raschelnde, weiße Plastiktüte vor, wie sie frei in der Luft herumwirbelt, vom Wind getragen, ihren Hochzeitswalzer tanzend, ihre Kreise ziehend, wie sie wunderbare Bewegungen am Himmel zeichnet, wie sie über leere Gassen zieht, über feuchtes Gras gleitet, über Dächer hinweggerissen wird, planlos herumirrt, sich in einem Rosenstrauch verfängt, von einem Windstoß befreit wird und aufgebauscht erneut in den Himmel hinaustreibt. Wie sie sich aufbläht und wieder in sich zusammensackt, wie sie aufsteht, wächst und wieder auf den Boden zurückfällt, wie sie einatmet und wieder ausatmet, wie sie auflebt und langsam wieder aus unserem Gesichtsfeld entschwindet.169 Wenn man den scheinbar unbedeutendsten, belanglosesten Dingen Aufmerksamkeit schenkt, so geben sie uns so vieles mehr zurück. 169 Angelehnt habe ich diese Situation an eine Sequenz aus dem fünffach Oskar-prämierten Film „American Beauty“, Original Motion Picture Score, 1999, unter der Regie von Sam MENDES, produziert von Bruce COHEN und Dan JINKS. Mit Musik von Thomas NEWMAN untermauert, tanzt in der Schlussszene eine leere Plastiktüte auf einer Straße. Unfähig selbst irgendwo Fuß zu fassen, lässt sie ihr Leben über sich ergehen, einsam im Winde treibend. 110 Bibliografie: - ARKHIPOV Vladimir, Home-Made Contemporary Russian „Folk Artifacts“, Fuel, London, 2006 BANZ Claudia, Social Design, Kunstforum international, Band 207, Ruppichteroth, März April 2011 BIANCHI Paolo, Müllkunst, Kunstforum international, Band 168, Ruppichteroth, Januar Februar 2004 BIANCHI Paolo, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Ruppichteroth, November - Dezember 2003 DEITCH Jeffrey, Black Magic, Wasted Youth, Rizzoli International Publications, New York, 2009 DE MÈREDIEU Florence, Histoire matérielle et immatérielle de l’art moderne, Editions Bordas, Paris, 1994 DOMINO Christophe, MAGNIN André, L’art africain contemporain, Editions Scala, Paris, 2005 DUCHAMP Marcel, STAUFFER Serge, Marcel Duchamp - Interviews & Statements, Hatje Cantz Verlag, Schuber, 1991 DUROZOI Gérard, Le Nouveau Réalisme, Bibliothèque des arts, Editions Hazan, Paris, 2007 ECO Umberto, Die Geschichte der Schönheit, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2009 FIELL Charlotte und Peter, Design Handbook, concepts – matériaux - styles, Benedikt Taschen Verlag GmbH, Köln, 2006 FRIDE-CARRASSAT Patricia, MARCADÉ Isabelle, Comprendre et reconnaître les mouvements dans la peinture, Larousse-Bordas, Paris, 1997 HÜSCH Anette, From Trash to Treasure – Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kerber Verlag, Buch zur Ausstellung, Kunsthalle zu Kiel, 2011-2012 KERN Erika, KERN Helmut, SCHULZ Frank, Hier kommt die Kunst, Basisreihe Kunst 2/3, Ernst Klett Schulbuchverlag, Leipzig, 2003 KERN Erika, KERN Helmut, SCHULZ Frank, Hier kommt die Kunst, Kommentarband, Basisreihe Kunst 2/3, Ernst Klett Schulbuchverlag, Leipzig, 2005 LE THOREL-DAVIOT Pascale, Petit dictionnaire des artistes contemporains, Larousse, Paris, 1997 LUNGHI Enrico, Atelier Luxembourg, The Venice Biennale Projects 1988-2011, Mudam Editions , Luxembourg, 2012 PETIT Béatrice, EHM Christine, Dada et les arts rebelles, Guide des Arts, Editions Hazan, Paris, 2005 PRETTE Maria Carla, DE GIORGIS Alfonso, Was ist Kunst, Neuer Kaiser Verlag, Klagenfurt, 1999 RUHRBERG Karl, SCHNECKENBURGER Manfred, HONNEF Klaus, Hrsg. 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August 2008 SPRINGER Axel (Hrsg.), „Bauern wollen pro Nacht 100.000 Eier zerstören“, www.welt.de/wirtschaft/article118795949/Bauern-wollen-pro-Nacht-100-000-Eierzerstoeren.html, 7. August 2013 SUTER Rudolf, „Stillstand gibt es nicht“, Neue Zürcher Zeitung http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/stillstand-gibt-es-nicht-1.18004162, 16. Februar 2013 o.V.: „Pistolettos “arme Kunst“ in Graz“, www.steiermark.orf.at/tv/stories/2535301, 31. Mai 2013 Internetseiten: - www.art-magazin.de www.bertrange.lu www.cashmere.com www.china-a.de/de/china/doc/shanghai in zahlen.html www.de.dawanda.com www.de.statista.com www.de.wikipedia.org, Suchbegriffe: Müll, Müllstrudel, Abfall, Recycling, Altpapier, Tim Noble und Sue Webster, Hygiene im römischen Reich, Kitsch, Plastiktüte, Bonsai www.diynetwork.com www.drapart.net www.earthship.com www.euwid-recycling.de www.feelgreen.de www.garbagewarrior.com www.gerd-rohling.de www.guerradelapaz.com www.handysfuerdieumwelt.de www.haschult.de www.jeremyscott.com www.karstenbott.de www.kitschkitchen.nl www.manifesta7.it www.pilotbegreen.us www.recyclart.org www.superdreckskescht.lu www.superuse.org www.timnobleandsuewebste.com www.tordboontje.com www.umsonstladen-trier.de www.vestiairecollective.com www.vimeo.com/52711779 www.vogue.co.uk/news/favorites-of-vogue/2010/02/sonia-rykiel-for-handm www.wert.de www.wirkaufens.de www.you.tube.com/watch?v=gHxi-HSgNPc, „American Beauty“ (from the plastic bag scene), Thomas NEWMAN 113 Ein Dankeschön an Herrn SLAVAZZA, Kommunikationsbeauftragter des SIDEC Um Fridhaff Erpeldange/Ettelbrück, an Will KREUZ, Kurator der Ausstellung Monopol 2, sowie an Herrn Roger KLEIN und dessen Deutschkenntnisse. Ein besonderes Dankeschön an meine Begleiterin Daphné DEMUTH sowie an meinen Ehemann, meine Eltern und meine Schwiegereltern. 114