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Münchner Feuilleton I Kultur · Kritik · Kontroversen I März Nr. 06 · 10.03. – 06.04.2012 · 2,50 Euro · www.muenchner-feuilleton.de literatur SEITE 09 Kleines Putin. Großer Herrscher? Pünktlich zur Wahl in Russland entlarvt ein Buch Putin als skrupellosen Strategen. medien SEITE 13 Was? Sie lesen noch auf Papier! Die Digitalisierung schreitet voran. Michael Bartle über das »Ende« des Papierformats und wie die Cloud unsere Kultur verändern wird. Kunst SEITE 17 Landschaft in Variationen Zwei Münchner Maler, Eduard Schleich und Carl Spitzweg, widmen sich der Natur. Eine Ausstellung in Dachau. Foto: Volker Derlath Eduard Schleich d.Ä. | »Am Ammersee« | um 1855/60 | Ausschnitt | Privatbesitz | Foto: Christian Mitko Stadtbild SEITE 30 Trugbilder können so schön sein: Was sieht der Junge, der hier aus seinem Bilderrahmen steigen will? Wo will er hin? Der naive Glaube an das, was man sieht, was man gelernt hat, was man für echt hält, weil man sich daran gewöhnt hat – ist das der Boden, der uns trägt? Siegt der, der einfach Fakten schafft? Der Behauptungen aufstellt, die beim genaueren Hinschauen zwar hanebüchen sind, aber trotzdem hingenommen werden? Bauch und Basar Die Großmarkthalle feiert Jubiläum. Eine Ausstellung im Stadtmuseum informiert über Handel und Wandel. Zivilopfer? – »Kollateralschäden«. Wahlen in Russland? Chaos in Ägypten? Terrorismus in Syrien? Alles Fakes! Ecco Meineke Großmarkthalle München, 2011 | © Daniel Schvarcz, München Bühne SEITE 22 To be or not to be? Elisa Moolecherry leitet das freie BeMe Theatre in München. Es spielt nur auf Englisch und hat schon längst ein treues Stammpublikum. Musik SEITE 27 Die Mumifizierung der Rockmusik In diesem Frühjahr sind im Deutschen Theater Leben und Tod beängstigend nah beieinander: Die wilden Zeiten des Rock werden zu Hochglanz-Musicals – diszipliniert im Klappsessel statt wild in Woodstock. Rocken mit Peter Kraus | Ausschnitt | Foto: Mike Kraus Münchner Feuilleton Breisacherstrasse 4 I 81667 München Wenige Bewegungen haben die Kunst des 21. Jahrhunderts so stark geprägt wie die der postrussischen neo-futuristen. Die Verweigerung des Raum-Zeit-Kontinuums ermöglichte dem Petersburger Trio Achmatowa – Popilljitsch – Lewitanski sich im Jahre 2019 zu treffen und sich in Gegenrichtung unserer Zeitrechnung zu entwickeln, so dass die noch ausstehende, erste Retrospektive der Postrussen in München bereits stattgefunden hat: Am 20. Januar 2010 in der »Gagalerie«. Die gefakte Existenz der postrussischen Gruppe, der Siegeszug virtueller Netz-Piraten steht symptomatisch für die unmittelbar bevorstehende Entzauberung der kapitalistischen Kontroll- und Verwertungs-Monarchie, die ihrerseits nahezu vollständig auf Fakes setzt. Die Mächtigen unserer Zeit haben ihre Aktien der Absurdität mehrfach überzeichnet und endgültig an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Was »der Markt« in den Untiefen der Festplatte treibt – er weiß es selbst nicht mehr und der unbedarfte Bürger erst recht nicht. Auf dem Bildschirm erscheinen nur die medialen Fake-Bilder des politischen Betriebes: Inszenierung des Politischen. Kleines Beispiel? Vor aller Augen ereignet sich ein Finanz-Kollaps nach dem anderen. Die nach wie vor finanzkräftigen Schuldigen, die andernorts auf Lebensmittelpreise wetten, wagen es unverfroren, sich durch Steuergelder »retten« zu lassen und schaffen im Gegenzug die Demokratien ab, um sie durch Finanztechnokratien zu ersetzen. Statt sich dieser Klasse zu entledigen, regt sich der Bürger im Lande über die »faulen Griechen« auf, aus deren Land die Soldateska Hitlers ganz ohne Kriegserklärung noch unlängst alles herausholte, was sich transportieren ließ. Nach dem Krieg wird das Land mit deutschen Waren, allen voran militärischen Rüstungexporten geflutet, das Geld landet im Wesentlichen auf Konten der Klientel eines FDP-Clowns Rösler, der explizit sagt: »Unsere Geduld mit Griechenland neigt sich deutlich dem Ende zu.« Warum neigt sich unsere Geduld mit diesem System nicht dem Ende zu? Geht es nach den Schlagzeilen der letzten Wochen, ist dieses kleine Land verantwortlich für die »Euro-Krise«! Ein gigantischer Fake – Chapeau! Bereits das Wort »Krise« verschleiert, für wen es eigentlich kritisch geworden ist. Millionen obdachloser und verarmter Amerikaner wissen es, selbst wir Deutschen ahnen es allmählich, aber die allgemeine Angst vor dem längst fälligen »sapere aude!« ist eben dort am hartnäckigsten, wo es noch was zu verlieren gibt. In den Wohlstandszentren. Noch steht die Fake-Festung der falschen Autoritäten, auch wenn sie spürbar bröckelt und wir immer mehr Funktionsträger von hinten sehen. Ausländerhass? Faken wir einen »Integrationsgipfel«! Volksbegehren? Machen wir einen »Stresstest«! Beitragserhöhung? Unsinn: »Zusatzbeitrag«. Krieg? – »Robuster Einsatz«. Gilles Deleuze zufolge ist der Betrachter konstitutiver Faktor des Trugbilds. Noch funktioniert das Konzept von »Brot und Spiele«, auch wenn es mit Müller-Brot und Dschungelcamp bereits an die Grenzen des satirisch Darstellbaren geht. Dabei lässt es sich vortrefflich und selbstbestimmt zurückfaken: Die New Yorker NetzkunstGruppe »Yes men« gibt sich als Repräsentant internationaler Konzerne aus und karikiert sie öffentlich, »Adbusters« verfremden Werbung im öffentlichen Raum. Ich selbst mache mir den Spaß, bei meinem Kabarett-Solo aus frei zugänglichen Steuersünder-CDs vorzulesen. Wenn sich dieser Tage weltweit Menschen unterschiedlichster Couleur im öffentlichen Raum versammeln, werden sie noch spöttisch belächelt. Doch: Wenn wir uns klaglos die Infantilität der RTL-World zugestehen, warum dann nicht auch den infantilen Glauben an uns selbst als politischer Souverän? Der zivile Aufbruch in Tunis, am Tahrirplatz, von der Puerta de Sol bis zum Syntagma-Platz, von der Wall Street bis zum Rothschild-Boulevard, vom Moskauer Bolotnaja-Platz bis Gorleben ist bereits mehr als nur eine Utopie: sondern exakt die soziale Plastik, die Joseph Beuys vorschwebte. Sein radikales »Jeder Mensch ist ein Künstler« ist die längst fällige Korrektur eines genie-geilen, aber sozial-dementen Kunstbetriebes. Kopieren Sie diese Zeilen skrupellos, ich pfeife auf das Urheberrecht, schließlich versteht sich von selbst, dass ich diesen Text nicht selbst geschrieben habe, sondern Freiherr KT von und zu G. || Ecco Meineke Der Kabarettist, Autor und Musiker (alias Ecco DiLorenzo) lebt in München und erhielt für sein Wirken nach eigener Aussage zahlreiche Preise (Grimmel-Preisträger 2010, Deutsches Kabarettbeil 2011, Törner Prize der Tate Gagallery 2012). Sein aktuelles Kabarettsolo »Fake« spielt er wieder am 29. März im Schlachthof. Jetzt abonnieren! Mail an: info@muenchner-feuilleton.de spot Seite 02 · märz · Münchner feuilleton Im Zickzack durchs System Sabine Leucht »Es gibt keine grünen Haare!« war der erste, »Das Kind widerspricht!« der zweite markante Satz, der uns aus einer Institution entgegenschallte, an die sich nicht jeder leicht gewöhnt. Es war in München, es war das Jahr 1998, und »das Kind« kam frisch aus einem Berliner Kinderladen, wo Erwachsene bunte Mähnen und auch Kinder eine Meinung haben durften. Nun jedoch war es seiner ersten Lehrerin begegnet und im Kopf seiner Eltern leuchtete ein Lämpchen auf: »Hilfe! Gleichschaltung!« Oder, wie Freunde von uns zu sagen pflegen: »Alles, was oben und unten raussteht, wird fortan abgeschnitten!« »Das Kind«, das statt grüner Haare bald Standardhäuschen samt BaumWolke-Sonne zu zeichnen lernte, hat seine sehr eigenen Ansichten zu fast jedem Thema behalten. – Und sogar seinen Spaß am Lernen. Nun steckt es in einem Doppelstudium, bestehend aus einem arbeitsmarktkompatiblen (stromlinienförmigen?) Teil und einem Teil Denk- und Lebensschule. Und mir als Mutter fällt es wirklich schwer zu sagen, über welchen ich mich mehr freue. Ist also alles halb so wild in der viel gerüffelten deutschen Bildungslandschaft? Jammert, wer sich beklagt, auf hohem Niveau? Ja, wenn er zu den gebildeteren Deutschen gehört. Denn – so habe ich kürzlich gelesen – wer zu Hause »mehr als zwei Bücherregale« hat, dessen Nachkommen werden wahrscheinlich in der Schule Erfolg haben. Bleibt die Frage, ob hier zwei Über-Eck-Kombinationen oder zwei Baumarktbretter gemeint sind. Und ob es egal ist, welche Druckerzeug- Ein Bildungskommentar aus Elternsicht. nisse darauf verstauben. Denn weil die Ökonomen steif und fest behaupten, dass es sich lohnt, will man zwar unbedingt, aber nicht zu viel in die Bildung investieren. Da geht es uns Eltern ähnlich wie der Politik, die in den letzten Jahren aus der nämlichen Zwickmühle heraus allerlei bewegt hat. So gibt es mittlerweile in den weiterführenden Schulen Münchens etliche Maßnahmen, die den Übergang zwischen den Schularten geschmeidiger machen sollen (Stichwort »Gelenkklassenkonzept«), Förderstunden für Schüler mit Schwächen in Deutsch und/oder Migrationshintergrund, »Talentklassen« und Intensivierungsstunden. Streitschlichter, Schul-Sozialarbeiter sowie Projekttage zum Thema Mobbing sind inzwischen fast selbstverständlich. Das klingt alles gut, ist aber auch bitter nötig, weil seit Einführung des achtjährigen Gymnasiums (G8) das Lerntempo angezogen und zugleich der Run auf diese Schulform zugenommen hat. Diese schizophrene Situation macht aus der Humboldtschen Leitinstitution faktisch eine Art (Elite-)Gesamtschule, die jedoch erst sehr zögerlich bereit ist, von deren Erfahrungen zu lernen. (Siehe auch: »Eine Schule lernt dazu«, Die Zeit, 16.2.2012, Seite 81–83. Warum eigentlich? Was hindert die einzelnen Akteure daran, den Weg zur »Schule für alle« einfach weiterzu- gehen, deren Konturen Anne Klein und Rainer Domisch in ihrem Buch skizzieren? (Siehe nebenstehenden Artikel.) Warum wird stattdessen immer weiter an einem System herumgedoktert, das darauf angelegt ist, unsere Kinder in Gewinner und Verlierer zu sortieren? Und das alle, die daran beteiligt sind, zu lächerlichen Figuren macht? Eltern, die für die Referate ihrer Erstklässler Powerpoint-Präsentationen entwerfen oder die Facharbeit ihrer Abiturienten schon in der Schublade haben, sind keine Einzelfälle. Kinder, die Schulaufgaben fälschen, Eltern, die Lehrern mit Anwälten drohen, und Lehrer, die schon mit dem Rücken zur Wand stehen, wenn man sie nur anspricht. Einiges davon schildert Sabine Czerny in »Was wir unseren Kindern in der Schule antun«. Die bayerische Lehrerin wurde strafversetzt, weil sie sich auch um die vermeintlich »dummen« Kinder so lange kümmerte, bis sie gute Noten hatten – und bekam später einen Preis für Zivilcourage. Schwer zu sagen, was absurder ist. Wer eigentlich profitiert von einem System, das Bildungsversager produziert? Wie passen Erkenntnisse von Bildungsökonomen wie Ludger Wössmann (»Spätere Aufteilung verbessert die Chancen von benachteiligten Kindern, ohne dass das allgemeine Leistungsniveau leidet.«) zu den nach wie vor riesigen Vorbehalten einer Praxis gegenüber, die fast weltweit üblich ist? Der Grundgedanke der meisten Eltern ist einfach: Keine Experimente! Nicht mit unserem Kind, das nur diese eine Chance auf eine gute Zukunft hat! Daher wechseln Kreuzberger Linke hastig ihren offiziellen Wohnsitz, sobald der erste Spross in die Sprengelschule mit 80 Prozent Ausländeranteil kommen soll. Daher ertappen sich umgekehrt Eltern bei dem Gedanken, ob ihre Jüngste nicht auf einer Grundschule mit niedrigerem Leistungsniveau bessere Chancen hätte, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen. 2,3 ist der Schnitt in den Kernfächern, den ein Kind in Bayern dafür erreichen muss. Sehr oft unter enormem Stress, in dem nichts als die Noten zählen. Und die Grundschullehrer (siehe Czerny) müssen immer die gesamte Bandbreite vergeben: von 1 bis 6. Pate steht hier nicht die Idee der permanenten Erweiterung des Wissens und Könnens (und schon gar nicht die Freude daran), sondern die glockenförmige Gaußsche Kurve. Klaus Wenzel, Präsident des Deutschen Lehrer- und LehrerinnenVerbandes (BLLV), hat sich erst im Februar wieder zum Unsinn der Notengebung geäußert, die Objektivität vorgaukelt, aber weniger über die Leistung eines Kindes aussagt als über sein Können im Vergleich zu dem der Klassenkameraden. (»Noten sind ungerecht und subjektiv«, SZ vom 17.2.12, S. R 15) Wer das für sein Kind nicht will, schickt es auf eine Privatschule, die nicht nur in München bei sinkenden absoluten Schülerzahlen stetige Zuwächse verzeichnen: zu den Waldörflern, wenn die Weltanschauung passt – oder in eine Montessorischule. Wir haben es einmal aus Verzweiflung über einen schlagartig demotivierten Erstklässler und einmal aus dem Wissen heraus getan, dass unser Kind eines ist, das oben und unten »raussteht«. Dort, wo nicht alle zur gleichen Zeit das gleiche machen, wo Schüler klassenübergreifend und voneinander lernen, kann Unter- und Überforderung vermieden werden und jedes Kind nach »seinem inneren Bauplan« wachsen. Soweit die Theorie. Doch: Achtung! Das RundumSorglos-Paket für Eltern gibt es nicht. Und Schlagworte wie »Wertschätzung«, »nachhaltiges« oder »erfahrungsorientiertes Lernen« sind weit schneller ausgesprochen als mit Inhalt gefüllt. Daher steht und fällt der Erfolg jeder Schulform mit den Lehrern, von denen es – in jeder Schulform – wunderbar empathische und engagierte gibt und andere, die offenbar nur der Verlockung der Unkündbarkeit nachgegeben haben. Und: Diese Lehrer sind wie die meisten von uns Produkte eines defizitorientierten, vergleichenden, pseudoobjektiven Schulsystems und auch in einer »Schule für alle« noch da. || Die Autorin (Jahrgang 1966) ist Journalistin und Theaterkritikerin in München und hat als Mutter von vier Kindern im Alter von 4 bis 19 Jahren Eltern- und Elternbeirats-Erfahrung mit zwei städtischen Grundschulen, einer privaten Montessorischule und einem staatlichen Gymnasium. Anzeige Ihr Eigentum verpflichtet. Uns. Seit mehr als 75 Jahren ist die Verwaltung von Immobilien unsere Kompetenz und Passion. Wir betreuen über 8000 Wohnungen und gewerbliche Einheiten in München, Bayern und Berlin. Besonderen Wert legen wir auf die nachhaltige und erfolgsorientierte Bewirtschaftung. 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Damit gemeint sind Hauptschule, Realschule, Gymnasium; hinzu kommen – was vielfach »vergessen« wird – berufsbildende Schulen. Zudem verfügt Deutschland wie kaum ein anderes Land über ein extrem ausdifferenziertes Sonder- und Förderschulwesen mit sieben Förderschwerpunkten. Insbesondere die Haupt- und Sonderschüler, ganz zu schweigen von den Schulabbrechern, haben kaum eine Zukunft auf dem Arbeitsmarkt – und dies, obwohl ihre Lehrer über ein spezifisches Förderwissen verfügen und ihnen zu ungeahnten Lernerfolgen verhelfen. Die professionellen Bemühungen stoßen sozusagen an die Grenzen des Systems. Als Haupt- oder Sonderschüler steht man einfach nicht gut da, daran ändert auch ein guter Lehrer nichts. Im Bildungsgesamtplan von 1973 gab es Empfehlungen für die Sekundarstufe I und II, die politisch brisant waren: Die Gesamtschulen sollten als Schulversuche eingeführt werden. Eine Verzahnung der gymnasialen Bildung mit der beruflichen Bildung wurde empfohlen und sogar die Doppelqualifikation von Hochschulreife und beruflichem Abschluss erwogen. Diese Reformansätze sind in Deutschland irgendwie stecken geblieben. Was als Chancengleichheit und Anerkennung von Verschiedenheit angedacht war, wurde von wertkonservativer Seite als »Gleichmacherei« abgestempelt und war damit vom Tisch. Bis 1989 fiel die Ungleichheit nicht weiter auf, aber mit der seit Beginn des 21. Jahrhunderts rasant zunehmenden neoliberalen Deregulierung von Kapital und Arbeit und dem Abbau des Wohlfahrtsstaa- tes zeichnet sich auch in Westeuropa das Auseinanderdriften der Gesellschaft ab in das, was man bezeichnen kann als »großer Reichtum, große Armut« (Ulrich Beck/ Angelika Poferl 2010). Anstatt die heterogene Bevölkerung in ihrem Alltag zusammenzubringen und den Reichtum der verschiedenen Fähigkeiten, Talente und Tätigkeiten zu würdigen, findet durch das Schulsystem bereits mit 10 Jahren ein Festschreibungsprozess statt, der spätere Entwicklungspotentiale weitestgehend außer Acht lässt und die Herabgestuften verantwortlich macht für ihr angebliches »Zurückbleiben«. So wird stillschweigend strukturell das Menschenrecht auf Bildung verletzt in einem Bereich, wo gerade Verantwortungsübernahme notwendig wäre, um Ausgleich, Teilhabe und Zufriedenheit einer Gesellschaft sicherzustellen. Ein Schulsystem, das Kinder früh in Schubladen steckt, ohne die verschiedenen Fähigkeiten zu würdigen, zieht die Gräben in unserer heterogenen Gesellschaft noch tiefer. Anne Klein und Rainer Domisch zeigen in ihrem Buch realisierbare Wege zu fundierter Bildung für alle – jenseits politischer Grabenkämpfe. »interkulturellen Studien« und zur »Pädagogik der Vielfalt«. Auch neue Lehrmethoden wie Team-Teaching oder »Lernen durch Lehren« kamen verstärkt zum Einsatz, ebenso wie Schülerräte und -parlamente etabliert wurden, um die demokratische Mitgestaltung sicherzustellen. Spätestens nach den ersten PISAErgebnissen expandierte auch die Bildungsforschung. Doch trotz vieler guter Bemühungen und Entwicklungen blieb strukturell weiterhin alles beim Alten. Es drängt sich die Frage auf: Warum sind im politischen Bereich die Beharrungskräfte so groß? »Niemand wird zurückgelassen. Eine Schule für alle« lautet der Titel unseres Buches, das auf der Grundlage der durch Rainer Domisch vermittelten finnischen Erfahrung einen kritisch-reflexiven, aber vor allem machbaren Transfer in den deutschen Bildungskontext vorschlägt. In Finnland hat man verstanden, dass in einer Wissensgesellschaft Bildung und Wissen nicht an Prüfungen und Benotungen geknüpft sind, sondern sich beweisen in der Erfindung neuen Wissens, in den Bereichen von Emotion, Beziehung, Kommunikation, in Kenntnissen der Ethik, Zivilcourage und Verantwortungsübernahme, in politischer (Selbst-)Aufgeklärtheit und in der Verknüpfung von Wissenschaft und Alltag. Gute und sehr gute Lehrer und gute und sehr gute Schüler allein können wenig ausrichten gegen eine strukturell verankerte Bildungsdiskriminierung. Dieser Begriff kam nicht erst mit PISA in Mode, sondern wurde als deutschlandtypisches Phänomen bereits in den 1990erJahren festgestellt. Die Sozialwissenschaftler Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke hatten gezeigt, wie die notwendigen Selektionsentscheidungen an den drei zentralen Übergangsschwellen (Einschulung, Überweisung auf die Sonderschule für Lernbehinderte, Übertritt in die Sekundarstufe I) insbesondere Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund aussonderten. Dieses Ergebnis öffnete den Weg für einen Mentalitätswechsel weg von der »Ausländerpädagogik« hin zu den Dass es sich bei der Bildung um ein parteipolitisch besetztes Thema handelt, mag vordergründig als Erklärung plausibel sein. Dies wird zwar selten so offen gesagt, denn es ist ja auch wenig überzeugend, wenn weltanschauliche Prinzipien vorgeschoben werden, um gleichberechtigte Teilhabe zu verhindern. In Finnland wundert man sich ohnehin nur über solche Denkmuster, ebenso wie über den Gedanken, dass es angeblich – entsprechend der Schulstufen – drei Grundsorten von Begabungen geben soll. Derartig grobschlächtige Einteilungen hält man, schlicht gesagt, für absurd angesichts der Vielfalt menschlicher Potentiale. Ein dreigliedriges Schulsystem erinnert dort eher an das Dreiklassenwahlrecht des 19. Jahrhunderts, das in Deutschland immerhin in der Weimarer Republik abgeschafft wurde. Einen ähnlichen »Demokratisierungsschub« wünscht man heute – fast 100 Jahre später – dem Bildungswesen. Niemand wird zurückgelassen. Eine Schule für alle Anne Klein, Rainer Domisch Hanser, 2012 | 240 Seiten | 16,90 Euro Dieser wird nun möglicherweise ausgelöst durch die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die 2007 auch von Deutschland unterzeichnet wurde und nach der Ratifizierung ab Ende März 2009 nun umgesetzt werden muss. »Inklusion« geht von der Unteilbarkeit der Menschenrechte aus, räumt mit stigmatisierenden Behinderungsdefinitionen auf und erweitert das Spektrum menschlicher Möglichkeiten durch gemeinsames Voneinander-Lernen. Eine Gesellschaft, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, die in ihr leben, ist darum bemüht, Faktoren abzuschaffen, die den Einzelnen in seinem Selbstausdruck und seiner Partizipation »behindern«, und Zufriedenheit für alle zu fördern. In seinem Buch »Wie die Kultur zum Bauern kommt« fordert Pierre Bourdieu, dass der Schule faktisch und von Rechts wegen die Funktion zukommt, »unterschiedslos allen Mitgliedern der Gesellschaft die Befähigung zu den kulturellen Praktiken zu geben, die der Gesellschaft als die nobelsten gelten«. Bildung, Schule, Kultur, Lernen, Wissen bedürfen einer Struktur, deren Gestaltung uns mit der wichtigen Frage konfrontiert: In welcher Gesellschaft wollen wir zukünftig leben? || *(Anm. der Red.: Rainer Domisch ist im August 2011 verstorben.) Anne Klein ist Pädagogin, Historikerin und Politikwissenschaftlerin (Dr. phil.). Sie lehrt und forscht an der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildungsphilosophie, europäische Erinnerungskultur, interkulturelle/inklusive Pädagogik, politische Systeme, innovative Lehrund Lernformen. literatur Seite 04 · märz · Münchner feuilleton Schnellimbiss und Sterneküche Das Münchner Krimifestival feiert sein Zehnjähriges. Und widerlegt Vorurteile, dass es ein Forum für flache Mainstreamliteratur sei. Günter Keil Angela Merkel ist »Mutti«. Die Industrielobbyisten, Parteitaktiker und Bankmanager in Horst Eckerts aktuellem Polit-Thriller »Schwarzer Schwan« lästern hämisch über die Kanzlerin und verfolgen skrupellos ihre eigenen Interessen. Lebendige Demokratie? Unabhängige Volksvertreter? Alles Quatsch. Eckert desillusioniert – auf höchst unterhaltsame Weise. Auf dem zehnten Krimifestival, zwischen US-Bestsellerautoren und bayerischen Krimi-Komödianten, stellt der Düsseldorfer Autor eine Klasse für sich dar. Eckert, dessen Romane beim Dortmunder Krimiverlag Grafit erscheinen, steht für gerad linige Bücher mit aktueller politischer Relevanz. Er brilliert zwar nicht als Edelfeder, überzeugt jedoch als hervorragender Rechercheur und Tempomacher. Dass ein Autor wie Eckert seinen Weg ins Festivalprogramm findet, ist kein Zufall. »Wir versuchen, alle Facetten des Genres abzubilden«, sagt Sabine Thomas, die mit ihrem Partner An dreas Hoh das Festival leitet. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Besucherzahlen auf 12.000 vervierfacht. Der artig viele Leser lockt man nicht allein mit Regionalkrimis, Agententhrillern oder klassischer Detektiv-Literatur. Das Publikum ist ebenso vielschichtig wie das Programm vielfältig. Der mögliche erste Eindruck, dass vor allem Mainstream-Titel von Großverlagen das Festival prägen, täuscht. Auch die neuen Romane der amerikanischen Auflagenmillionäre Jeffery Deaver und Tess Gerritsen sind kein Ramsch. Sie zeigen, wie perfekte Spannungsliteratur für eine breite Masse aussehen kann: Wie ein sorgfältig zubereiteter, leicht konsumierbarer Schnell imbiss, ganz ohne faden Beigeschmack. Und auf sprachlich höherem Niveau als Charlotte Roche. Eher der Sterneküche zuzurechnen sind die Münchner Vorzeige schreiber Friedrich Ani und Georg M. Oswald sowie Oliver Bottini (Berlin) und Andrea Maria Schenkel (Regensburg). Letztere stand 2006 zum ersten Mal als Autorin auf einer Bühne. Anlass: das Münchner Krimifestival. »Kriminalromane hatten damals in der öffentlichen Wahrnehmung gerade erst begonnen, ihr Schmuddelimage abzulegen. Von da an ging es bergauf«, erinnert sich Sabine Thomas. Sechs Jahre später hat Andrea Maria Schenkel mehr als eine Million Exemplare ihres Debüts »Tannöd« verkauft. Mit ihrem neuen Krimi »Finsterau« eröffnet sie nun das Jubiläumsfestival im Literaturhaus. Zu den weiteren Spielstätten zählen der Justizpalast, eine Großraumzelle des Polizeipräsidiums, der Hörsaal der Rechts medizin und ein Bestattungsinstitut. Wie in den vergangenen Jahren werden nahezu alle der knapp 100 Veranstaltungen ausverkauft sein – viele bereits im Vorverkauf. »Wir wachsen, weil der Markt wächst. Geplant war diese Expansion nie«, sagt Andreas Hoh. »Es ist nicht nur der Output, der gewachsen ist, sondern auch die Qualität«, ergänzt Sabine Thomas und räumt auf Nachfrage ein, dass es bei der Masse an Neuerscheinungen »selbstverständlich Licht und Schatten« gebe. Den Veranstaltern nützt, dass viele Verlage das Genre inzwischen ernster nehmen als vor zehn Jahren. Was bedeutet: Sie möchten Teil des Programms sein, investieren mehr Geld ins Marketing, lassen auch ausländische Autoren einfliegen. Zumindest die großen Häuser leisten sich das gerne und leicht: Val McDermid, Liza Marklund, Arne Dahl, Eoin Colfer, Peter James, Gianfranco Carofiglio und viele andere internationale Bestsellerautoren kommen nach München. Sabine Thomas stellt jedoch klar: »Das Kriterium Werbeschwerpunkt interessiert uns nicht. Wir nehmen nur, was zu uns und unserem Publikum passt. Und das gilt eben nicht immer für einen Großteil der Stapelware in Bahnhofs- und Flughafenbuchhandlungen.« Kleine Verlage haben es nicht leicht, ins Programm der großen Namen und großen Säle zu schlüpfen. Oft kommt eine Lesung nur zustande, weil sich Kulturinstitute, Buchhandlungen und Das Buch Schenkel Andrea Maria Schenkel bleibt sich treu. In einem schmalen Buch klärt sie den Leser auf ihre besondere Art erneut über die Wahrheit des Verbrechens auf. Finsterau Andrea Maria Schenkel Hoffmann und Campe, 2012 | 144 Seiten | Euro 16,99 Bernhard Keller Krimifestival Andrea Maria Schenkel liest an zwei Abenden aus »Finsterau« Literaturhaus | Salvatorplatz 1 | es liest auch Josef Wilfling aus »Unheil« | 12. März | 20.00 | Eintritt 10/8 Euro Volkstheater | Brienner Straße 50 | 12. Mai | 20.00 | Eintritt 12 Euro| Informationen und Karten unter www.krimifestival-muenchen.de Die Bibel, das ist der Kriminalroman schlechthin. Manch guter Krimiautor schreibt das Buch der Bücher, nein, den Krimi der Krimis weiter. Aber kaum einer mit dieser archaischen Wucht wie Andrea Maria Schenkel. 2006 begann das Buch Schenkel mit dem überraschenden Riesenerfolg »Tannöd«. Jetzt, in ihrem vierten Roman »Finsterau«, der in einem Dorf im Bayerischen Wald spielt, läuft die Erzählerin Schenkel zu neuer Höchstform auf. Kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs findet dort ein Doppelmord statt. Afra und ihr unehelicher Sohn Alfred werden erschlagen aufgefunden. Afra ist die späte Tochter des Streckenarbeiters Johann Zauner und seiner Frau Theres. Das Verhältnis der schönen Afra zu ihrem Vater ist gespannt. Dem strenggläubigen Mann ist das Flirten seiner Tochter mit den Burschen der Nachbarschaft ebenso ein Dorn im Auge wie ihr Eigensinn, den keine Tracht Prügel ihr austreiben kann. Dann lässt sie sich auch noch von einem Franzosen ein Kind machen, die Veranstalter an den Kosten beteiligen. Oder weil zeitnah Lesungen in anderen Städten stattfinden, eine Anreise sich also auf mehrere Schultern verteilen lässt. Umso erfreulicher, dass in diesem Jahr der kleine und literarisch sehr feine Münchner Verlag Liebeskind mit US-Schriftsteller James Sallis (»Der Killer stirbt«) vertreten ist. Der eigenwillige Walde & Graf Verlag aus Zürich schickt Jávier Márquez Sanchez mit »Das Fest des Monsieur Orphee« aufs Podest. Und auch der mehrfach ausgezeichnete Jan Costin Wagner, unabhängig verlegt von Galiani Berlin, nimmt teil. Sein neuer Krimi »Das Licht in einem dunklen Haus« spielt wieder in Finnland, wird wieder lakonisch erzählt und ist wieder einzigartig. Wagner zählt, wie Sallis, zur Sterneküche. Für einen gelungenen Festivalabend sind Entertainerquali täten bisweilen wichtiger als hochwertige Prosa. Wer etwa die Lesung von Harry Kämmerer besucht, wird mit einer Mischung aus Krimi, Kleinkunst und Comedy konfrontiert. Kämmerer, der nach seinem furiosen Erstling »Isartod« pünktlich zum Festival seinen neuen Roman »Die schöne Münchnerin« veröffentlicht, schreibt knackig, kurz und knapp. Seine Protagonisten heißen Hummel, Dosi, Zankl und Mader und reden entsprechend. Das ist schräg, oft lustig und manchmal nervig, aber zweifellos eine zeitgemäße, spannende Weiterentwicklung des Genres. Vor allem live, wenn Kämmerer von zwei Musikern begleitet wird. Wer bisher davon ausgegangen ist, dass Lesungen stets von blasiert-akademischer Attitüde geprägt sein müssen, wird an diesem Abend vom Gegenteil überzeugt werden. Auch das ist also möglich, zwischen Schnellimbiss und Sterneküche, in einem gut besuchten Wirtshaus, dessen Fleisch meist blutig serviert wird und hinter dessen Tresen gelegentlich »Mutti« steht. || Programminformationen und Vorverkauf unter www.krimifestival-muenchen.de was Johann endgültig zur Raserei bringt. So gibt es niemanden im Dorf, weder Polizei noch Staatsanwalt, die daran zweifeln, dass Afras Mörder nur ihr eigener Vater sein kann. Auch Johann selbst scheint nicht daran zu zweifeln. Er gesteht, was er nicht getan hat, oder nimmt die Gelegenheit wahr, Jesus gemäß dem Bibelwort des Lukas nachzufolgen: »Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme Tag für Tag sein Kreuz auf sich und folge mir nach.« An diesen erlösenden Gedanken klammert sich Johann in seiner Gefängniszelle, aber damit beginnt auch sein geistiger Absturz. Am Ende landet er, dessen Gedächtnis ihn obendrein schon länger im Stich gelassen hat, im Irrenhaus. Ein weiterer von vielen starken Einfällen der Autorin ist die Sache mit der Tatwaffe. Es ist eine kleine Hacke, die Afra den Garaus macht, just jene Hacke, die sie kurz vor dem Mord in den Brennnesseln findet, wo sie ihr Vater liegengelassen hatte. Aus Angst vor einem neuerlichen Wutanfall des Vaters schafft sie die Hacke ins Haus – so verkehrt sich guter Wille zum Handlanger der mörderischen Absicht. Wie schon in »Tannöd« und »Kalteis« gibt es reichlich Perspektivwechsel, der ebenso rhythmisch gemanagt wird, wie die Menge der auftretenden Figuren niemals Überflüssiges generiert. Ein hartes, nacktes Präsens zwingt uns, den Doppelmord in größter Nähe mitzuerleben. Dagegen wirkt das Imperfekt aller anderen Figuren geradezu gütig, schafft Distanz, die das Grauen zu betrachten erst erträglich macht. Falsch wäre es zu glauben, die Kraft dieser Geschichte verdanke sich ihrer zeitlichen und räumlichen Verortung oder der dezenten bajuwarischen Sprachfärbung. Alles nur ein Trick, die Gegenwart der Handlung umso eindringlicher entstehen zu lassen, umso weniger sie – scheinbar – mit unserer eigenen Gegenwart zu tun hat. Nicht zu vergessen: Der wahre Mörder wird nach achtzehn Jahren gefunden und seiner Strafe zugeführt. Aber das ist fast nebensächlich. Wen interessiert schon Gerechtigkeit? Ihretwegen wurden Bibel und Kriminalroman sicher nicht so erfolgreich. || literatur Münchner feuilleton · märz · Seite 05 Aussteigen verboten Harte Kerle, kühle Ästhetik. Mit »Im Visier« ist Jacques Tardi ein rabenschwarzer, mitreißender Graphic-Novel-Thriller im Stil der 70er-Jahre gelungen. Cornelia Fiedler Hätte Martin Terrier jemals einen Agententhriller gelesen oder ab und an mal einen »film noir« gesehen, dann wüsste er, dass sein Vorhaben so gut wie aussichtslos ist. Ihm wäre klar, dass die kalte Trostlosigkeit, die schon den Beginn der Graphic Novel »Im Visier« umweht, am Ende eine neue Dimension erreicht haben wird. Doch Terrier ist kein intellektueller Profikiller, nur einer der besten. Und er will aussteigen. Den berüchtigten letzten Job lehnt er ab, doch erwartungsgemäß wird sein Auftraggeber, die CIA, Wege finden, ihn zu zwingen. Jean-Patrick Manchette, der das Genre des »roman noir« entscheidend mitgeprägt hat, verfasste »Im Visier« 1977 nebenher, als Stilübung. Man merkt, dass er Spaß daran hatte, so viele Thriller-Klischees wie möglich zu bedienen: harte Kerle mit fast schon peinlich bürgerlichen Träumen, derbe Situationskomik, blut- und schweißtriefende Kampfszenen, brutale Morde und kein Sympathieträger weit und breit. Tardi übersetzt das in eine charmante Kombination aus krawalliger Action inklusive »Bang«, »Aaaaah«, »Tack, Tack, Tack« und »Mhmff…« und einem ästhetisierten 70erJahre-Look – vor allem was die Autos, angeführt vom Citroën DS, betrifft. »Im Visier« zieht den Leser tief in das Geschehen hinein und entlässt einen erst, wenn es nichts mehr zu sagen gibt – gerädert, wie nach einem guten Actionfilm. || Copyright: Edition Moderne Die Romanvorlage zu Terriers Kampf um ein bisschen privates Glück stammt von dem 1995 verstorbenen Krimiautor und Journalisten Jean-Patrick Manchette. Die Bilder liefert nun der unter anderem für seine »Adèle«-Reihe bekannte französische Comic-Altmeister Jacques Tardi: schwacher Laternenschein auf regennassem Kopfsteinpflaster, ein kantiges Gesicht, das zur Hälfte im Dunkel der Nacht verschwindet, halbleere Whiskygläser, rauchende Colts, schöne nackte Frauen mit müdem Blick. Die Tableaus sind oft mehr schwarz als weiß, die Linien klar, schwungvoll, nie verwaschen, immer hart kontrastiert. Tardi bleibt in den Dialogen dicht, fast intim nah an Gesichtern und Händen, erlaubt nur zwischen den Szenen einen Überblick im Breitwand-Format. Das sind die schönen, ruhigen Momente beim Lesen, wenn das Auge ein paar Sekunden über Pariser Straßenzüge mit ihren Leuchtreklamen oder durch ein nur vorläufig idyllisches Landschaftspanorama wandern darf. Doch gleich springt der Blick weiter, der Ex-Fremdenlegionär Terrier wird vom Jäger zum Gejagten und wieder zum Jäger. Er versucht seine Jugendliebe zurückzuerobern; skrupellose Gangster wollen Rache für einen seiner Morde; die CIA verlangt mit einschüchternder Deutlichkeit die Erledigung eines heiklen, idealerweise für beide Seiten tödlichen Auftrags. Die Heldenreise führt immer näher an den Abgrund, Terrier zeigt zunehmend Auflösungserscheinungen. Im Visier. Graphic Novel Jacques Tardi, Jean-Patrick Manchette Edition Moderne, 2011 | 106 Seiten | 24 Euro Krieg in den Köpfen Günter Keil Er hätte es sich leicht machen können. Doch Oliver Bottini wählte den schwierigen Weg und schrieb keine weitere Folge seiner preisgekrönten Krimiserie um die Freiburger Kommissarin Louise Bonì. Stattdessen verfasste er einen Roman mit einer komplexen, brisanten Thematik, die nicht gerade als massenkompatibel gilt und an der sich schon manche Autoren die Finger verbrannt haben: die Aufarbeitung der serbischkroatischen Kriegsverbrechen. Bottini macht daraus einen literarischen Thriller, der einem den Atem raubt. Über drei Handlungsstränge, die in der Gegenwart und zu Beginn der 90er-Jahre spielen, transportiert er die Suche nach Thomas Cavar, einem deutschen Kroaten. Dieser junge Mann soll im Krieg mehrere Serben ermordet haben, offiziell starb er 1995. Fünfzehn Jahre später tauchen in seiner früheren Heimat Rottweil zwei Männer auf. Sie streuen Zweifel an Cavars Tod, bedrohen Familienangehörige, setzen eine Scheune in Brand und verbreiten Angst in der scheinbar idyllischen ländlichen Gegend. Auf einmal ist der Krieg wieder in den Köpfen, der Frieden bedroht. Der Berliner Hauptkommissar Lorenz Adamek und die in Zagreb tätige Journalistin Yvonne Ahrens recherchieren in diesem Fall. Sie stoßen auf gerissene Polit-Lobbyisten, opportunistische Geheimdienstler und skrupellose Kriegsveteranen. Ihr Bild von Thomas Cavar wird schärfer: Er lebt, ist untergetaucht. Musste flüchten, war Täter und Opfer zugleich, ein Mann auf der Suche nach Heimat und Zugehörigkeit, seiner Unschuld beraubt durch nationalistische Verführer. Nun, 2010, ist er in akuter Lebensgefahr. Oliver Bottini lässt seine Leser bis kurz vor dem Schluss mit Cavar fiebern und auf seine Rettung hoffen. Der Autor zeigt erstaunlichen Mut, indem er auf ein Happy-End verzichtet. »Der kalte Traum« ist ein Polit-Thriller mit realem Hintergrund – ein mitreißender Roman mit der Informationsdichte eines Der kalte Traum Oliver Bottini Dumont, 2012 | 448 Seiten | 18,99 Euro Sachbuchs. Bottini beherrscht die Kunst, mit wenigen Worten kraftvolle Bilder und intensive Stimmungen zu erzeugen. Seine sprachliche Eleganz kommt nie hochnäsig und affektiert daher, sondern locker, wie aus dem Ärmel geschüttelt. Trotz der harten und komplexen Thematik gleitet Bottini entspannt durch den Plot, bisweilen gestattet er sich eine Prise Ironie. Seine Dialoge sind knapp und überzeugend. Über die sorgfältig gezeichneten Figuren, ihre Ecken und Kanten, führt Bottini zur großen Politik, zum grausamen Krieg. Und anhand seiner Geschichte wird klar: Hinter dem Leid auf den Schlachtfeldern und den Rachefeldzügen der Gegenwart stecken keine fremden Mächte oder abstrakte Verschwörungen, sondern Menschen. Nachbarn. Mitbürger. Das ist zwar schwer zu ertragen, aber Realität. Gut, dass es sich Oliver Bottini nicht leicht gemacht hat. || In »Der kalte Traum« zeigt Oliver Bottini, dass die Schatten der Jugoslawienkriege bis in die Gegenwart reichen und einen beeindruckenden Thrillerstoff abgeben. Krimifestival Oliver Bottini liest aus »Der kalte Traum« Café Ruffini | Orffstr. 22–24 | 19. März | 20.00 | Der Vorverkauf startet am 13. März | Informationen und Karten unter www.krimifestival-muenchen.de literatur Seite 06 · märz · Münchner feuilleton Christine Knödler Die gute Nachricht zuerst: Die drei ???, verkündet der Kosmos Verlag, ermitteln wieder. Weil’s in der Luft liegt, ist »Der Fußball-Teufel« los. Krimis leben von Spannung, klarer Rollen verteilung, Aktualität. Da macht es dann auch nichts, dass die Protagonisten, die erstmals in den Sechzigern ihre Spürnasen in den mäßig rauen Wind von Rocky Beach hielten, in die Jahre gekommen sind. Es genügt, dass die Jungs stoisch von ihrem Hauptquartier auf dem Schrottplatz aus, diesen aus der Welt schaffen. Seit letztem Herbst legt nun Benedikt Weber mit seiner Reihe »Ein Fall für die Schwarze Pfote« (Tulipan) nach und macht dabei Anleihen bei der nicht minder etablierten KinderErmittler-Gruppe TKKG, alias Tim, Karl, Klößchen und Gaby. Die jagen, unterstützt von Hund Oskar, seit 1979 Verbrecher und gelten (neben den drei ???) als kommerziell erfolgreichste Serie ihres Genres. Hier wie dort ist die Besetzung, gendertechnisch gesehen, fast korrekt. Charlotte von der Schwarzen Pfote ist nicht nur Mädchen, sondern besonders schlau, ein Schwergewicht gibt es auch, Fips, »der dickste Freund der Welt«, Oskar heißt Hugo, er mimt die »eiskalte Spürnase«. Auch diese kleine Bande ist am Ball, aktuell macht »Der Fußballskandal« Geschichte: Übles Foulspiel in mehrfacher Hinsicht (der Stürmer der gegnerischen Mannschaft wird mittels Pizza vergiftet), Schiedsrichter-Bestechung, eine Prise Mafia, ein Hauch Mobbing nebst Fremdenfeindlichkeit (der ausgeschaltete Spieler ist Schwarzafrikaner) sind die Zutaten, aus denen der Sumpf angerührt ist, den die Kinder bravourös auslöffeln. Wo ein Hänger in den Nachforschungen auftreten könnte, hilft Freund Zufall, sodass am Ende nur noch die Handschellen zuschnappen müssen. Falsche Fährte Ein Genre im Schongang: Der Kinder-Krimi setzt auf Serie und Oberfläche. Weniger wohlwollend könnte man als Motiv eine massive Leserunterschätzung unterstellen. Ist der Krimi für Kinder einer, der zwar vom Bösen in der Welt erzählen will, aber lieber doch nicht so richtig, weil über allem das Anliegen dräut – die vom Schrott befreite Welt? Siegt das Prinzip Schonung? Oder sind Allgemeinplätze dem Reihen-Prinzip geschuldet, damit zu viel Eigenleben nicht die Seriendramaturgie stört, und geht der Einzeltitel dann weiter? senen Familien, überforderten Eltern, einsamen Alten, einer kalten Gesellschaft in der Gluthitze des Sommers. Ganz abgesehen davon, dass der vermeintliche Clou (»Der Junge, der Gedanken lesen konnte«) dem Prinzip der Kombinationsgabe zuwiderläuft: Denn worin besteht die detektivische Kunst, wenn die Antworten in den jeweiligen Köpfen stehen? Weniger ist mehr Womöglich zieht der Jugend-Krimi andere Register. In diesem Falle: nein. Nur Schubladen, das zeigt zumindest eine Stichprobe aus der Reihe »dtv junior crime«. »Todesblüten« von Ulrike Rylance macht mangelnde Tiefe der Figuren über Schablonen wett, fehlende Raffinesse über Brutalität, wenn die erste Szene den Mord ausmalt, Claras Kumpel ein testosterongesteuerter, ewig Bier saufender Rüpel mit Erbsenhirn ist und der Mörder ein Psychopath, wenn die Idylle am Spreewald – natürlich! – trügt, dafür am Ende der Hauptverdächtige Claras neue Flamme wird, damit die Liebe siegt. Inhaltlich wie sprachlich wird kaum ein Klischee ausgelassen, das ist erst recht keine Lösung. Kirsten Boie hat mit ihrem neuesten Kinderbuch immerhin ein ungewöhnliches, fußballfreies Setting gewählt, ihr Krimi spielt auf dem Friedhof, wo die Schilinskys, weil sie sich die Schrebergarten-Parzelle nicht leisten können, ein Grab erstanden haben, um muntere Prinzip Schonung? Picknicks zu veranstalten. Die intensiven, klaKinderkrimis dieser Art kratzen an der Ober- ren Illustrationen von Regina Kehn fangen die fläche. Wohlmeinend könnte man dahinter Stimmung souverän und eigenwillig ein, auch eine Art Schonfrist vermuten, ein Erzählen, die Handlung ist deutlich komplexer, es gilt das weniger auf die berühmte Angstlust als diverse Überfälle (auf Juwelierläden, den vielmehr auf die Lust am Denksport setzt, wie Friedhofsgärtner und »Dicke Frau«, eine sie auch die diversen Geschichts-Rätsel- Obdachlose) zu klären. Und trotzdem: Wo Krimis bedienen, die nebenbei so etwas wie zuvor thematische Eindimensionalität und historisches Wissen vermitteln, wie etwa bei Vorhersehbarkeit bemängelt wurden, stört in Christa Holtei (dtv junior) oder Harald Parig- diesem Fall das Viel-zu-Viel. Wir haben es, ger (Arena). Oder wie sie die in Wort und Bild jenseits der üblichen Malaisen wie Habgier, dann doch erfrischend schräge Gegen-den- Skrupellosigkeit, Dumpfheit, unter anderem Strich-Reihe »Detektivbüro LasseMaja« von mit dem Tod eines Kindes und eines Bruders Martin Widmark einlöst. zu tun, mit Migrationshintergrund, mit zerris- Leben ist Fiktion Sylvia Rein Die Ereignisse sind schnell erzählt: Es geht um die 20-jährige Hedda im Schweden des Jahres 1938. Sie will weg vom konservativen Vater, der tabuisierenden Mutter, dem kranken Bruder. In Stockholm beginnt sie eine Ausbildung als Schneiderin exklusiver Mode, zeigt Talent, rauscht kopfüber in ein erotisches Abenteuer und landet rasch in einer Ehe mit Kindern. Aber das Ganze ist komplizierter, eine verschachtelte Roman-imRoman-Er zäh lung. Hedda ist nämlich die Hauptfigur eines Romans, dessen Autorin wie die echte heißt: Sigrid Combüchen. In dieser Rahmenerzählung schöpft die fiktive Schriftstellerin ihren Stoff aus dem Leben einer »echten« Hedda, der Schwedin Hedwig Langmark, die ihren Lebensabend in einem spanischen Rentneridyll verbringt. Nachdem Combüchen in einem Brief vorgibt, in Hedwigs Elternhaus zu wohnen, plaudert Hedwig in einem langjährigen Briefwechsel über ihr jetziges und damaliges Leben. Diese Erinnerungsbruchstücke, Fotos vom Trödel sowie Mit dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis, dem »August«, ausgezeichnet und nun auf Deutsch erschienen: Sigrid Combüchens Roman »Was übrig bleibt« wertet eine einfache Geschichte durch kunstvolles Erzählen auf. ihre Internetrecherchen über die Familie fügt die fiktive Combüchen zusammen und verändert sie. Sie erschafft ihre eigene Version von Hedda, schlüpft in die junge Frau hinein, spürt ihr Menstruationsblut, ihre Wut, ihre Lust. Das Ergebnis ist eine Mischung aus den Stimmen von Hedwig, Hedda und Combüchen (die nebenbei aus ihrem Schriftsteller alltag erzählt) – wer schreibt jetzt gerade? Das erhöht nicht nur die Spannung, durch die vielfache Brechung bekommt die relativ ein fache Hedda-Geschichte Tiefe. Anders als beim deutschen Titel schwingt im Originaltitel »Spill« so etwas wie Verschwendung oder Vergeudung mit. So gipfelt der Briefverkehr darin, dass Combüchen der Rentnerin zu verstehen gibt, dass sie ihr fremd bestimmtes Leben für verschwendet hält, weil Abstecher: Jugend-Krimi Zeitlos gut Auf die Frage, was den Krimi als Genre so beliebt mache, hat Henning Mankell einmal geantwortet, weil im Krimi die Gerechtigkeit widerfahre, die die Wirklichkeit so oft vorenthält. Dieser Effekt aber kann sich nur einstellen, wenn es um etwas geht. Darum: Lesen Sie Erich Kästners »Emil und die Detektive«, Astrid Lindgrens »Kalle Blomquist«, »Milo und die Jagd nach dem grünhaarigen Mädchen« des Münchner Autors Rudolf Herfurtner, die »Rico-und-Oskar-«Bände oder »Beschützer der Diebe« von Andreas Steinhöfel. Warum? Weil hier Geschichten erzählt werden, nicht um am Fließband Fälle zu lösen, sondern um des Erzählens willen. Weil etwas in die nicht immer heile Welt einbricht, das hinterher nicht einfach aus derselben geschafft und vergessen gemacht wird, womit zu leben aber gelernt werden kann. Weil etwas passiert, das ohne die Intelligenz der Kinder nicht zu lösen wäre, somit Spannung und Herausforderung geboten sind. Weil Autorinnen und Autoren in die Herzen und Hirne der Kinder geschlüpft sind und ihre Figuren wie ihre Leser ernst nehmen. »Ja, ja«, pflegt der wunderliche Alte, Gren, in Kalle Blomquists zweitem Fall zu sagen: »Der Kindheit glückliche, unschuldige Spiele. Ja, ja!« Es liest sich wie ein erzählerisches Credo, das der Kinder-Krimi (ein)lösen sollte. Aus unschuldigen Spielen, ließe sich übersetzen, wird bitterer, gar blutiger Ernst. Schuld spielt eine Rolle und ist kein Vorwand. Das Spiel meint auch das Spiel der Überführung, die Lust am »Kombiniere!«, das, fern von redseliger Beschönigung, gewinnt. Wenn am Ende Kindheit stabil genug ist, um Brüche auszuhalten. Mit weniger sollte man sich nicht zufrieden geben. || Ein Fall für die Schwarze Pfote. Der FuSSballskandal. Bd. 4. Benedikt Weber Mit Illustrationen von Zapf | Tulipan, 2012 | 144 Seiten | 10,95 Euro | Ab 8 Jahre Der Junge, der Gedanken lesen konnte. Ein Friedhofskrimi. Kirsten Boie Mit Illustrationen von Regina Kehn | Oetinger, 2012 | 320 Seiten | 14,95 Euro | Ab 10 Jahre Todesblüten Ulrike Rylance dtv pocket crime, 2012 | 224 Seiten | 6,95 Euro | Ab 14 Jahre WAS ÜBRIG BLEIBT. EIN DAMENROMAN Sigrid Combüchen Aus dem Schwedischen von Paul Berf | Verlag Antje Kunstmann, 2012 | 496 Seiten | 24,95 Euro sie ihre Talente brachliegen ließ. Hedwig bestreitet dies. Beide konstruieren, rekonstruieren, dekonstruieren. Und auch alle anderen Figuren tun ihr Bestes, um ein bestimmtes Bild der eigenen oder fremden Wirklichkeit vorzugeben. Autoreferentiell, selbstreflexiv, intertextuell – der Roman erklärt sich selbst, ja, er erklärt die Entstehung von Literatur und Film, die er immer wieder thematisiert. Eine Figur, die aus einem anderen Roman Combüchens hier hineingeraten ist, verrät dann auch den Schlüssel zum Untertitel: Der liberale, aber verheiratete Däne Georg Brandes, einer der wichtigsten europäischen Publizisten des 19. Jahrhunderts, schrieb 1887 an eine seiner vielen Geliebten, die Schriftstellerin Victoria Benedictsson (die ihn über alles liebte): Er hielte ihren neuen Roman über eine unglücklich verheiratete Frau, die sich letztlich doch für die Ehe entscheidet, für einen Damenroman und damit für schlecht. Ein Jahr später beging sie Selbstmord. Dass Combüchen Brandes Edikt zum Untertitel ihres Buches macht, ist mutig, denn die ironische Lesart erschließt sich erst im Lauf der Lektüre. Wer den Roman trotzdem zur Hand nimmt, wird von Combüchens Erzählkunst fasziniert sein. Oder ihn, wie ein schwedischer Blogger vorschlägt, Tante Inga schenken. || Lesung mit Sigrid Combüchen Moderation: Kristina Maidt-Zinke Literaturhaus | Salvatorplatz 1 | 20. März, 20.00 | Eintritt 9/7 Euro literatur Münchner feuilleton · märz · Seite 07 Die Möglichkeit, aller Ordnung zu entkommen Am 27. Februar stellte Michael Ondaatje seinen neuen Roman »The Cat’s Table« im Münchner Literaturhaus vor. Lyrik Duce Ins Klirren der Kirchen, Klingeln der Trams schaukelt der Körper vom Dach einer Tanke, plustert sich auf in der Hitze, ein stinkendes Pendel. Wir stehen dabei, Jahrzehnte zu spät, zeitlich verzogen unser Blick zur Traufe, und jetzt landen Möwen auf dem balzheißen Bau, ein Gurren, ein Flattern. Sven Hanuschek Der Körper kopfüber umtänzelt die Zwergin, Michael Ondaatjes jüngster Roman könnte ein wilder, exotischer Familienroman sein wie »Es liegt in der Familie« (1982). Drei Jungen, elf, zwölf Jahre alt, verbringen drei Wochen zusammen auf dem Passagierschiff »Oronsay«, Anfang der Fünfzigerjahre. Sie fahren von Colombo auf Sri Lanka, damals noch Ceylon, nach London, der zeitweilige Erzähler Michael wird dort von seiner Mutter erwartet. Auch seine beiden Freunde sind allein unterwegs. Zu den Mahlzeiten sitzen sie mit einer Reihe exzentrischer Fremder am »Katzentisch«, weit weg vom Tisch des Kapitäns: mit einem Schiffsabwracker in Rente, der die Endlichkeit des Schiffs technisch genau zeigen kann; mit einem Botaniker, der Rausch- und Giftpflanzen im Bauch des Schiffs transportiert; mit dem Musiker Mazappa, der den Tisch mit Zoten unterhält; mit Miss Lasqueti, die Tauben in ihrer wattierten Jacke auf Deck spazieren führt. In diesem Roman lässt Ondaatje sein Credo von »In der Haut eines Löwen« (1987) bis »Divisadero« (2007) aussprechen: dass die Außenseiter die Menschen sind, denen seine Aufmerksamkeit gilt. »Was interessant und wichtig ist, ereignet sich in der Regel im Verborgenen, an machtfernen Orten. Nichts von bleibendem Wert ereignet sich je am Tisch der Mächtigen, wo alt vertraute Phrasen Kontinuität garantieren.« Die Mächtigen sind allein damit beschäftigt, ihre Macht zu sichern, »in der vertrauten Fahrrinne«. Es ist gerade kein Familienroman: Das Unerhörte an Ondaatjes bildgewaltigem Werk ist, dass die Jungen von ihren Familien alleingelassen sind – und dass das niemand bedauert. Der Autor sprach bei seiner Vorstellung des Romans von einer »fantasy of freedom«, die imaginierte Wahrnehmung des Elfjährigen verschafft ihm wie dem lesenden Publikum ein rares Glücksgefühl: Die Jungen leben in einer weitgehend selbst bestimmten Freiheit, sie brechen mit fast systematischer Phantasie eine Regel nach der anderen, und sie haben nicht mehr Angst als nötig. Zwei von ihnen sterben beinah in einem Sturm, vor dem sie sich vom dritten nachts auf Deck haben festbinden lassen; auch die Beobachtung des grimmigen Gefangenen, der allnächtlich auf Deck geführt wird, könnte entgleisen, der Ausbruchsversuch lässt sich erahnen, und er verläuft doch ganz anders als erwartet. Viele Ereignisse in diesen drei Wochen haben mit Initiation zu tun, mit »rites de passage«, das Vertrauensverhältnis des elfjährigen Michael zur schönen Cousine Emily, die Bewegungsmuster dieser geschlossenen Welt, die sich nach und nach in ihrer Regel haftigkeit erschließen. Die Darmstädter Anglistin Julika Griem, die Ondaatjes Vorstellung brillant moderierte, fragte ihn nach dem autobio graphischen Gehalt; immerhin heißt der Protagonist Michael, wir erfahren in einigen Kapiteln, er sei Schriftsteller geworden, von wenigen anderen hören wir von ihrem Leben nach der Katzentisch Michael Ondaatje Aus dem Englischen von Melanie Walz | Hanser, 2012 | 304 Seiten | 19,90 Euro zwei salzweiße Leichen, der Geruch von Benzin. Drei Kugeln kehlig, vier in der Schulter, ferner sind Lenden und Arm ruiniert, ein Sieb, eine Siebesfeier, die wir beäugen, den letzten Ball der beiden Bälger Reise, für alle Charaktere war sie ein Einschnitt. Ondaatjes eigene Reise von Ceylon nach London fand zwar 1954 statt, aber »Katzentisch«, so seine Antwort, schildert eine Wunschreise, nicht die seine; der Michael des Romans ist das »Portrait of an Author as a Young Man«, aber nicht des Autors, der er selber ist. Das Buch steckt voll schöner Paradoxien dieser Art; unbezweifelbar teilt der erzählte Schriftsteller einige ästhetische Auffassungen mit seinem Erfinder, so die raue, offene Erzählstruktur, die Komplexität der Figuren, die viele ihrer Geheimnisse für sich behalten: Man solle sich nie einbilden, man habe mehr Einsicht in die Figuren als sie selbst, sie leben nicht ihr Leben im Roman, sondern nur den kleinen Teil, von dem wir erfahren. Es gibt auch den literaturkundigen Lehrer Dennis Fonseka auf dem Schiff, der den Jungen vorliest, der in seiner Bescheidenheit, in seiner heiteren »Gelassenheit und Gewissheit« eine Art Vorbild sein könnte. In der Nachbemerkung heißt es, die Personen, Namen und Dialoge seien reine Erfindung – in der Danksagung dann, der Roman sei Fonseka gewidmet, »in memoriam«. Michael Ondaatje las seine musikalische Prosa in einem fast melancholischen Ton, Johannes Steck zwei Kapitel aus der kongenialen Übersetzung von Melanie Walz. Neben aller poetischen Lakonie, die Ondaatjes Werk hat, zeigt sich immer wieder auch sein Hang zum grotesken Detail, ob von dem Matrosen die Rede ist, dem der Sturm sein Glasauge ausschlägt, oder von den Hunden an Bord; ein Weimaraner erwidert die Liebkosungen seines Wärters »wie eine Frau, die den Mann liebt, aber nicht seine Küsse«. Ein Hintergrund-Detail hat er im Gespräch mit Griem preisgegeben: Die schmächtige Miss Lasqueti hat den »Zauberberg« auf den Knien liegen, liest aber nur (offensichtlich schlechte) Krimis, die sie überraschend kraftvoll über die Reling wirft. Schießen kann sie auch, und sie hat eine geheimnisvolle Verbindung mit Whitehall. Thomas Manns Roman sei ein Relikt, erzählt Ondaatje: Hier wollte er recherchieren, was die bessere Gesellschaft auf einem Schiff gegessen haben könnte; die Speisekarten spielten dann aber doch keine so große Rolle. || und wir, zwei dahergelaufene Zeugen, wissen wir denn, was Liebe war. Nora Bossong © Carl Hanser Verlag München 2011 | mit freundlicher G enehmigung des Verlags Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, schreibt Romane und Gedichte. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen für ihre literarischen Arbeiten: den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis 2007, 2008 das New-York-Stipendium im Deutschen Haus, 2011 den Kunstpreis Berlin in der Sparte Literatur. Im Januar 2012 wurde sie für ihren Gedichtband »Sommer vor den Mauern« mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet, der am 3. April überreicht wird. Ihre Gedichte erschienen im zu Klampen V erlag und bei Hanser. Der Münchner Frühling Verlag nahm ihr Gedicht »standort« in die Reihe »einmaleingedicht« auf, gelesen von der Autorin. Sommer vor den Mauern. Gedichte Nora Bossong Edition Lyrik Kabinett | Hanser, 2011 | 96 Seiten | 14,90 Euro Anzeige Amalienstrasse 83 a Telefon: 089 - 346299 info@lyrik-kabinett.de Der verschlossene Raum Schade ums Papier Klassische Musik, so scheint es, eignet sich nicht für’ s Jugendbuch. Eine altmodische Parallelwelt mit artigen Scheitelchen und weißen Krägelchen wird vermutet und so lässt der Frühjahrs-Spitzentitel aus dem Boje Verlag aufhorchen. »Virtuosity« ist die Geschichte einer Spitzen-Geigerin, Untertitel allerdings: »Liebe um jeden Preis«. Und tatsächlich: Mal wieder ist alles nur Vorwand. Schon die erste Szene, in der Carmen (!) ihre Stradivari über die Balkonbrüstung hängt – der Leser ahnt: dem Mädel stinkt’s und zwar gewaltig – erinnert arg an »Crocodile Dundee«. Auch da trifft Wildheit und ungestümes Leben auf Leistung, Druck, Karriere. Klar, was der bessere Weg ist. Prompt sieht Autorin Jessica Martínez, selbst ehemalige Geigen-Virtuosin, ihr Debüt als »Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben«. Nur ist das leider genauso kitschiges Klischee wie der Rest des Romans, der jedes Vorurteil übertrifft. Da nimmt die vom Ehrgeiz zerfressene Mutter die Tablettensucht der Tochter in Kauf, schmiert die Jury beim Guardini-Wettbewerb. Doch Carmen verliebt sich in – den Konkurrenten. Genau. Die Liebe wird sie aus der verdorbenen Wunder-Kindheit retten. Noch was? Ach ja: Musiker sind vorwiegend schwul, die Konzertgarderobe ist stets wichtiger als die Musik. Keine Überraschungen, keine Zwischentöne, Klischee-und-Name-Dropping und alles im Fortissimo-Superlativ. Darum: vergeigt! Die Münchner Rede zur Poesie von Jan WagneR Mittwoch, 28. März 2012, 20 Uhr Eintritt: € 7 / ermäßigt € 5 mit freundlicher Unterstützung der Christine Knödler Virtuosity – Liebe um jeden Preis. Jessica Martínez Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Bhose | Boje Verlag, 2012 | 253 Seiten | 12,99 Euro | Ab 14 Jahre ulenspiegel druck gmbh birkenstraße 3 82346 andechs tel (0 81 57) 99 75 9 - 0 www.ulenspiegeldruck.de literatur Seite 08 · märz · Münchner feuilleton Protest ohne Aufruhr Michael Schmitt Wie erzählt die Literatur vom Protest, wenn der Widerstand ein selbstverständliches Bürgerrecht – also langweilig – geworden ist? »Kann es denn wirklich noch Spaß machen, mit dem Knüppel dauernd in einen immensen Brei von Schlamm zu schlagen?«, fragte Heinrich Böll 1965 in einem Beitrag zur Geschichte und zur Stellung der Gruppe 47. Die Gesellschaft erwarte geradezu, von der Literatur geprügelt zu werden. »Engagement« und »Nonkonformismus« seien daher keine besonderen Attribute mehr, denn das, was damit verbunden werde, sei allgemein anerkannt. Nachlesen lässt sich das in einem Sammelband mit Reden und Aufsätzen, die Böll zwischen 1947 und 1985 verfasst hat – und der Titel dieses dicken Buches, »Widerstand ist ein Freiheitsrecht«, erinnert daran, woher der Impuls stammt, Schriftstellern wie Bürgern in der jungen Bundesrepublik Mündigkeit abzuverlangen. Er macht einem aber auch bewusst, wie selbstverständlich es mittlerweile geworden ist, sein Widerstandsrecht in Anspruch zu nehmen, und wer alles Anspruch darauf erhebt. Böll hat dabei seinerzeit stets kräftig mit gewirkt, hat sich aber nie für eine Partei eingesetzt und, was noch entscheidender ist, er hat schon früh erkannt, wie sich die Stellung des Schriftstellers und der engagierten Literatur verändert, wenn dieses gesellschaftliche Anzeige Projekt Erfolg hat. Das »Kritische« wird dann leicht beliebig, wird erwartbar und damit langweilig – und das ist ein Todesurteil, wenn Literatur, weil sie in langsameren Rhythmen entsteht als gesellschaftspolitische Schlagworte und Moden, die flotten Themenwechsel nicht mehr mitvollziehen kann. Burkhard Spinnen hat in den letzten Jahren darauf immer wieder hingewiesen und daraus abgeleitet, dass sich Literatur, wenn sie politisch sein wolle, ihre Maßstäbe nicht von außen oktroyieren lassen darf, dass sie nichts zu »sollen« hat, außer vielleicht Proben auf die Sagbarkeit dessen zu machen, das so neu ist, dass dafür nur verbrauchte, überlebte Formeln zur Verfügung stehen. Und damit meint er nicht unbedingt die Tragikomödien des politischen Establishments und keine Romane zur Bebilderung von Stéphane Hessels Aufruf »Empört Euch!« aus dem vergangenen Jahr. ARBEITEN SIE SICH GESUND Muckenthaler_MuenchnerFeuilleton_140x216.indd 1 Pacellistraße 5 80333 München www.muckenthaler.de 15.02.12 13:02 Erinnert sich noch jemand an Otto F. Walters Roman »Wie wird Beton zu Gras?« von 1979, einem betont engagierten Roman über die Anfänge der ökologischen Bewegung? So etwas wäre heute nur mehr schwer erträglich, obwohl dieser Themenkreis an Brisanz nur zugelegt hat. Anna Katharina Hahn fragt daher in ihrem Roman »Am schwarzen Berg«, der auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis 2012 nominiert ist, nicht mehr, ob die Camps und Demonstrationen am Stuttgarter Hauptbahnhof berechtigt sind und ein utopisches Potential enthalten. Ihr Blick richtet sich vielmehr darauf, welchen Platz sie im Leben von Menschen einnehmen, die als Lehrer oder als Bibliothekarinnen alt geworden sind, ein wohl eingerichtetes Leben führen oder als jüngere Familienväter an Sinnfragen zu scheitern drohen. Das lässt die erzählten politischen Inhalte ein wenig unauffällig erscheinen, weil sie auf der gleichen Höhe wie Alkohol- oder Ehe-Probleme verhandelt werden. Damit erfasst der Roman aber eine Haltung, die dem einen nicht abverlangt, sich vor dem anderen als wesentlich rechtfertigen zu müssen, weil mittlerweile beides zum bürgerlichen Leben gleichermaßen dazugehören darf. Das Private ist politisch und das Politische ist privat, aber nicht mehr im Sinne einer Emanzipation des unpolitischen Menschen, der sein gesellschaftliches Sein kritisch hinterfragen soll, sondern im Sinne einer Selbstverständlichkeit, die auf neuen gesellschaft lichen Übereinkünften und Frontverläufen beruht. Ganz ähnlich kann auch Literatur, die auf Genre-Elementen aufbaut, ein Bild ihrer Gegenwart gestalten. Krimi und Thriller haben das schon vor Jahrzehnten erkannt und die Plots oft mit soziologischen Befunden angereichert, sie werden aber immer noch gerne als »zweitrangig« abgetan. Und auch ein Schriftsteller wie der Münchner Georg M. Oswald, der pointierte Stellungnahmen zu sozialen Fragen so wenig scheut wie unterhaltsame Elemente in seinen Romanen, sah sich bei einigen seiner Bücher vergleichbarer Kritik ausgesetzt. Sein neuer Roman, »Unter Feinden«, im Januar erschienen und schon breit besprochen, kommt auf den ersten Blick ebenfalls als Thriller daher, entpuppt sich aber, inspiriert von den Unruhen in den Pariser Banlieues, als eine Geschichte über die Topographie von München, über die Verteilung von Bessergestellten und Eingewanderten im Stadtgebiet, über den Anteil ausge grenzter, aber wehrhafter Menschen mit »Migrationshintergrund« in einer Stadt, in der nach allgemeinem Dafürhalten gut zu leben ist. Im Mittelpunkt zwei Polizisten, einer mit Drogenproblemen, der bei einem Einsatz durchknallt, der andere mit Karrierechancen, der alles zu vertuschen versucht; dazu junge Männer aus arabischen Familien, eine Weltsicherheitskonferenz und ein international gesuchter Terrorist. Das klingt spektakulär und endet auch mit einer Art von »Straßen in Flammen« auf Bajuwarisch. Und doch ist es nur die Fassade für einen Blick auf Dinge, die jeder weiß, die aber keiner benennen will. Denn wenn man sie benennen würde, müsste man sie ändern wollen. Solche Bücher streben nicht nach irgendeiner Form von Diskurs-Hoheit; im Gegenteil, sie verweigern sich vorgegebenen Diskursen, es geht ihnen vielmehr um Genauigkeit im Blick auf Einzelheiten, um die Freiheit von Scheuklappen. Und dabei hilft vermutlich ihre Verhaftung in einem überschaubaren lokalen Zusammenhang, der vor allem bei Anna Katharina Hahn mit den Mitteln des Detail realismus ausgelotet wird. Vergleichbare Geschichten könnten sicher auch über viele andere Orte erzählt werden, aber das macht sie nicht austauschbar. Und überall könnte man wohl auch den Befund erwarten, dass das gute Leben meist auf dubiosen schlechten Fundamenten aufgebaut ist. || Widerstand ist ein Freiheitsrecht. Schriften und Reden zu Literatur, Politik und Zeitgeschichte Heinrich Böll Kiepenheuer & Witsch, 2011 | 990 Seiten | 29,99 Euro Am schwarzen Berg Anna Katharina Hahn Suhrkamp, 2012 | 240 Seiten | 19,95 Euro Unter Feinden Georg M. Oswald Piper, 2012 | 256 Seiten | 18,99 Euro literatur Münchner feuilleton · märz · Seite 09 Kleines Putin. Großer Herrscher? Marcel Marin Es gibt gute Bücher, die einen großen Nachteil haben: Sie tragen den falschen Titel. Bei literarischen Werken mag das Anlass zu inspirierten Diskussionen geben. Bei Sachbüchern stellt sich die Frage: Hat der Autor sein Thema verfehlt? Oder wurde ein redlich geschaffenes Werk zum Opfer einer Verlagspolitik, die mehr vom Marketing als vom Lektorat geprägt und entschieden wird? Das vorliegende Buch ist so ein Fall. Sauber recherchiert – zumindest soweit man das mit etwas Abstand und einer gewissen Kenntnis von Fakten, Personen, Hintergründen und Zusammenhängen beurteilen kann. Nachvollziehbar analysiert – mit Ausnahme vielleicht der Passagen, in denen die psychoanalytische Phantasie der Autorin zu galoppieren beginnt. Pünktlich zur Wahl in Russland erscheint ein gründlich recherchiertes Buch über Putins Machenschaften – Psychogramm eines skrupellosen Strategen. Denken nicht verbieten ließen. Durch Serien von Bombenexplosionen, Geiselnahmen, Attentaten, denen Hunderte zum Opfer fielen – Hausbewohner, Kinder, Frauen, Journalisten – und die stets in seine Hände spielten, freilich nie mit seinen Zirkeln in Verbindung gebracht werden k onnten. Aber von jedem, der die Fakten kombiniert, wie Masha Gessen das macht, mit seinen Zirkeln in Verbindung gebracht werden müssen. Schockierend schlüssig zum Beispiel, wie sie den FSB, also die Nachfolgeorganisation des russischen Geheimdienstes KGB, als Urheber jener Serie von Explo sionen identifiziert, die in den Monaten nach Putins Einzug im Kreml in Moskau und mehreren anderen russischen Städten Wohnblöcke förmlich zum Einsturz Eine eindrucksvolle, journalistische brachten. Gezielt hatten Putins alte KolFleißarbeit, die im Wesentlichen zusamlegen hunderte unschuldiger Menschen menträgt und mit eigenen Erfahrungen, ermordet, massive Verunsicherung in Einsichten und Gesprächen abgleicht, der Bevölkerung geschaffen und den was an vielen Orten und von unterVerdacht auf tschetschenische Rebellen schiedlichen Kollegen bereits veröffentgelenkt. Ihr neuer Herr und Präsident licht, aber in dieser, durchaus prägnansollte Anlass und Rechtfertigung bekomten Form noch nicht seziert, kombiniert, men, den Krieg in Tschetschenien fortreflektiert worden ist. Gut geschrieben, zusetzen, die Freiheit der Medien und interessant zu lesen und jedem zu empdie Rechte der Opposition massiv zu fehlen, der die Weltmacht Russland beschneiden und, nicht zuletzt, unter Wladimir Putin besser verstehen Putin sollte der Welt in der hysterischen will. Aber eine »Enthüllung«, wie es der Zeit nach dem 11. September als KomUntertitel verspricht, oder gar ein Thrilbattant im Kampf gegen den islamischen ler, wie es der Haupttitel raunend sugTerrorismus präsentiert werden. Der geriert, ist es nicht. gleichen ist Männern wie Putin dann schon mal das Opfer einiger MenschenFataler noch: Man fragt sich, wie ein leben im eigenen Volke wert. Dessen Verlag von diesem Namen und Format durften sich seine alten Freunde beim ernsthaft auf die Idee kommen kann, FSB sicher sein. Vergleichbares gilt, einen Titel wie »Der Mann ohne Gesicht« wenn im eigenen Umfeld aufgeräumt Putin und sein Freund Medwedew beim Schach | Gemälde in einem russischen Krankenhaus | © S. Baumgärtner zu wählen und von niemandem im eigeoder hin und wieder ein Zeichen gegen Das Amt, die Macht und »seine« eigene, über viele offene Fra- allzu viel Mut und Aufklärung gesetzt werden muss. Die Liste nen Haus, vor allem aber auch nicht von der ansonsten so kenntnisreichen Autorin darauf hingewiesen wird, dass diese gen hinweg geschriebenen Geschichte bekam »Wladimir Wla- der Toten am Rande von Putins Weg ist lang. Neben kritischen Bezeichnung nicht nur unterstes Boulevard-Niveau, sondern, dimirowitsch« von einer Gruppe jener smarten Schmarotzer Journalisten finden sich vor allem auch ehemalige Gefährten der kremlinschen Macht zugeschoben und zugeschustert, die vor dem politischen Hintergrund, um den es hier geht, auf eine darauf. »Gestern an seinem Tisch. Heute in deinem Sarg.« Ein geradezu peinliche Weise absurd ist. Von kaum einer anderen allein es schaffen konnten – freilich, um ihr eigenes Scherflein Sprichwort, das man in Putins Russland zuweilen hört. Figur im Panoptikum globaler Macht kennt die Welt Gesicht zu sichern, auch schaffen mussten – einen abgehalfterten, und Charakter besser als von Wladimir Putin. Entscheidender alkoholkranken, nicht mehr vorzeigbaren und kaum mehr Freilich, auch Masha Gessen bleibt die allerletzten Beweise aber noch: Das Attribut vom »Mann ohne Gesicht« ist seit den steuerbaren Boris Jelzin zu einem Coup d’Etat zu bewegen. So schuldig. Aber weiter als sie kam bislang keiner beim Versuch, Zeiten des Kalten Krieges vergeben und untrennbar verbun- verbanden sich am Silvesterabend des Jahres 1999 drei Dinge vorhandene Fäden zusammenzuführen, ein Gesamtbild der auf eine geradezu kongeniale Weise: ein Rücktritt Jelzins ohne Ära Putin zu entwerfen und es zu verknüpfen mit dem Porträt den mit einer anderen Figur, die zumindest der deutschen Politik nicht weniger zu schaffen machte als Herr Putin heute: Gesichtsverlust; die Ernennung des kleinen, damals noch und dem Psychogramm eines Mannes, Markus Wolf, Chef der Auslandsspionage der DDR und zustän- dicklichen, damals schon sprachlich vulgären, sozial ordinäder nie einen Hehl aus seiner Überzeudig für geschichtsprägende Niederträchtigkeiten wie das Ein- ren, vor allem aber formbaren, ehrgeizigen, brauchbar rück- gung machte, dass »russische Demokrapflanzen von Günter Guillaume im Bundeskanzleramt und an sichtslosen Geheimdienstmannes namens Wladimir Putin zu tie« andere Vorzeichen hat, besonderen der Seite von Willy Brandt. Sei’s drum – es ist der Verlag, der seinem Nachfolger – ohne Notwendigkeit einer Wahl (stattdes- Gesetzen folgt und keinen anderen als sen brauchte es nur eine Bestätigung durch die Duma); und ihn jetzt braucht. Die Welt wird sich mit solchen Peinlichkeiten leben muss. einen Paukenschlag in den Medien, der garantierte, dass sich noch für eine Weile mit Wladimir Putin Masha Gessen macht das Gegenteil dessen, was ihr Verlag die Blicke der Welt am ersten Tag des neuen Jahrtausends auf auseinandersetzen müssen. Und sie täte behauptet – und überzeugt genau darin: Sie beschreibt keinen nichts anderes als auf Russland richteten. Was für ein Beginn. wohl gut daran, das ein wenig kritischer »Mann ohne Gesicht«. Sie zeigt, wie einem Namenlosen erst Ein Gesicht gab, seinen Mythos schuf sich Putin anschließend und konfrontativer zu tun. || ein Amt übertragen wird, dann »seine« Geschichte zugeschrie- selbst. Durch zielgerichtet provozierte und vom Zaun gebroben, schließlich das Feld der Macht überlassen, auf dem er bis chene Kriege – erst gegen Tschetschenien, dann gegen Georgien. Durch zynisch organisierte Schauprozesse gegen Oligar- Der Mann ohne Gesicht. heute mit einem Blutzoll und einer Kaltschnäuzigkeit agiert, die jeden seiner Kollegen im internationalen Geschäft wech- chen wie Mikhael Khodorkowskij, die Visionen folgten, in Wladimir Putin – Eine Enthüllung Masha Gessen | Piper, 2012 | 384 Seiten | 22,99 Euro gesellschaftlichen Wandel investierten und sich ein eigenes selweise erblassen oder erschaudern lassen. 27. März 17. Februar bis 6. Mai Vergesst Auschwitz! Ein Abend mit Henryk M. Broder Einführung: Rachel Salamander Literaturhaus | Salvatorplatz 1 | 20.00 | Eintritt 9 Euro Vom ABC bis zur Apokalypse Ausstellung in der Staatsbibliothek zu spätmittelalterlichen Blockbüchern Bayerische Staatsbibliothek, Schatzkammer, 1. Stock | Ludwigstraße 16 | Mo – Fr 10–17 Uhr, Do 10–19 Uhr, Sa/So 13–17 Uhr (vom 6. bis 9. April und am 1. Mai geschlossen) | Eintritt frei | Katalog zur Ausstellung 18 Euro »Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage«, so lautet der provokante Titel eines Essays, der am 12. März im Knaus Verlag erscheint. Der Publizist Henryk M. Broder enthüllt die bittere Ambivalenz deutschen »Erinnerungswahns« und ruft zu engagiertem politischen Handeln in der Gegenwart auf. Blockbücher sind im Holzschnittverfahren hergestellte, meist illustrierte Bücher aus dem 15. Jahrhundert. Sie sind die Prunkstücke einer jeden Bibliothek. 600 Exemplare gibt es weltweit noch, die oft schon so fragil sind, dass sie kaum noch in Ausstellungen präsentiert werden können. Die Bayerische Staatsbibliothek zeigt 15 Blockbücher, darunter die »Biblia pauperum«, die sogenannte Armenbibel, den »Totentanz«, in dem 24 Personen unterschiedlicher Schichten vom tanzenden Tod aus dem Leben gerissen werden, oder einen Kalender des Mathematikers und Astronomen Regiomontanus mit den täglichen Mond- und Sonnenkonstellationen. Im Rahmen eines zweijährigen Forschungsprojekts wurden Farbdigitalisate aller bayerischen Exemplare erstellt. Sie sind im Internet unter www.bayerische-landesbibliothek-online.de/xylographa kostenfrei zugänglich. Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz! | Knaus | 176 Seiten | 16,99 Euro film Seite 10 · märz · Münchner feuilleton »Es kommt auf die Wahl der Mittel an« Peter Künzel Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Kinoerlebnis? Ja, ich war damals erst neun und sah »Aguirre, der Zorn Gottes« von Werner Herzog – im Kino des Goethe-Instituts in Mexiko City, in das ich, weil mein Vater dort gearbeitet hat, immer mal wieder reingesetzt wurde. Es waren wahnsinnig imposante Bilder, viel zu brutal für einen 9-Jährigen: Vor allem erinnere ich mich, wie da dieses lebendige Huhn mit einem Schwert geköpft wurde; das lief da einfach durchs Bild. Im Nachhinein betrachtet, war das fast schon so etwas wie eine dokumentarische Irritation, denn alles andere war komponiert, aber das Huhn war etwas, was man nicht im Griff hatte, ein dokumentarischer Moment, der mich immer noch beeindruckt. Alexander Riedel, Regisseur der Filme »Draußen bleiben« und »Morgen das Leben«, über seinen neuen Film »Hundsbuam«, über dokumentarisches Inszenieren und seinen melancholischen Blick auf München © Pelle Film | Alexander Riedel Alexander Riedel Wird 1969 in Augsburg geboren, absolviert nach der Schule erst eine Banklehre, holt dann sein Abitur nach und beginnt Politik zu studieren. Später wechselt er an die Hochschule für Fernsehen und Film in München. 2007 erscheint sein Abschlussfilm »Draußen bleiben«. Sein Spielfilmdebüt »Morgen das Leben« steht aktuell auf der Auswahlliste zum Deutschen Filmpreis 2012. »Hundsbuam« wird auf dem 27. Internationalen Dokumentarfilmfestival München zu sehen sein, das vom 02. bis 09. Mai stattfindet. Es fehlt nicht viel, dass es kippen könnte. | © Pelle Film | Alexander Riedel Wie sind Sie zum Dokumentarfilm gekommen? Ich war Fahrer, bei Helmuth Dietl, bei seinem Film »Rossini«. Da habe ich all die namhaften Schauspieler ans Set gefahren und dort auch zum ersten Mal die Strukturen gesehen. Ich war sehr erschrocken über die Art, wie man scheinbar Filme machen muss. Dieses Hierarchische und Strenge; dass alles so wahnsinnig ernst genommen wird, bis ins Kleinste, das mochte ich nicht, bis heute nicht. Ich mag das Freundschaftliche, gemeinsam mit Menschen auf Augenhöhe zu arbeiten, und da bietet das Dokumentarische viel mehr Chancen, nicht in einem so eng abgesteckten Rahmen, ohne Blick aufs Leben. Etwas so brutal und ohne Rücksicht durchzuziehen, da kam mir der Dietl fast vor wie Aguirre. Natürlich braucht es viel Kraft und einen großen Willen, um Filme zu machen, aber es kommt auf die Wahl der Mittel an, und es muss Spaß machen, darum geht’s mir. ihnen umzugehen. Ich habe ein ernsthaftes Interesse an den Menschen, das ist vielleicht der Schlüssel. »Hundsbuam« heißt Ihr aktueller Dokumentar-Film, über Jungen, die aus der normalen Schule geflogen sind und in einer Förderklasse noch eine letzte Chance bekommen. Was hat Sie an dem Thema gereizt? Ich hab ja etwas ganz Ähnliches schon in »Draußen bleiben«, meinem Abschlussfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film, erzählt: die Geschichte von zwei Mädels, die über Jahre ohne Aufenthaltsgenehmigung im Asylbewerberheim in München leben; ihre Freundschaft und auch ihre Probleme hier in München, in der Schule, im Freundeskreis. Der Film jetzt bewegt sich in eine ähnliche Richtung: es geht um ein paar Jungs, alle ohne Migrationshintergrund, die im Erdinger Moos leben, also knapp hinter dem Münchner Flughafen. Die sind erstmal alle ziemlich verloren, kriegen keine schulische Chance mehr und scheinen an den gesellschaftlichen Rand gedrängt. Wofür stehen die »Hundsbuam«? Von außen gesehen sind die »Hundsbuam« vielleicht das, was man oberflächlich als gewaltbereite renitente Jugendliche wahrnehmen könnte. Das Spannende ist, dass du merkst, es fehlt nicht viel, dass es kippen könnte. Und zu sagen: Schaut euch das mal an, wie haarscharf das alles verläuft, warum und durch welches Glück oder welchen ungünstigen Zufall sich die Jungs in die eine oder andere Richtung entwickeln; sie in die- ser entscheidenden Phase über ein Jahr zu begleiten – das war sehr spannend. Auch die Protagonisten Ihrer früheren Filme waren meist Menschen am gesellschaftlichen Rand, deren Situation immer auch eine starke politische Dimension hatte. Zunächst mal ist das eine innere Haltung, die alles bestimmt. Es gibt ja keine objektive Beobachtung. Es ist ja immer ein subjektiver Blick. Egal ob das der Bildausschnitt ist, oder ob es die Wahl der Protagonisten ist, oder die Art und Weise, wie man die Interviews führt, es ist immer ein dokumentarisches Inszenieren und Verdichten. Und in diesem Verdichten steckt natürlich schon der Wunsch drin, eine Aussage zu formulieren, Missstände zu erzählen, sie aber nicht plakativ auf eine Fahne zu schreiben, sondern den Menschen zu berühren und auf eine Ungerechtigkeit hinzuweisen, aber in einer selbstbestimmten Form der Protagonisten. Wie recherchieren Sie und wie nähern Sie sich Ihren Protagonisten? Ich fotografiere immer sehr viel im Vorfeld. Mir sind die Orte sehr wichtig. Ich nähere mich den Menschen über die Orte an. Ich hab als erstes bei »Hundsbuam« die Schule besucht und dort einige Zeit verbracht, die Lehrer und die Schüler gesprochen und kennengelernt. Ich versuche eine Nähe aufzubauen und vertrauensvoll auf Augenhöhe mit Wie übersetzen Sie Ihre Recherchen in filmische Situationen? Erstmal ist es fast so wie in der fiktionalen Erzählform. Jede Figur hat ihren Lebenslauf, ihre Eigenheiten. Der eine ist der Coole, der andere ist der Anführer, der dritte ist der Schüchterne. Alle haben ihre Merkmale, Stärken und Schwächen und Aspekte, die am spannendsten das Thema reflektieren. Letztlich ist das der Sprung zum fiktionalen Erzählen, den ich ja mit »Morgen das Leben« gemacht habe. Ich sehe das als fließenden Übergang. Ich bin kein Sammler von Bildern, während die Kamera läuft, ich sammle im Vorfeld. Die Energie ist am Anfang sehr stark aufs Sammeln gerichtet, aber dann geht es ans Konzentrieren, Zusammenschreiben, Verdichten und dann ans Drehen. Es ist eine Art fiktionales Drehen in einem dokumentarischem Umfeld. Bei Ihrem Spielfilm-Debüt »Morgen das Leben« haben Sie tatsächlich eine Art dokumentarisches Drehbuch geschrieben. Der Ursprung dieses Films war ja mein vierzigster Geburtstag und die Frage, wie geht es den Menschen um die 40 in München. Ich wollte wissen: Was habt ihr erreicht? In der Familie, in der Liebe, im Glück, Sex, Geld und Job? Und dabei habe ich gemerkt, dass da ganz viel Selbstbetrug zu finden ist. Gerade in München, weil es so einen Druck gibt, sich immer rechtfertigen zu müssen, dass man das hat und dass es gut läuft. Ich habe aus dem Recherchierten drei Geschichten geschrieben und hatte die Idee, die Hauptfiguren mit Schauspielern zu besetzen und sie dann in ein echtes Umfeld mit echten Menschen dokumentarisch hineinzuinszenieren; um stark verdichtet zu erzählen und einer bestimmten Dramaturgie folgen zu können, wie es sonst beim reinen Dokumentarfilm nicht möglich ist. Und genau dieses Aufeinandertreffen von fiktionalen Elementen und Dokumentarischem hat in einigen Szenen eine unglaubliche Energie entwickelt. Und genau in diese Richtung möchte ich auch weiterarbeiten: dramatischer, weil mir wichtig ist, dass alles möglich ist, dass zum Beispiel im Film auch jemand sterben kann. Also im Prinzip auch hier die Idee, aus einer dokumentarischen Herangehensweise einen Spielfilm zu entwickeln. Der Filmkritiker Michael Althen hat Ihr München in »Morgen das Leben« als ein München der Einsamen und Verlorenen gesehen, als eine Hauptstadt der Melancholie. Ja, es ist tatsächlich ein melancholischer Blick auf diese Stadt, weil sich eine gewisse Veränderung immer mehr etabliert. Es nervt, dass das Geld sich so in den Vordergrund geschoben hat, in der ganzen Münchner Innenstadt, nicht nur in der Fußgängerzone. Es nimmt einem die Freiheit dieser wunderbaren Isarluft. Das nervt einfach und ich finde, man muss in diese Richtung erzählen und weiterhin auf diesen Veränderungsprozess aufmerksam machen, gerade wenn man hier in dieser Stadt bleiben will. || film Münchner feuilleton · märz · Seite 11 Die Furcht ist real München im Film | 6 Blake Edwards The Pink Panther Strikes Again (1976) Als es auf dem Oktoberfest noch keine begründete Angst vor Splitterbomben gab, konnte man sich ruhig über vertrottelte Terroristen lustig machen. Ohnehin erstickt die Münchnerische Gemütlichkeit, so zeigt es uns das infernalische Duo Blake Edwards und Peter Sellers, Gewaltversuche einfach mit Riesenbrezn. Eine ganze Armada internationaler Killer kann niemals so rigoros durchgreifen wie eine langgediente Wiesnbedienung. Ja, »Inspektor Clouseau, der beste Mann bei Interpol« (so der deutsche Verleihtitel), darf im fünften Teil der Pink-Panther-Meditation einen Abstecher nach Bayern machen, Paris ist nicht genug. Clouseau, der irre Flic, lernt schnell, wo es in München am Gefährlichsten wird: Natürlich auf dem Männerklo eines Wiesnzeltes, wo selbst die Flucht vor den Urinrinnen ins vermeintlich sichere Kabinchen keinen wirklichen Schutz bedeutet – außer man bückt sich nach der Klopapierrolle. Monsieur l’inspecteur schafft es Michael Shannon im Angesicht des Sturmes © 2012 Ascot Elite Filmverleih GmbH perfekt, sich von nichts beeindrucken zu lassen – vermutlich ist niemals ein Nichtmünchner mit ausdrucksloserem Gesicht Florian Koch Manche (Alb-)Träume sind so intensiv, dass man sie noch Stunden nach dem Erwachen in den Gliedern spürt. Aber wie geht man mit diesen nächtlichen Angriffen auf das Unterbewusstsein um, wenn sie nicht nur die Psyche, sondern auch die Physis in Mitleidenschaft ziehen? Diese Frage stellt Jeff Nichols in seinem preisgekrönten Independent-Drama »Take Shelter«, das sich nahtlos in die zuletzt stetig wachsende Zahl der Kino-Apokalypsen einreiht. Curtis (Michael Shannon) ist ein Mann der stillen Sorte, einer, der am Bau genau weiß, was er zu tut hat, und der mit seiner Frau Samantha (Jessica Chastain) und seiner taubstummen Tochter in Ohio ein friedliches Kleinstadtleben führt. Für solch einen Mann der Tat, der die Routine des Alltags zu schätzen weiß, sind Überraschungen, und gerade solche, die man nicht erklären kann, Gift. Aber die nächtlichen Visionen – dunkle Wolken, die einen vergifteten Ölregen ausspucken, aggressive Vogel-Schwärme, die in seltsamen Formationen fliegen – lassen sich nicht ignorieren. Der Frau erzählt Curtis erst einmal nichts, auch wenn seine Stimmung für alle erkennbar frostiger wird. Aber als ihn sogar sein geliebter Hund im Traum angreift und sein Arm am nächsten Tag schmerzt, verliert Curtis die Contenance: Zum Schrecken aller gräbt er bald einen Schutzbunker, um Wir leben im Zeitalter der Apokalypse. Zumindest wenn Maya-Kalender interpretierende Prediger, selbsternannte Propheten und Hollywood Recht behalten. Mit »Take Shelter« kommt jetzt eine besondere Spielart des Apokalypse-Films in die Kinos. seine Liebsten vor einem angeblich alles vernichtenden Sturm zu schützen; die ganzen Familienersparnisse gehen für diese unheilvolle und kostspielige Vorahnung drauf. »Ich schrieb den Film, weil ich glaubte, in der Welt herrsche ein Gefühl vor, das geradezu greifbar war. Diese Furcht war in meinem Leben sehr real, und ich stellte mir vor, dass es anderen Amerikanern und Menschen auf dieser Welt genauso ging.« In der Regel sollte man Künstler aus Selbstschutz nicht über ihr eigenes Werk sprechen lassen, aber Nichols umreißt in diesen dünnen Zeilen doch sehr präzise den Kontext von »Take Shelter«. Wir schreiben das Jahr 2012 und der Weltuntergang rückt näher – so lange man jedenfalls der schlichten Interpretation des MayaKalenders glaubt, die für den 21.12. das Ende allen Lebens auf der Erde vorhersagt. Diese sehr konkrete und abstruse Furcht wird bei »Take Shelter« zwar nie genau thematisiert, hängt aber, so wie die bizarren Wolkenformationen, dunstglockengleich über Nichols Werk. Und auch auf seine merkwürdige Trennung von »Amerikanern und Menschen« gibt es eine Antwort. Denn die filmischen Untergangs-Hirngespinste haben ihren Ursprung in den USA, einem Land, das sich durch die durch das Oktoberfest-Tohuwabohu marschiert. Die Handlung des Films ist nicht wirklich wichtig, denn die Reihe lebt schließlich davon, dass der Protagonist sie selbst nicht versteht – Ego kommt vor Umgebung – und Wirtschaftskrise und die Terror-Hysterie im mentalen Ausnahmezustand befindet. Verantwortlich für die größte Apokalypse-Materialschlacht war schließlich das Spielbergle aus Sindelfingen. Roland Emmerich inszenierte vor zwei Jahren mit »2012« den passend betitelten Mottofilm zum Untergangsjahr, packte am Ende aber doch noch die gute alte Arche aus, um einen Hoffnungsschimmer an den Horizont zu zeichnen. Bibelfest gab sich auch Denzel Washington als einsamer WüstenEndzeitkämpfer in »The Book of Eli«, während Viggo Mortensen in »The Road« die christliche Nächstenliebe auf seinen Sohn projizierte. Für die spannendsten Armageddon-Neurosen sorgte aber Lars von Tier in »Melancholia«, dessen unheilvolle Stimmung und genaue Seelenspiegelungen sich entfernt auch in »Take Shelter« wiederfinden. Nichols lässt sich lange Zeit nicht in die Karten blicken, ob denn seine Hauptfigur nun ein Visionär oder ein – erblich vorbelasteter – Spinner ist. Dieses unbehagliche Gefühl des »Nicht-genau-Wissens« überträgt sich auf die Film-Familie. Nichols analysiert präzise, wie sich die Konsequenzen einer solchen Verunsicherung auf die Zukunft auswirken: Die ökonomische Katastrophe des Ausfalls des Ernährers ist am Ende viel realer und erschütternder als alle kursierenden Endzeit-Visionen und Untergangs-Prophetien. || in unendlicher Selbstüberschätzung der eigenen Person durch die Welt stolpert. Ein narrischer Held, mit Schnauzer, Hut und einem formidablen Accent auf der Lippe. Wie unersetzbar Peter Sellers das spielt, mit vollem Körpereinsatz, ganz in der Tradition der großen angelsächsischen Komiker, haben in späteren Jahren Alan Arkin, Roger Moore, Roberto Benigni und Steve Martin blamabel demonstriert, als sie an Clouseau scheiterten. Wie unübertrefflich Blake Edwards das choreografiert – vom Drehbuch bis zum Schnitt (was kann da alles schiefgehen!) bewahrt er ein Timing, das kaum einer seiner Comedy-Nachfolger auf dem Regiestuhl hinbekam. Dank dieses Gespanns kann niemand mehr das Spionage-Bonmot »Folgen Sie diesem Wagen!« verwenden, und dank dieses Films ist die Gefahr beim Überqueren von Hängebrücken und Durchschwimmen von Burggräben für alle Zeit festgehalten. David Steinitz »Take Shelter« (USA 2011. Jeff Nichols) | Ab 22. März im Kino Hässlich, sexy, liebevoll, arrogant, sonnig, versoffen, größenwahnsinnig, fantastisch, fanatisch, widerspenstig, geheimnisvoll … In jeder Ausgabe stellen wir einen wichtigen München-Film vor – der jedes Mal ein neues Stadtbild enthüllt: Film-München. film Seite 12 · märz · Münchner feuilleton »Etwas Anarchisches hat der schon immer gehabt« Mit seinen Videos und Satire-Projekten sorgt der junge Münchner Fernsehmacher Philipp Walulis immer wieder für Aufsehen. Nun ist er für den Grimme-Preis nominiert worden. Ein Porträt. Thierry Backes Ein abgedunkelter Verhörraum. Eine hysterische Kommissarin. Und ein verdächtiger Atom-Lobbyist, der alles abstreitet. »Blödsinn! Ich kann es gar nicht gewesen sein«, schreit er die Ermittlerin an, um mit ruhiger Stimme hinzuzufügen: »Weil wir erst in der Mitte des ›Tatorts‹ sind.« Nein, Angst vor großen Namen hat der Münchner Autor und Regisseur Philipp Walulis, 31, nicht. In dem Video »Der typische Tatort in 123 Sekunden« persifliert er die ARD-Krimireihe, die jeden Sonntag Millionen von Zuschauern vor die Mattscheibe lockt. Und man muss sagen: Selten hat jemand das Baukastenprinzip so vieler »Tatorte« derart genüsslich seziert wie er. Walulis macht sich über den »verkrampft sozialkritischen Einschlag« der Serie lustig, über Produktionshilfen von BMW, den Drang, in jeder Folge zu zeigen, in welcher 01_Eule_MF_03_2012_Layout 1 01.03.12 13:43 Seite 1 Anzeige LMU MÜNCHEN 18.3.12 KURT KRÖMER Audimax Der Nackte Wahnsinn 30.3.12 MARC-UWE KLING Raum B 101 Das Känguruh-Manifest 3D 21.+22.4.12 JOSEF HADER Audimax Hader spielt Hader ATOMIC CAFE 1.4.12 DOBRÉ Do the Dobré AGAIN CIRCUS KRONE 23.4.12 WILLY ASTOR PREMIERE Nachlachende Frohstoffe 27.4.12 BODO WARTKE Klaviersdelikte 4.5.12 TABLE FOR TWO 25 Jahre Table for Two – Das Fest 8.5.12 OLAF SCHUBERT Meine Kämpfe 9.5.12 HELMUT SCHLEICH Nicht mit mir 17.–19.5.12 HELGE SCHNEIDER M.-PREMIERE Rettung naht – Superhelgi auf Tour 12.7.12 ERWIN PELZIG PREMIERE Pelzig stellt sich 30.9.12 DIETER NUHR Nuhr unter uns 2.10.12 ECKART V. HIRSCHHAUSEN Liebesbeweise 9.+10.10.12 RENÉ MARIK KasperPop 31.10.12 VOLKER PISPERS Bis neulich PRINZREGENTENTHEATER 1.10.12 BODO WARTKE König Ödipus 3.10.12 GÖTZ ALSMANN Paris! 24.10.12 GEORG SCHRAMM Meister Yodas Ende 3.12.12 HAGEN RETHER Liebe Tickets an allen VVK-Stellen: Münchenticket www.muenchenticket.de • Tel.: 0 89-54 81 81 81 Eventim www.eventim.de • 0 18 05-57 00 70 Veranstalter: Eulenspiegel Concerts•www.eulenspiegel-concerts.de Stadt gedreht wurde, und über stereotype Charakterzeichnungen. Genial ist sein Konzept, die Figuren nur auf einer Metaebene sprechen zu lassen: »Gut, dass wir die Leiche immer ganz am Anfang finden«, sagt die Ermittlerin zu Beginn. »Ja, ich war’s«, der Täter am Ende, »jetzt lauf ich einfach mal weg, damit wir eine Verfolgungsjagd haben.« Im Internet ist der Clip Kult. Allein auf Youtube wurde er bereits über 365.000 Mal angeklickt, und weil er den Redakteuren von bild.de so gut gefiel, hievten sie ihn auf ihre Startseite. Philipp Walulis kann das nur recht gewesen sein, warben die Kollegen damit doch für seine neue Comedy-Sendung »Walulis sieht fern« (Motto: »Fernsehen macht blöd, aber auch unglaublich viel Spaß!«), die zwischen den Erotikwerbungen im Mitternachtsprogramm von Tele 5 unterzugehen drohte. Es liegt wohl auch an dem großen Erfolg im Netz, dass der Fernsehmacher Anfang Januar mit einer Nominierung für den Grimme-Preis bedacht wurde. »Es ist surreal, in welcher Reihe man da plötzlich steht«, sagt Philipp Walulis und meint die Konkurrenten von der »heute-show«, »Pastewka» und »Stromberg«. »Gottseidank ist auch ›Let’s Dance‹ nominiert, das erdet einen.« Das ist so ein typischer Walulis-Satz. Irgendwie frech und doch charmant. Genau so hat ihn auch der Programmchef des Studentenradios M94.5 in Erinnerung, Wolfgang Sabisch. Spricht man ihn auf Walulis an, erzählt er gerne die Geschichte von der 10. Geburtstagsfeier des Senders im Jahr 2006. Walulis sollte ihn mit ein paar vorbereiteten Fragen interviewen, um die geladenen Gäste zu erheitern. »Sagen Sie mal, Herr Sabisch«, hob Walulis dann jedoch an, »die Kollegen und ich, wir fragen uns das die ganze Zeit, und ich denke, das hier ist genau der richtige Rahmen, um Sie das mal direkt zu fragen: Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag?« Das, sagt Sabisch heute, habe ihn »arg ins Schlingern gebracht. Aber so ist der Philipp eben. Etwas Anarchisches hat der schon immer gehabt.« Die Karriere des Philipp Walulis aus Pöcking am Starnberger See beginnt 2004 bei M94.5. Er wird bald die treibende Kraft hinter den »Nachtgestalten«, einer Comedy-Sendung, in der etwa der »kleine Miels« auftritt, das Alter Ego des »kleinen Nils«, des süßen Telefonsschrecks von Antenne Bayern. »Wir haben erst einmal kopiert, was bei den anderen funktioniert«, erinnert sich Walulis. Wie schnell die »Nachtgestalten« jedoch lernen, Absurdes zu überhöhen, zeigen sie am 1. April 2006, als sie das alternative M94.5 kapern, in »SHIT.fm« umtaufen und nur noch den »größten Scheiß der Achtziger und Neunziger und die dümmsten Sprüche von heute« spielen. Zwei Stunden lang moderiert »Breakfast Bernie« die beste Morning-Show aller Zeiten – zusammen mit »Karin Kicherschlampe«. Es gibt Werbung für »Puke Duke«, das Bier mit Zimt-Vanille-Geschmack, einen Blitzerbericht ohne Blitzer und jede Menge aufgeblasener Jingles. Die Persiflage auf das Formatradio der Marke Energy tut einigen M94.5-Stammhörern so weh in den Ohren, dass sie schon bald zum Sender pilgern und auf Transparenten ihr Radio zurückfordern. Einen Schritt weiter gehen Walulis und die »Nachtgestalten«, als sie 2007 das Hiphop-Label »Aggro Grünwald« gründen und als »Die Stehkrägen« ihre Freude am Reichtum besingen. Mit dem Song »Eure Armut kotzt uns an« wollen sie den seinerzeit angesagten Hartz-IV-Rap aus Berlin auf die Schippe nehmen, doch die Idee, als reiche Zahnarzt-Kiddies mit Geld um sich zu werfen, sorgt für heftige Reaktionen im Internet. Walulis: »So manchen Kommentator hätte ich damals am liebsten schütteln wollen, um ihm zu sagen: Das ist Ironie, verdammt, check das doch mal!« Doch selbst Journalisten fallen auf die »Stehkrägen« herein. Zum einen, weil der Tüftler Walulis Video und Homepage so professionell und authentisch gestaltet hat, dass das Ganze nur schwer als Satire zu entziffern ist. Und zum anderen, weil sich die Band-Mitglieder, die sich MC Erbgraf, Yachtmeister oder Goldmann X nennen, in Interviews eisern an ihren Rollen festhalten. »Wir wollten sehen, wie weit wir gehen können, und haben gelernt, dass man Satire im Zweifelsfall abschwächen sollte«, sagt Walulis. Oder auflösen. Wie schwer es sein kann, sie zu enttarnen, hat er, der Profi, neulich selbst erfahren müssen. »Ich war bei einem Konzert des österreichischen Hiphoppers Money Boy, der sich ähnlich aufführt wie wir damals. Und danach war ich es, der im Internet verzweifelt rumgesucht hat, um herauszufinden, ob der Typ echt ist.« 2010 dann bastelt Walulis mit alten M94.5-Weggefährten an seinem ersten TV-Format, »Philipp und Philipp unterhalten sich«. Viele der Ideen entwickeln er und sein Co-Autor, die »Nachtgestalt« Tobias Klose, für »Walulis sieht fern« weiter, das wie sein Vorgänger vom Aus- und Fortbildungskanal afk tv in München produziert wird. »Im Nachhinein sieht das alles wie ein logischer Plan aus«, sagt Philipp Walulis. »Aber so war es nicht. Mir ging es immer nur darum, Spaß zu haben – und unregelmäßige Arbeitszeiten: Die Vorstellung, die ganze Zeit in einer Redaktion zu sitzen, bis man mit 35 jegliche Lebensfreude aufgebraucht hat, finde ich unerträglich.« Bleibt die Frage, wie es mit »Walulis sieht fern« weitergehen soll, vor allem jetzt, nachdem die Nominierung zum Grimme-Preis das Projekt geadelt hat. »Also wir haben Ideen, und wir führen Gespräche«, sagt Walulis. »Wenn uns jemand eine Badewanne voller Geld hinstellt, machen wir schon was damit. || Walulis in seiner »Tatort«Parodie als schmieriger und verdutzter Atomfunktionär | © Tele 5 / afk.tv Die erste Staffel »Walulis sieht fern« lief 2011 bei Tele 5, und 80.000 bis 90.000 Zuschauer waren bei jeder Folge dabei. Weitere Infos und Videos unter www.walulissiehtfern.de medien Münchner feuilleton · märz · Seite 13 Was? Sie lesen noch auf Papier! Über das Ende des Formats und wie die Cloud unsere Kultur verändern wird. Michael Bartle Liebe Leser, Sie sind ganz schön stylisch und verwegen. Oder altmodisch. Während eine Menge Menschen nur noch von der Cloud reden, der großen virtuellen Kultur-Garage, in der sie all ihre Artikel, Bücher und Musik geparkt haben, lesen Sie diesen Beitrag noch auf Zeitungspapier. Am Ende hören sie Musik noch auf Festplatte. Oder als CD? Ach, hören Sie doch auf damit! Letztes Wochenende habe ich leichten Herzens Kultur-FengShui betrieben. Einen ganzen Koffer voller CDs habe ich aussortiert. Plastikmüll! Ein paar wenige Informationen dieser Datenträger der Vergangenheit habe ich auf den Rechner gezogen und in meine Cloud verschoben. Noch habe ich ein überquellendes Bücherregal, aber immer häufiger steht unser Laptop mit auf dem Frühstückstisch. The medium is the message. Die Geschichte der Kultur ist eine Geschichte der Formate: Und die Cloud könnte das Format aller Formate werden, ein Nicht-Format, selbst konturlos, das aber alle anderen pulverisiert. Die Cloud ist der virtuelle Speicherplatz, auf den man mit mobilen Geräten wie Smartphones oder iPads zugreifen kann – überall dort, wo ein Netz besteht. Die ganze Familie kann mit jedem Endgerät auf alle Daten, Bilder, CDs und E-Books zugreifen, egal von welchem Rechner aus. In der Regel kostet dieser Stellplatz je nach Anbieter um die 10 Euro Miete im Monat für circa 50 Gigabyte. Damit wird sich Kultur und die Art, wie wir sie produzieren, wahrnehmen und gebrauchen, ein weiteres Mal fundamental verändern. In Zukunft werden wir Kultur kaum mehr besitzen, müssen dafür aber auch keine Kisten von Büchern und CDs ins Auto hieven, wenn wir umziehen oder in den Urlaub fahren. Es ist der Beginn von Kultur-Konsum ohne Besitz. Und damit der Abschied vom Haben. Stattdessen wird es um »access« gehen, um Zugänge. Wer mehr zum Thema hören will: Im Podcast-Angebot des Bayerischen Rundfunks gibt es eine Bayern2/Zündfunk Sendung über die Cloud von Christian Schiffer und Michael Bartle zum Nachhören und Herunterladen. Wie verändert die Cloud unsere emotionale Bindung zu Musik und Kultur, wenn wir sie nicht mehr besitzen, anfassen, streicheln können? Werden wir unsere Musik anders hören, wenn sie zu einer reinen Link-Liste geworden ist? Wir werden Bücher doch nicht noch ein zweites, drittes Mal aus dem Kindle ziehen können wie aus dem Regal! Gehören zu unserer Kultur nicht auch die Spuren der Benutzung, der Kratzer, das Eselsohr, das Altern und Vergilben oder ist das nur ein nostalgischer Flashback von gestern? Netzvordenker wie der Buchautor und Spiegel-OnlineKolumnist Sascha Lobo pfeifen auf Nostalgie. Kein Mensch brauche den digitalen Hänger auf der CD, den Kratzer auf der Platte, das Sich-Verhaken der DVD. Digitale Nomaden wie der Blogger Michael Seemann sind erleichtert, dass Ideen und Kultur nicht mehr an ein Format festgekettet sind, das sie trägt und das sie, wie das Buchcover, optisch oft nur leidlich repräsentiert. Die Cloud wird kommen, keine Frage. Allerdings sind die Verdienstmöglichkeiten in der Wolke für unsere Kulturproduzenten alles andere als himm- lisch. Jedenfalls bisher. Für den Bayerischen Rundfunk hat die Berliner Band Bodi Bill ihre Vergütung offengelegt. Pro Stream bei Anbietern wie simfy ist sie am Ende mit weniger als 0,002 Cent entlohnt worden. Nach Abzug aller Unkosten blieben bei der Gruppe nach einem Monat 9 Euro für insgesamt 16000 Streams hängen. Dafür könnten sie auch Straßenmusik machen. Aber das Streaming-Modell ist erst am Anfang. Oke Göttlich von der Plattform Finetunes macht eine einfache Rechnung auf: Kunden von Streaming-Diensten zahlen 10 Euro im Monat für den Zugriff auf 10 Millionen Songs. Das sind 120 Euro im Jahr pro Person für Musik und damit in etwa vier Mal so viel, wie der durchschnittliche Deutsche bisher dafür ausgibt. Auch e-books und Hörbücher lassen sich streamen, erste Anbieter wie Audiobooks.com oder 24Symbols sind längst am Start. Die Kulturoptimisten sagen deshalb: Endlich ein Geschäftsmodell, das ein legales Angebot für die Generation Internet eröffnet, die sich ohnehin – siehe die erfolgreichen Acta-Proteste – von nichts und niemand etwas vorschreiben lässt. Ob ich Angst dabei empfinde, meine Bücher und CDs zu digitalisieren und in eine Wolke zu verschieben? Nicht mehr als davor, dass meine Festplatte abrauchen könnte. Oder mein Handy mit allen Daten zu verlieren. Ich vermute, mein Provider ist sicherer und weniger chaotisch als ich. Und meine wichtigste Wertsache, mein Geld, ist doch längst virtualisiert und lagert als Nullen und Einsen auf dem Konto meiner Bank, ohne dass ich tagtäglich vor Sorgen zusammenbreche ... Wer garantiert aber, dass alle Menschen diesen Zugang zu Kultur bekommen? Dass Kultur nicht zum Privileg einiger weniger wird, verwaltet und bereitgestellt von profitorientierten Unternehmen? Kultur, dies ist ein banaler Satz, macht unsere Identität aus. Sagt, wer wir sind, wie wir ticken, was für Werte uns wichtig sind. Die Cloud darf daher keine »gated community« werden, in der die Nutzungsbedingungen großer Firmen gelten, die den Zugang zu unserer Kultur regeln. Ob die Generation Internet in der Lage ist, nicht nur die Macht der Politik bisweilen zu brechen, sondern auch die der neuen großen Player wie Google, Apple und Facebook, das wird sich zeigen. Darauf vertrauen sollte man besser nicht. Maurice Summen, Sänger der klugen deutschen Band »Die Türen« fordert deshalb eine öffentlich zugängliche Kultur-Cloud. Eine Lebensversicherung dafür, dass wir alle weiterhin Zugang haben zu unserer dann weitestgehend digitalisierten Kultur. In jedem Fall sollten wir alle gemeinsam konstruktiv darüber diskutieren, wie künftig diese Zugänge verwaltet werden. Immerhin hat die Wolke das große Potential, mehr Menschen mehr Kultur zugänglich zu machen. Die Notwendigkeit, das Kunstwerk zu reproduzieren, ist dahin. Denn es ist immer da. Dieser Artikel gehört nicht mehr mir. Jetzt gehört er Ihnen. Sie können ihn jetzt ruhig wegschmeißen. Noch schöner wäre aber, Sie teilten ihn auf Facebook – oder mit wem auch immer Sie sich gerade rumtreiben. || tanz Seite 14 · märz · Münchner feuilleton Kommen und Gehen Leichte Muse und zeitgenössischer Tanz – wie geht das zusammen? Hans Henning Paar verabschiedet sich, das Gärtnerplatztheater wird renoviert, und wie sich unter neuer Intendanz das Ballett dort präsentiert, steht wieder einmal in den Sternen. Ein Blick zurück. Klaus Kieser In Deutschland gibt es traditionell jede Menge Mehrspartentheater, doch bedeutet das nun nicht, dass alle Sparten gleichberechtigt sind. Welche Sparte als die wichtigste angesehen wird, bestimmt der Intendant. Der kommt in aller Regel aus dem Opern- oder SchauspielHans Henning Paar | Augenblick, verweile | 2012 | Fotos: Lioba Schöneck bereich, und das heißt, dass das Ballett häufig die ungeliebte Restsparte ist. Die man, falls bei Sparmaßnahmen erforderlich, am ehesten zur Disposition stellt. Das Müncher Staatstheater am Gärtnerplatz, landläufig Gärtnerplatztheater genannt, ist vor diesem Hintergrund ein Spezialfall in der deutschen Theaterlandschaft. Die einstige deutsche Staatsoperette – das Theater erhielt diesen Titel 1937 und war damit im Dritten Reich das einzige staatliche Operettentheater – spielt nämlich seit seiner Wiedereröffnung 1948 Opern in deutscher Sprache und insbesondere die sogenannte leichte Muse, also Operetten und Musicals. Deshalb brauchte das Gärtnerplatztheater ein Ballettensemble, weil ja in Operetten und Musicals Tanzeinlagen integraler Bestandteil sind. Andererseits will ein Ballettdirektor seine Truppe nicht nur in Inszenierungen des Musiktheaters tanzen sehen, sondern auch Tänzerisches mit eigeHans Henning Paar | Romeo und Julia | 2008 | Foto: Ida Zenna nem künstlerischem Anspruch verwirklichen. Sofern ihn eben der Intendant lässt. In den letzten 60 Jahren hat das Ballett am Gärtnerplatzam Gärtnerplatztheater »Die Dame und das Einhorn« – immertheater stets den Primat des (unterhaltenden) Musiktheaters hin nach einem Libretto von Jean Cocteau (und mit der 17-jähakzeptieren müssen. Dabei hatte es an diesem Haus einen veririgen Veronika Mlakar, die damit den Grundstein ihrer Karriere tablen Erfolg nur fünf Jahre nach der Wiedereröffnung gegelegte). Diese Uraufführung in der noch jungen Bundesrepublik ben. 1953 choreographierte Heinz Rosen als Gastchoreograph stellte ein bedeutendes kulturelles Ereignis dar, das ein »illustres internationales Premierenpublikum« anlockte, wie Otto Friedrich Regner in der »Zeit« festhielt. Anzeige So viel Flair verströmten die Stücke der choreographierenden Ballettmeister Günter Hess und Werner Stammer, die vom 21 bis 29 April 2012 Ausdruckstanz kamen und bis in die fünfziger Jahre hinein am Gärtnerplatztheater wirkten, nicht. Auch spätere Ballettdirektoren, wie die Position dann genannt wurde, haben keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, wie etwa Imre Keres oder Ivan Serti. Erst als Günter Pick 1984 das Ballett des Gärtnerplatztheatertheaters übernahm, gewann die Sparte an künstlerischer Schlagkraft, konnte die Zahl der Premieren erhöht werden. Pick, der bis 1996 das Ensemble leitete, holte auch Stücke des Weltrepertoires ans Haus, wie José Limóns »The Moor’s Pavane«, Kurt Jooss’ Antikriegsklassiker »Der grüne Tisch« oder Birgit Cullbergs »Fräulein Julie« – Werke, die man eher auf dem Spielplan des Balletts der Staatsoper vermutet hätte als am Gärtnerplatztheater. Unter Picks Nachfolger Philip Taylor, der viele Jahre unter Ji í Kylián im Nederlands Dans Theater tanzte, setzte sich diese Ausrichtung fort, verlagerten sich die eingekauften Stücke in Richtung zeitgenössische Meisterwerke. So gelang es ihm etwa, wichtige Choreographien von Rui Horta (»Ordinary Events«), Das Robert Cohan (»Stabat Mater«) und Kylián für seine Kompanie Festival zu erwerben. Gerade mit der Einstudierung eines für Kyliáns Laufbahn so bedeutenden Stücks wie »Stamping Ground« junger schlug er dem Bayerischen Staatsballett ein gehöriges SchnippRegisseure chen, reklamierte dieses doch den berühmten Choreografen qua Renommee zu seinem angestammten Gefilde. Konkurrenz ist Förderer des Festivals Radikal jung 2012 belebt das Geschäft, konnte man da nur sagen. Foto: Rich Lam / Getty Images radikal jung Eine solche Profilierung, wie sie Pick und Taylor unternahmen, war nur möglich mit Unterstützung des Intendanten. Insbesondere Taylor hatte da mit Klaus Schultz Glück gehabt. Als Schultz 2007 ging, endete auch Taylors Direktorenzeit. Der Intendantennachfolger Ulrich Peters holte einen neuen Chef fürs Ballett, das sich nun TanzTheaterMünchen nannte: Hans Henning Paar. Peters wird zum Ende dieser Spielzeit München wieder verlassen und nach Münster ziehen, mit ihm geht Paar, den der zukünftige Intendant Josef Ernst Köpplinger nicht halten wollte. Paar wäre allerdings gern an der Isar geblieben. Denn mit seinem Markenzeichen, narrative Ballette mit einer in die heutige Zeit passenden Handlung zu kreieren – egal ob Klassikerneudeutung oder Eigenschöpfung –, war er zwar nicht ungeteilt bei der Presse, doch dafür einstimmig beim Publikum erfolgreich. Er reklamiert für sich, dass er mit seiner Arbeit Zuschauerzahlen und Einnahmen im Tanzbereich gesteigert habe: »2010/11 war für das Haus die beste Spielzeit seit 16 Jahren. Die Einnahmen des Tanztheaters haben sich in den letzten vier Jahren, im Vergleich zu meinem Vorgänger Philip Taylor, um 75 Prozent gesteigert. Das Publikum hat sich verjüngt, das ältere ist aber nicht weggeblieben«, sagte er in einem Interview mit Malve Gradinger. Wie sich die Zuschauerzahlen ab Mai dieses Jahres entwickeln, steht freilich in den Sternen. Denn dann beginnt eine dreijährige Renovierung des Gärtnerplatztheaters; alle Sparten spielen in Ausweichquartieren in der Stadt, darunter Prinzregententheater, Cuvilliéstheater, Reithalle und für den Tanz auch Schwere Reiter. Köpplinger bringt aus Klagenfurt den Choreographen Karl Alfred Schreiner mit, ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Dieser hat jedenfalls Köpplingers Auflage akzeptiert, dass die Balletttruppe nicht nur in Musicals – wie schon zu Zeiten von Taylor und Paar –, sondern auch wieder, wie in fernerer Vergangenheit, in Operetten tanzen wird. Wenn Schreiner mit seinen Stücken beim kritischen Münchner Publikum keinen Erfolg haben sollte, weiß er wenigstens schon eine berufliche Alternative, wie er in einem Interview mit Ingrid Türk-Chlapek verriet: »Sollte es nicht klappen: Wissen Sie, ich koche gern. Ich könnte eine Trattoria in Süditalien aufmachen.« || augenblick, verweile Ein Abend über den Tanz zu Musik von Tschaikowsky. Inszenierung/Choreographie: Hans Henning Paar Staatstheater am Gärtnerplatz | 29. März, 19.30 | 31. März, 19.00 | 15. April, 15.00 | 18. April, 19.30 Spielplanpräsentation durch den designierten Staatsintendanten Josef E. Köpplinger Staatstheater am Gärtnerplatz | 16. März | 17.00 tanz Münchner feuilleton · märz · Seite 15 Von Neben- zum Miteinander Johanna Richters Tanztheater »Intimate Stranger« in der Schauburg. Gabriella Lorenz Kennen Sie die Leute, die neben Ihnen im selben Stock des Apartmenthauses wohnen? Vermutlich nicht. Aber Sie kriegen doch deren Gewohnheiten mit: Wer wann nach Hause kommt, ob er seine Fußmatte gerade rückt, ob er Ihnen auf dem Flur zunickt oder lieber ausweicht. Genau diese Situation macht die Choreografin Johanna Richter an der Schauburg zum Thema ihres Tanztheaters »Intimate Stranger« für Jugendliche ab 13 und Erwachsene. Mit ihrem Ensemble aus drei Tänzern und drei Schauspielern zaubert sie daraus soviel Witz und Situationskomik, dass einem am Ende alle diese vertrauten Fremden – die anonymen Nachbarn – ans Herz gewachsen sind. Das Jugendtheater Schauburg hat das Tanztheater seit Jahren mit Eigenproduktionen und Gastspielen in sein Repertoire integriert. Johanna Richter arbeitet seit 2004 immer wieder hier, auch mit den Ensemble-Schauspielern, die keine Tänzer sind, und hat mit ihnen schon in »Meeting Point« und »U Turn« Aufführungen entwickelt, die ebenso unterhaltsam wie aktuell sind. »Intimate Stranger« ist ein Highlight – mit nur einem Makel: Es ist eine knappe halbe Stunde zu lang. Sechs Apartment-Türen, ein Treppenhausflur, ein Lift. Die sechs Bewohner haben alle ihre Ticks. Der Spanier Gonzalez (Miguel Fiol Duran) klaut kleptomanisch alles, was im Flur steht, und hat es vorzugsweise auf den Fußabstreifer von Maifeld abgesehen. Ein Running Gag: Immer, wenn der kleine Gonzalez zum Mattenklau schleicht, öffnet der große Maifeld die Tür. Tim Bergmanns Maifeld hat Berührungsängste: Er nimmt lieber die Nottreppe, als den Lift mit einem anderen zu teilen. Und versteckt sich in Türstöcken vor den Mitbewohnern. Ungesehen bleiben möchte auch Herr Gruber (Volker Michl), wenn er in Frauenkleidern ausgeht. Der brasilianische Blumenverkäufer (Ronni Oliveira) verschenkt Gladiolen an alle und bleibt sogar heiter, wenn Gonzalez seine Topfpflanzen stiehlt. Der Grieche Chalkidis (Jannis Spengler) pappt als Ordnungsfanatiker überall Zettel hin und fotografiert durch die Türspione. Und der slawische Drogendealer (Sasa Kekez) schließt die eigene Wohnung auf, als wäre er ein Einbrecher, und vollführt mit Handys Taschenspielertricks. Geredet wird wenig und nur in der jeweiligen Muttersprache. Wie man sich trotz des Nicht-Verstehens über Körpersprache annähert, erzählen die Darsteller aus fünf Ländern hinreißend komisch, musikalisch getragen von wunderbar atmosphärischen Jazz- und Swing-Songs der 20er- bis 40er-Jahre. Nach einem kollektiven Disco-Fieber-Ausbruch allerdings 30., 31. März partita Choreografie/Tanz: Daniela Graça mixed pickles Drei Menschen in einem Raum verpassen sich. Wie oft? Wieso? Warum? Choreografie: Daniela Graça Tanz: Caroline Finn, Claudia Senoner, Jack Waldas zieht sich’s mit den Verbrüderungen bis zum gemeinsamen Abendmahl auf dem Flur (Bühne: Mark Rosinski). Da könnte man gut kürzen in dieser bezaubernden Aufführung über den unbekannten Nachbarn. || INTIMATE STRANGER Schauburg 20., 21. März, 18. Mai, jeweils 10.30, 19., 20. März, 17.–19. Mai, jeweils 19.30 Uhr | Telefon 233 37155 | www.schauburg.net Anzeige Bayerisches staatsBallett Ve e i n ry b e e ritis n s a gl i s h ! ? i s o ch e n GoldBerG variationen Gods and doGs Schwere Reiter | Dachauer Straße 114 | 20:30 Eine neue Choreografin stellt sich vor: Daniela Graça ist seit 20 Jahren als Tänzerin, Choreografin und Lehrerin tätig. Sie arbeitete in diversen europäischen Kompanien und Projekten, unterrichtete 10 Jahre an der Amsterdamer Hochschule der Künste und lebt nun in München. PremIere 22. 4. 2012 15.,16. März Throwing Myself in Front of You Choreografie: Stephan Herwig | Tanz: Zufit Simon, Mathias Schwarz, Stephan Herwig Choreographien jerome robbIns jIří KylIán Schwere Reiter | Dachauer Straße 114 | 20:30 Wiederaufnahme: Drei Tänzer mit spezieller Präsenz und Artikulation präsentieren sich mit Oszillationen zwischen Fiktion und Authentiziät, zwischen Alltag und Bewegungskunst. Eine Verausgabung vor und ein Spiel mit dem Publikum. InformatIon/Karten Anz_GOLD_188x325_Feull.indd 1 t 089 2185 1920 www.staatsballett.de 22.02.12 15:21 augenweide Seite 16 · märz · Münchner feuilleton »Hoffen« aus dem Triptychon »Tun, Nichtstun, Hoffen« Florian Froese-Peeck Tun, Nichtstun, Hoffen Eine Ikonografie des rebellischen Konflikts Florian Froese-Peeck, geboren 1975 in München, studierte an der Akademie der Bildenden Künste bei Prof. Stephan Huber Bildhauerei. Interaktion mit dem Betrachter sind wiederkehrende Elemente seiner Arbeiten, die in zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen gezeigt wurden. Voraussichtlich im Mai 2012 sind aktuelle Arbeiten von ihm im Rahmen der offenen Ateliertage im Atelierhaus Baumstraße zu sehen. Das Foto-Triptychon »Tun, Nichtstun, Hoffen« zeigt dreimal denselben Mann in einer nächtlichen Parklandschaft: Liegend symbolisiert er auf der linken Seite das »Nichtstun«, rechts irgendwo im Schatten das »Tun«, und schließlich in der Mitte – vor einer Straßenlaterne betend – das »Hoffen«. Dieses Triptychon wurde erstmals im Rahmen der Ausstellung »Erfolg durch Rebellion« in Barcelona 2009 gezeigt. Der Künstler sagt: »Die Rebellion ist eine temporäre Struktur, in der sich um den Rebellen die Motive ›Tun‹, ›Nichtstun‹ und ›Hoffnung‹ anordnen. Hinter ihr steht ein wahrer Aufbruch im ›Tun‹, als Potential die pure ›Hoffnung‹ und ihr entgegen steht das fatalistische ›Nichtstun‹. Man rebelliert, weil die Umstände es verlangen. Allerdings sind bei jedem die Grenzen anders gesteckt und die Verhaltensweisen höchst unterschiedlich. Sind die Nichtrebellen nicht von Anfang an Gefangene, die gelernt haben, Kompromisse einzugehen? Kompensieren sie mit Trugbildern und durch Verweigerungsgesten, verharren dabei in stiller Hoffnung? Fühlt sich ein Individuum machtlos, bleibt ihm zunächst nur die Hoffnung. Solange man sagt, ›jemand habe die Hoffnung nicht aufgegeben‹, scheint noch nichts verloren. Hoffnung ist das Gegenteil von Resignation und Depression. Aber Hoffnung hat nichts mit Wahrheit zu tun; sie besteht meist aus einem naiven Glauben an eine Sache.« || Florian Froese-Peeck Atelierhaus Baumstraße Baumstraße 8 | 80469 München www.bildhauerarbeiten.com kunst Münchner feuilleton · märz · Seite 17 Sie wanderten zusammen, machten Reisen, schilderten die Natur: Carl Spitzweg und sein Freund, der Landschaftsmaler Eduard Schleich. In Dachau treffen sie sich jetzt wieder. Landschaft in Variationen Carl Spitzweg | »Am Ammersee bei Schondorf« | um 1860 | Öl/Zigarrenkistenholz, 15,7 x 32 cm | Privatbesitz, Foto Christian Mitko Eduard Schleich d.Ä. | »Münchner Straße« um 1860 | Öl/Holz, 28,5 x 72 cm | Gemäldegalerie Dachau, Eigentum Stadt Dachau, Foto Peter Brunner Eduard Schleich d.Ä. | »Am Ammersee« um 1855/60 | Öl/Leinwand, 30,5 x 59 cm | Privatbesitz, Foto Christian Mitko Thomas Betz Was als erstes ins Auge fällt, ist das Licht in der Landschaft. Schräg bricht es durch die Wolken, beleuchtet die Ferne, umspielt Gipfel, belebt die Wolkenhaufen, lässt den Abendhimmel erstrahlen, schwebt als Mondsichel und erscheint im Regenbogen. Die Motive und malerischen Zugriffe von Eduard Schleich wurden prägend für die sich um 1850 entwickelnde Münchner Landschaftsmalerei. Was als zweites auffällt, sind die verschiedenartigen Rahmen, denn die meisten Gemälde stammen aus Privatbesitz. Die kleinsten Stücke passen unter eine Handfläche: ein Blick auf die Silhouette Münchens von Schleich und ein Beispiel der vielleicht häufigsten Motivkombination, eine Voralpenlandschaft mit weidenden Kühen und Hirten am Weiher, von Carl Spitzweg. Denn um den zweihundertsten Geburtstag von Schleich, einem der Pioniere der Münchner Landschaftsmalerei, zu würdigen, wurde ihm ein zugkräftiger Name beigesellt: sein Freund Spitzweg, der hier als Landschaftsmaler zu entdecken ist. Joseph Eduard Franz Xaver Kalistus Schleich besuchte nach dem Tod der Vaters, eines verarmten Freiherrn und Staatsrats, den kostenlosen Unterricht an der Kunstakademie. 1827 inskribierte er im Fach Historienmalerei. Damit sollte es der begabte 14-Jährige nicht weit bringen: Sein Lehrer, Akademiedirektor Peter von Cornelius, beurteilte ihn als talentlos und empfahl ihm das Schuhmacherhandwerk. Aufklärungsliteraten hatten die Schönheit der bayerischen Landschaft gepriesen, der englische Garten ließ in München malerische Ansichten erleben. Schleich suchte nach seiner Entlassung nun als Autodidakt, statt idealisierende Kompositionen zu arrangieren, die »unverfälschte« Landschaft zu schildern. Neben dem Kopieren der Alten Meister widmete er sich immer stärker dem Naturstudium, wie es schon Johann Georg von Dillis, der Pionier der Münchner Landschaftsmalerei, empfohlen hatte. Der hatte seinen Lehrstuhl bereits 1814 wieder aufgegeben. Die sogenannten Landschafter waren in der akademischen Hierarchie der Genres ganz unten angesiedelt. Cornelius schmähte sie 1825 als »Moos und Flechtwerk am Stamme der Kunst«. Doch sie waren es, die in München eine neue Blüte der Malerei im 19. Jahrhundert hervorbrachten: wie die Freilichtmaler in Barbizon oder Maler von Stimmungslandschaften aus dem Norden, die bald auch in oberbayerischen Mooren ihre Motive fanden. Schleich konnte sich auch an Carl Rottmann und dem befreundeten Landschaftsmaler Christian Morgenstern orientieren. Von den Horizonten des einen oder den Panoramaansichten des anderen übernahm er später vielleicht das gestreckte Querformat. Was er schon in jungen Jahren leistete, zeigt das früheste Gemälde der Ausstellung, »Landschaft mit absterbender Eiche« von 1832 (im Besitz der Neuen Pinakothek). In der Landschaft hatte Schleich sein Lebensthema gefunden. Carl Spitzweg suchte anfangs noch Stoffe und Sichtweisen. Der Pharmazeut wechselte zum Malerberuf und trat 1833 in den Münchner Kunstverein ein. Dort traf er auf Schleich, denn die Kunstvereine waren Netzwerke nichtakademischer Maler, eröffneten Ausstellungs- und Verkaufschancen. Schleichs Landschaftskunst beeindruckte ihn. Die Freunde gingen auf Wanderfahrt, reisten nach Italien, Prag, Paris, London. Spitzweg war mit seinem Markenzeichen des humorvoll-satirischen Pointenbilds (dieses Genre galt damals noch weniger als die Landschaft) zunächst keine prominente Figur im Münchner Kunstleben. Ab den 1840er-Jahren wurden beide immer erfolgreicher, Schleich verkaufte blendend, musste in seinem Atelier in der Blumenstraße schließlich Hilfskräfte anstellen, war hoch angesehen als Ehrenmitglied der Akademie, langjähriger Juryleiter und als Organisator der Internationalen Kunstausstellung 1869 im Glaspalast.Schleich starb 1874 an der Cholera. Nach der Testamentseröffnung meldete sich ein unehelicher Sohn, Eduard Zwengauer, der das väterliche Erbe finanziell und künstlerisch antrat: Er nannte sich Eduard Schleich d.J. und wurde Maler. Schleich der Ältere liegt wie sein Freund Spitzweg auf dem Alten Südfriedhof, und in Dachau treffen sie nun wieder zusammen, wie früher schon. Denn Schleich hatte hier viele Ansichten gemalt, Spitzweg fleißig Land und Leute skizziert. An den Wänden in der traditionsreichen Gemäldegalerie kann man anhand von 60 Gemälden Schleichs Entwicklung und Varianten studieren; ein Einbau präsentiert 30 Beispiele aus der Spitzweg-Welt, vom »Armen Poeten« bis zu einer kühn abstrahierten Skizze der Theresienwiese. An den Außenseiten dieses Gehäuses wird Spitzweg als Landschafter präsentiert. Er malte, oft auf Zigarrenkistenholz, ähnliche Motive wie Schleich, und nicht nur auf Schleichs Bild der Dachauer Allee Richtung München dürfte Spitzweg die Figürchen vor den Fernblick in die Landschaft gesetzt haben. Der Tiermaler und Freund Friedrich Voltz soll mit Kühen ausgeholfen haben. Schleich wiederum unterstützte Spitzweg bei der dynamischen Gestaltung des Himmels. Eine Ausstellung für Liebhaber. || Eduard Schleich d.Ä. und Carl Spitzweg. Eine Künstlerfreundschaft Gemäldegalerie Dachau Konrad-Adenauer-Str. 3 | 85221 Dachau | bis 9. April | Di–Fr 11.00–17.00, Sa, So, Feiertag 13.00–17.00 | Der Katalog kostet 22 Euro. Anzeige I n t I M at E StrangEr tanztheater von Johanna richter 19./20.3. 19:30 Uhr Das Kinder- und Jugendtheater der Landeshauptstadt München Fra n z - J o s e p h - St r. 47, ✆ 2 3 3 371 - 5 5 , w w w. s ch a u b u rg . n et S chau B urg am Elisabet hplatz kunst Felix Burger | »Train B« | 2012 | 3-teilige Videoinstallation Seite 18 · märz · Münchner feuilleton Dem Tod ein Gesicht geben Der Künstler Stephan Huber hat in der Gesellschaft für christliche Kunst eine kontemplative, irritierende Ausstellung zu den letzten D ingen kuratiert. Anzeige Thomas Betz Uraufführungen Konzerte 3. /4. / 6. Mai, Muffathalle 4. Mai, Herkulessaal Sarah Nemtsov L’ABSENCE (nach Edmond Jabès) Regie: Jasmin Solfaghari Bundesjugendorchester, Leitung: Rüdiger Bohn 5./7./8. Mai, Gasteig/Carl-Orff-Saal Eunyoung Kim Mama Dolorosa Regie: Yona Kim Staatsorchester Braunschweig, Leitung: Sebastian Beckedorf 16./18./19. Mai, Muffathalle Arnulf Herrmann Wasser Regie: Florentine Klepper Ensemble Modern, Leitung: Hartmut Keil 15./16. Mai, Gasteig/Carl-Orff-Saal Biennale Extra Studierende der Universität der Künste Berlin A Game of Fives Konzert der musica viva/Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Leitung: George Benjamin Werke von Ligeti, Murail (UA), Messiaen, Benjamin 8. Mai, Prinzregententheater Münchener Kammerorchester, Leitung: Nicholas Collon, Werke von Cage, Mozart, Fujikura, Schreker 18. Mai, Gasteig/Philharmonie Münchner Philharmoniker, Leitung: Long Yu Werke von Xiaogang Ye („Das Lied von der Erde“), Xiaoyong Chen, Jia Guoping Biennale Special Nucleus 1-8/Helga Pogatschar/Ensemble piano possibile/Musik zum Anfassen/Alexander Strauch Veranstalter In Zusammenarbeit mit Spielmotor München e. V. – eine Initiative der Stadt München und der BMW Group Karten über München Ticket www.muenchenticket.de Vorverkaufsbeginn: 20. März 2012 »Der Tod ist die Ruhe«, schrieb Cesare Pavese, »aber der Gedanke an den Tod ist der Störer jeglicher Ruhe.« Wer denkt also oft an den Tod? Gern? Der christliche Glaube scheint eine hoffnungvolle Antwort zu bieten auf diese entscheidende Grenzüberschreitung, als die der Tod sich darstellt. Die deutsche Gesellschaft für christliche Kunst, die seit 1893 zeitgenössische Kunst im Dialog von Kunst und Kirche fördert, hat sich schon öfter dem Tod als Thema gewidmet – und nun auch ihre letzte Ausstellung in den historischen Räumen am Wittelsbacher Platz. (Auch Immobilien sind vergänglich, denn Siemens reißt für den Neubau seiner Zentrale den Gebäudekomplex ab.) Geschäftsführer und Galerieleiter Wolfgang Jean Stock hat den Münchner Künstler Stephan Huber als Kurator bestellt. Der wiederum stellte 22 Werke (teils von Absolventen seiner Klasse an der Kunstakademie) zusammen, die Gedanken provozieren und Fragen nach dem Umgang mit Tod aufwerfen. Was etwa sind Orte des Todes? Umgebungen, Bilder, Gegenstände, Oberflächen? Leicht zu reinigender Edelstahl etwa, wie in der Pathologie, die uns Krimis und Thriller zeigen? Schauplätze von Kriegshandlungen und Attentaten, die uns die Bildmedien nahebringen? Ein Passagierflugzeug? Die Videoinstallation von Felix Burger etwa versetzt uns in eine U-Bahn, die zwischen Orten des Todes verkehrt. Und bettet die sanft ineinander gleitenden Schreckensbilder mit dem Kreischen der Schienen, mit anund abschwellenden Klängen in unser Ohr. Zeichnungen, Skulpturen, Installationen, Filme hat Huber zusammengestellt, bildnerische Mittel, mit denen er selbst als Künstler wie auch als Professor mit den Studierenden arbeitet. Er selbst hat zwei schwarze Stelen von archaischer Expressivität und frühindustrieller Strenge wie Totempfähle mit Totenschädeln als Torpfosten im zentralen Raum positioniert, wo Ingmar Bergmans Tod uns begrüßt. Eine andere Dimension von Skulptur demonstriert das »Tödlein« von Thomas Ort, als Replikat in der Manier des spätgotischen Bildschnitzers Hans Leinberger aus dem Holz herausgearbeitet. Das Gerippe mit Pfeilen und Bogen – Haut und Kleidung hängen in Fetzen am Skelett – kokettiert in drastischer Dynamik mit den ComicIkonen unseres Kunststoff- und Virtual-Reality-Zeitalters. Nicht das einzige Skelett in der Ausstellung, in der es aber auch direkt ans Fleisch geht. Die Grenzüberschreitung des Körpers aus dem Leben in den Stillstand, ins Verschwinden inszenieren etwa ein öbszönes Foto von Sophia Süßmilch, wo der Abschiedskuss, die Totenstarre, die Altersmesalliance von Girl-Senioren-Pornographie und nekrophiles Zungezeigen miteinander oszillieren, und ein Film von Stan Brakhage (1971). In dokumentarischem Gestus und drastischen Nahaufnahmen verfolgt er die Zerlegung des Körpers, die Handgriffe und Materialexperimente in der Pathologie. Ständige Abschiede: wie es ist, wenn uns der Tote abhanden kommt. Oder wie es wäre, wenn dem Sterbenden die Welt sich auflöst, zeigt ein Video von Verena Seibt und Clea Stracke (2012), wo noch während der letzten Atemzüge die Kulisse des Zimmers und Bettes davongeweht wird. Filmbilder können, wie es scheint, die Zeit dehnen, raffen, anhalten oder rückwärts laufen lassen. »Prestroke Hold« ist die Projektion von Funda (2012) betitelt, das heißt: der Moment des Hinauszögerns vor der Geste. Die junge Frau hier hängt – verkehrt herum nach oben – in der Luft, wie seltsam festgezaubert als Blüte im Wind, als Fledermaus, als keusche Venus im Kunstpelz. »Ich bin Günter Saree und sterbe. Bleibt ruhig«, schrieb der an Krebs erkrankte Aktionskünstler Günter Saree auf sein Sterbetuch, das er im letzten Lebensjahr als letzten Willen (und letzte Aktion) bei sich trug. Dass diese Kunstwerke beunruhigen können, das ist ihre Leistung, ist ihre Aufgabe. || TOD. Zweiundzwanzig Kunstwerke – ausgewählt von Stephan Huber Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst Wittelsbacher Platz 2, Eingang Finkenstraße | bis 13. April | Mo.–Fr. 14.00–18.00 | Eintritt frei | Der Katalog kostet 15 Euro. BIE_020-12_AZ_Biennale_2012_Muenchner_Feuilleton_RZ.indd 1 01.03.12 15:29 kunst Münchner feuilleton · märz · Seite 19 Claude Lorrain, eigentlich Claude Gellée Landschaft mit Gebäuden und Ruinen | 1640/45 | Feder in Braun, braun laviert, über schwarzem Stift, 212 x 307 mm | © Staatliche Graphische Sammlung München Kreis des Annibale Carracci | Schreibender Knabe (Evangelist Johannes?) | o. J. | Rötel, 375 x 285 mm © Staatliche Graphische Sammlung München Annibale Carracci, Christus erscheint Petrus um 1601 | Rötel, Feder in Braun, weiß gehöht, auf grün grundiertem Papier, 197 x 201 mm | © Staatliche Graphische Sammlung München Pier Francesco Mola | Urteil des Paris | um 1650 | Feder in Braun, braun laviert, 125 x 182 mm | © Staatliche Graphische Sammlung München Schätze aus den Depots: Zum ersten Mal werden Zeichnungen namhafter wie Die heilige Stadt der Künstler Barbara Reitter-Welter Wenn Martin Luther auch viele Gläubige in eine tiefe Krise stürzte – ungewollt beförderte seine Reformation die Kunst. Denn während in der protestantischen Kirche aller Bildschmuck verschwand, verstärkte die katholische Konkurrenz ihre Bemühungen, die Gläubigen zu halten bzw. zurückzugewinnen. Und das mit dem Prunk und der Pracht ihrer Kirchenräume und der Suggestionskraft ihrer Innendekoration. Die Nachwehen des Konzils von Trient führten zu einer wahren Aufbruchstimmung in Europa, in deren Folge nicht nur italienische, sondern auch deutsche, französische, spanische und niederländische Maler in die Stadt am Tiber strömten. Sollten doch die bildenden Künste wieder in den Dienst des Glaubens gestellt werden und die kirchliche Verkündigung unterstützen, was den Künstlern nicht nur Aufträge von Seiten des kunstsinnigen Adels und des bilderfreundlichen Bürgertums, sondern auch der solventen Kirche bescherte. Dank eines Erlasses durch Papst Gregor XIII, der den Niedergang von Malerei, Plastik und Zeichenkunst beklagte, kam es in Rom zur Gründung einer ersten modernen Kunstakademie in Europa, der berühmten »Accademia di San Luca«. Durch ihr Angebot an Kursen wie »Zeichnen nach der Natur«, »Porträt« und »Landschaft« zog die ewige Stadt weitere begabte Künstler an. Doch sie verlockte auch durch die berühmten Werke der Antike, die monumentalen Baudenkmäler und vor allem die Anwesenheit großer Werke der Malergötter Raffael und Michelangelo – sowie durch deutlich höhere Einnahmen. unbekannter Künstler aus dem Besitz der Graphischen Sammlung präsentiert, die Rom um 1600 zum Leuchten brachten. Dieser Umstand steht hinter der Ausstellung »Zeichner in Rom 1550–1700«, in welcher die Graphische Sammlung zum ersten Mal größtenteils unbekannte Schätze aus ihrem Besitz präsentiert. Die 150 Blätter stammen allesamt aus der umfangreichen Kollektion des Kurfürsten Karl Theodor, der sie für sein Mannheimer Kunstkabinett in Rom erwerben und sie mit dem gesamten Kupferstichkabinett 1794 nach München überführen ließ, wo sie den Grundstock der Staatlichen Graphischen Sammlung bildeten. Neben einer beachtlichen Reihe großer Namen enthält sie jedoch auch einige unbekannte Positionen von ebenso überzeugender Qualität. Die Werke sind im Vitrinenkorridor sowie in vier großen Sälen chronologisch nach dem Geburtsjahr der Zeichner gehängt, nicht etwa nach Genres wie Landschaft, Porträt, Figurengruppen oder Tierdar stellungen. So lässt sich auf dem Rundgang bestens der stilistische Wandel vom frühen Manierismus über den Eklektizismus der Spät renaissance bis zur sinnlichen Kraft des Barock verfolgen. Dabei wird deutlich, dass die Künstler zwischen zwei extremen Polen angesiedelt waren: einem kraftvollen Naturalismus auf der einen und der idealisierten Sicht auf Mensch und Welt auf der anderen Seite, was auf einem Konflikt der Zeit beruhte – der Diskrepanz von Glauben und Wissen. In der Ausstellung begegnet man wahren Meisterwerken der Zeichenkunst in den verschiedensten Techniken: Zwei Aktstudien von Bernini, eine Serie feiner Damenbildnisse aus der Werkstatt des Porträtspezialisten Ottavio Leoni, Heilige in dramatischer Lichtregie von Caravaggio sind zu sehen, Blätter in Röteltechnik, auf denen die Gebrüder Carraci alltägliche Szenen und biblische Motive festhielten, aber auch Claude Lorrains atmosphärisch dichte Landschaftsräume mit ihrer Tiefenstaffelung, detaillierte Architekturzeichnungen der Deutschen Sandrart und Roos und schließlich Adam Elsheimers populäre Zeichnung »Der in Armut verzweifelte Künstler«. || Zeichner in Rom 1550–1700 Staatliche Graphische Sammlung in der Pinakothek der Moderne Barer Str. 29 | bis 13. Mai | Di–So 10.00–18.00, Do 10.00–20.00 | Der reich illustrierte Bestandskatalog kostet 36 Euro. kunst streifzug Seite 20 · märz · Münchner feuilleton ERIKA WÄCKER-BABNIK Rund siebzig Galerien gibt es in München. Hinzu kommen zahlreiche Institutionen, die Begegnungen mit zeitgenössischer Kunst ermöglichen. Eine aktuelle Auswahl. zu monochromen, je nach Lichteinfall changierenden, farblich an- und abschwellenden Flächen verbinden. Im Ambiente des gleißenden White Cube tritt jede noch so leichte Unebenheit der auf Leinwand gespannten edlen Stoffe, jeder gezogene Faden schonungslos zutage, so dass handarbeitsbeflissene Besucherinnen dem Künstler bei der Eröffnung gleich mit Ratschlägen zur Seite standen. Ebenso auffallend ist der formale Dialog, der sich zwischen den monumentalen, fein strukturierten Hoch- und Querformaten und den Wänden, Fenstern, Heizkörpern und Durchgängen des Kunstvereins entfaltet. als Requisiten in den ursprünglichen Künstlerfilmen dienten, tauchen wiederum in den nachgedrehten Sequenzen auf und hängen gleichzeitig als Originale in der Ausstellung. Pohles bemerkenswerte Arbeiten sind erstmals in München zu sehen. Mona Hatoum Sammlung Goetz Oberföhringer Str. 103 | bis 5. April Mo–Fr 14–18, Sa 11.00–16.00 | Eintritt frei, nur nach Vereinbarung | Tel. 089 9593969-0 Willem de Rooij UNTILTED Lucía Falconí Kunstverein München e.V. Galeriestr. 4 | bis 15. April | Di–So 10.00–18.00 Skulpturen und Bilder Selten war eine Ausstellung in den Räumen des Kunstvereins mit so einem intensiven Raumerlebnis verbunden: Es scheint, als solle der teuren Neurenovierung die gebührende Willem de Rooij | Kunstverein München, 2012 Aufmerksamkeit verliehen werden. Tatsächlich entwickeln die Webarbeiten des niederländischen Künstlers Willem de Rooij (geb. 1969) hier die Eigenschaft, den Blick des Besuchers unwillkürlich auf die Architektur zu lenken. Das liegt an der äußerst reduzierten Hängung, die ganze Wände ausspart, vor allem aber an der spezifischen Qualität der Arbeiten: ihrer monumentalen Form, ihrer Stofflichkeit und ihrem farblichen Minimalismus. Kunstvereinsleiter Bart van der Heide spricht von einer »experimentellen Ausstellung« insofern, als die Webarbeiten des in Berlin lebenden Künstlers erstmals nicht im Kontext von »Referenzobjekten« wie Skulpturen, Film, Fotografie, Mode etc. präsentiert werden wie bisher, sondern als abstrakte Kunstwerke, die für sich allein stehen. Allenfalls Eingeweihten erschließt sich das interne Bezugssystem der Arbeiten zu vorangegangenen Ausstellungen und Installationen. Losgelöst von konzeptuell aufgeladener Bedeutung werden sieben Arbeiten aus den vergangenen drei Jahren gezeigt, die nach einem handwerklich kunstvollen Verfahren mit einander überkreuzenden Fäden so gewebt sind, dass sich die verschiedenen Farben aus der Ferne Elisabeth Heindl Zeichnung und Installation Galerie Bezirk Oberbayern Prinzregentenstr. 14 | bis 13. April | Mo–Do 8.00–17.00, Fr 8.00–13.00 | Eintritt frei Auch wenn sie in dieser Ausstellung zusammengebracht wurden, sollte man gar nicht erst versuchen, eine Verbindung zwischen den beiden künstlerischen Positionen herzustellen: Die Arbeiten von Lucía Falconí (geb. 1962) und von Elisabeth Heindl (geb. 1960) – beide studierten an der Münchner Kunstakademie, wurden mit Stipendien und Preisen ausgezeichnet – könnten unterschiedlicher nicht sein. Man tut gut daran, sie getrennt voneinander zu betrachten, so wie die Kunstwerke auch räumlich unabhängig voneinander gezeigt werden. Die Objekte und Bilder Lucía Falconís stellen mit ihrem eigenwilligen Zusammenspiel von Kunst und Kitsch, mit barocker Opulenz, expressiver Farbigkeit, floralen Sujets und rätselhafter Metaphorik die Seherfahrung des Betrachters auf den Kopf. Manch einer fühlt sich von so viel ungewohnter Üppigkeit überfordert, doch erklärt sich die künstlerische Haltung aus der ecuadorianischen Herkunft der Künstlerin: Naturszene- Anzeige_Bay_Phil_65x105_Orff_65x180 24.02.12 18:06 Seite 1 Anzeige Prinzregententheater München 24. & 25. März 2012, 19 Uhr Mühlviertler Quintett, Dumfart Trio u.a. Solisten und Ensembles der Münchner Schule für Bairische Musik und der Bayerischen Philharmonie Gesamtleitung: Mark Mast Bairische Musik & Carmina Burana BAYERISCHE PHILHARMONIE e.V. Kartenvorverkauf: Geschäftsstelle der Bayerischen Philharmonie e.V. unter Telefon 089-83 66 06 und info@bayerische-philharmonie.de sowie bei www.muenchenticket.de Preise: € 59 / € 49 / € 39 / € 29 Schüler und Studenten 50% Ermäßigung www.bayerische-philharmonie.de Lucía Falconí | Lo agarraron 1492, aus der Serie ¡Yasuní, Oh Yasuni! | 2011 | Öl auf Leinwand, Porzellan, 48 x 40 cm | Foto Christoph Hirtz rien aus dem Regenwald im ovalen Rahmen aus weißen Porzellanblumen, in Bronze gegossene vegetabile Objekte, Orchideen im ornamentalen Kupferrahmen – den dekorativen Stücken wohnt eine eigenwillige Poesie inne, die dem Zusammentreffen verschiedener Welten zu entspringen scheint. Die linearen Zeichnungen, plastischen Wand- und Rauminstallationen der Münchnerin Elisabeth Heindl thematisieren Phänomene der optischen Wahrnehmung, der Perspektive und der Bewegung und machen Raum erfahrbar. Das Prinzip ist oftmals denkbar einfach, aber effektvoll: So erscheinen die farbigen Aluminiumplatten, die an Gummibändern an die Wand gespannt sind, durch die vermeintlichen Fluchtlinien als dreidimensionale Objekte, die sich auf den Betrachter zuzubewegen scheinen. Die Tuschezeichnungen auf übereinander gelegten Reispapieren der Klotho-Serie deuten die Verschiebung eines Quaders an. Vor dem Hintergrund die- Elisabeth Heindl | Arbeit aus der Serie »Klotho« | 2011 | Tuschezeichnung auf transparentem Reispapier, 140 x 77 cm ser Effekte lassen sich dann auch die bewegbaren Scherengitter-Objekte lesen, mittels derer man perspektivische Wahrnehmung im Raum selbst erproben soll. Oft sind die Doppelausstellungen des Bezirk Oberbayern ästhetisch und inhaltlich schlüssig, die Verbindung Falconí – Heindl diesmal erscheint sehr willkürlich. 1997 präsentierte Ingvild Goetz die Künstlerin Mona Hatoum (geb. 1952) erstmals im Rahmen ihrer Ausstellung »Art from the UK«, einer Auswahl sehr unterschiedlicher künstlerischer Positionen, die unter dem Etikett »Young British Artists« als schrilles und rebellisches Exportgut der Ära Thatcher international für Aufsehen sorgten. Schon damals stach die palästinensischbritische Künstlerin aus der Ausstellung mit ihrer überraschenden Vielseitigkeit und der inneren Konsequenz ihrer Arbeiten hervor, egal ob sie auf das Schockerlebnis setzt wie in ihrer Video-Installation »Deep Throat«, mit der sie den Besucher an den gedeckten Tisch einlädt und ihm auf dem Teller den Blick in den Schlund präsentiert, oder ob sie – zart und subtil – Kugeln aus eigenem Haar auf dem Boden verteilt, oder ob sie Küchenutensilien in bedrohlich wirkende skulpturale Objekte verwandelt. Sascha Pohle Lothringer_13_Halle Lothringer Str. 13 | Di–So 11.00–19.00 | bis 1. April | Eintritt frei Sascha Pohle (geb. 1972) beschäftigt sich in seiner Kunst mit dem Thema der menschlichen Individualität, Nachahmung und Kopie sowie der Authentizität. Mittels unterschiedlichster künstlerischer Medien wie Video, Fotografie, Installation, Zeichnung und Malerei geht er der Frage nach, in welcher Weise sich Menschen Vorbilder aneignen, sie imitieren, und ob und in welcher Weise sie dabei zu Kopien dieser Vorlagen werden. Was bedeuten Authentizität und subjektive Einzigartigkeit in einer Zeit der medialen Überpräsenz und Überflutung mit vermeintlichen Leitbildern? Entsteht in der Vermischung von Individuum und Vorbild nicht wieder etwas anderes, etwas Neues und letztlich wieder Individuelles? Das Kopieren und Nachahmen von kulturellen und personellen Mustern wird von Sascha Pohle auf eine sehr komplexe, teils dokumentarische, teils ästhetisierende, teils unterhaltsame Weise in seinen künstlerischen Arbeiten verhandelt. Wissenschaftlich-dokumentarisch aufbereitet etwa ist die Arbeit »German Indian«, in der sich der Künstler mittels Zeichnungen, Fotografien und in Vitrinen präsentierten Artefakten mit dem Phänomen der Hobbyindianer auseinandersetzt – einer Form von Rollenspiel, das die Identifikation mit einer Kultur zum Ausdruck bringt, die ihrerseits durch die Karl-May-Verfilmungen stark romantisierend vorgefiltert ist. Sascha Pohle | Reframing the Artist | 2010 | Still, Video HD DV, 35 Min. | © Sascha Pohle Amüsant wiederum sind zwei der VideoArbeiten, die sich mit Doppelgänger-Rollen befassen: In »Reframing the Artist« etwa spielen chinesische Maler berühmte Künstler nach, die wiederum in Spielfilmen nachgestellt worden sind. Kopien von Gemälden, die Mona Hatoum | Hot Spot III | 2009 | Edelstahl, Neonröhre, 234 x 223 x 223 cm | Ausstellungsansicht Sammlung Goetz 2011 | Courtesy Sammlung Goetz | Foto: Thomas Dashuber, München Inzwischen wurde Mona Hatoum längst vom marktschreierischen Label der »Young Brit Art« befreit und die Sammlung Goetz um einige wichtige Arbeiten der Künstlerin – u.a. auch frühe Videos ihres performativen Werks – erweitert. Seit Jahren weltweit in großen Museen und auf den wichtigsten Biennalen präsent, ist Mona Hatoum nun mit bedeutenden Werken aus drei Jahrzehnten in München vertreten, die derzeit in einer sehenswerten Einzelausstellung im exklusiven Ambiente des Privatmuseums der Sammlerin gezeigt werden: Eine Künstlerin, die die Welt mit kritisch-analytischem Blick betrachtet und für ihre inhaltlichen Botschaften immer wieder überraschende, ästhetisch eindrucksvolle Formulierungen findet. Zu den jüngeren Arbeiten zählen eine Reihe von Installationen, die – nicht nur im wörtlichen Sinne - ihre Spannung durch Elektrizität beziehen: Gleichsam bedroht wie bedrohlich wirkt der riesige Globus »Hot Spot«, dessen Kontinente durch alarm-rote Neonröhren nachgezeichnet sind. Nicht minder unheimlich auch die zischende und blinkende Installation »Home«, bei der Kochutensilien aus Metall unter Hochspannung zu stehen scheinen. Dass sich das Weltgefüge im Auflösungsprozess zu befinden scheint, illustriert die Bodenarbeit »Undercurrent«: Ein Web-Teppich aus Stromkabeln zerfleddert an den Rändern und verläuft in einem Kranz aus an- und abschwellenden Glühbirnen. || design Münchner feuilleton · märz · Seite 21 Stahlbroschen & Trash trouvées Das Armband »Charms« vereint Stücke von sieben Schmuckautoren | Foto: Achim Graf, Courtesy Galerie Wittenbrink So üppig wie irritierend: Anhänger von Lisa Walker | Foto: Lisa Walker Schmuck als Handwerk, als Kunst, als kritische Praxis: Faszinierende Objekte aus 27 Ländern lassen sich auf der Schmuckwoche entdecken. ASTRID MAYERLE Für den Begriff »Zaus« ermittelt Google nur eine Recherchealternative: nämlich den römischen Gott Zeus. Womit bewiesen wäre, Wikipedia und Co. weisen schwarze Löcher auf. »Zaus« findet man dagegen in einem anderen lexikalisch sortierten Begriffsinventar: ABECEDARIUM heißt das neue, äußerst ideenreiche Buch des Münchner Goldschmieds Peter Bauhuis. Er definiert »Zaus« wie folgt: Abkürzung für zeitgenössischen Autorenschmuck. Die Schmuckwoche 2012 widmet sich vom 14. bis 30. März allen nur denkbaren Spielarten des Zaus: Objekte, die sich im Grenzbereich zur Skulptur, zur Mode und zum Design befinden. Schmuck, der tragbar sein kann, aber nicht muss. Arabesken, die die Einzigartigkeit ihres Trägers feiern oder anders: extravagante Gebilde, die dem menschlichen Narzissmus seine schönsten Seiten abgewinnen. Egal ob unmittelbar auf der Haut getragen, ans Revers gesteckt, um den Rolli gewunden. Manche Objekten traut man auch eine Karriere als ebenso beiläufige wie faszinierende Stillleben zu: auf dem Fensterbrett oder im Bad unter dem Spiegel. Letzteres passt sicher auch zu den Objekten des australischen Newcomers Simon Cottrell: Aus Schiffsstahl entwirft er geheimnisvolle Gebilde, bestehend aus verschiedenen, sich aneinander schmiegenden geometrischen Körpern. Fein geschliffene, ineinander greifende Miniaturzargen erinnern noch einmal daran, dass Stahl eigentlich eine robuste Natur hat und eine vielseitige Geschichte. Christian Hoedl, Kurator der Ausstellung in der Galerie Von Argentinien bis Kanada, von Australien bis China, von Israel bis Estland: Die Sonderschau auf der Internatonalen Handwerksmesse ist ein Treffpunkt von Schmuckkünstlern aus aller Welt, die auch in zahlreichen Ausstellungen, mit Events und Performances in der Stadt ihre Werke präsentieren. Eine Auswahl. Wittenbrink, konfrontiert die abstrakten Broschen Simon Cottrells mit der bizarren Vanitassymbolik der New Yorkerin Mielle Harvey: Sie lässt in ihren Gussobjekten Bienen an Pilzen herumknabbern. Motive, wie aus der Kulisse von Alice in Wonderland herausgeschält. Die Münchner Schmuckszene verdankt ihre neuen Talente vor allem der Akademie der Bildenden Künste. Die Klasse Otto Künzlis, Professor für Schmuck, ist bekannt für ihre legendären Inszenierungen bei den Jahresausstellungen der Akademie: Hier gab es bereits Schmuck an lebendigen Stillleben und Objekte, die geheimnisvoll aus nachtschwarzen Lichtschächten auftauchten. Einige Nochoder Ex-Künzlianer sind auch auf der Schmuckwoche vertreten: Die Galerie Wittenbrink präsentiert Armbänder, die mit mehreren Miniaturobjekten von ehemaligen Studenten und Otto Künzli selbst bestückt sind. Akihiro Ikeyama radelt eine Mobile Gallery durch die Stadt und Lisa Walker ist in der Galerie Biro zu sehen. Die Neuseeländerin experimentiert mit Fundstücken aller Art. Aus Spielzeug, Perlen, Stoffen und Abfallmaterialien entstehen absurde Trash trouvées. Lisa Walker spielt auch häufig mit dem Format, sie entwirft Monsterbroschen und XXL-Ketten. Alles ebenso komisch wie geheimnisvoll. Die Schmuckwoche zeigt aber auch handwerkliche Facetten: Etwa die klassischen Emailleobjekte, die in der Galerie Handwerk zu sehen sind. Unter dem Titel »Die Renaissance des Emaillierens« stellen mehr als vierzig Gestal- ter aus Großbritannien, Italien, Spanien und den USA aus. Überhaupt ist die Schmuckwoche als Treffpunkt der Szene sehr international ausgerichtet und präsentiert in diesem Jahr Entwürfe und Objekte aus siebenundzwanzig Ländern. Die Neue Sammlung in der Pinakothek der Moderne zeigt die jüngsten Ideen der Konstfack Stockholm unter der Leitung von Karen Pontoppidan. »Die Objekte sind in dieser Form entstanden, weil ein Künstler, ein menschliches Wesen mit Erfahrungen, Gefühlen, Träumen und Fehlern, sie so hervorbringen wollte und geschaffen hat«, so Karen Pontoppidan über ihre Studenten. Nicht weit von der Pinakothek entfernt, in der Galerie Spektrum, sind Objekte der Professorin selbst zu sehen. Ihre Ohrringe und Kettenanhänger tragen charmante Metallgravuren, außerdem betreibt Karen Pontoppidan eine ironische Rettung des Siegelrings in Zeiten digitaler Kommunikation. Übrigens trifft man in der Galerie Spektrum auch verschiedene Klassiker des zeitgenössischen Autorenschmuck, darunter den Niederländer Ruudt Peters. Der ganz große Rundumschlag ist auf dem Messegelände bei der diesjährigen »Handwerk und Design« möglich. Die Sonderschau zeigt 65 internationale Goldschmiede und Schmuckgestalter, neue Talente ebenso wie prämierte Klassiker. Außerdem wartet hier eine Überraschung besonderer Art: eine Schmucktombola der Klasse Künzli. Man darf spekulieren, ob oder in welcher Weise das verheißungsvolle Motto eingelöst wird: »Everyone’s a winner!« || Akihiro Ikeyama Mobile Gallery www.akihiroikeyama.com Peter bauhuis Buchpräsentation ABECEDARIUM Galerie Handwerk | 16. März | 11.00 | www.artfree.de Schmuck-Show 2012 »Schmuck braucht den Körper!« MaximiliansForum | Fußgängerunterführung Altstadtring | 14. März | 21.00 | www.maximiliansforum.de Wittenbrink zeigt Schmuck Fünf Höfe, Theatinerstr. 14 | 17.-24. März | 10.00-19.00 Ruudt Peters Corpus | 30 Jahre galerie Spektrum Theresienstr. 46 | 16. März bis 28. April | Sa 11.00-14.00, So 13.00-18.00, Mo 13.00-19.00 | www.galerie-spektrum.de Ädellab. Konstfack Stockholm Pinakothek der Moderne | Barer Str. 40 | 17. März-29. April | www.die-neue-sammlung.de schmuck 2012 Neue Messe München | Halle A1 »Handwerk & Design« | 14.– 20. März | 9.30–18.00 Gesamtprogramm unter: www.ihm-handwerkdesign.com/besucher/highlights/ Playlist Doris Betz und Henriette Schuster Geschäft | Rothmundstr. 6 | 15., 16., 18. März | 13.00-18.00 Everyone´s a winner! Schmucktombola der Klasse Otto Künzli Neue Messe, Halle A1 | 17. März | 15.00 Die Renaissance des Emaillierens Galerie Handwerk | Max-Joseph-Str. 4 | bis 14. April | www.hwk-muenchen.de/galerie What’s in a Frame? Welserstr. 15 | 15.-18. März, Do 17.00, Fr 10.0018.00, Sa/So 10.00-14.00 | www.3stations.de Mia Maljojoki Crossing the Line, Performance MaximilansForum | 17. März | 14.00-17.00 Anzeige bühne Seite 22 · märz · Münchner feuilleton Theaterbretter als Lebensretter To be or not to be? Wie sinnvoll sind Bühnenstücke auf Englisch im deutschen Sprachraum? Laut Elisa Moolecherry, der Leiterin des Münchner BeMe Theatre, macht das Theater die Existenz erst lebenswert. Christine Madden Ein Weltuntergang hat eine gewisse Erotik. Spätestens seit der cineastischen Besamung eines enormen Himmelskörpers durch die vergleichsweise winzige Erde in Lars von Triers »Melancholia« wissen dies nicht nur Künstler, sondern auch die gefesselten Zuschauer. Das Bühnenstück »boom« von Peter Sinn Nachtrieb, das demnächst im amerikanischen Original von der Münchner Kompanie BeMe Theatre präsentiert wird, zeichnet eine eher skurrile Vision der Apokalypse: Fortpflanzung als salvator mundi. Obwohl diese düstere Komödie letztendlich auch alle Hoffnung aufs Überleben ersticken lässt, bietet sie jedoch eine Art Erlösung – auch wenn diese für unsere erbärmliche Spezies leider zu spät kommt. Für die Intendantin des BeMe, Elisa Moolecherry, stellt das Theater selbst eine Art Lebensrettung dar. Seit die gebürtige Kanadierin 2005 die Kompanie in Barcelona gegründet hat, ist sie bestrebt, intelligente, kurzweilige Stücke in englischer Sprache auf die Bühne zu bringen. Eigentlich wollte Moolecherry ursprünglich Mathematik und Philosophie studieren. Eine Lehrerin hatte sie aber überredet, an einem strengen Auswahlverfahren für ein Schauspielstudium in Montreal teilzunehmen. Ihre erfolgreiche Aufnahme in das Programm hat ihr Leben verändert. Nach der Ausbildung kehrte sie in ihre Heimatstadt Toronto zurück, wo sie hauptsächlich in Fernseh- und Filmarbeiten mitspielte. Das flache Niveau und die lauen Herausforderungen haben sie jedoch frustriert. »Ich fühlte mich etwas intelligenter als die Arbeit, die ich machen musste,« erinnert sie sich. Die Enttäuschung ließ ihre Welt zusammenbrechen. Desillusioniert floh Moolecherry nach Barcelona, um sich von dem Sog einer Depression zu befreien. Aber nach wenigen Monaten spürte sie wieder trotz allem eine heftige Sehnsucht nach der Bühne. »Ich konnte keinen Film sehen, ohne auf die Schauspieler wahnsinnig eifersüchtig zu werden,« sagt sie. Aus dieser Leidenschaft entstand die erste Aufführung des BeMe Theatres. Ihr Partner und Ehemann Felix Leicher, den sie während Dreharbeiten in Toronto kennengelernt hat, brachte sie dann nach München. Obwohl er als Architekt tätig ist, übernahm er die Produktionsleitung der Kompanie. Nach bislang zehn meist ausverkauften Inszenierungen in München erfreut sich Moolecherry, jetzt Mitte dreißig, eines Das Theater erzeuge ein Gefühl von Community in einer globalisierten, multikulturellen Gesellschaft. Gleichzeitig sei es Zweck des Theaters, »der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten«, zitiert Moolecherry aus Shakespeares »Hamlet«, damit wir das Gesicht der Gegenwart erkennen können. Sprache ist jedoch eher nebensächlich, was das nackte Überleben während des Weltuntergangs betrifft – wie das Stück »boom« beweist. Da kommt es eher darauf an, weltbewegenden Geschlechtsverkehr zu genießen, oder zumindest zu erdulden. Zum Auftakt meldet sich die Journalistikstudentin Jo auf eine Internetannonce, die »Sex, der das Ende der Welt verändert« verspricht. Umso bitterer ist die Enttäuschung, als sie den Meeresbiologen Jules trifft, der alles andere als eine Bettkanone ist. Der Sonderling hat jedoch andere Fähigkeiten vorzuweisen: Ein scharfes, wissenschaftliches Beobachtungsvermögen, das ihn das rätselhafte Verhalten verschreckter Meeresfische entschlüsseln lässt. Diese Erkenntnis versucht er in eine Überlebensstrategie umzusetzen, mit irrwitzigen Folgen. Obwohl es die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz fokussiert, feiert das Stück auch die zähe Eigenschaft des Lebens, zu überdauern und weiterzubestehen. Für Moolecherry verleiht das Theater dem Leben einen Sinn. Dafür lebt sie. »Immer, wenn ich die Zuschauer nach der Vorstellung diskutieren höre, weiß ich, warum ich diese Arbeit mache,« Frau und Fisch in schöner Eintracht – ob das so ist, wie es aussieht, betont sie. Theater sei ihr »drug of choice« fragt das BeMe Theatre in Peter Sinn Nachtriebs Stück »Boom«. Foto: Felix Leicher – ihr bevorzugtes Rauschmittel. || großen und sehr treuen Publikums, obwohl die Stücke in englischer Sprache ohne Übertitel aufgeführt werden. Künstlerisch gesehen spielt für sie die Sprache eine Nebenrolle. »Ich will nicht als ›englischsprachiges Theater‹ abgestempelt werden,“ erklärt sie. Auf der anderen Seite erkennt sie, dass »man nicht mehr ignorieren kann, dass Englisch wahrscheinlich die häufigste Zweitsprache ist, wenn nicht gar die erste Sprache«. BOOM Einstein Kulturzentrum Einsteinstaße 42 | 13.–31. März | Di–Sa 20.00 | Telefon 089 38537766 und tickets@bemetheatre.com So jung kommen wir nicht mehr zusammen Anzeige Sterneköche • Bioprodukte • Slow Food • kochSchule • Galadinner … und ihr Grund zum Feiern? 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In aller Klarheit sprach es der Vorstandsvorsitzende Ingo Luge allerdings erst auf der Pressekonferenz aus, mit der das Programm des kommenden Festivals vom 21. bis 29. April vorgestellt wurde. Auch für Volkstheater-Intendant Christian Stückl war die Nachricht neu, aber so schnell gibt er die Hoffnung nicht auf. »Überlegt’s es euch nochmal«, appellierte er mehrmals. »In einer globalisierten Welt ist Düsseldorf auch nicht so weit weg.« »Und eine Überweisung geht ruckzuck«, ergänzte Kulturreferent Hans-Georg Küppers, Die gute Nachricht: Die achte Ausgabe des Festivals junger Regisseure ist gesichert. Zwar hat E.ON seinen Zuschuss reduziert, doch für den Fehlbetrag im Gesamtbudget von rund 300 000 Euro sprang großzügig die Stadt München ein. 2005 fand »Radikal jung« zum ersten Mal statt und wurde schnell zu einem Publikumsmagneten, inzwischen ist auch die überregionale Beachtung groß. Für das Volkstheater ist das Festival »jedes Jahr ein großes Highlight«, sagt Stückl, »das ganze Theater fiebert darauf hin«. Er holt sich auch aus den eingeladenen Regisseuren jedes Jahr ein oder zwei ans eigene Haus. Acht Produktionen hat die Jury ausgewählt, darunter zwei ausländische. Aus Budapest kommt Shakespeares »Coriolanus«, aus Holland »This Is My Dad«. Darin befragt Regisseur Hay den Boer auf der Bühne seinen Vater Gert über dessen Leben. Fremdsprachig ist auch das dokumentarische Projekt »Hate Radio«: In Ruanda hatte 1994 das Radio RTLM mit HetzPropaganda den Völkermord an den Tutsi massiv befördert. Milo Rau lässt in originalgetreuen Studiokulissen Überlebende des Genozids live auf Sendung gehen. Jetzt heißt es rasch Karten sichern, denn vieles ist ganz schnell ausverkauft. Der Vorverkauf läuft. Für 2013 gibt sich Stückl optimistisch: »Wir machen das Festival weiter, und einen, der was zahlt, werden wir schon finden.« || radikal jung Volkstheater 21.–29. April | T. 089 5234655 | www.muenchner-volkstheater.de bühne Münchner feuilleton · märz · Seite 23 Weg vom eigenen Kopf Wie bringt man 1500 Buchseiten in drei Stunden auf die Bühne? Regisseurin Bettina Bruinier und Dramaturgin Katja Friedrich wagen im Volkstheater eine Bearbeitung des Romans »Unendlicher Spaß« von David Foster Wallace. Gabriella Lorenz »Unendlicher Spaß« von David Foster Wallace erschien 1996 in Amerika und wurde vom Time Magazine zu einem der 100 einflussreichsten Romane der letzten 80 Jahre gekürt. Für die deutsche Übersetzung, die erst 2009 erschien, brauchte Ulrich Blumenberg sechs Jahre. Ein Mammutbuch, eine ausufernde Zeitgeistbetrachtung über Drogenabhängigkeit, Depressionen, Kindesmissbrauch, Tennis, die Unterhaltungsindustrie und Politik. Im Mittelpunkt steht der 18-jährige Hal Incandenza, Student der Enfield Tennis Academy. Sein Vater hat den Film »Unendlicher Spaß« gedreht, der angeblich jeden Zuschauer so süchtig macht, dass er noch vor dem Bildschirm stirbt. Regisseurin Bettina Bruinier ist Expertin für Romanadaptionen. Die 37-Jährige hat am Volkstheater bereits »Schilf« von Juli Zeh und »Solaris« inszeniert. »Mich reizt daran, Bild- und Sprachwelten in ein anderes Medium zu übertragen, etwas auf der Bühne erlebbar zu machen«, erklärt sie ihr Interesse. »Ob die Vorlage ein Stück, ein Film oder Literatur ist, ist nicht wichtig – nur der Stoff.« Am Volkstheater arbeitet sie seit Dezember intensiv mit der Dramaturgin Katja Friedrich an der Wallace-Fassung. Wie wählt man aus solcher Überfülle des Materials aus, was man zeigen will? »Man muss sich beim Lesen auf das verlassen, was hängen bleibt«, sagt Bruinier. »Eine Auswahl treffen, immer wieder rausschmeißen – kill your darlings – und neu zusammenwürfeln.« Friedrich fragt: »Welche Figuren sind auf der Bühne tragend und verkörpern Themen des Romans? Bei einer Bearbeitung muss man einen klaren Fokus setzen.« Roman-Adaptionen sind immer Work in Progress, auch durch die Reaktionen der Schauspieler auf den Proben. Bruinier geht im Theater auf eine klassische Erzählstruktur zurück: »Wir lassen unterschiedliche Geschichtsstränge von verschiedenen Figurengruppen erzählen«. Nur die Figur des Hal – Justin Mühlenhardt spielt ihn – bleibt durchgängig, die anderen acht Darsteller spielen wechselnde Rollen. Nun erzählt »Unendlicher Spaß« aber keine stringente Story. »Hal erlebt keine Entwicklung, er bleibt in sich gefangen«, erklärt Bruinier. »Es kommt heraus, dass der ominöse Film von Hals Vater gedreht wurde, um seinen Sohn aus der Depression rauszuholen. Dieser Film führt verschiedene Erzählstränge zusammen: Er will mit dem Zuschauer kommunizieren und ein großes Gebabbel hörbar machen. Mit dem Hörbarmachen der verschiedenen Stimmen legitimieren wir die Auflösung in kularer Narration, Kreise schließen sich wie ein Netz, das sich drunter spannt. Hier geht es mehr um Themen, um ein Gesamtpanorama.« Foster Wallace hat den Roman in einer nahen Zukunft angesiedelt, die jetzt Gegenwart ist. Hat ihn die Entwicklung überholt? Friedrich widerspricht: »Teilweise. Aber was die Kommerzialisierung öffentlichen und politischen Lebens anbelangt, ist er hoch aktuell. Im Roman werden mittlerweile schon ganze Jahre an Sponsoren verkauft.« Bruinier erläutert: »Mit 9/11 hat die amerikanische Geschichte eine andere Entwicklung genommen. Aber Foster Wallace beschreibt eine Zeit des totalen Glaubensverlustes, der transzendentalen Obdachlosigkeit. Wie kann man mit den vielen Lebensmodellen und Angeboten sein Leben zu führen, umgehen, ohne nur egozentrisch um sich zu kreisen. Was macht man, um von sich selber wegzukommen? Dafür bieten uns die Medien viele Ablenkungen. Foster Wallace ist genau im Abbilden von unseren Süchten (auch unserer Unterhaltungssucht).« David Foster Wallace litt unter schweren Depressionen und erhängte sich 2008. Muss man den Roman als Vermächtnis lesen? »Man findet den Autor in zig Abspaltungen in jeder Figur«, meint Friedrich. »Er hatte ja auch diese Angst, dass ihm der Kopf platzt, dass er wahnsinnig wird an seinen eigenen Gedanken. Hal ist unfähig, sich selbst zu ertragen, er will sich selbst entkommen. Für Wallace ging’s auch darum, vom eigenen Kopf wegzukommen, seinen Gedanken zu entfliehen.« || Bettina Bruinier | © Iko Freese | www.drama-berlin.de Einzelszenen, die nicht immer logisch zu Ende zu erzählen sind. Wir zoomen immer wieder auf die Figuren.« Friedrich ergänzt: »Es gibt ja keinen klassischen Plot und keine Auflösung im Roman, vieles bleibt im Dunkeln. Es ist eine Art zir- UNENDLICHER SPASS Volkstheater Premiere 22. März | 19.30 | Telefon 089 5234655 | www.muenchner-volkstheater.de Es fassbindert flächendeckend Zum 30. Todestag des Regisseurs beschäftigen sich Theater und Museen mit seinem Werk. Gabriella Lorenz Als Rainer Werner Fassbinder am 10. Juni 1982 nur 37-jährig starb, hinterließ der Münchner Regisseur und Autor über 40 Filme, Theaterstücke und TV-Serien. Zum 30. Todestag untersucht das Festival »Postparadise Fassbinder Now« im Marstall bis 31. März die Aktualität und Rezeption dieses Schaffens. In den Kammerspielen bringt Stefan Pucher den wenig bekannten Film »Satansbraten« am 14. März auf die Bühne. Das Filmmuseum zeigt im April 12 Fassbinder-Filme mit deutlichem München-Bezug. Und das Theatermuseum widmet Fassbinder ab 25. Mai eine Ausstellung über seine Theaterarbeit. Was macht Fassbinder heute noch so spannend? Stefan Bläske, der als Dramaturgie-Assistent am Residenztheater »Postparadise Fassbinder Now« mitkonzipiert hat, meint: »Fassbinder hat früh das Außenseitertum und die Ausgrenzung thematisiert, er zeigt Machtverhältnisse und wechselseitige Unterdrückung. Sein Kameramann Michael Ballhaus hat das in Bilder gesetzt, die in sich gerahmt sind – er schafft statt Einengung einen Rahmen.« Intendant Martin Kušej hat das Festival am 3. März mit seiner Inszenierung »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« mit Bibiana Beglau in der Titelrolle eröffnet. Einen Vergleich liefert das Tanztheater »Petra und Gäste« der spanischen Choreografin Sol Picó: Neben den Hauptfiguren Petra, Karin und Marlene erzählen hier auch sechs Monster ihre ungewöhnlichen Liebesgeschichten (13. – 15. März). Das Resi-Konzept, so Bläske, sucht »den Spannungsbogen zwischen Erinnerung und heutiger Rezeption«, vor allem auch im Ausland: Drei weitere Gastspiele kommen aus Wien (»Showghost-3«, 9. – 11. März), Prag (»Der Müll, die Stadt und der Tod«, 17., 18. März) und Italien (»Blut am Hals der Katze«, 30., 31. März). Wie Fassbinder andere Künstler – etwa Schlingensief – inspirierte, wie ihn Mitarbeiter und Zeitzeugen erlebt haben, beleuchtet das Wochenende »Fassbinder still alive« mit Filmen, Vorträgen und Gesprächen (23. – 25. März). »Fast eine Entdeckung« sieht der Kammerspiele-Dramaturg Matthias Günther in dem weitgehend unbekannten Film »Satansbraten« von 1976. »Im Zentrum steht eine Schreibkrise des Arbeiterdichters Walter Kranz, daraus entwickelt sich ein Künstlerdrama«, sagt Günther. »Das passt gut nach München, wo Künstler einen gewissen Status haben.« Kranz ist geplagt von Geldnot und dem verzweifelten Bemühen, wieder kreativ zu werden. Kranz ist verheiratet, sein behinderter Bruder lebt mit im Haushalt, Kranz hat auch eine Geliebte, die eine offene Ehe führt. Eines Tages plagiiert er unbewusst ein Gedicht von Stefan George, hat Erfolg und fühlt sich nun als wiedergeborener George, dessen exaltierten Lebensstil er von der Kleidung über homosexuelle Versuche bis hin zur Rekonstruktion des Schwabinger Kreises um den Dichter nachleben will. »Der Sado-Masochismus spielt eine zentrale Rolle«, sagt Günther. »Es ist die Geschichte einer verkorksten Sexualität mit den Fragen, die die 68er stellten: Wie leben wir eigentlich?« Besonders hat ihn jedoch die Form beeindruckt: »Der Spielstil ist ganz expressiv und total übertrieben. Die sehr ironische, satirische Darstellung überspitzt die neuen Formen, die sich nach 1968 rausgebildet haben«, so Günther. Stefan Pucher wagt ein ungewöhnliches Experiment: »Wir versuchen, den Film auf der Bühne zu rekonstruieren. Die Darsteller spielen exakt den Film nach, den der Zuschauer aber nicht sieht. So etwas haben wir noch nie gemacht«, erklärt Günther. »Der Text des Theaters ist der Film!« || Veranstaltungsinformationen www.residenztheater.de www.muenchner-kammerspiele.de bühne Seite 24 · märz · Münchner feuilleton Kabinettstück im Rattenloch Armin Petras inszeniert Ibsens »John Gabriel Borkman« an den Kammerspielen und treibt die Figuren ins Lächerliche. Sabine Leucht Geschichte von 1912 in eine vage Gegenwart rüberzuholen. Und er kehrt die Vorzeichen um. Mariann Mayr hat das Sach, die Wirtschaft und die Metzgerei, in die Ehe mitgebracht. Der Knecht ist eine Magd und die Tochter ein Sohn. Florian Brückner spielt den Leonhard Mayr, genannt Leni, als windiges Zigarettenbürscherl, als großspurigen Loser, der seine Stricherexistenz verdrängt und dennoch mit seinem erotischen Pfund wuchert. Auch wenn die Aktualisierungen gelegentlich mit dem Text kollidieren, tut Regisseur Brückner doch ein Fenster auf zu einer in einem formelhaften Katholizismus erstarrten Gesellschaft (Peter Mitterrutzners Pfarrer pflegt Latein im Gottesdienst), macht die drückende Enge dieser sogenannten Gemeinschaft sichtbar, gerade weil er die Handlung ins Freie verlegt, in den Biergarten der Mayr’schen Wirtschaft (Ausstattung: Katharina Dobner). Das Dorf ist immer anwesend und beobachtet genau, was der Einzelne tut. Brückners Regie konzentriert sich auf den Machtkampf der älteren Männer. Hier Lenis Vater Thomas Mayr, den Wolfgang Maria Bauer mit verzweifelter Emotionalität und berser- »Rattenloch«: Das sagt sich so leicht, dass wer in einem Rattenloch lebt. »John Gabriel Borkman« und Co. aber tun es wirklich. Bei Armin Petras in den Kammerspielen kriechen und rutschen die Schauspieler mit eckigen Verrenkungen durch einen engen Metallgang, der im Zickzack von Borkmans Eremitenhöhle links oben bis zur Nische rechts unten führt, in der Gattin Gunhild sich mit ihren Verbitterungen eingenistet hat. Olaf Altmanns Bühne ist ein herrliches Bild für den Druck der Verhältnisse auf die Menschen – und es enthält durch die Papierstöße, die der Herbstwind des Lebens durch die Gänge treibt, eine gehörige Portion schwermütiger Poesie. Was einst vielleicht Liebesbriefe waren von Ella, der Zwillingsschwester jener Frau, die Borkman aus Karrieregründen ehelichte, oder die geheimen Aufzeichnungen des Zockers, der aus dem einst erfolgreichen Bankier wurde, dient allenfalls noch als Polstermaterial fürs Nagernest. So sehr Henrik Ibsens 1896 entstandenes Stück von einem Selbst- und Machtbesessenen, der Etliche in den Ruin und sich selbst ins gesellschaftliche Aus »John Gabriel Borkman« | © Iko Freese | www.drama-berlin.de trieb, in unsere Zeit passt, so sehr widersteht Petras jeder Form der Aktualisierung. Statt dessen treibt er das Bild des Menschen als erbärm- kerhafter Körperlichkeit als eine Art Michael Kohlhaas spielt, der das Recht sucht. Sein Gegner ist Alexander Dudas Bürgerlich um sich selbst kreisende Kreatur durch eine exaltierte, gehetzte Spielweise auf die Spitze, die in Akteuren wie André meister, der vordergründig jovial die Strippen der Intrige zieht, Jung (als Borkman), Wiebke Puls (als todgeweihte Ella) und um an ein Grundstück von Mayr zu kommen. Dafür opfert er Hildegard Schmahl (als reife, lebensgierige Frau Fanny Wilton) »Leni« den Dorfburschen, die ihn wie Raubtiere umzingeln die innere Grandezza nicht zerstören kann. Sie trotzen der rat- und ihre eigene Verlorenheit im Dschungel der sexuellen tenhaften Überzeichnung ihrer Figuren spannende und zeit- Identitäten in einer starken Szene an dem Außenseiter auslassen. Martin Sperrs »Jagdszenen aus Niederbayern« lassen grüweise sogar bewegende Momente ab, während Cristin Königs ßen. Das ist Volkstheater im besten Sinn und ein einfühlsames keifende Gunhild und Lasse Myhr als ihr Sohn schon über beides hinaus sind. Erhart, der Junge, an dem alle zerren wie Regiedebüt. || an einem Rettungsseil, zuckt und züngelt wie ein in die Enge getriebenes Tier, schnarcht im Stehen, gießt sich wüst grimassierend Champagner über den Kopf – und am Ende des Mono- MAGDALENA logs, den Petras dem Vertreter der freiheitsliebenden Jugend Volkstheater ins Stück hineingeschrieben hat, presst sich diese Karikatur 17., 18. März., 4. April | 19.30 Uhr | Telefon 089 5234655 | www.muenchner-volkstheater.de eines Aufbruchwilligen in eine Superman-Pelle. Weit mehr Hoffnung auf Zukunft macht da Hanna Plaß als punkiges Girlie Frida Foldal, das am Klavier einige leise, langsam verhallende Töne und zornige Rio-Reiser-Zeilen beisteuert zu diesem anfangs unterhaltsamen Sammelsurium von Kabinettstückchen, aus dem gegen Ende jede Spannung entweicht wie die Luft aus einem Ballon. || JOHN GABRIEL BORKMAN Kammerspiele 10., 22., 25. 29. März | Telefon 089 23396600 | www.muenchner-kammerspiele.de Jagdszenen aus Oberbayern Maximilian Brückner reanimiert Ludwig Thomas »Magdalena« im Volkstheater. Christiane Wechselberger Die »Magdalena« lässt ihn nicht los. Vor zehn Jahren hat Maximilian Brückner Ludwig Thomas bedrückende Dörflertragödie in seinem Heimatort Riedering mit Laien aufgeführt. Jetzt debütiert er mit dem Stück um Bigotterie und Macht offiziell als Regisseur am Volkstheater. Die Leni ist ein Kerl. Das ist Brückners Kniff, um die Alles für die Familie Alvis Hermanis macht Gorkis »Wassa« zum puren Theaterglück. Gabriella Lorenz Eine durch und durch korrumpierte Gesellschaft, eine ebenso verrottete, dekadente und zerfallende Familie, ein von Pleite bedrohtes Transportschiff-Unternehmen. Und mittendrin, als fädenziehende Spinne im Netz, eine Mutter, die alles zusammenhalten will. Der russische Dramatiker Maxim Gorki schrieb »Wassa Shelesnowa« 1910, 1935 überarbeitete er das Stück und fügte eine Revolutionärin ein. Der lettische Regisseur Alvis Hermanis inszenierte unter dem Kurztitel »Wassa« die frühe Fassung für die Kammerspiele. Ihm gelang mit seinem fabelhaften Ensemble ein Theaterwunder, wie man es lange nicht mehr gesehen hat. Bühnenbildnerin Kristine Jurjane macht die ganze Länge der Spielhalle zur Breitwandbühne für die häusliche Atmosphäre: ein Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer nebeneinander, hypernaturalistisch mit altmodischen Mobiliar vollgestopft, mit Gardinen an den gravierten Fenstern zum Wintergarten, Grünpflanzen und sogar Vogelkäfigen mit lebenden Tauben. Hier herrscht Wassa, die Familien- und Firmenchefin, deren Mann seit 15 Jahren dem Tod entgegen dämmert. Familie und Firma gehen Wassa über alles, im Überlebenskampf wagt sie alles. In Wassas Reich wird gelogen, betrogen, werden Dokumente gefälscht und unterschlagen, Menschen in den Selbstmord getrieben oder einfach umgebracht und buchstäblich unter den Teppich gekehrt, während man ruhig daneben Suppe schlürft. Elsie de Brauw ist eine herbe, harte Herrscherin. Als Mutter ist sie ein Raubtier, das zwar die eigenen Söhne gnadenlos ausbootet, aber nur zum Erhalt des Rudels, wie sie ihrer Tochter Anna (Katja Herbers) erklärt. Und Anna zeigt sich als würdige Nachfolgerin. Hier sind die Männer Schwächlinge: Wassas Sohn Semjon (Oliver Mallison) ist ein nichtsnutziger Lebemann, den debilen Pawel spielt Benny Claessens als sabberndes, brüllendes, neurotisch zerstörtes Fettbündel. Seine lebenslustige Frau Ljudmila, die ihn aus Geschäftsgründen heiraten musste, hat ein Verhältnis mit dem Onkel Prochor (Stephan Bissmeier). Brigitte Hobmeier zeigt großartig den Freiheitsdurst, die Liebessehnsucht der jungen Frau. Hermanis legt die Familie und die Gesellschaftsstruktur unter das Mikroskop, er seziert ganz genau. Und führt seine bis in die kleinsten Rollen grandiosen Schauspieler zu einer realistischen und psychologischen Stimmigkeit und Wahrhaftigkeit, die exakt der Authentizität des Raumes entspricht. Zusammen ergibt das pures Theaterglück von morbider Schönheit, historisch genau und doch ganz heutig. Ein Ereignis. || wassa Kammerspiele Spielhalle | 10., 22., 23., 25. März (ausverkauft), am 25. Zusatzvorstellung um 12.00 | Telefon 089 23396600 Der befreiende Orgasmusspender Enttäuschend harmlos: »Nebenan – The Vibrator Play« im Cuvilliéstheater. Petra Hallmayer Sie rufen »Oh!« und »Uh!« und »Ohlala!«. Ein magisches Gerät versetzt Frauen in Verzückung. In »Nebenan – The Vibrator Play« greift die Amerikanerin Sarah Ruhl ein kurioses Kapitel der Medizingeschichte auf, das mit dem Film »In guten Händen« unlängst die Kinos eroberte. Mit Hilfe des Vibrators erlöst Dr. Givings (Norman Hacker) frustrierte Ehefrauen von ihren hysterischen Symptomen und natürlich will bald auch seine eigene den elektrischen Freudenspender testen. Barbara Weber hat daraus eine putzige Komödie gebastelt. Bekannt wurde die Schweizer Regisseurin durch mit dem Label »unplugged« versehene poppige Diskurs-Schnipseleien. Daran erinnern in der verblüffend biederen Inszenierung nur mehr ein paar unmotiviert eingefügte Songnummern. Freunde des gewitzten Boulevards können sich hier gut amüsieren. Die Frauen führen schöne Kleider vor und bereiten sich heimlich wechselseitig Genuss. Hanna Scheibe als hyperaktives Quasselstrippchen Catherine Givings hastet durch sämtliche Stereotypen unbefriedigter Gattinnen. Carolin Conrad zitiert akrobatisch den Arc de cercle, die berühmteste der hysterischen Verrenkungen. Ein bizarrer Analvibrator rettet einen Künstler aus seiner Schaffenskrise. Das alles ist leidlich unterhaltsam, doch etwa so prickelnd wie ein Glas lauwarmer Prosecco. Anhand der Sprache der Hysterie und der Deutungsmacht der Ärzte haben Scharen von Feministinnen die Geschlechterverhältnisse analysiert. Völlig unbekümmert darum schnürt das Stück alte und neue Klischees zusammen. Die Unterschicht wusste immer schon, wie`s geht und so klärt die schwarze Amme die Damen darüber auf, dass es Lust auch im Ehebett gibt. Mit multiplen Orgasmen sind Körper und Seele jeder Quengelsusi zu heilen. Die Elektrizität fungiert als Geburtshelferin der seligen Ära der sexuellen Moderne. Am Ende kuriert Catherine den Doktor von seinen Verklemmungen und alle spielen glücklich befreit Hasch-mich. Soviel BeziehungsratgeberNaivität ist atemberaubend. Willkommen im Spaßzeitalter. || NEBENAN – THE VIBRATOR PLAY Cuvilliéstheater 8., 19., 28. März | 20.00 | Telefon 089 21851940 bühne Münchner feuilleton · märz · Seite 25 Polyphoner Konkurrenzkampf Die »Biermösl Blosn« ist tot – es leben die Wells. Ein musikalischer Familienabend in den Kammerspielen. Barbara Reitter-Welter »Familienaufstellung« heißt die Therapieform, in der jeder in die Rolle eines Anverwandten schlüpft – um so richtig die Seelen-Sau rauszulassen. Die Well-Family benutzt Instrumente, um zu zeigen, wer Mamas Liebling, die »Scheena« oder der »Gscheiter« ist. Und so blasen und tuten, tröten und trompeten sie in einem hinreißenden polyphonen Konkurrenzkampf um die Wette. Bis zum Schluss das bayerische Harmonielied »Fein sein, beinander bleibn« erklingt. Dass eine der Strophen das »aussi grasn« verbietet, ist ein ironischer Schlenker dieser Theater-Sternstunde, denn gerade hat sich die legendäre »Biermösl Blosn« aufgelöst. Doch am Premierenabend stehen sechs der insgesamt 15 Well-Kinder auf der Bühne; selbst Mama Traudl ist mit ihren 92 Jahren dabei und zupft die Zither... »Fein sein, beinander bleibn« ist ein Hausmusik-Abend der besonderen Art. Die drei »Wellküren« Burgi, Bärbi und Moni und ihre Brüder Stofferl, Michi und Karli musizieren, singen, jodeln und schuhplattln. Sie erzählen aber auch Kindheitserlebnisse – darunter sechs Versionen einer SchürhakenAttacke auf Stofferl. Und sie derblecken satirisch die Großkopferten und Gwapperten in Politik, Wirtschaft und Society. Ein Beispiel dafür ist das freche Gstanzl über Seehofers Darm, in dem viele Platz haben oder der Milchpreis-Rap »40 Cent oder da Müller brennt«. Zum Verständnis baumeln pralle Euter vom Bühnenhimmel, während 40 verschiedene Instrumente, dar- The philosopher’s Stone unter ausgefallene wie Brummtopf oder Nonnentrompete, an einer Wäscheleine hängen. Nur die Alphörner wachsen zum »Andachtsjodler« aus dem Boden. Bei so viel Überraschungen zwischen Volksmusik, Klassik und Pop ist die Rahmenhandlung nebensächlich, die sich das freche Sextett ausgedacht hat: Es sollen Proben für ungewöhnliche Auftraggeber wie die Pharmaindustrie oder den Pfarrer sein, der eine Eröffnungshymne für die Weihrauch-Pipeline von Tschenstochau nach Altötting braucht. Als Überraschungsgast erscheint der Familien-Nikolausi der Wells: Gerhard Polt in einem kabarettistischen Kurzauftritt. || mission Accomplished Aufhören, wenn’s am schönsten ist. Die Party auf dem Höhepunkt verlassen, bevor’s fad wird. Bloß kein Abziehbild werden des immer gleichen, weil immer garantierten Erfolgs. So oder ähnlich mögen die Brüder Hans, Michael und Christoph Well aus Günzlkofen gedacht haben, als sie vor kurzem das Ende der Biermösl Blosn verkündeten. Dass ein schon lange schwelender Bruderzwist im Hause Well dabei auch eine wichtige Rolle gespielt haben mag, steht auf einem anderen – einem privaten – Blatt. Aber wo sollten sie auch noch hin? Die jahrzehntelang berannte Festung ist gefallen, die absolut(istisch)e Herrschaft der CSU gebrochen. Mission accomplished. Ein Publikum gibt’s nicht mehr zu gewinnen, weil ihnen das ohnehin längst zu Füßen liegt, bevor sie überhaupt nur einen Fuß auf die Bühne setzen; und »ausverkauft« ist bekanntlich ein Wort, das sich nicht steigern lässt. Bestimmt gibt es in Bayern (und woanders versteht man sie ja gar nicht) heutzutage mehr bekennende Biermöslianer als gläubige Katholiken. Um diesen Erfolg noch zu toppen, müssten die drei wahrscheinlich mit preussischen Übertiteln spielen, oder mit chinesischen. Aber das ginge dann ja auch irgendwie an der Sache vorbei. Also doch: Aufhören, wenn’ s am schönsten ist. Abspringen, wenn die Welle ganz oben ist. Schluss machen, wenn man noch richtig vermisst wird. Das mag zwar traurig sein für uns Fans, sehr »Fein sein, beinander bleibn« | oben v.l.n.r.: Gertraud, Bärbi, Moni, Burgi, unten: Karli, Stofferl und Michael Well | Foto: Andrea Huber traurig – was soll bloß aus Bayern werden, wenn eine ganze neue Generation post Biermösl heranwächst? Wer soll unseren Kindern und Enkeln diese wunderbare bayerische Gleichzeitigkeit aus FEIN SEIN, BEINANDER BLEIBN Kammerspiele 15., 21., 30. März | 20.00 (ausverkauft) | Telefon 089 23396600 www.muenchner-kammerspiele.de Liebe zur gelebten Tradition und Respektlosigkeit vor den Popanzen der Macht vermitteln? Aber man muss dieser Entscheidung auch Respekt, ja sogar Hochachtung zollen: Wer will schon zur Dauer-Weißwurst werden, zur fest einkalkulierten Größe in der weißblaulinken Unterhal- Theaterwundermaschinerie Das Residenztheater lockt junge Besucher ans große Haus. Tina Lanik inszeniert aufwändig Jules Verne. tungs-Schickeria, zum Trachtenverein für die kritische Intelligenz? Wer möchte eine bayerische Liz Taylor werden, mumifiziert in der Erinnerung der eigenen Legende? Gibt es heutzutage, wo die Revolution oder Scientology mit drin sind, schmälert das Vergnügen in dieser satt mit optischen Gags, parodistischen Elementen und witzigem Slapstick unterfütterten Aufführung jedoch nicht. || bunte Flut der diversen Medien fast schon jedem Straßenkehrer zu einem zweifelhaften Ruf als »Promi-Straßenkehrer« verhilft, wenn er nur drei Mal in Grünwald gefegt hat – gibt es da nicht schon genug abschreckende Pattex-Fälle, die verzweifelt an ihrem Barbara Reitter-Welter Das Theaterpublikum ist überaltert. Deshalb heißt es für alle Häuser, Strategien zu finden, um sich Nachwuchs zu ziehen. Das »Junge Resi« ist schon heftig dabei; nach den hinreißenden Erzähltheaterabenden im Marstall folgt jetzt erstmals eine Produktion am großen Haus. Tina Lanik schickt ihre Zuschauer von acht bis 80 knapp drei Stunden lang auf eine Reise »In 80 Tagen um die Welt«. Die Dramatisierung des Romans von Jules Verne pinselt geschickt die spannendsten Episoden und aufregendsten Abenteuer des englischen Gentlemans Phileas Fogg aus, die er mit seinem treuen Diener Passepartout bestreiten muss. Eine Wette unter den Club-Freunden des reichen Snobs ist schuld an diesem waghalsigen Unterfangen. Dass sich auch noch ein Detektiv von Scotland Yard an die Fersen des ungleichen Herr-Knecht-Gespanns heftet, weil er Fogg für einen Bankräuber auf der Flucht hält, vervielfacht die Turbulenzen ... Raffiniert öffnet die Regisseurin die Trickkiste, um alles vorzuführen, was die Theaterzaubermaschinerie kann. Da staunen selbst die Kleinen, deren Ästhetik von Comics und Computerspielen geprägt ist. Denn sie werden in ein Märchenreich der Imagination verführt, in dem es wogende Wellen und trappelnde Bisons, eine brennende indische Witwe und einen chinesisch sprechenden Mond gibt, wo sich ruckzuck das Londoner Puppenhaus in ein Zugabteil verwandelt, Gegenstände im Schnürboden verschwinden oder aus dem Untergrund Figuren auftauchen, wo’s Blüten regnet und der Eisbär die Menschensprache versteht. Geräusche, Licht und Musik schaffen die Basis für das plakative Spiel der Darsteller, unter denen mit Johannes Zirner und Jens Atzorn zwei bekannte Schauspielersöhne auf der Bühne stehen, Michele Cuciuffo und Thomas Gräßle aber die Zuschauerlieblinge sind. Dass die Grenze zum effektvollen Klamauk, zur Anbiederung an den Kindergeschmack manchmal nur knapp gehalten wird, dass für die Erwachsenen unnötigerweise Realitätspartikel wie ägyptische In 80 Tagen um die Welt. Residenztheater 12., 16., 18., 19. März, 9., 21., 25., 26., 28. April | wechselnde Zeiten | Termine Telefon 089 2185-1940 | www.residenztheater.de Stückchen Ruhm und Glanz von Gnaden der Regenbogen-Presse kleben? Man muss ja gar nicht bis zum Bundespräsidenten gehen, um dafür Beispiele zu finden. Es reicht schon, auf ein TourneePlakat der Rolling Stones zu schauen ... Und jetzt die gute Nachricht: Es ist ja gar nicht alles vorbei. Es Anzeige gibt sie wieder, die Hoffnungsfrohen mit den »Karte gesucht«Schildern vor der Tür. Die euphorisierten Zuschauer nach der Vorstellung. In den Kammerspielen machen Michael und Stofferl Well weiter, neu formatiert mit vier anderen Geschwistern ihrer zahlreichen Familie und der 92-jährigen Mutter. »Fein sein, beinander bleibn« heißt das Ganze mit feiner Ironie im Doppel- und Dreifachsinn und ist vor allem musikalisch ein großartiger Spaß (siehe Kritik auf dieser Seite). Die Biermösl Blosn ist tot, es lebe die Well Gang! Und wenn man sich diese Familie mit ihrer ungeheuren Reproduktionskraft (15 Kinder von einem Elternpaar!) und ihrem offenbar unerschöpflichen musikalischen Gen-Pool so ansieht, dann brauchen wir eigentlich keine Angst zu haben: Auch unsere Kinder und Enkelkinder werden sich noch aus diesem Brunnen laben können. Und wenn die CSU dereinst einmal als Splittergruppe aus dem Landtagswahlen hervorgeht – dann wird die Musik dazu bestimmt aus Günzlkofen kommen. ROLF MAY musik Seite 26 · märz · Münchner feuilleton Das Glitzer-Männchen Cameron Carpenter verpasst einem Kircheninstrument ein neues Image: An der Orgel spielt er klassische Werke genauso wie Pop und Jazz. Eva Mackensen Cameron Carpenter auf der Orgel spielen zu sehen, ist ein Ereignis. Der eine oder andere wird vielleicht ein eigenartiges Déjà-vu erleben: Wo hat man das nur schon mal gehört? Die Hände, die in irrsinniger Geschwindigkeit über die Tastatur fliegen, die tanzenden Füße auf den Pedalen, die weichen und fließenden Bewegungen des Rückens? Tatsächlich mag man eben jenes Bild vor Augen gehabt haben, wenn man Robert Schneiders Roman »Schlafes Bruder« gelesen hat, der das Leben des musikalischen Autodidakten Johannes Elias Alder schildert. Alder, der natürlich rein fiktiv ist, wird im Roman als der größte Orgelvirtuose aller Zeiten beschrieben, der »herrliche Kathedralen aus Musik« errichtet. Carpenter wirkt, wenn er an der Orgel sitzt, wie sein real gewordenes Abbild. Unscheinbar sieht er aus, mit seiner kleinen Statur, den braunen Augen und Haaren. Auf der Straße würde man ihn übersehen. Bei seinen Auftritten aber gibt er sich gern exzentrisch, seine Bühnenoutfits sind legendär; sie bestehen aus weißen Glitzershirts, schwarzen Paillettenhemden, engen, mit Strass besetzten Hosen. Seine Schuhe mit dem kleinen Absatz, die aussehen wie eine Kreuzung zwischen höfischem Schuhwerk aus dem 18. Jahrhundert und Ballettschläppchen, bestickt er eigenhändig mit Swarovski-Kristallen. Carpenter Cameron Carpenter | © Scott Gordon Bleicher versteht sich als Entertainer, er möchte schillern, er möchte sein Publikum betören und umgarnen. Er weiß, dass er etwas bieten muss. Dass er mit seinen 31 Jahren fast schon zu alt ist für die Rolle des jungen Wilden, dessen überbordendes Talent alle Konventionen des Klassikbetriebes naturgewaltig hinwegfegt. Er hat eine Heidenangst vor den Klischees in den Köpfen der Menschen: Bloß keine Assoziationen wecken an verstaubte und windschiefe Kirchenemporen, an lichtscheue Organisten mit chronischem Hustenleiden. Dabei hat er sich längst vom rein sakralen Repertoire verabschiedet. Carpenter ist ein musikalischer Pionier, er möchte sein Instrument neu entdecken. Er erschließt ihm den Jazz, er unternimmt Ausflüge in die Popmusik. Seine immensen technischen Fertigkeiten, die er während seines Studiums an der Juilliard School in New York erwarb, verwendet er außerdem darauf, herausragende Werke der Musikgeschichte für die Orgel zu transkribieren. Etwa die Études von Chopin oder Bachs Wohltemperiertes Klavier, aber auch ganze Orchesterwerke. So gibt es eine Orgelfassung der 5. Symphonie Gustav Mahlers von seiner Hand. Daneben ist Carpenter auch selbst als Komponist tätig. Seine Eigenwerke werden seit 2010 in der renommierten Edition Peters verlegt. Aber vor allem ist ihm der Kontakt zum Publikum wichtig. Carpenter ist wohl der einzige berühmte Solist, der sich vor jedem Auftritt an die Eingangstüren stellt, um jedem seiner Zuhörer einzeln die Hand zu schütteln. Um nicht übersehen zu werden, trägt er dabei etwas Glitzerndes. || Cameron Carpenter Philharmonie | 26. März | 20.00 Karten: www.muenchenticket.de Anhören! Schon wieder das erste Quartal um. Eine Pop-Frühjahrsauslese. david steinitz Soap&Skin – »Narrow« Da können alle Freizeit-Melancholiker einpacken: An die düstere Brutalität des zweiten Soap&Skin-Albums »Narrow« muss man sich schmerzlich gewöhnen – eine Platte, die alle Wehmutsadjektive kraftlos erscheinen lässt. Die zwanzigjährige Österreicherin Anja Franziska Blaschg steckt hinter dem Projekt Soap&Skin, wurde schon oft als Wunderkind bezeichnet und jetzt vermutlich noch viel öfter, so erbarmungslos wie sie hier ihren toten Vater besingt. Oder »Voyage Voyage« interpretiert, mit steirischem Einschlag, ein Monster von einem Cover. Für dieses Album könnte man das Wort Gänsehaut ausnahmsweise aus dem Giftschrank nehmen. Pet Shop Boys – »Format« Eine B-Seiten-Sammlung aus den letzten 18 Jahren Pet-shop-boys-Geschichte. Mit 38 Songs, von denen mindestens 37 besser sind als das, was sich viele Bands als A-Seiten zu veröffentlichen trauen. Absolutes Meisterstück ist der Song »In Private«, den Neil Tennant und Chris Lowe Ende der Achtziger für die wunderbare Dusty Springfield geschrieben haben und hier – gemeinsam mit Elton John – selbst einsingen. Ansonsten? »Hit and Miss«, »In the Night 1995«, »Girls Don’t Cry« … Wie man seit 30 Jahren auf diesem Niveau Musik machen kann, bleibt rätselhaft. Hauptsache, sie machen es. Soap&Skin | © Play it again Sam Nada Surf | © City Slang Pet Shop Boys | © EMI Records Trent Reznor, Atticus Ross | © Mute Nada Surf – »The Stars are indifferent to Astronomy« Irgendwann verwandeln sich die meisten Popfetischisten in nörgelnde Veteranen der eigenen Jugend und deren Soundtrack. Ja, man altert, ja, ist nicht immer toll. Man kann die Nostalgie aber produktiv nützen, um ein sehr hörenswertes Album aufzunehmen. Nada Surf haben das gemacht – auf »The Stars are indif- Dobré | © Millaphon ferent to Astronomy« besingen sie die Evolution vom Indie-Boy zum Indie-Mann Anfang vierzig. So schönen Gitarrenpop haben sie seit zehn Jahren nicht mehr gemacht. Und mal ehrlich: Wer will wirklich nochmal fünfzehn sein und die Erkenntnis aufgeben, wann und wie man ein Mädchen zu küssen hat? Trent Reznor & Atticus Ross – »The Girl with the Dragon Tatoo« Wie fühlt es sich an, ein Eiszapfen zu sein? Nach den knapp drei Stunden, die dieser Soundtrack zum amerikanischen Remake von Stieg Larssons »Verblendung« dauert, kann man es sich in etwa vorstellen. Trent Reznor, Sänger und Komponist der Nine Inch Nails, und der Produzent Atticus Ross haben im letzten Jahr einen Oscar für ihren Soundtrack zu David Finchers »The Social Network« bekommen, jetzt haben sie sich für den Regisseur erneut zusammengetan. Und was sie hier machen, ist noch atemberaubender. Eine Vertonung klirrender Kälte, ein musikalisches Nirwana aus Eis und Schnee. Brrr. Dobré – »Do the Dobré … Again« »Recorded and produced at Lovebox Studios, Augsburg« steht im Booklet. Das klingt zwar nicht so cool wie Abbey Road, aber so lange die Musik deren Geist folgt, ist ja alles gut: Sixties-Pop für Jungen und Mädchen, die gerne tanzen. Ein Re-Release ist dieses Album der Münchner Band Dobré, die nun bei Millaphon Records ein neues Zuhause gefunden haben, dem Label der drei vielbeschäftigten Herren Gerd Baumann (Filmmusik für Dietl und Rosenmüller), Til Hofmann (Lustspielhaus) und Mehmet Scholl (ehem. Mittelfeld). Live kann man Dobré am 1. April im Atomic Café hören. Kein Scherz. || musik Münchner feuilleton · märz · Seite 27 Die Mumifizierung der Rockmusik Max Theiss Man soll das Fell des Bären nicht verteilen, ehe er erlegt ist. Aber wehe dem Vieh, wenn es endlich tot ist, dann geht die große Umverteilung so richtig los. Und damit wären wir beim guten alten Rock’n’Roll angelangt. Viele werden jetzt natürlich protestieren, der Rock’n’Roll würde niemals sterben, das habe ja schon der alte Neil Young gesagt. Das ist wohl wahr, aber nehmen wir mal die Beatles. Die gibt es zweifelsohne seit 1970 nicht mehr, da wurde gewissermaßen der Bär aus Liverpool erlegt. Dessen Fell hat sich als ganz schön dick und großflächig erwiesen. Ob die dreiteilige Beatles-Anthology, das Best-OfAlbum »1« oder die aufgeblasene iTunes-Kollektion mit all ihren jemals veröffentlichten Songs – die Ex-Mitglieder verstanden es seit jeher, die immergleichen Songs wieder und wieder zu verkaufen. Aber die Fell-Verteilung ist noch vielfältiger, und zwar entlang zweier Verwertungsketten – eine für die ländlichen und eine für die städtischen Gebiete. In den Dorfgegenden geht schon seit geraumer Zeit das Gespenst der Cover-Bands um – und in den Städten jenes der Musicals. Letztere sind eigentlich im Grunde nichts weiter als Auftritte von CoverBands – nur eben mit aufwändigerer Bühnenshow, einer rudimentären Rahmenhandlung sowie einem erheblich höheren Eintrittsgeld. Jetzt erzählt im Zeltpalast des Deutschen Theaters ein Musical die Geschichte der Beatles nach. Unter dem naheliegenden Titel »All You Need Is Love« werden alle Hits noch einmal aufgewärmt und von vier Beatles-Imitatoren nachgeträllert. Tragischer Höhepunkt dieser lebenserhaltenden Maßnahmen der Pop- und RockLegenden dürfte die Show über Michael Jackson gewesen sein, die im März im Deutschen Theater lief. Nicht, dass dieses Spektakel nicht absolut mitreißend ist und obendrein die bewegende und bewegte Karriere des King of Pop effektreich und choreographisch brillant vor Augen führt. Allein: Michael Jackson lebte noch, als dieses Musical in London uraufgeführt wurde. Und jetzt, wo er tot ist, verwehren ihm gerade solche Veranstaltungen jegliche Form von Legendenbildungen. Die meisterhaften Videoclips und großartigen Platten, die allesamt von jacksoneskem Größenwahn und Ingenium zeugen – hier glaubt man tatsächlich, dass er irgendwie weiterlebt. Doch eine Nacht lang vor Youtube zu sitzen und sich Michael-Jackson-Videos reinzuziehen ist sehr wohl etwas anderes, als sich mit einer Michael-Jackson-Soirée zu konfrontieren, die zwar eine großartige Show sein mag, aber eben nicht seine Show ist. Ob nun Abba, Queen, Falco, die Beatles oder Michael Jackson: Es sind gerade diese glorifizierenden Shows mit ihren perfekt-sterilen Hochglanz- In diesem Frühjahr sind im Deutschen Theater Leben und Tod beängstigend nah beieinander: Die wilden Zeiten des Rock werden zu Hochglanz-Musicals – diszipliniert im Klappsessel statt wild in Woodstock. Inszenierungen, die die Zuschauer immer weiter von Original entfernen. Die Legende lebt kurzzeitig auf und ist in dieser verkitschten Überhöhung doch nur ein lebloser Abklatsch. Neben diesen beiden Ereignissen reiht sich am Deutschen Theater noch ein ganz anderer, hoch interessanter Fall von Selbstmumifizierung ein: »Die große Peter Kraus Revue« von und mit: Peter Kraus. Eigentlich ist Peters Karriere schon lange zu Ende. Alle Songs sind geschrieben (oder in seinem Falle übersetzt und neu eingespielt), das Häuschen am Luganer See mutmaßlich abbezahlt, und die allgemeine Pop-Musik ist schon eine Handvoll Generationen weiter. Und dann kommt man plötzlich auf die Idee, sein eigenes Rock’n’Roll-Museum zu errichten. Doch anstatt andere machen zu lassen, geht man einfach selbst auf Tournee, um exakt jene Lieder einem diszipliniert im Klappsessel sitzenden Publikum vorzuspielen, die einst eine ganze Teenager-Generation prägten. Dass diese Tournee betitelt ist mit »Für immer Jeans« – nun ja, man wird sehen, wie viele Leute in Jeans kommen werden. Die Frage, wie man nun den Rock’n’Roll tatsächlich am Leben erhalten kann, beantwortet das Deutsche Theater übrigens selbst: Noch im März kommen die dem Glam-Rock huldigende »Rocky Horror Show« sowie das Hippie-Musical »Hair«, und auf das BeatlesMusical folgt ab Mitte April die Rock-Oper »Tommy« von The Who. Alle drei sind Originalmusicals, die den jeweiligen Pop-Strömungen ein Denkmal setzten – und zwar nicht im Nachhinein, sondern noch mitten in der jeweiligen Ära. Es stimmt schon: Rock’n’Roll will never die. || DEUTSCHES THEATER Peter Kraus-Revue: Für immer in Jeans 15. bis 18. März Rocky Horror Show 20. bis 25. März Hair: The Love & Rock-Musical 27. März bis 7. April Das Beatles-Musical: All You Need Is Love 12. bis 15. April von oben nach unten: Hair | © Deutsches Theater Beatles Show | © Deutsches Theater Rocky Horror Picture Show | Foto: Thommy Mardo Peter Krauss | Foto: Mike Kraus Thriller | Foto: Hugo Glendinning The Who's Tommy: A Legendary Rock Opera 18. bis 29. April Karten: www.muenchenticket.de Impressum Herausgeber Münchner Feuilleton UG (haftungs-beschränkt) Breisacher Straße 4 l 81667 München Telefon: 089 / 48920971 l info@muenchner-feuilleton.de www.muenchner-feuilleton.de Im Gedenken an Helmut Lesch. Redaktion Thomas Betz, Gisela Fichtl, Matthias Leitner, Gabriella Lorenz, David Steinitz Autoren dieser Ausgabe Thierry Backes, Michael Bartle, Patrick Bethke, Thomas Betz, Volker Derlath, Rozsika Farkas, Cornelia Fiedler, Florian Froese-Peeck, Petra Hallmayer, Sven Hanuschek, Günter Keil, Bernhard Keller, Klaus Kieser, Anne Klein, Christine Knödler, Florian Koch, Peter Künzel, Sabine Leucht, Gabriella Lorenz, Gabriele Luster, Eva Mackensen, Christine Madden, Marcel Marin, Rolf May, Astrid Mayerle, Ecco Meineke, Sylvia Rein, Barbara Reitter-Welter, Michael Schmitt, David Steinitz, Max Theiss, Erika Wäcker-Babnik, Christiane Wechselberger, Lukas Wilhelmi Beratung »Augenweide«: Martin Potsch Projektleitung l V.i.S.d.P. Christiane Pfau Geschäftsführung Ulrich Rogun, Christiane Pfau Vertrieb Ulrich Rogun Mit Autorennamen gekennzeichnete Artikel geben die Meinung des Autors wieder und müssen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion und der Herausgeber widerspiegeln. Gestaltung l Layout | Illustrationen bild+text l München l www.bildundtext.biz l Anja Wesner l Sylvie Bohnet | Agnes Diehr | Susanne Gumprich l Uta Pihan Das Förder-Abo Für 50 Euro gibt es 11 Ausgaben im Jahr inkl. Versand. Rufen Sie uns an oder schreiben Sie an info@muenchner-feuilleton.de. Druckabwicklung ulenspiegel druck gmbh Birkenstraße 3 l 82346 Andechs Bankverbindung Münchner Feuilleton UG Kto.-Nr: 1278444 l Münchner Bank EG l BLZ 701 900 00 Stichwort: Förderabo MF / Ihr Name musik Seite 28 · märz · Münchner feuilleton Hörsturz Der Apple-Algorithmus Die Münchener Wohnungssuche prägt fürs Leben. Doch wenn der neue Mietvertrag endlich unterschrieben ist, steht der eigentliche Horror erst bevor. In der neuen Bleibe eingetroffen, will die CD-Sammlung aus den Umzugskartons gehoben und neu sortiert werden – dabei findet man in der Zeit des Mp3-Players leider kaum noch Gleichgesinnte, die die Kunst der kreativen Ordnung zu schätzen wissen. Vom Singer-Songwriter-Pop bis zur Philharmonie, vom glückseligsten Liebeslied der neusten R’n’B-Queen bis zum tiefsten Weltschmerz vergangener Wohlstandsgesellschaften soll nichts unter den Tisch fallen – beziehungsweise ins tiefste Fach des Billy-Regals. Die passende Musik ist eine Frage der Situation: Ob man mit einer hübschen Dame auf der Bettkante sitzt, die man begeistern möchte (erstes Coldplay-Album) oder mit einer hübschen Dame, die zu leicht zu begeistern ist (jedes andere Coldplay-Album). Also erarbeitet man ein komplexes System: Mit Hilfe eines selbstgebastelten Genre-Würfels und dem Wikipediawissen zu den Komplementärfarben der Alben-Cover findet sich eine gesunde Mischung aus Willkür und musikalischer Persönlichkeit. Doch dann die Einzugsparty – Ernüchterung! Niemandem fällt die Mühe auf. Der Shuffle-Modus hat den Moment des Erlebens verändert. Im Apple-Algorithmus, im ewigen, glücksoptimierenden Weiterklicken, auf der Suche nach dem einen Lied, wird der Song zu einem Dienstleister. Er hat sich der Situation anzupassen. Dass Songs eines Albums auch in ihrer Zusammenstellung funktionieren; dass eine Platte so etwas wie einen dramaturgischen Spannungsbogen hat, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende aufweist, verliert sich. Und damit auch der Sinn für die Bedeutsamkeit einer klugen und kreativen Anordnung der Plattensammlung. In größeren Sinneinheiten als dem Lied wird nicht mehr gedacht. Im dauerhaften Vorwärtsschalten entsteht Gleichschaltung. Der Vorwurf an die Jugend, ihre Musik würde sich immer gleich anhören, ist auch ihrer Hörsozialisation geschuldet. Wann immer ein Song es heute in eine Playlist schaffen will, muss er schnell funktionieren und laut sein. »Eingängig« ist da ein passender Euphemismus. Also sitzt man auf der Bettkante – allein. Wie gerne würde man jetzt einer hübschen Dame seine prunkvolle Regalinstallation zeigen, die vom Sammeln und Jagen erzählt. Womit eine wunderbare Basis für eine charmante Annäherung gelegt wäre. Doch dazu kommt es nicht. Drüben dröhnt es aus der Docking-Station. Irgendwas mit Beat. Lukas Wilhelmi »Das Geld gehört sich selbst.« Alle zwei Jahre vergibt die Forberg-Schneider-Stiftung den mit 20.000 Euro dotierten Belmont-Preis für zeitgenössische Musik. Die Initiatorin Gabriele Forberg über ihre Förderziele und Stiften in Krisenzeiten. gabriele luster Gabriele Forberg | © privat Forberg-Schneider-Stiftung Mäzene und Stifter sind eine rare Spezies. Dennoch hat sich ihre Zahl seit dem Jahr 2000 in Oberbayern verdoppelt: 1457 Stiftungen verfügen über insgesamt 3,9 Milliarden Euro. In München gibt es insgesamt 945 Stiftungen. Eine dieser Stiftungen ist die Forberg-Schneider-Stiftung, die 1997 von Gabriele Forberg und Achim Schneider in Frankfurt ins Leben gerufen wurde und mittlerweile in München ihren Sitz hat. Woher hat denn der Belmont-Preis seinen Namen? Der Name stammt aus Shakespeares »Der Kaufmann von Venedig«. Portia lebt auf einem Landsitz namens Belmont. Und außerdem heißt Belmont übersetzt Schönberg. Dieses Jahr wurde der amerikanische Journalist und Musikwissenschaftler Alex Ross für sein Buch »The Rest is Noise« ausgezeichnet. Wer gehört noch zu den Preisträgern? Unter anderen der Münchner Komponist Jörg Widmann, die Geigerin Carolin Widmann, das französische Quatuor Ebène, der Komponist Bruno Mantovani, der Pianist und Dirigent Marino Formenti. Und wer entscheidet über die Vergabe des Preises? Es gibt drei Kuratoren. Momentan sind das die Musikwissenschaftler Eric Denut und Markus Fein von den Berliner Philharmonikern. Und daneben ich als Kuratoriumsvorsitzende auf Lebenszeit. Wie kamen Sie und Ihr Mann auf die Idee, Stifter zu werden, und warum fördern Sie die zeitgenössische Musik? Da mein Mann und ich keine direkten Erben haben, gründeten wir die Stiftung. Zunächst widmete sie sich parallel der Architektur und Gartengestaltung, die mein Mann favorisierte, und der Musik – meiner Leidenschaft. Nach dem Tod meines Mannes verlegte ich die Stiftung nach Bayern und seither konzentriert sie sich ausschließlich auf die Musik. Ist die Stiftung Ihr Hobby oder mehr? Sie war einmal gedacht als intellektuelles Ausgleichshobby. Aber inzwischen ist sie mein Lebensinhalt. Wie viel Geld mussten Sie und Ihr Mann als Stifter einbringen? Die gesetzliche Mindesteinlage betrug damals 640.000 DM. Mittlerweile ist unser Stiftungsvermögen durch Erbschaften und Finanzanlagen um ein Vielfaches angewachsen. Gehört das Stiftungsg eld denn weiterhin Ihnen? Nein, das Geld gehört sozusagen sich selbst. Der Staat, in unserem Fall die Regierung von Oberbayern, hat ein waches Auge auf das Vermögen und die Einhaltung unserer von ihr genehmigten Stiftungszwecke. Und die Frankfurter Metzler Bank verwaltet es. Sie agiert eher konservativ und risikoarm, weshalb wir auch in den vergangenen turbulenten Jahren gut davongekommen sind. Viele andere Stiftungen mussten ordentlich Federn lassen. Agiert die Stiftung nur auf dem »Preis-Niveau« oder gibt es auch unterm Jahr Förderungen und schnelle Hilfe in Akutfällen? Selbstverständlich. Wir unterstützen zum Beispiel auch Kompositionsaufträge etwa beim Weimarer Kunstfest »pèlerinages« und sponsern Auftrittshonorare. Wir springen aber auch ein, wenn junge Musiker oder Sänger Demo-CDs oder Teilnahmegebühren für Wettbewerbe brauchen. Dann helfen wir mit kleineren Finanzspritzen weiter. Das summiert sich auf etwa 40.000 Euro pro Jahr. Auch eigene Projekte haben wir schon ins Leben gerufen. Haben Sie ein enges Verhältnis zu den geförderten Musikern und Preisträgern? Natürlich verfolge ich die Entwicklung der jungen Leute und vernetze sie, wo immer es geht. Zu manchen hat sich ein freundschaftliches, fast familiäres Verhältnis entwickelt. So übernehme ich mittlerweile bei einem jungen, von uns geförderten Sänger-Ehepaar aus Budapest die Rolle der Oma und schiebe dort das Baby durch die Stadt. musik Münchner feuilleton · märz · Seite 29 Mit Balkon und ohne Strom Die Reihe Hauskonzerte schafft in München von der Isar bis zum Waschsalon ein intimes Forum für Bands aus aller Welt – und entdeckt dabei die Stadt neu. Auch im Internet sind die Sessions ein großer Erfolg. Patrick Bethke Letzten Sommer im Kiki Genusslokal, Neuhausen. Zwischen Salbeitöpfen und Schokokuchen sitzen die zwei Damen von Boy und spielen ein Lied. Gedämpftes Sonnenlicht und gleichmäßiges Verkehrsrauschen dringen von draußen ins Lokal, passend zum zarten Bitten der Sängerin: »drive, darling, drive«. An den Kachelwänden werden Licht und Ton sanft verstärkt. Als die letzten Noten verklungen sind, lässt die Sängerin sich zu einem Augenaufschlag hinreißen, dem man ohne zu zögern ewige Liebesschwüre folgen lassen will. In einer vergleichbar intimen Atmosphäre wird man Boy so schnell nicht wieder erleben können. Im Februar erst traten sie auf der Berlinale-Eröffnungsfeier auf, woraufhin die versammelte Presse sich genötigt sah, verrückt zu spielen – ein Glück, dass der intime Auftritt im Kiki für jedermann festgehalten wurde. Stichwort: Hauskonzerte! Die Veranstaltungsreihe lässt sich im Internet nochmal erleben: wunderschön gefilmte Live-Performances in Songlänge, meist ohne elektrische Verstärkung. Der technische Aufwand wird vor wie hinter der Kamera möglichst klein gehalten. Ziel ist es, den Musikern und ihrer Musik so nahe wie möglich zu kommen. Über sechzig Künstler standen mittlerweile für Tobias Tzschaschel und Stefan Zinsbacher, die Erfinder der Hauskonzerte-Reihe, vor der Kamera. Was zu Beginn vor knapp zwei Jahren als Schmankerl für die Mediathek des von Tobias geleiteten Online-Feuilletons »zeitjung« gedacht war, entwickelte schnell ein Eigenleben. Heute werden die Hauskonzerte-Videos im Schnitt 12.000 Mal am Tag angesehen. Unter den Künstlern finden sich neben Boy so klangvolle Namen wie The Black Heart Procession, Junip, I Am Kloot oder Wye Oak. Münchner Topografien, die unterschiedlichen Viertel und Räume, sind in den Videos allgegenwärtig: Das Surfen auf der Hauskonzerte-Homepage gleicht einem kleinen Streifzug durch die Stadt. Die Isar, ein Westender Waschsalon, ein Vorführsaal der Museum Lichtspiele, ein anonymer Balkon dienen als Kulisse, aber auch beliebte Kneipen, wie die Favoritbar, das Café Kosmos oder die Südstadt. Fast alle Live-Mitschnitte sind mit einem zusätzlichen, kurzen Text ausgestattet, der Charakter und Stimmung der jeweiligen Lokalität beschreibt. Zur Atmosphäre der Hauskonzerte-Sessions gehört immer auch eine räumliche Vertrautheit. »Der Bezug zur Stadt ist wichtig«, erklärt Stefan. Er und Tobias kennen sich seit der Schulzeit und sind eingefleischte Münchner. Im Zuge ihrer Arbeit lernten sie die Stadt noch besser kennen und konnten dabei auf das Entgegenkommen ihrer Bewohner zählen. Darauf sind die beiden auch angewiesen, denn Geld verdienen sie mit den Hauskonzerten nach wie vor nicht. Angefangen haben Tobias und Stefan als enthusiastische Musikliebhaber, die persönlich bei Bands anfragten, ob vor oder nach ihrem Auftritt in München noch Zeit bliebe für eine kurze Aufnahme-Session. Als sie dann die ersten Male tatsächlich den eigenen musikalischen Helden gegenüber standen, war die Euphorie groß. Nachgelassen hat die Liebe zur Musik zwar nicht, dennoch sehen sich die beiden mittlerweile www.hauskonzerte.com www.facebook.com/hauskonzertecom Folk-Pop an der Isar: The Head and the Heart aus Seattle zu Gast für ein Freiluft-Hauskonzert | © Tobias Tzschaschel, Stefan Zinsbacher etwas nüchterner als Teilchen in einer gewaltigen Promomaschinerie. Aber die läuft. Mittlerweile sind Agenturen und Labels die Bittsteller. Tobias und Stefan können längst nicht mehr alle Anfragen in ein Video verwandeln – und sie arbeiten immer noch nur mit Musikern zusammen, von denen sie selbst überzeugt sind. Sie filmen und schneiden ihre Videos selbst und wollen voll und ganz hinter dem stehen, was sie tun. Die Idee, Musiker vor die Kamera zu stellen und sie ohne Choreographie und Strom Songs vortragen zu lassen, ist natürlich nicht ganz neu. Vorbilder für die Hauskonzerte sind Anzeige Online-Plattformen wie La Blogothèque oder Watch Listen Tell. Allen gemeinsam ist ein sehr eigener visueller Stil. Die Sessions werden mit kleinen digitalen Spiegelreflexkameras aufgenommen, natürliche Lichtverhältnisse und das Spiel mit wechselnder Tiefenschärfe sind die ästhetischen Koordinaten. Wem die Videos trotzdem kein Ersatz für das Live-Erlebnis sind, der muss flink sein. Wo und wann ein Hauskonzert stattfindet, erfährt man sehr kurzfristig über die Hauskonzerte-Facebookseite – sofern man sich für einen Platz auf der Gästeliste beworben hat. || stadtbild Seite 30 · märz · Münchner feuilleton Bauch und Basar Essen ist nicht nur Lifestyle, sondern zuallererst Versorgung. Die Großmarkthalle bestimmt seit 100 Jahren Handel und Wandel des Münchner Obst- und Gemüsekonsums. ROZSIKA FARKAS Halb fünf in der Früh, der Himmel ist schwarz, die Straßen sind leer, einsam leuchtet nur der rote Schriftzug der Tabledance-Bar »Pigalle« in der Thalkirchner Straße. Ein paar Meter weiter, hinter Mauern, herrscht geschäftiges Treiben. Gabelstapler flitzen durch riesige Hallen, Männer und Frauen in wattierten Jacken – der Morgen ist kühl – laden Paletten mit Obst und Gemüse um, kontrollieren und verhandeln. Süßer Birnenduft weht von einem Stand herüber, mischt sich mit den herberen Gerüchen von Kräutern und Zwiebeln. Im Stimmengewirr sind italienische, türkische und bayerische Sprachfetzen zu unterscheiden, dazu spanisch, griechisch, kroatisch. Lange bevor die »Integration« ins politische Vokabular aufgenommen wurde, war sie hier eine Selbstverständlichkeit. Im Mikrokosmos Großmarkthalle ist Multikulti Alltag, seit hundert Jahren schon. Im Februar 1912 – Bayern ist Königreich, in Schwabing malt Kandinsky erste abstrakte Bilder – eröffnet in Sendling die Großmarkthalle. Die Schrannenhalle nämlich kann die Versorgung der rasant wachsenden Bevölkerung – von 100 000 im Jahr 1852 auf 600 000 sechs Jahrzehnte danach – nicht mehr gewährleisten. Heute ist die in Sendling ansässige Großmarkthalle nach Paris und Barcelona die drittgrößte Europas; vierhundert Firmen, vom kleinen Gärtnerbetrieb aus der Region bis zum global agierenden Handelsunternehmen mit Milliardenumsatz sind hier ansässig, 3 000 Menschen arbeiten hier. Das Münchner Stadtmuseum hat dem »Bauch von München« zur Feier des Hundertsten die Ausstellung »Täglich frisch!« gewidmet. Die Schau gewährt spannende Einblicke in die Struktur und die Geschichte des Marktes, und obwohl die Protagonisten – die Händler sowie ihr Obst und Gemüse – naturgemäß nicht als Exponate dienen können, gibt es genug zu sehen und zu hören. Wir erfahren, dass bereits vor hundert Jahren in München Litschis ihren Weg in Münchner Delikatessengeschäfte fanden. Dass die Halle ein Non-Profit-Unternehmen ist, an dem die Stadt festhält, weil sie der »Daseinsvorsorge« für ihre Bürger dient. Wir verstehen, dass der Großmarkt nötig wurde, weil durch steigende Bebauung viele Stadtbewohner ihre Gärten verloren, aus denen sie sich zuvor selbst versorgt hatten. Dokumentiert sind Nachfrageeinbrüche, die entstanden, als frisches Obst und Gemüse auf einmal bedrohlich wirkten, Stichwort Tschernobyl oder Ehec. Nachfragespitzen hat die Wende den Obsthändlern beschert, ironischer Beleg: der Titanic-Titel mit »ZonenGaby« und ihrer »ersten Banane«. Die Entwicklung der kulinarischen Vorlieben in der Nachkriegszeit beweist, dass der Austausch von Waren immer auch ein kultureller strebig steuert er die majestätisch anmutende Halle 1 an, die einzige der ursprünglich vier zusammenhängenden Hallen, die den Krieg überstanden hat. Sie sieht aus wie eine Kathedrale, in der ganzjährig Erntedank gefeiert wird. Inzwischen weiß Velagic, wo er die beste Ware bekommt. Anfangs war er regelrecht verstört durch das Gewusel. »Man hat das Gefühl, jeder fährt jeden über den Haufen. Doch irgendwann schwimmt man einfach im Strom mit.« Der Strom fließt vorbei an Ständen mit sizilianischen Orangen, französischen Radieschen, Mangos aus Thailand, Avocados aus Israel. Ob man günstig ein- oder verkauft, hängt vom Verhandlungsgeschick ab, feste Preise gibt es nicht, hier herrschen die Gesetze des Basars. Trödeln für die Kunst Gabriella Lorenz Märkte waren immer kommunale Zentren und soziale Treffpunkte. Ab 16. März wird’s in München einen neuen Treffpunkt geben. An der Schwere-Reiter-Straße zwischen Ackermann- und Dachauer Straße eröffnet der Kavalleriemarkt. Das soll ein Kultur-Trödelmarkt werden, dessen Erlöse nach Abzug der Festkosten in Kulturprojekte fließen soll. Für diese Idee hatte der Münchner Gert Neuner schon lange nach einem Gelände gesucht. Das Aus für die Münchner Olympiade-Bewerbung 2018 kam ihm zu Hilfe. Hier hätte nämlich das Pressedorf gebaut werden sollen, doch nach Austausch ist. Stolz auf die eigene Weltoffenheit spricht aus einem Plakat von 1960, das eine polnische Zwiebel als Weltkugel zeigt. Abschottung ist dagegen das Ziel eines Plakats von 1930: »Deutsche Gartenbau Erzeugnisse kaufen!«, fordert es, streng schaut der blonde Teutone, auf der Tomatenkiste prangt der Reichsadler. Halb sechs, das Schwarz des Himmels weicht einem fahlen Grau. Jetzt ist das Haupttor für die Kunden offen, sie kommen im LKW, Lieferwagen oder Kombi: Gastronomen und Einzelhändler aus München und ganz Bayern. Einer von ihnen ist Sadet Velagic, vor zwanzig Jahren kam er aus Bosnien nach München. Vor knapp drei Jahren hat er in der Siegfriedstraße in Schwabing einen Lebensmittelladen übernommen. Ziel- der Absage stand das staatliche Gelände wieder zur Verpachtung. Unterstützt vom Bayerischen Landesverband freier Theater, bewarb sich Neuner mit seinem Konzept und erhielt 2011 den Zuschlag. Seine Idee klingt attraktiv: Geld zu verdienen über einen gehobenen Themen-Flohmarkt, das dann wieder der Kunst zufließt. Gert Neuner stammt aus einer Künstlerfamilie, hat selbst Bildende Kunst studiert und früh gelernt, dass Geldverdienen einem die Freiheit gibt, nicht bei Geldgebern antichambrieren zu müssen. Er war deshalb immer unternehmerisch kreativ: »Ich bin kein Kaufmann, aber ich weiß, wie’s funktionieren könnte«, sagt er. 1976 war Neuner Mitbegründer des Schwabinger Weihnachtsmarktes, auf dem er einen Gastro-Stand betrieb. 1982 gründete er sein ETA-Theater, mit dem er bis heute seine eigenen Bühnenstücke inszeniert. Ende der 80er baute er mit Uwe Kleinschmidt das »Tollwood«-Festival auf. 1990 stellte er das Freie-Szene-Festival »Starke Stücke« auf die Beine und holte dafür zum ersten Mal die spanische Gruppe Fura dels Baus nach München. Die »Starken Stücke« gab‘s nochmal 2008, daraus entstand das »Rodeo«-Festival, das er 2010 kuratierte. Auf dem Areal des Kavalleriemarktes gegenüber vom Theaterzelt Das Schloss stehen auch die Probenhallen des Residenztheaters. Somit sind Wasser- und Stromanschlüsse vorhanden. Bis zu 400 private und gewerbliche Händler finden hier Platz, die Bewerber wählt Neuner selbst aus: »Wir wollen keine neue Ramschware.« Er möchte ein attraktives Misch-Angebot: Kunst und Kitsch, Antiquitäten und Kunsthandwerk, Möbel und stadtbild Münchner feuilleton · märz · Seite 31 Fotos im Uhrzeigersinn: Großmarkthalle München, 1912 | Fotografie | © Markthallen München Großmarkthalle München (Halle 2), um 1915 | Fotografie | © Stadtarchiv München, Fotosammlung Großmarkthalle München, 2011 | Fotografie | © Daniel Schvarcz, München Gemüsehändler Sadet Velagic mit Mairübchen | Foto: Farkas Ambulanter Tomatenhändler, um 1945 | Fotografie | © Bayerischer Landesverband der Marktkaufleute und der Schausteller e.V. (München) Das Stadtmuseum gibt Einblicke in die Kulturgeschichte und alltägliche Arbeit dieser Institution. 86 Länder liefern ihre feinen Früchte in den Münchner Markt. Nur in der Gärtnerhalle bieten ausschließlich Erzeuger aus der Region ihre etwa in Feldmoching oder Parsdorf gewachsenen Produkte an. Da angesichts der Ökobilanz von im Winter eingeflogenen Erdbeeren und Spargeln vielen die unbefangene Freude an der Internationalität vergangen ist, sind Waren aus der Region gefragt. Verständlich, denn der Salat von nebenan ist am frischesten und belastet die Umwelt am wenigsten. Andererseits: Ist es freundlich gegenüber dem Rest der Welt, wenn ein Land, das seinen Wohlstand fast zur Gänze dem Export verdankt, sich dem Import verweigert? Halb sieben, der Himmel färbt sich lila. Die Bedienungen in der Gaststätte Grossmarkthalle decken die Tische, in einer halben Stunde wird das Lokal öffnen. Auf der »Frühstückskarte« stehen Nudelsuppe und hausgemachte Weißwürscht, abgebräunte Milzwurst und Wiener Schnitzel vom Kalb. Die Gaststätte ist der einzige Teil des Großmarkts, der auch der Allgemeinheit offensteht. Am Tor daneben steht in schönstem Verwaltungsdeutsch: »Der Zutritt und Aufenthalt ist nur Personen gestattet, die im Rahmen des Betriebszwecks tätig sind.« Über mehr als dreißig Hektar erstreckt sich das Gelände. In der Metropole mit der notorischen Wohnungsknappheit weckt so ein Areal Begehrlichkeiten. Die Immobilienbranche wirft der Stadt vor, dass sie bebaubaren Grund im Marktwert einer hoch dreistelligen Millionensumme brachliegen lässt. Auch im Viertel ist nicht jeder glücklich über das Sperrgebiet, das immerhin acht Prozent der Fläche Sendlings der Öffentlichkeit entzieht. Eine Verlagerung in die Peripherie kommt für die Stadt allerdings nicht in Frage, erst 2011 hat der Stadtrat beschlossen, die Halle in der Stadt zu belassen. Wohin gehört denn ein Bauch, wenn nicht in die Mitte? Trotzdem wird nicht alles bleiben, wie es war. Die Gebäude sind sanierungsbedürftig, die Planungen für die Erneuerung noch nicht abgeschlossen. Die Ausstellung im Stadtmuseum zeigt Entwürfe. Halb acht, noch überzieht ein zarter Rosaschleier den Himmel. Auf den Straßen Kinder und Erwachsene auf dem Weg zur Schule und zur Arbeit. Sadet Velagic ist zurück in Schwabing und packt seine Schätze aus. Er stellt ein individuelles Angebot für seine Kunden zusammen, mit einem hohen Anteil an Bioware und immer mit ein paar Raritäten. Auch diesmal hat er etwas Besonderes dabei: Mairübchen, die aussehen wie riesige schneeweiße Radieschen, und Rübstiel, eine fast vergessene Gemüsesorte, die heute eher unter ihrem italienischen Namen Cime di rapa bekannt ist. Ähnlich war es mit der Rauke, dem alten deutschen Küchenkraut, das keiner mehr kannte – bis es als Rucola aus Italien kam und ein triumphales Comeback in deutschen Küchen feierte. Von halb neun bis halb acht wird Sadet Velagic verkaufen, was er zu nachtschlafender Zeit in der Halle besorgt hat. Am nächsten Morgen wird er wieder pünktlich um halb sechs in Halle 1 eintreffen. Für die Ausstellung im Stadtmuseum bleibt ihm keine Zeit. Das Begleitbuch zur Ausstellung, zugleich Festschrift zum Jubiläum, ist opulent und teilweise informativ. Nicht wenige Seiten und ganzseitige Bilder gehen allerdings eher für Werbezwecke drauf: Der hintere Buchteil bietet ein Sammelsurium von Münchner Läden und Lokalen, die mit der Großmarkthalle nicht mal mehr indirekt was zu tun haben. Das Steakhaus in der Blumenstraße bezieht seine Fleischtrümmer jedenfalls nicht von dort, und auch die vorgestellte Brauerei kauft Hopfen und Malz nicht frühmorgens in Sendling ein. Auf vier Seiten darf sich Sepp Krätz als Wiesn- und WaWi-Wirt präsentieren, ohne dass der leiseste Zusammenhang mit dem Buchthema ersichtlich wäre. Für eine Vorstellung der mit 89 Jahren ältesten Mitarbeiterin Maria Reitmeier, die seit mehr als einem halben Jahrhundert in der Großmarkthalle werkelt, reicht der Platz da nicht mehr. || Täglich frisch! 100 Jahre Münchner GroSSmarkthalle Münchner Stadtmuseum St.-Jakobs-Platz 1 | bis 15. Juli | Di–So 10.00–18.00 | Die Jubiläumspublikation im Umschau Buchverlag kostet 58 Euro. Geschichten aus der GroSSmarkthalle Zwei Folgen der vierteilige Dokumentation des Bayerischen Fernsehens sind noch am 11. und 18. März, jeweils um 15.00 zu sehen. Anzeige Deko, Mode und Wäsche, Spielzeug, Mittelalter-Ware, Werkzeuge und Elektronik. Die Gastronomie der Foodstände und Deli-Shops soll gehoben sein - und natürlich Bio. Zwischen den Ständen tummeln sich Gaukler, Jongleure, Sänger und Straßenmusikanten. Auf Open-Air-Bühnen finden Aktionen statt - alles kostenlos. Mittelalter-Spiele soll es genauso geben wie Tanz. Und ein reichhaltiges Kinderprogramm, auch mit Clowns. Dazu wird extra ein Kinderspielplatz mit Trampolin, Rutsche und einem Baumspringparcours gebaut. Neuner hofft, dass die Vielfalt bei den Besu- chern einen Entschleunigungs-Prozess bewirkt: »Sie sollen sich Zeit lassen.« Zunächst will Neuner den Trödelmarkt immer freitags und samstags abhalten, im Sommer plant er auch einen Nachtflohmarkt. Die erwirtschafteten Gewinne sollen Kunst und Kultur zugute kommen - entweder Einzelprojekten oder der Vernetzung bayerischer Städte über einen Gastspiele-Austausch. Die würden aber nicht auf dem Markt-Gelände, sondern an Münchner Spielorten gezeigt. Er träumt auch schon von einem Austausch zwischen Berlin und Bayern und vielleicht einem Marktableger in Berlin. Da gebe es für sowas viel mehr Freiräume als in München, meint er. || KAVALLERIEMARKT ab 16. März freitags 10.00–20.00, samstags 8.00–20.00 | Schwere-Reiter-Straße zwischen Ackermannund Dachauer Straße | Information www.kavalleriemarkt.de Favoriten der redaktion | 11.3.-6.4. C. Freimann | »Sputnik« 1998 © Galerie Spielvogel Seite 32 · März · Münchner feuilleton So, 11.3. Sa 17. und So 18.03. Mi, 21.3. So, 25.3. Literatur | Meine Lehrerin, Dora Lux Lesung und Gespräch mit Hilde Schramm Familienprogramm Die Kuh, die wollt ins Kino gehen! gesangs-Vortrag Walter Siegfried: Die leergeräumte Wunderkammer Film | best.DOK.s 2012 Der Fall Chodorkowski Ein Muhsical von Muht und Glück haben Einführung: Rachel Salamander Literaturhaus Saal | 18.00 Salvatorplatz 1 Tickets: www.literaturhaus-muenchen.de Dora Lux (1882–1959) war von 1953 bis 1955 die Geschichtslehrerin von Hilde Schramm, die 1936 als Tochter von Albert Speer geboren wurde. Im »Dritten Reich« verstieß sie gegen die gesetzliche Vorschrift, sich als Jüdin registrieren zu lassen – und überlebte. In Zusammenarbeit mit Margit Sarholz und Werner Meier (Sternschnuppe) Lustspielhaus | 14.00 Occamstr. 8 | Tickets: 089 34 49 74 »I geh heut no ins Kino!«, sagt die Kuh zu den anderen Kühen, macht sich auf die Reise in die Stadt, begegnet den albernen Knödeln Fritz und Franzisco, entkommt mit knapper Not dem scheinheiligen Metzger-Schwein und landet auf dem Roller der flotten Rosa ... Botanische Staatssammlung Großer Hörsaal | 19.00 Menzinger Str. 67 | Botanischer Garten So, 18.3. Musik | The Duke Spirit 59to1 | 21.30 Sonnenstr. 27 | Tickets: www.muenchenticket.de The Duke Spirit stellt mit Power-Frontfrau Liela Moss ihre aktuelle CD »Bruiser« vor. »Wir haben unsere Songs auf Diät gesetzt, damit sie noch hungriger klingen«, kommentieren die Briten ihren Beitrag zur Fastenzeit. Matinee | pOLT mit Gerd Holzheimer, Christoph und Michael Well & Well-Kindern Literaturhaus Saal | 11.30 Salvatorplatz 1 | Tickets: www.literaturhausmuenchen.de Sein »Leberkäs Hawaii« ist sprichwörtlich, keine Adventszeit vergeht ohne »Nikolausi« und »Osterhasi«, Sketche wie »Mai Ling« sind Kult zwischen Hamburg und München. Gerd Holzheimer nähert sich dem »Phänomen Polt« und sucht ihm einen Platz in der deutschen Humor- und Kulturgeschichte. © The Duke So, 18.3. Di, 13.3. Film | best.DOKs 2012 Adrift: People of a Lesser God Literatur | Liebe und andere Versprechen Buchpremiere mit Andrea Bajani Regie: Dominique Christian Mollard, Mauretanien, Marokko, Senegal, USA 2010, Franz. mit engl. UT Moderation: Maria Gazzetti (Lyrik-Kabinett) Deutscher Text: Thomas Loibl ARRI Kino | 11.30 Türkenstr. 91 | Tickets: Kinokasse Literaturhaus Bibliothek | 20.00 Salvatorplatz 1 Tickets: www.literaturhaus-muenchen.de Pietro spürt, dass es an der Zeit ist, zurückzublicken. In seinem neuen Roman erzählt Andrea Bajani eine zutiefst berührende Geschichte über Verlorenes, Vergessenes und Verdrängtes. Di, 13.03. Musik | Anna Depenbusch Solo am Klavier: »schwarz weiß« Lustspielhaus | 20.30 Occamstr. 8 | Tickets: 089 34 49 74 »Die Mathematik der Anna Depenbusch« ist das zweite Album, mit dem die Hamburger Pianistin und Sängerin zwischen Chanson, Jazz und Pop hochkonzentriert über das Wesentliche im Leben sinniert. »Wenn du einen so großen Leidensdruck hast, tust du alles«, sagt einer der Flüchtlinge, die der Regisseur auf ihrer riskanten Fahrt über das Meer begleitet. Was treibt Menschen dazu, für ihren Traum von Europa ihr Leben aufs Spiel zu setzen? So, 18.3. Literatur Schwester Cordula liest Arztromane Theater Drehleier Rosenheimer Str. 123 | Tickets: Tel. 089 48 27 42 Dutzende von Romanen hat Saskia Kästner seziert, gefiltert und gerührt und daraus den ultimativen Arztroman destilliert. Schwester Cordula verabreicht dem Publikum ein Elixier, das auch den traurigsten Patienten selig macht. Di, 20.3. – So, 25.3. Foto: Mathias Bothor Do, 15.3. theater | Benefiz Die Woche des Dachschadens Musik | Orchester Jakobsplatz München TamS Theater | 20.30 Haimhauser Str. 13 a | Tickets: 089 34 58 90 Jüdisches Zentrum am Jakobsplatz Hubert-Burda-Saal | 20.00 Das TamS hat einen Dachschaden. Ein Sturm hat einfach das halbe Dach mitgenommen und nicht wieder zurückgebracht. Aber Dachdecker kosten Geld – deshalb ruft das TamS »Die Woche des Dachschadens« aus. Zu Hilfe eilen Sigi Zimmerschied, Maria Peschek, Wolf Euba, Dieter Hildebrandt u.v.m. Zwei Komponisten, zwei Freunde, zwei Sinfonien: Schostakowitschs 14. trifft auf Mieczyslaw Weinbergs 10. Sinfonie, vorgestellt von Daniel Grossmann. ARRI Kino | 11.30 Türkenstr. 91 | Tickets: Kinokasse »Pflanzen Bilder Geschichten«: Unter diesem Motto referiert der Sänger und Performancekünstler Walter Siegfried über das Phänomen der »Wunderkammer«. © Arri Mi, 21.3. Mo, 12.3. Regie: Cyril Tuschi, Deutschland 2011, 111 min, Russ., Engl., Deutsch mit dt. UT Literatur-Vortrag Wolf Singer: Die Willensfreiheit – ein Irrtum? Aufstieg und Fall eines der schillerndsten Männer des neuen Jahrtausends: Als Michail Chodorkowski, Geschäftsmann und Unterstützer der politische Opposition, sich öffentlich mit Präsident Putin anlegt, wird er verurteilt – bis voraussichtlich 2016 ist er noch in Haft. Gasteig Black Box | 20.00 Rosenheimer Str. 5 Tickets: www.muenchenticket.de So, 25.3. Wolf Singer, einer der bedeutendsten Neurowissenschaftler der Welt, sagt: »Die Annahme, wir hätten uns in diesem Augenblick auch anders entscheiden können, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar.« In der Reihe »Goethe im Gasteig« widmet er sich der Frage Goethes nach der Existenz des freien Willens. Kleines Theater Haar |15.00 Casinostr. 75, 85540 Haar b. München Tickets: 089 890 56 98 13 www.kleinestheaterhaar.de Fr, 23. – So, 25.3. Theater | Kalteis (Uraufführung) Das Junge Schauspiel Ensemble Haar bringt »Kalteis« nach dem gleichnamigen Roman von Andrea Maria Schenkel auf die Bühne und erzählt die Geschichte des 1939 hingerichteten Münchner Frauenmörders Johann Eichhorn. Tanzperformance | Otone Sato: Shinsai – Shattering Gods Benefizveranstaltung zugunsten der Bewohner von Tohoku | Japan i-camp | 20.30 Entenbachstr. 37 Tickets: www.i-camp.de | 089 65 00 00 Zum Gedenken an den ersten Jahrestag der Katastrophe in Japan vom 11. März 2011 fragt das Künstlerkollektiv um Regis- seurin Otone Sato mit Tanz, Schauspiel und Texten nach den katastrophenbedingten Veränderungen von Geist und Seele der Menschen. © Arri Sa, 24.3. und So, 25.3. Foto: Veranstalter Mi, 28.3. kabarett | Hagen Rether | Liebe Lustspielhaus | 20.30 Occamstr. 8 | Tickets: 089-34 49 74 Hagen Rether verbirgt hinter seinen netten Plaudereien und leichten Klavierakkorden böse Wahrheiten. Von seinem Programmtitel »Liebe« darf man sich nicht beirren lassen. Als gnadenloser Beobachter beschäftigt er sich mit allem – außer mit politischer Korrektheit. Musik | »Der Bairische Orff« Prinzregententheater | 19.00 Fr, 30.3. Solisten und Ensembles der Münchner Schule für Bairische Musik und der Bayerischen Philharmonie bringen erstmals die Carmina Burana zur Aufführung. musik | »white noise/black silence« Das Münchner Feuilleton verlost 3x2 Tickets für die Vorstellung am 25.3.: Schicken Sie am 12.3. eine Mail an info@muenchner-feuilleton.de. Die ersten Einsender gewinnen! Sa, 4.3. – Sa, 28.4. A PUBLIC MOMENT | Wie erschließt sich das Ökosystem eines Kunstwerkes? Mo–Sa 11–19.00, Mi 12–20.00 So geschlossen Kistlerhofstr. 70 | www.platform3.de 3 Jahre PLATFORM3: 18 Künstler forschen gemeinsam nach Instrumenten zur Darstellung ihrer künstlerischen Praxis und machen den künstlerischen Prozess erfahrbar. Die Ergebnisse spiegeln sich in der Ausstellung, in offenen Ateliers und in einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm. Gasteig Black Box | Kleiner Konzertsaal | 19.00 Rosenheimer Str. 5 | www.muenchenticket.de Zwei Tage Wechselwirkung von ruhiger, atmosphärischer Stille und brachialer Härte: Der Kleine Konzertsaal wird von den Formationen Bohren & der Club of Gore, Kammerflimmer Kollektief, Liliath und SampleMinded bespielt, während sich in der Black Box Panzerballett, Lee Harvey & the Oswalds, Instrument und Alison Thunderland die Beats um die Ohren hauen. bis Mo, 5.5. ausstellung | Christoph Freimann »Rückblick« Skulpturen und Wandobjekte Galerie Gudrun Spielvogel Di–Fr 13–18.30, Sa 11–14.00 Maximilianstr. 45, www.spielvogel-galerie.de Freimann zerlegt Stahlkörper in Kanten und Flächen und deckt neue Strukturen auf. Aus Winkelprofilen unterschiedlicher Grösse und Länge entstehen leichte und dynamische Skulpturen, die immer einem strengen Grundkonzept folgen. Plastik und realer Raum durchdringen sich.