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Münchner Feuilleton
I Kultur · Kritik · Kontroversen I
März
Nr. 06 · 10.03. – 06.04.2012 · 2,50 Euro · www.muenchner-feuilleton.de
literatur SEITE 09
Kleines Putin. Großer Herrscher?
Pünktlich zur Wahl in Russland entlarvt ein Buch Putin als skrupellosen
Strategen.
medien SEITE 13
Was? Sie lesen noch auf Papier!
Die Digitalisierung schreitet voran.
Michael Bartle über das »Ende« des
Papierformats und wie die Cloud
unsere Kultur verändern wird.
Kunst SEITE 17
Landschaft in Variationen
Zwei Münchner Maler, Eduard Schleich
und Carl Spitzweg, widmen sich der
Natur. Eine Ausstellung in Dachau.
Foto: Volker Derlath
Eduard Schleich d.Ä. | »Am Ammersee« |
um 1855/60 | Ausschnitt |
Privatbesitz | Foto: Christian Mitko
Stadtbild SEITE 30
Trugbilder können so schön sein: Was sieht der Junge, der hier aus seinem Bilderrahmen steigen will? Wo will er hin? Der naive Glaube an das,
was man sieht, was man gelernt hat, was man für echt hält, weil man sich daran gewöhnt hat – ist das der Boden, der uns trägt? Siegt der, der einfach
Fakten schafft? Der Behauptungen aufstellt, die beim genaueren Hinschauen zwar hanebüchen sind, aber trotzdem hingenommen werden?
Bauch und Basar
Die Großmarkthalle feiert Jubiläum.
Eine Ausstellung im Stadtmuseum
informiert über Handel und Wandel.
Zivilopfer? – »Kollateralschäden«. Wahlen in Russland?
Chaos in Ägypten? Terrorismus in Syrien? Alles Fakes!
Ecco Meineke
Großmarkthalle München, 2011 |
© Daniel Schvarcz, München
Bühne SEITE 22
To be or not to be?
Elisa Moolecherry leitet das freie
BeMe Theatre in München. Es spielt
nur auf Englisch und hat schon längst
ein treues Stammpublikum.
Musik SEITE 27
Die Mumifizierung der Rockmusik
In diesem Frühjahr sind im Deutschen
Theater Leben und Tod beängstigend
nah beieinander: Die wilden Zeiten
des Rock werden zu Hochglanz-Musicals – diszipliniert im Klappsessel statt
wild in Woodstock.
Rocken mit Peter Kraus | Ausschnitt |
Foto: Mike Kraus
Münchner Feuilleton
Breisacherstrasse 4 I 81667 München
Wenige Bewegungen haben die Kunst des 21.
Jahrhunderts so stark geprägt wie die der postrussischen neo-futuristen. Die Verweigerung des
Raum-Zeit-Kontinuums ermöglichte dem
Petersburger Trio Achmatowa – Popilljitsch –
Lewitanski sich im Jahre 2019 zu treffen und
sich in Gegenrichtung unserer Zeitrechnung zu
entwickeln, so dass die noch ausstehende, erste
Retrospektive der Postrussen in München
bereits stattgefunden hat: Am 20. Januar 2010
in der »Gagalerie«.
Die gefakte Existenz der postrussischen
Gruppe, der Siegeszug virtueller Netz-Piraten
steht symptomatisch für die unmittelbar bevorstehende Entzauberung der kapitalistischen Kontroll- und Verwertungs-Monarchie, die ihrerseits
nahezu vollständig auf Fakes setzt.
Die Mächtigen unserer Zeit haben ihre
Aktien der Absurdität mehrfach überzeichnet und
endgültig an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Was
»der Markt« in den Untiefen der Festplatte treibt
– er weiß es selbst nicht mehr und der unbedarfte
Bürger erst recht nicht. Auf dem Bildschirm
erscheinen nur die medialen Fake-Bilder des
politischen Betriebes: Inszenierung des Politischen.
Kleines Beispiel? Vor aller Augen ereignet
sich ein Finanz-Kollaps nach dem anderen. Die
nach wie vor finanzkräftigen Schuldigen, die
andernorts auf Lebensmittelpreise wetten,
wagen es unverfroren, sich durch Steuergelder
»retten« zu lassen und schaffen im Gegenzug
die Demokratien ab, um sie durch Finanztechnokratien zu ersetzen. Statt sich dieser Klasse
zu entledigen, regt sich der Bürger im Lande
über die »faulen Griechen« auf, aus deren Land
die Soldateska Hitlers ganz ohne Kriegserklärung noch unlängst alles herausholte, was sich
transportieren ließ. Nach dem Krieg wird das
Land mit deutschen Waren, allen voran militärischen Rüstungexporten geflutet, das Geld landet im Wesentlichen auf Konten der Klientel
eines FDP-Clowns Rösler, der explizit sagt:
»Unsere Geduld mit Griechenland neigt sich
deutlich dem Ende zu.«
Warum neigt sich unsere Geduld mit diesem
System nicht dem Ende zu? Geht es nach den
Schlagzeilen der letzten Wochen, ist dieses kleine
Land verantwortlich für die »Euro-Krise«! Ein
gigantischer Fake – Chapeau! Bereits das Wort
»Krise« verschleiert, für wen es eigentlich kritisch
geworden ist. Millionen obdachloser und verarmter Amerikaner wissen es, selbst wir Deutschen
ahnen es allmählich, aber die allgemeine Angst
vor dem längst fälligen »sapere aude!« ist eben
dort am hartnäckigsten, wo es noch was zu verlieren gibt. In den Wohlstandszentren.
Noch steht die Fake-Festung der falschen
Autoritäten, auch wenn sie spürbar bröckelt und
wir immer mehr Funktionsträger von hinten
sehen. Ausländerhass? Faken wir einen »Integrationsgipfel«! Volksbegehren? Machen wir
einen »Stresstest«! Beitragserhöhung? Unsinn:
»Zusatzbeitrag«. Krieg? – »Robuster Einsatz«.
Gilles Deleuze zufolge ist der Betrachter konstitutiver Faktor des Trugbilds. Noch funktioniert
das Konzept von »Brot und Spiele«, auch wenn es
mit Müller-Brot und Dschungelcamp bereits an
die Grenzen des satirisch Darstellbaren geht.
Dabei lässt es sich vortrefflich und selbstbestimmt zurückfaken: Die New Yorker NetzkunstGruppe »Yes men« gibt sich als Repräsentant
internationaler Konzerne aus und karikiert sie
öffentlich, »Adbusters« verfremden Werbung im
öffentlichen Raum. Ich selbst mache mir den
Spaß, bei meinem Kabarett-Solo aus frei
zugänglichen Steuersünder-CDs vorzulesen.
Wenn sich dieser Tage weltweit Menschen
unterschiedlichster Couleur im öffentlichen
Raum versammeln, werden sie noch spöttisch
belächelt. Doch: Wenn wir uns klaglos die
Infantilität der RTL-World zugestehen, warum
dann nicht auch den infantilen Glauben an uns
selbst als politischer Souverän? Der zivile Aufbruch in Tunis, am Tahrirplatz, von der Puerta
de Sol bis zum Syntagma-Platz, von der Wall
Street bis zum Rothschild-Boulevard, vom Moskauer Bolotnaja-Platz bis Gorleben ist bereits
mehr als nur eine Utopie: sondern exakt die
soziale Plastik, die Joseph Beuys vorschwebte.
Sein radikales »Jeder Mensch ist ein Künstler«
ist die längst fällige Korrektur eines genie-geilen, aber sozial-dementen Kunstbetriebes.
Kopieren Sie diese Zeilen skrupellos, ich
pfeife auf das Urheberrecht, schließlich versteht sich von selbst, dass ich diesen Text nicht
selbst geschrieben habe, sondern Freiherr KT
von und zu G. ||
Ecco Meineke
Der Kabarettist, Autor und Musiker (alias Ecco
DiLorenzo) lebt in München und erhielt für sein
Wirken nach eigener Aussage zahlreiche Preise
(Grimmel-Preisträger 2010, Deutsches Kabarettbeil 2011, Törner Prize der Tate Gagallery
2012). Sein aktuelles Kabarettsolo »Fake« spielt
er wieder am 29. März im Schlachthof.
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spot
Seite 02 · märz · Münchner feuilleton
Im
Zickzack
durchs
System
Sabine Leucht
»Es gibt keine grünen Haare!« war
der erste, »Das Kind widerspricht!«
der zweite markante Satz, der uns
aus einer Institution entgegenschallte, an die sich nicht jeder
leicht gewöhnt. Es war in München,
es war das Jahr 1998, und »das
Kind« kam frisch aus einem Berliner Kinderladen, wo Erwachsene
bunte Mähnen und auch Kinder
eine Meinung haben durften. Nun
jedoch war es seiner ersten Lehrerin
begegnet und im Kopf seiner Eltern
leuchtete ein Lämpchen auf: »Hilfe!
Gleichschaltung!« Oder, wie Freunde
von uns zu sagen pflegen: »Alles,
was oben und unten raussteht, wird
fortan abgeschnitten!«
»Das Kind«, das statt grüner Haare
bald Standardhäuschen samt BaumWolke-Sonne zu zeichnen lernte,
hat seine sehr eigenen Ansichten zu
fast jedem Thema behalten. – Und
sogar seinen Spaß am Lernen. Nun
steckt es in einem Doppelstudium,
bestehend aus einem arbeitsmarktkompatiblen (stromlinienförmigen?)
Teil und einem Teil Denk- und
Lebensschule. Und mir als Mutter
fällt es wirklich schwer zu sagen,
über welchen ich mich mehr freue.
Ist also alles halb so wild in der viel
gerüffelten deutschen Bildungslandschaft? Jammert, wer sich
beklagt, auf hohem Niveau?
Ja, wenn er zu den gebildeteren
Deutschen gehört. Denn – so habe
ich kürzlich gelesen – wer zu Hause
»mehr als zwei Bücherregale« hat,
dessen Nachkommen werden wahrscheinlich in der Schule Erfolg
haben. Bleibt die Frage, ob hier zwei
Über-Eck-Kombinationen oder zwei
Baumarktbretter gemeint sind. Und
ob es egal ist, welche Druckerzeug-
Ein Bildungskommentar aus
Elternsicht.
nisse darauf verstauben. Denn weil
die Ökonomen steif und fest
behaupten, dass es sich lohnt, will
man zwar unbedingt, aber nicht zu
viel in die Bildung investieren. Da
geht es uns Eltern ähnlich wie der
Politik, die in den letzten Jahren aus
der nämlichen Zwickmühle heraus
allerlei bewegt hat. So gibt es mittlerweile in den weiterführenden
Schulen Münchens etliche Maßnahmen, die den Übergang zwischen
den Schularten geschmeidiger
machen sollen (Stichwort »Gelenkklassenkonzept«), Förderstunden
für Schüler mit Schwächen in
Deutsch und/oder Migrationshintergrund, »Talentklassen« und Intensivierungsstunden. Streitschlichter,
Schul-Sozialarbeiter sowie Projekttage zum Thema Mobbing sind
inzwischen fast selbstverständlich.
Das klingt alles gut, ist aber auch
bitter nötig, weil seit Einführung des
achtjährigen Gymnasiums (G8) das
Lerntempo angezogen und zugleich
der Run auf diese Schulform zugenommen hat. Diese schizophrene
Situation macht aus der Humboldtschen Leitinstitution faktisch eine
Art (Elite-)Gesamtschule, die jedoch
erst sehr zögerlich bereit ist, von
deren Erfahrungen zu lernen. (Siehe
auch: »Eine Schule lernt dazu«, Die
Zeit, 16.2.2012, Seite 81–83. Warum
eigentlich? Was hindert die einzelnen Akteure daran, den Weg zur
»Schule für alle« einfach weiterzu-
gehen, deren Konturen Anne Klein
und Rainer Domisch in ihrem Buch
skizzieren? (Siehe nebenstehenden
Artikel.) Warum wird stattdessen
immer weiter an einem System herumgedoktert, das darauf angelegt
ist, unsere Kinder in Gewinner und
Verlierer zu sortieren? Und das alle,
die daran beteiligt sind, zu lächerlichen Figuren macht?
Eltern, die für die Referate ihrer
Erstklässler Powerpoint-Präsentationen entwerfen oder die Facharbeit
ihrer Abiturienten schon in der
Schublade haben, sind keine Einzelfälle. Kinder, die Schulaufgaben
fälschen, Eltern, die Lehrern mit
Anwälten drohen, und Lehrer, die
schon mit dem Rücken zur Wand
stehen, wenn man sie nur anspricht.
Einiges davon schildert Sabine
Czerny in »Was wir unseren Kindern
in der Schule antun«. Die bayerische Lehrerin wurde strafversetzt,
weil sie sich auch um die vermeintlich »dummen« Kinder so lange
kümmerte, bis sie gute Noten hatten
– und bekam später einen Preis für
Zivilcourage. Schwer zu sagen, was
absurder ist.
Wer eigentlich profitiert von einem
System, das Bildungsversager produziert? Wie passen Erkenntnisse
von Bildungsökonomen wie Ludger
Wössmann (»Spätere Aufteilung
verbessert die Chancen von benachteiligten Kindern, ohne dass das
allgemeine Leistungsniveau leidet.«) zu den nach wie vor riesigen
Vorbehalten einer Praxis gegenüber,
die fast weltweit üblich ist?
Der Grundgedanke der meisten
Eltern ist einfach: Keine Experimente! Nicht mit unserem Kind, das
nur diese eine Chance auf eine gute
Zukunft hat! Daher wechseln Kreuzberger Linke hastig ihren offiziellen
Wohnsitz, sobald der erste Spross in
die Sprengelschule mit 80 Prozent
Ausländeranteil kommen soll.
Daher ertappen sich umgekehrt
Eltern bei dem Gedanken, ob ihre
Jüngste nicht auf einer Grundschule
mit niedrigerem Leistungsniveau
bessere Chancen hätte, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen.
2,3 ist der Schnitt in den Kernfächern, den ein Kind in Bayern dafür
erreichen muss. Sehr oft unter
enormem Stress, in dem nichts als
die Noten zählen. Und die Grundschullehrer (siehe Czerny) müssen
immer die gesamte Bandbreite vergeben: von 1 bis 6. Pate steht hier
nicht die Idee der permanenten
Erweiterung des Wissens und Könnens (und schon gar nicht die
Freude daran), sondern die glockenförmige Gaußsche Kurve.
Klaus Wenzel, Präsident des Deutschen Lehrer- und LehrerinnenVerbandes (BLLV), hat sich erst im
Februar wieder zum Unsinn der
Notengebung geäußert, die Objektivität vorgaukelt, aber weniger über
die Leistung eines Kindes aussagt
als über sein Können im Vergleich
zu dem der Klassenkameraden.
(»Noten sind ungerecht und subjektiv«, SZ vom 17.2.12, S. R 15) Wer das
für sein Kind nicht will, schickt es
auf eine Privatschule, die nicht nur
in München bei sinkenden absoluten Schülerzahlen stetige Zuwächse
verzeichnen: zu den Waldörflern,
wenn die Weltanschauung passt –
oder in eine Montessorischule. Wir
haben es einmal aus Verzweiflung
über einen schlagartig demotivierten Erstklässler und einmal aus
dem Wissen heraus getan, dass
unser Kind eines ist, das oben und
unten »raussteht«.
Dort, wo nicht alle zur gleichen Zeit
das gleiche machen, wo Schüler
klassenübergreifend und voneinander lernen, kann Unter- und Überforderung vermieden werden und
jedes Kind nach »seinem inneren
Bauplan« wachsen. Soweit die Theorie. Doch: Achtung! Das RundumSorglos-Paket für Eltern gibt es
nicht. Und Schlagworte wie »Wertschätzung«, »nachhaltiges« oder
»erfahrungsorientiertes Lernen«
sind weit schneller ausgesprochen
als mit Inhalt gefüllt. Daher steht
und fällt der Erfolg jeder Schulform
mit den Lehrern, von denen es – in
jeder Schulform – wunderbar empathische und engagierte gibt und
andere, die offenbar nur der Verlockung der Unkündbarkeit nachgegeben haben. Und: Diese Lehrer
sind wie die meisten von uns Produkte eines defizitorientierten, vergleichenden, pseudoobjektiven
Schulsystems und auch in einer
»Schule für alle« noch da. ||
Die Autorin (Jahrgang 1966) ist
Journalistin und Theaterkritikerin in
München und hat als Mutter von vier
Kindern im Alter von 4 bis 19 Jahren
Eltern- und Elternbeirats-Erfahrung
mit zwei städtischen Grundschulen,
einer privaten Montessorischule und
einem staatlichen Gymnasium.
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Münchner feuilleton · märz · Seite 03
Bildung ohne Grenzen
Anne Klein
»Eigentlich ist alles ganz einfach.«
Dies ist der zentrale Satz, den Rainer Domisch*, deutscher Bildungsspezialist im finnischen Schulwesen
zu seinen deutschen Besuchern
immer wieder sagte. So simpel seine
Aussage war, so schwer war sie zu
verstehen. Nach dem eher mittelmäßigen Abschneiden der 15-jährigen Schüler bei den ersten PISAStudien 2001 suchten deutsche
Bildungsexperten zwar nach Anregungen, wie Lernen effektiver
gestaltet werden könnte. Die
Erkenntnis, dass es dazu einer
Schule für alle bedurfte, wie sie der
PISA-Sieger Finnland vorzuweisen
hatte, kam jedoch einer Provokation
gleich. In Deutschland ist das Bildungswesen nach der Grundschule
immer noch »dreigliedrig« strukturiert. Damit gemeint sind Hauptschule, Realschule, Gymnasium;
hinzu kommen – was vielfach »vergessen« wird – berufsbildende
Schulen. Zudem verfügt Deutschland wie kaum ein anderes Land
über ein extrem ausdifferenziertes
Sonder- und Förderschulwesen mit
sieben Förderschwerpunkten. Insbesondere die Haupt- und Sonderschüler, ganz zu schweigen von den
Schulabbrechern, haben kaum eine
Zukunft auf dem Arbeitsmarkt –
und dies, obwohl ihre Lehrer über
ein spezifisches Förderwissen verfügen und ihnen zu ungeahnten
Lernerfolgen verhelfen. Die professionellen Bemühungen stoßen
sozusagen an die Grenzen des Systems. Als Haupt- oder Sonderschüler steht man einfach nicht gut da,
daran ändert auch ein guter Lehrer
nichts.
Im Bildungsgesamtplan von 1973
gab es Empfehlungen für die Sekundarstufe I und II, die politisch brisant waren: Die Gesamtschulen
sollten als Schulversuche eingeführt
werden. Eine Verzahnung der gymnasialen Bildung mit der beruflichen Bildung wurde empfohlen und
sogar die Doppelqualifikation von
Hochschulreife und beruflichem
Abschluss erwogen. Diese Reformansätze sind in Deutschland irgendwie stecken geblieben. Was als
Chancengleichheit und Anerkennung von Verschiedenheit angedacht war, wurde von wertkonservativer Seite als »Gleichmacherei«
abgestempelt und war damit vom
Tisch. Bis 1989 fiel die Ungleichheit
nicht weiter auf, aber mit der seit
Beginn des 21. Jahrhunderts rasant
zunehmenden neoliberalen Deregulierung von Kapital und Arbeit
und dem Abbau des Wohlfahrtsstaa-
tes zeichnet sich auch in Westeuropa das Auseinanderdriften der
Gesellschaft ab in das, was man
bezeichnen kann als »großer Reichtum, große Armut« (Ulrich Beck/
Angelika Poferl 2010). Anstatt die
heterogene Bevölkerung in ihrem
Alltag zusammenzubringen und
den Reichtum der verschiedenen
Fähigkeiten, Talente und Tätigkeiten zu würdigen, findet durch das
Schulsystem bereits mit 10 Jahren
ein Festschreibungsprozess statt,
der spätere Entwicklungspotentiale
weitestgehend außer Acht lässt und
die Herabgestuften verantwortlich
macht für ihr angebliches »Zurückbleiben«. So wird stillschweigend
strukturell das Menschenrecht auf
Bildung verletzt in einem Bereich,
wo gerade Verantwortungsübernahme notwendig wäre, um Ausgleich, Teilhabe und Zufriedenheit
einer Gesellschaft sicherzustellen.
Ein Schulsystem,
das Kinder früh in
Schubladen steckt,
ohne die verschiedenen Fähigkeiten
zu würdigen, zieht
die Gräben in
unserer heterogenen
Gesellschaft noch
tiefer. Anne Klein
und Rainer Domisch
zeigen in ihrem
Buch realisierbare
Wege zu fundierter
Bildung für alle –
jenseits politischer
Grabenkämpfe.
»interkulturellen Studien« und zur
»Pädagogik der Vielfalt«. Auch neue
Lehrmethoden wie Team-Teaching
oder »Lernen durch Lehren« kamen
verstärkt zum Einsatz, ebenso wie
Schülerräte und -parlamente etabliert wurden, um die demokratische
Mitgestaltung sicherzustellen. Spätestens nach den ersten PISAErgebnissen expandierte auch die
Bildungsforschung. Doch trotz vieler guter Bemühungen und Entwicklungen blieb strukturell weiterhin alles beim Alten. Es drängt sich
die Frage auf: Warum sind im politischen Bereich die Beharrungskräfte
so groß?
»Niemand wird zurückgelassen.
Eine Schule für alle« lautet der Titel
unseres Buches, das auf der Grundlage der durch Rainer Domisch vermittelten finnischen Erfahrung
einen kritisch-reflexiven, aber vor
allem machbaren Transfer in den
deutschen Bildungskontext vorschlägt. In Finnland hat man verstanden, dass in einer Wissensgesellschaft Bildung und Wissen nicht
an Prüfungen und Benotungen
geknüpft sind, sondern sich beweisen in der Erfindung neuen Wissens, in den Bereichen von Emotion,
Beziehung, Kommunikation, in
Kenntnissen der Ethik, Zivilcourage
und Verantwortungsübernahme, in
politischer (Selbst-)Aufgeklärtheit
und in der Verknüpfung von Wissenschaft und Alltag.
Gute und sehr gute Lehrer und gute
und sehr gute Schüler allein können
wenig ausrichten gegen eine strukturell verankerte Bildungsdiskriminierung. Dieser Begriff kam nicht
erst mit PISA in Mode, sondern
wurde als deutschlandtypisches
Phänomen bereits in den 1990erJahren festgestellt. Die Sozialwissenschaftler Mechtild Gomolla und
Frank-Olaf Radtke hatten gezeigt,
wie die notwendigen Selektionsentscheidungen an den drei zentralen
Übergangsschwellen (Einschulung,
Überweisung auf die Sonderschule
für Lernbehinderte, Übertritt in die
Sekundarstufe I) insbesondere Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund aussonderten. Dieses
Ergebnis öffnete den Weg für einen
Mentalitätswechsel weg von der
»Ausländerpädagogik« hin zu den
Dass es sich bei der Bildung um ein
parteipolitisch besetztes Thema
handelt, mag vordergründig als
Erklärung plausibel sein. Dies wird
zwar selten so offen gesagt, denn es
ist ja auch wenig überzeugend,
wenn weltanschauliche Prinzipien
vorgeschoben werden, um gleichberechtigte Teilhabe zu verhindern. In
Finnland wundert man sich ohnehin
nur über solche Denkmuster,
ebenso wie über den Gedanken,
dass es angeblich – entsprechend
der Schulstufen – drei Grundsorten
von Begabungen geben soll. Derartig grobschlächtige Einteilungen
hält man, schlicht gesagt, für absurd
angesichts der Vielfalt menschlicher
Potentiale. Ein dreigliedriges Schulsystem erinnert dort eher an das
Dreiklassenwahlrecht des 19. Jahrhunderts, das in Deutschland
immerhin in der Weimarer Republik abgeschafft wurde. Einen ähnlichen »Demokratisierungsschub«
wünscht man heute – fast 100 Jahre
später – dem Bildungswesen.
Niemand wird zurückgelassen.
Eine Schule für alle
Anne Klein, Rainer Domisch
Hanser, 2012 | 240 Seiten | 16,90 Euro
Dieser wird nun möglicherweise
ausgelöst durch die UN-Konvention
für die Rechte von Menschen mit
Behinderungen, die 2007 auch von
Deutschland unterzeichnet wurde
und nach der Ratifizierung ab Ende
März 2009 nun umgesetzt werden
muss. »Inklusion« geht von der
Unteilbarkeit der Menschenrechte
aus, räumt mit stigmatisierenden
Behinderungsdefinitionen auf und
erweitert das Spektrum menschlicher Möglichkeiten durch gemeinsames Voneinander-Lernen. Eine
Gesellschaft, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, die
in ihr leben, ist darum bemüht, Faktoren abzuschaffen, die den Einzelnen in seinem Selbstausdruck und
seiner Partizipation »behindern«,
und Zufriedenheit für alle zu fördern. In seinem Buch »Wie die Kultur zum Bauern kommt« fordert
Pierre Bourdieu, dass der Schule
faktisch und von Rechts wegen die
Funktion zukommt, »unterschiedslos allen Mitgliedern der Gesellschaft die Befähigung zu den kulturellen Praktiken zu geben, die
der Gesellschaft als die nobelsten
gelten«. Bildung, Schule, Kultur,
Lernen, Wissen bedürfen einer
Struktur, deren Gestaltung uns mit
der wichtigen Frage konfrontiert: In
welcher Gesellschaft wollen wir
zukünftig leben? ||
*(Anm. der Red.: Rainer Domisch ist
im August 2011 verstorben.)
Anne Klein ist Pädagogin, Historikerin und Politikwissenschaftlerin
(Dr. phil.). Sie lehrt und forscht an
der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildungsphilosophie, europäische Erinnerungskultur,
interkulturelle/inklusive Pädagogik,
politische Systeme, innovative Lehrund Lernformen.
literatur
Seite 04 · märz · Münchner feuilleton
Schnellimbiss
und Sterneküche
Das Münchner Krimifestival feiert sein Zehnjähriges. Und widerlegt Vorurteile,
dass es ein Forum für flache Main­streamliteratur sei.
Günter Keil
Angela Merkel ist »Mutti«. Die Industrielobbyisten, Parteitaktiker und Bankmanager in Horst Eckerts aktuellem Polit-Thriller
»Schwarzer Schwan« lästern hämisch über die Kanzlerin und
verfolgen skrupellos ihre eigenen Interessen. Lebendige
Demokratie? Unabhängige Volksvertreter? Alles Quatsch.
Eckert desillusioniert – auf höchst unterhaltsame Weise. Auf
dem zehnten Krimifestival, zwischen US-Bestsellerautoren
und bayerischen Krimi-Komödianten, stellt der Düsseldorfer
Autor eine Klasse für sich dar. Eckert, dessen Romane beim
Dortmunder Krimiverlag Grafit erscheinen, steht für gerad­
linige Bücher mit aktueller politischer Relevanz. Er brilliert
zwar nicht als Edelfeder, überzeugt jedoch als hervorragender
Rechercheur und Tempomacher.
Dass ein Autor wie Eckert seinen Weg ins Festivalprogramm
findet, ist kein Zufall. »Wir versuchen, alle Facetten des Genres
abzubilden«, sagt Sabine Thomas, die mit ihrem Partner An­­
dreas Hoh das Festival leitet. In den vergangenen zehn Jahren
haben sich die Besucherzahlen auf 12.000 vervierfacht. Der­
artig viele Leser lockt man nicht allein mit Regionalkrimis,
Agententhrillern oder klassischer Detektiv-Literatur. Das Publikum ist ebenso vielschichtig wie das Programm vielfältig. Der
mögliche erste Eindruck, dass vor allem Mainstream-Titel von
Großverlagen das Festival prägen, täuscht. Auch die neuen
Romane der amerikanischen Auflagenmillionäre Jeffery Deaver
und Tess Gerritsen sind kein Ramsch. Sie zeigen, wie perfekte
Spannungsliteratur für eine breite Masse aussehen kann: Wie
ein sorgfältig zubereiteter, leicht konsumierbarer Schnell­
imbiss, ganz ohne faden Beigeschmack. Und auf sprachlich
höherem Niveau als Charlotte Roche.
Eher der Sterneküche zuzurechnen sind die Münchner Vorzeige­
schreiber Friedrich Ani und Georg M. Oswald sowie Oliver
Bottini (Berlin) und Andrea Maria Schenkel (Regensburg).
Letztere stand 2006 zum ersten Mal als Autorin auf einer
Bühne. Anlass: das Münchner Krimifestival. »Kriminalromane
hatten damals in der öffentlichen Wahrnehmung gerade erst
begonnen, ihr Schmuddelimage abzulegen. Von da an ging es
bergauf«, erinnert sich Sabine Thomas. Sechs Jahre später hat
Andrea Maria Schenkel mehr als eine Million Exemplare ihres
Debüts »Tannöd« verkauft. Mit ihrem neuen Krimi »Finsterau«
eröffnet sie nun das Jubiläumsfestival im Literaturhaus. Zu
den weiteren Spielstätten zählen der Justizpalast, eine Großraumzelle des Polizeipräsidiums, der Hörsaal der Rechts­
medizin und ein Bestattungsinstitut. Wie in den vergangenen
Jahren werden nahezu alle der knapp 100 Veranstaltungen
ausverkauft sein – viele bereits im Vorverkauf.
»Wir wachsen, weil der Markt wächst. Geplant war diese
Expansion nie«, sagt Andreas Hoh. »Es ist nicht nur der Output, der gewachsen ist, sondern auch die Qualität«, ergänzt
Sabine Thomas und räumt auf Nachfrage ein, dass es bei der
Masse an Neuerscheinungen »selbstverständlich Licht und
Schatten« gebe. Den Veranstaltern nützt, dass viele Verlage das
Genre inzwischen ernster nehmen als vor zehn Jahren. Was
bedeutet: Sie möchten Teil des Programms sein, investieren
mehr Geld ins Marketing, lassen auch ausländische Autoren
einfliegen. Zumindest die großen Häuser leisten sich das
gerne und leicht: Val McDermid, Liza Marklund, Arne Dahl,
Eoin Colfer, Peter James, Gianfranco Carofiglio und viele
andere internationale Bestsellerautoren kommen nach München. Sabine Thomas stellt jedoch klar: »Das Kriterium Werbeschwerpunkt interessiert uns nicht. Wir nehmen nur, was zu
uns und unserem Publikum passt. Und das gilt eben nicht
immer für einen Großteil der Stapelware in Bahnhofs- und
Flughafenbuchhandlungen.«
Kleine Verlage haben es nicht leicht, ins Programm der großen
Namen und großen Säle zu schlüpfen. Oft kommt eine Lesung
nur zustande, weil sich Kulturinstitute, Buchhandlungen und
Das Buch
Schenkel
Andrea Maria Schenkel bleibt sich treu.
In einem schmalen Buch klärt sie den
Leser auf ihre besondere Art erneut über
die Wahrheit des Verbrechens auf.
Finsterau
Andrea Maria Schenkel
Hoffmann und Campe, 2012 |
144 Seiten | Euro 16,99
Bernhard Keller
Krimifestival
Andrea Maria Schenkel liest an zwei Abenden
aus »Finsterau«
Literaturhaus | Salvatorplatz 1 | es liest auch Josef Wilfling
aus »Unheil« | 12. März | 20.00 | Eintritt 10/8 Euro
Volkstheater | Brienner Straße 50 | 12. Mai | 20.00 |
Eintritt 12 Euro|
Informationen und Karten unter
www.krimifestival-muenchen.de
Die Bibel, das ist der Kriminalroman schlechthin. Manch guter
Krimiautor schreibt das Buch der Bücher, nein, den Krimi der
Krimis weiter. Aber kaum einer mit dieser archaischen Wucht
wie Andrea Maria Schenkel. 2006 begann das Buch Schenkel
mit dem überraschenden Riesenerfolg »Tannöd«. Jetzt, in
ihrem vierten Roman »Finsterau«, der in einem Dorf im Bayerischen Wald spielt, läuft die Erzählerin Schenkel zu neuer
Höchstform auf.
Kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs findet dort ein Doppelmord statt. Afra und ihr unehelicher Sohn Alfred werden
erschlagen aufgefunden. Afra ist die späte Tochter des Streckenarbeiters Johann Zauner und seiner Frau Theres. Das
Verhältnis der schönen Afra zu ihrem Vater ist gespannt. Dem
strenggläubigen Mann ist das Flirten seiner Tochter mit den
Burschen der Nachbarschaft ebenso ein Dorn im Auge wie ihr
Eigensinn, den keine Tracht Prügel ihr austreiben kann. Dann
lässt sie sich auch noch von einem Franzosen ein Kind machen,
die Veranstalter an den Kosten beteiligen. Oder weil zeitnah
Lesungen in anderen Städten stattfinden, eine Anreise sich
also auf mehrere Schultern verteilen lässt. Umso erfreulicher,
dass in diesem Jahr der kleine und literarisch sehr feine
Münchner Verlag Liebeskind mit US-Schriftsteller James Sallis
(»Der Killer stirbt«) vertreten ist. Der eigenwillige Walde & Graf
Verlag aus Zürich schickt Jávier Márquez Sanchez mit »Das
Fest des Monsieur Orphee« aufs Podest. Und auch der mehrfach ausgezeichnete Jan Costin Wagner, unabhängig verlegt
von Galiani Berlin, nimmt teil. Sein neuer Krimi »Das Licht in
einem dunklen Haus« spielt wieder in Finnland, wird wieder
lakonisch erzählt und ist wieder einzigartig. Wagner zählt, wie
Sallis, zur Sterneküche.
Für einen gelungenen Festivalabend sind Entertainerquali­
täten bisweilen wichtiger als hochwertige Prosa. Wer etwa die
Lesung von Harry Kämmerer besucht, wird mit einer Mischung
aus Krimi, Kleinkunst und Comedy konfrontiert. Kämmerer,
der nach seinem furiosen Erstling »Isartod« pünktlich zum
Festival seinen neuen Roman »Die schöne Münchnerin« veröffentlicht, schreibt knackig, kurz und knapp. Seine Protagonisten
heißen Hummel, Dosi, Zankl und Mader und reden entsprechend. Das ist schräg, oft lustig und manchmal nervig, aber
zweifellos eine zeitgemäße, spannende Weiterentwicklung des
Genres. Vor allem live, wenn Kämmerer von zwei Musikern
begleitet wird. Wer bisher davon ausgegangen ist, dass Lesungen stets von blasiert-akademischer Attitüde geprägt sein
müssen, wird an diesem Abend vom Gegenteil überzeugt werden. Auch das ist also möglich, zwischen Schnellimbiss und
Sterneküche, in einem gut besuchten Wirtshaus, dessen
Fleisch meist blutig serviert wird und hinter dessen Tresen
gelegentlich »Mutti« steht. ||
Programminformationen und Vorverkauf unter
www.krimifestival-muenchen.de
was Johann endgültig zur Raserei bringt. So gibt es niemanden
im Dorf, weder Polizei noch Staatsanwalt, die daran zweifeln,
dass Afras Mörder nur ihr eigener Vater sein kann. Auch
Johann selbst scheint nicht daran zu zweifeln. Er gesteht, was
er nicht getan hat, oder nimmt die Gelegenheit wahr, Jesus
gemäß dem Bibelwort des Lukas nachzufolgen: »Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme Tag für Tag sein
Kreuz auf sich und folge mir nach.« An diesen erlösenden
Gedanken klammert sich Johann in seiner Gefängniszelle,
aber damit beginnt auch sein geistiger Absturz. Am Ende landet er, dessen Gedächtnis ihn obendrein schon länger im Stich
gelassen hat, im Irrenhaus.
Ein weiterer von vielen starken Einfällen der Autorin ist die
Sache mit der Tatwaffe. Es ist eine kleine Hacke, die Afra den
Garaus macht, just jene Hacke, die sie kurz vor dem Mord in
den Brennnesseln findet, wo sie ihr Vater liegengelassen hatte.
Aus Angst vor einem neuerlichen Wutanfall des Vaters schafft
sie die Hacke ins Haus – so verkehrt sich guter Wille zum
Handlanger der mörderischen Absicht. Wie schon in »Tannöd«
und »Kalteis« gibt es reichlich Perspektivwechsel, der ebenso
rhythmisch gemanagt wird, wie die Menge der auftretenden
Figuren niemals Überflüssiges generiert. Ein hartes, nacktes
Präsens zwingt uns, den Doppelmord in größter Nähe mitzuerleben. Dagegen wirkt das Imperfekt aller anderen Figuren
geradezu gütig, schafft Distanz, die das Grauen zu betrachten
erst erträglich macht.
Falsch wäre es zu glauben, die Kraft dieser Geschichte verdanke sich ihrer zeitlichen und räumlichen Verortung oder der
dezenten bajuwarischen Sprachfärbung. Alles nur ein Trick,
die Gegenwart der Handlung umso eindringlicher entstehen
zu lassen, umso weniger sie – scheinbar – mit unserer eigenen
Gegenwart zu tun hat. Nicht zu vergessen: Der wahre Mörder
wird nach achtzehn Jahren gefunden und seiner Strafe zugeführt. Aber das ist fast nebensächlich. Wen interessiert schon
Gerechtigkeit? Ihretwegen wurden Bibel und Kriminalroman
sicher nicht so erfolgreich. ||
literatur
Münchner feuilleton · märz · Seite 05
Aussteigen
verboten
Harte Kerle, kühle Ästhetik.
Mit »Im Visier« ist Jacques Tardi
ein rabenschwarzer, mitreißender
Graphic-Novel-Thriller im Stil der
70er-Jahre gelungen.
Cornelia Fiedler
Hätte Martin Terrier jemals einen Agententhriller gelesen oder
ab und an mal einen »film noir« gesehen, dann wüsste er, dass
sein Vorhaben so gut wie aussichtslos ist. Ihm wäre klar, dass
die kalte Trostlosigkeit, die schon den Beginn der Graphic
Novel »Im Visier« umweht, am Ende eine neue Dimension
erreicht haben wird. Doch Terrier ist kein intellektueller Profikiller, nur einer der besten. Und er will aussteigen. Den
berüchtigten letzten Job lehnt er ab, doch erwartungsgemäß
wird sein Auftraggeber, die CIA, Wege finden, ihn zu zwingen.
Jean-Patrick Manchette, der das Genre des »roman noir« entscheidend mitgeprägt hat, verfasste »Im Visier« 1977 nebenher,
als Stilübung. Man merkt, dass er Spaß daran hatte, so viele
Thriller-Klischees wie möglich zu bedienen: harte Kerle mit
fast schon peinlich bürgerlichen Träumen, derbe Situationskomik, blut- und schweißtriefende Kampfszenen, brutale Morde und kein Sympathieträger
weit und breit. Tardi übersetzt das in eine charmante Kombination aus krawalliger Action
inklusive »Bang«, »Aaaaah«, »Tack, Tack, Tack«
und »Mhmff…« und einem ästhetisierten 70erJahre-Look – vor allem was die Autos, angeführt
vom Citroën DS, betrifft. »Im Visier« zieht den
Leser tief in das Geschehen hinein und entlässt
einen erst, wenn es nichts mehr zu sagen gibt –
gerädert, wie nach einem guten Actionfilm. ||
Copyright: Edition Moderne
Die Romanvorlage zu Terriers Kampf um ein bisschen privates
Glück stammt von dem 1995 verstorbenen Krimiautor und
Journalisten Jean-Patrick Manchette. Die Bilder liefert nun der
unter anderem für seine »Adèle«-Reihe bekannte französische
Comic-Altmeister Jacques Tardi: schwacher Laternenschein
auf regennassem Kopfsteinpflaster, ein kantiges Gesicht, das
zur Hälfte im Dunkel der Nacht verschwindet, halbleere Whiskygläser, rauchende Colts, schöne nackte Frauen mit müdem
Blick. Die Tableaus sind oft mehr schwarz als weiß, die Linien
klar, schwungvoll, nie verwaschen, immer hart kontrastiert.
Tardi bleibt in den Dialogen dicht, fast intim nah an Gesichtern
und Händen, erlaubt nur zwischen den Szenen einen Überblick im Breitwand-Format. Das sind die schönen, ruhigen
Momente beim Lesen, wenn das Auge ein paar Sekunden über
Pariser Straßenzüge mit ihren Leuchtreklamen oder durch ein
nur vorläufig idyllisches Landschaftspanorama wandern darf.
Doch gleich springt der Blick weiter, der Ex-Fremdenlegionär
Terrier wird vom Jäger zum Gejagten und wieder zum Jäger.
Er versucht seine Jugendliebe zurückzuerobern; skrupellose
Gangster wollen Rache für einen seiner Morde; die CIA verlangt mit einschüchternder Deutlichkeit die Erledigung eines
heiklen, idealerweise für beide Seiten tödlichen Auftrags. Die
Heldenreise führt immer näher an den Abgrund, Terrier zeigt
zunehmend Auflösungserscheinungen.
Im Visier. Graphic Novel
Jacques Tardi, Jean-Patrick Manchette
Edition Moderne, 2011 | 106 Seiten | 24 Euro
Krieg in den
Köpfen
Günter Keil
Er hätte es sich leicht machen können. Doch Oliver Bottini
wählte den schwierigen Weg und schrieb keine weitere Folge
seiner preisgekrönten Krimiserie um die Freiburger Kommissarin Louise Bonì. Stattdessen verfasste er einen Roman mit
einer komplexen, brisanten Thematik, die nicht gerade als
massenkompatibel gilt und an der sich schon manche Autoren
die Finger verbrannt haben: die Aufarbeitung der serbischkroatischen Kriegsverbrechen.
Bottini macht daraus einen literarischen Thriller, der einem
den Atem raubt. Über drei Handlungsstränge, die in der
Gegenwart und zu Beginn der 90er-Jahre spielen, transportiert
er die Suche nach Thomas Cavar, einem deutschen Kroaten.
Dieser junge Mann soll im Krieg mehrere Serben ermordet
haben, offiziell starb er 1995. Fünfzehn Jahre später tauchen in
seiner früheren Heimat Rottweil zwei Männer auf. Sie streuen
Zweifel an Cavars Tod, bedrohen Familienangehörige, setzen
eine Scheune in Brand und verbreiten Angst in der scheinbar
idyllischen ländlichen Gegend. Auf einmal ist der Krieg wieder
in den Köpfen, der Frieden bedroht.
Der Berliner Hauptkommissar Lorenz Adamek und die in Zagreb tätige Journalistin Yvonne Ahrens recherchieren in diesem
Fall. Sie stoßen auf gerissene Polit-Lobbyisten, opportunistische Geheimdienstler und skrupellose Kriegsveteranen. Ihr
Bild von Thomas Cavar wird schärfer: Er lebt, ist untergetaucht. Musste flüchten, war Täter und Opfer zugleich, ein
Mann auf der Suche nach Heimat und Zugehörigkeit, seiner
Unschuld beraubt durch nationalistische Verführer. Nun, 2010,
ist er in akuter Lebensgefahr. Oliver Bottini lässt seine Leser
bis kurz vor dem Schluss mit Cavar fiebern und auf seine Rettung hoffen. Der Autor zeigt erstaunlichen Mut, indem er auf
ein Happy-End verzichtet.
»Der kalte Traum« ist ein Polit-Thriller mit realem Hintergrund
– ein mitreißender Roman mit der Informationsdichte eines
Der kalte Traum
Oliver Bottini
Dumont, 2012 |
448 Seiten | 18,99 Euro
Sachbuchs. Bottini beherrscht die Kunst, mit wenigen Worten
kraftvolle Bilder und intensive Stimmungen zu erzeugen.
Seine sprachliche Eleganz kommt nie hochnäsig und affektiert
daher, sondern locker, wie aus dem Ärmel geschüttelt. Trotz
der harten und komplexen Thematik gleitet Bottini entspannt
durch den Plot, bisweilen gestattet er sich eine Prise Ironie.
Seine Dialoge sind knapp und überzeugend. Über die sorgfältig gezeichneten Figuren, ihre Ecken und Kanten, führt Bottini
zur großen Politik, zum grausamen Krieg. Und anhand seiner
Geschichte wird klar: Hinter dem Leid auf den Schlachtfeldern
und den Rachefeldzügen der Gegenwart stecken keine fremden
Mächte oder abstrakte Verschwörungen, sondern Menschen.
Nachbarn. Mitbürger. Das ist zwar schwer zu ertragen, aber
Realität.
Gut, dass es sich Oliver Bottini nicht leicht gemacht hat. ||
In »Der kalte Traum« zeigt Oliver Bottini,
dass die Schatten der Jugoslawienkriege
bis in die Gegenwart reichen und einen
beeindruckenden Thrillerstoff abgeben.
Krimifestival
Oliver Bottini liest aus »Der kalte Traum«
Café Ruffini | Orffstr. 22–24 | 19. März | 20.00 |
Der Vorverkauf startet am 13. März |
Informationen und Karten unter
www.krimifestival-muenchen.de
literatur
Seite 06 · märz · Münchner feuilleton
Christine Knödler
Die gute Nachricht zuerst: Die drei ???, verkündet der Kosmos Verlag, ermitteln wieder.
Weil’s in der Luft liegt, ist »Der Fußball-Teufel«
los. Krimis leben von Spannung, klarer Rollen­
verteilung, Aktualität. Da macht es dann auch
nichts, dass die Protagonisten, die erstmals in
den Sechzigern ihre Spürnasen in den mäßig
rauen Wind von Rocky Beach hielten, in die
Jahre gekommen sind. Es genügt, dass die
Jungs stoisch von ihrem Hauptquartier auf
dem Schrottplatz aus, diesen aus der Welt
schaffen.
Seit letztem Herbst legt nun Benedikt Weber
mit seiner Reihe »Ein Fall für die Schwarze
Pfote« (Tulipan) nach und macht dabei Anleihen bei der nicht minder etablierten KinderErmittler-Gruppe TKKG, alias Tim, Karl,
Klößchen und Gaby. Die jagen, unterstützt
von Hund Oskar, seit 1979 Verbrecher und
gelten (neben den drei ???) als kommerziell
erfolgreichste Serie ihres Genres. Hier wie
dort ist die Besetzung, gendertechnisch gesehen, fast korrekt. Charlotte von der Schwarzen Pfote ist nicht nur Mädchen, sondern
besonders schlau, ein Schwergewicht gibt es
auch, Fips, »der dickste Freund der Welt«,
Oskar heißt Hugo, er mimt die »eiskalte Spürnase«. Auch diese kleine Bande ist am Ball,
aktuell macht »Der Fußballskandal«
Geschichte: Übles Foulspiel in mehrfacher
Hinsicht (der Stürmer der gegnerischen
Mannschaft wird mittels Pizza vergiftet),
Schiedsrichter-Bestechung, eine Prise Mafia,
ein Hauch Mobbing nebst Fremdenfeindlichkeit (der ausgeschaltete Spieler ist Schwarzafrikaner) sind die Zutaten, aus denen der
Sumpf angerührt ist, den die Kinder bravourös auslöffeln. Wo ein Hänger in den Nachforschungen auftreten könnte, hilft Freund
Zufall, sodass am Ende nur noch die Handschellen zuschnappen müssen.
Falsche Fährte
Ein Genre im Schongang: Der Kinder-Krimi
setzt auf Serie und Oberfläche.
Weniger wohlwollend könnte man als Motiv
eine massive Leserunterschätzung unterstellen. Ist der Krimi für Kinder einer, der zwar
vom Bösen in der Welt erzählen will, aber lieber doch nicht so richtig, weil über allem das
Anliegen dräut – die vom Schrott befreite
Welt? Siegt das Prinzip Schonung? Oder sind
Allgemeinplätze dem Reihen-Prinzip geschuldet, damit zu viel Eigenleben nicht die Seriendramaturgie stört, und geht der Einzeltitel
dann weiter?
senen Familien, überforderten Eltern, einsamen Alten, einer kalten Gesellschaft in der
Gluthitze des Sommers. Ganz abgesehen
davon, dass der vermeintliche Clou (»Der
Junge, der Gedanken lesen konnte«) dem
Prinzip der Kombinationsgabe zuwiderläuft:
Denn worin besteht die detektivische Kunst,
wenn die Antworten in den jeweiligen Köpfen
stehen?
Weniger ist mehr
Womöglich zieht der Jugend-Krimi andere
Register. In diesem Falle: nein. Nur Schubladen, das zeigt zumindest eine Stichprobe aus
der Reihe »dtv junior crime«. »Todesblüten«
von Ulrike Rylance macht mangelnde Tiefe
der Figuren über Schablonen wett, fehlende
Raffinesse über Brutalität, wenn die erste
Szene den Mord ausmalt, Claras Kumpel ein
testosterongesteuerter, ewig Bier saufender
Rüpel mit Erbsenhirn ist und der Mörder ein
Psychopath, wenn die Idylle am Spreewald –
natürlich! – trügt, dafür am Ende der Hauptverdächtige Claras neue Flamme wird, damit
die Liebe siegt. Inhaltlich wie sprachlich wird
kaum ein Klischee ausgelassen, das ist erst
recht keine Lösung.
Kirsten Boie hat mit ihrem neuesten Kinderbuch immerhin ein ungewöhnliches, fußballfreies Setting gewählt, ihr Krimi spielt auf
dem Friedhof, wo die Schilinskys, weil sie sich
die Schrebergarten-Parzelle nicht leisten können, ein Grab erstanden haben, um muntere
Prinzip Schonung?
Picknicks zu veranstalten. Die intensiven, klaKinderkrimis dieser Art kratzen an der Ober- ren Illustrationen von Regina Kehn fangen die
fläche. Wohlmeinend könnte man dahinter Stimmung souverän und eigenwillig ein, auch
eine Art Schonfrist vermuten, ein Erzählen, die Handlung ist deutlich komplexer, es gilt
das weniger auf die berühmte Angstlust als
diverse Überfälle (auf Juwelierläden, den
vielmehr auf die Lust am Denksport setzt, wie Friedhofsgärtner und »Dicke Frau«, eine
sie auch die diversen Geschichts-Rätsel-­ Obdachlose) zu klären. Und trotzdem: Wo
Krimis bedienen, die nebenbei so etwas wie zuvor thematische Eindimensionalität und
historisches Wissen vermitteln, wie etwa bei
Vorhersehbarkeit bemängelt wurden, stört in
Christa Holtei (dtv junior) oder Harald Parig- diesem Fall das Viel-zu-Viel. Wir haben es,
ger (Arena). Oder wie sie die in Wort und Bild jenseits der üblichen Malaisen wie Habgier,
dann doch erfrischend schräge Gegen-den- Skrupellosigkeit, Dumpfheit, unter anderem
Strich-Reihe »Detektivbüro LasseMaja« von mit dem Tod eines Kindes und eines Bruders
Martin Widmark einlöst.
zu tun, mit Migrationshintergrund, mit zerris-
Leben ist
Fiktion
Sylvia Rein
Die Ereignisse sind schnell erzählt: Es geht
um die 20-jährige Hedda im Schweden des
Jahres 1938. Sie will weg vom konservativen
Vater, der tabuisierenden Mutter, dem kranken Bruder. In Stockholm beginnt sie eine
Ausbildung als Schneiderin exklusiver Mode,
zeigt Talent, rauscht kopfüber in ein erotisches Abenteuer und landet rasch in einer
Ehe mit Kindern. Aber das Ganze ist komplizierter, eine verschachtelte Roman-imRoman-Er­
zäh­
lung. Hedda ist nämlich die
Hauptfigur eines Romans, dessen Autorin wie
die echte heißt: Sigrid Combüchen. In dieser
Rahmenerzählung schöpft die fiktive Schriftstellerin ihren Stoff aus dem Leben einer
»echten« Hedda, der Schwedin Hedwig Langmark, die ihren Lebensabend in einem spanischen Rentneridyll verbringt. Nachdem Combüchen in einem Brief vorgibt, in Hedwigs
Elternhaus zu wohnen, plaudert Hedwig in
einem langjährigen Briefwechsel über ihr jetziges und damaliges Leben. Diese Erinnerungsbruchstücke, Fotos vom Trödel sowie
Mit dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis, dem
»August«, ausgezeichnet und
nun auf Deutsch erschienen:
Sigrid Combüchens Roman
»Was übrig bleibt« wertet eine
einfache Geschichte durch
kunstvolles Erzählen auf.
ihre Internetrecherchen über die Familie fügt
die fiktive Combüchen zusammen und verändert sie. Sie erschafft ihre eigene Version von
Hedda, schlüpft in die junge Frau hinein,
spürt ihr Menstruationsblut, ihre Wut, ihre
Lust. Das Ergebnis ist eine Mischung aus den
Stimmen von Hedwig, Hedda und Combüchen (die ne­ben­bei aus ihrem Schriftsteller­
alltag er­zählt) – wer schreibt jetzt gerade? Das
erhöht nicht nur die Spannung, durch die
vielfache Brechung bekommt die relativ ein­
fache Hedda-Geschichte Tiefe.
Anders als beim deutschen Titel schwingt im
Originaltitel »Spill« so etwas wie Verschwendung oder Vergeudung mit. So gipfelt der
Briefverkehr darin, dass Combüchen der Rentnerin zu verstehen gibt, dass sie ihr fremd­
bestimmtes Leben für verschwendet hält, weil
Abstecher: Jugend-Krimi
Zeitlos gut
Auf die Frage, was den Krimi als Genre so
beliebt mache, hat Henning Mankell einmal
geantwortet, weil im Krimi die Gerechtigkeit
widerfahre, die die Wirklichkeit so oft vorenthält. Dieser Effekt aber kann sich nur einstellen, wenn es um etwas geht. Darum: Lesen Sie
Erich Kästners »Emil und die Detektive«, Astrid Lindgrens »Kalle Blomquist«, »Milo und
die Jagd nach dem grünhaarigen Mädchen«
des Münchner Autors Rudolf Herfurtner, die
»Rico-und-Oskar-«Bände oder »Beschützer
der Diebe« von Andreas Steinhöfel. Warum?
Weil hier Geschichten erzählt werden, nicht
um am Fließband Fälle zu lösen, sondern um
des Erzählens willen. Weil etwas in die nicht
immer heile Welt einbricht, das hinterher
nicht einfach aus derselben geschafft und vergessen gemacht wird, womit zu leben aber
gelernt werden kann. Weil etwas passiert, das
ohne die Intelligenz der Kinder nicht zu lösen
wäre, somit Spannung und Herausforderung
geboten sind. Weil Autorinnen und Autoren in
die Herzen und Hirne der Kinder geschlüpft
sind und ihre Figuren wie ihre Leser ernst
nehmen.
»Ja, ja«, pflegt der wunderliche Alte, Gren, in
Kalle Blomquists zweitem Fall zu sagen: »Der
Kindheit glückliche, unschuldige Spiele. Ja,
ja!« Es liest sich wie ein erzählerisches Credo,
das der Kinder-Krimi (ein)lösen sollte. Aus
unschuldigen Spielen, ließe sich übersetzen,
wird bitterer, gar blutiger Ernst. Schuld spielt
eine Rolle und ist kein Vorwand. Das Spiel
meint auch das Spiel der Überführung, die
Lust am »Kombiniere!«, das, fern von redseliger
Beschönigung, gewinnt. Wenn am Ende Kindheit stabil genug ist, um Brüche auszuhalten.
Mit weniger sollte man sich nicht zufrieden
geben. ||
Ein Fall für die Schwarze Pfote.
Der FuSSballskandal. Bd. 4.
Benedikt Weber
Mit Illustrationen von Zapf | Tulipan, 2012 |
144 Seiten | 10,95 Euro | Ab 8 Jahre
Der Junge, der Gedanken lesen
konnte. Ein Friedhofskrimi.
Kirsten Boie
Mit Illustrationen von Regina Kehn | Oetinger,
2012 | 320 Seiten | 14,95 Euro | Ab 10 Jahre
Todesblüten
Ulrike Rylance
dtv pocket crime, 2012 | 224 Seiten | 6,95 Euro |
Ab 14 Jahre
WAS ÜBRIG BLEIBT.
EIN DAMENROMAN
Sigrid Combüchen
Aus dem Schwedischen von Paul Berf |
Verlag Antje Kunstmann, 2012 |
496 Seiten | 24,95 Euro
sie ihre Talente brachliegen ließ. Hedwig
be­streitet dies. Beide konstruieren, rekonstruieren, dekonstruieren. Und auch alle anderen
Figuren tun ihr Bestes, um ein bestimmtes
Bild der eigenen oder fremden Wirklichkeit
vorzugeben.
Autoreferentiell, selbstreflexiv, intertextuell –
der Roman erklärt sich selbst, ja, er erklärt die
Entstehung von Literatur und Film, die er
immer wieder thematisiert. Eine Figur, die aus
einem anderen Roman Combüchens hier hineingeraten ist, verrät dann auch den Schlüssel
zum Untertitel: Der liberale, aber verheiratete
Däne Georg Brandes, einer der wichtigsten
europäischen Publizisten des 19. Jahrhunderts,
schrieb 1887 an eine seiner vielen Geliebten,
die Schriftstellerin Victoria Benedictsson (die
ihn über alles liebte): Er hielte ihren neuen
Roman über eine unglücklich verheiratete
Frau, die sich letztlich doch für die Ehe entscheidet, für einen Damenroman und damit für
schlecht. Ein Jahr später beging sie Selbstmord.
Dass Combüchen Brandes Edikt zum Untertitel ihres Buches macht, ist mutig, denn die
ironische Lesart erschließt sich erst im Lauf der
Lektüre. Wer den Roman trotzdem zur Hand
nimmt, wird von Combüchens Erzählkunst
fasziniert sein. Oder ihn, wie ein schwedischer
Blogger vorschlägt, Tante Inga schenken. ||
Lesung mit
Sigrid Combüchen
Moderation: Kristina Maidt-Zinke
Literaturhaus | Salvatorplatz 1 |
20. März, 20.00 | Eintritt 9/7 Euro
literatur
Münchner feuilleton · märz · Seite 07
Die Möglichkeit, aller
Ordnung zu entkommen
Am 27. Februar stellte Michael Ondaatje seinen neuen Roman
»The Cat’s Table« im Münchner Literaturhaus vor.
Lyrik
Duce
Ins Klirren der Kirchen, Klingeln der Trams
schaukelt der Körper vom Dach einer Tanke,
plustert sich auf in der Hitze, ein stinkendes Pendel.
Wir stehen dabei, Jahrzehnte zu spät, zeitlich verzogen
unser Blick zur Traufe, und jetzt landen Möwen
auf dem balzheißen Bau, ein Gurren, ein Flattern.
Sven Hanuschek
Der Körper kopfüber umtänzelt die Zwergin,
Michael Ondaatjes jüngster Roman könnte ein wilder, exotischer Familienroman sein wie »Es liegt in der Familie« (1982).
Drei Jungen, elf, zwölf Jahre alt, verbringen drei Wochen
zusammen auf dem Passagierschiff »Oronsay«, Anfang der
Fünfzigerjahre. Sie fahren von Colombo auf Sri Lanka, damals
noch Ceylon, nach London, der zeitweilige Erzähler Michael
wird dort von seiner Mutter erwartet. Auch seine beiden
Freunde sind allein unterwegs. Zu den Mahlzeiten sitzen sie
mit einer Reihe exzentrischer Fremder am »Katzentisch«, weit
weg vom Tisch des Kapitäns: mit einem Schiffsabwracker in
Rente, der die Endlichkeit des Schiffs technisch genau zeigen
kann; mit einem Botaniker, der Rausch- und Giftpflanzen im
Bauch des Schiffs transportiert; mit dem Musiker Mazappa,
der den Tisch mit Zoten unterhält; mit Miss Lasqueti, die Tauben in ihrer wattierten Jacke auf Deck spazieren führt. In diesem Roman lässt Ondaatje sein Credo von »In der Haut eines
Löwen« (1987) bis »Divisadero« (2007) aussprechen: dass die
Außenseiter die Menschen sind, denen seine Aufmerksamkeit
gilt. »Was interessant und wichtig ist, ereignet sich in der Regel
im Verborgenen, an machtfernen Orten. Nichts von bleibendem Wert ereignet sich je am Tisch der Mächtigen, wo alt­
vertraute Phrasen Kontinuität garantieren.« Die Mächtigen
sind allein damit beschäftigt, ihre Macht zu sichern, »in der
vertrauten Fahrrinne«.
Es ist gerade kein Familienroman: Das Unerhörte an Ondaatjes
bildgewaltigem Werk ist, dass die Jungen von ihren Familien
alleingelassen sind – und dass das niemand bedauert. Der
Autor sprach bei seiner Vorstellung des Romans von einer
»fantasy of freedom«, die imaginierte Wahrnehmung des Elfjährigen verschafft ihm wie dem lesenden Publikum ein rares
Glücksgefühl: Die Jungen leben in einer weitgehend selbst­
bestimmten Freiheit, sie brechen mit fast systematischer Phantasie eine Regel nach der anderen, und sie haben nicht mehr
Angst als nötig. Zwei von ihnen sterben beinah in einem
Sturm, vor dem sie sich vom dritten nachts auf Deck haben
festbinden lassen; auch die Beobachtung des grimmigen
Gefangenen, der allnächtlich auf Deck geführt wird, könnte
entgleisen, der Ausbruchsversuch lässt sich erahnen, und er
verläuft doch ganz anders als erwartet. Viele Ereignisse in
­diesen drei Wochen haben mit Initiation zu tun, mit »rites de
passage«, das Vertrauensverhältnis des elfjährigen Michael zur
schönen Cousine Emily, die Bewegungsmuster dieser
geschlossenen Welt, die sich nach und nach in ihrer Regel­
haftigkeit erschließen.
Die Darmstädter Anglistin Julika Griem, die Ondaatjes Vorstellung brillant moderierte, fragte ihn nach dem autobio­
graphischen Gehalt; immerhin heißt der Protagonist Michael,
wir erfahren in einigen Kapiteln, er sei Schriftsteller geworden,
von wenigen anderen hören wir von ihrem Leben nach der
Katzentisch
Michael Ondaatje
Aus dem Englischen von
Melanie Walz | Hanser, 2012 |
304 Seiten | 19,90 Euro
zwei salzweiße Leichen, der Geruch von Benzin.
Drei Kugeln kehlig, vier in der Schulter,
ferner sind Lenden und Arm ruiniert,
ein Sieb, eine Siebesfeier, die wir beäugen,
den letzten Ball der beiden Bälger
Reise, für alle Charaktere
war sie ein Einschnitt.
On­daatjes eigene Reise von
Ceylon nach London fand
zwar 1954 statt, aber »Katzentisch«, so seine Antwort, schildert eine Wunschreise, nicht
die seine; der Michael des Romans ist das »Portrait of an
Author as a Young Man«, aber nicht des Autors, der er selber
ist. Das Buch steckt voll schöner Paradoxien dieser Art; unbezweifelbar teilt der erzählte Schriftsteller einige ästhetische
Auffassungen mit seinem Erfinder, so die raue, offene Erzählstruktur, die Komplexität der Figuren, die viele ihrer Geheimnisse für sich behalten: Man solle sich nie einbilden, man habe
mehr Einsicht in die Figuren als sie selbst, sie leben nicht ihr
Leben im Roman, sondern nur den kleinen Teil, von dem wir
erfahren. Es gibt auch den literaturkundigen Lehrer Dennis
Fonseka auf dem Schiff, der den Jungen vorliest, der in seiner
Bescheidenheit, in seiner heiteren »Gelassenheit und Gewissheit« eine Art Vorbild sein könnte. In der Nachbemerkung
heißt es, die Personen, Namen und Dialoge seien reine Erfindung – in der Danksagung dann, der Roman sei Fonseka
gewidmet, »in memoriam«.
Michael Ondaatje las seine musikalische Prosa in einem fast
melancholischen Ton, Johannes Steck zwei Kapitel aus der
kongenialen Übersetzung von Melanie Walz. Neben aller
­poetischen Lakonie, die Ondaatjes Werk hat, zeigt sich immer
wieder auch sein Hang zum grotesken Detail, ob von dem
­Matrosen die Rede ist, dem der Sturm sein Glasauge ausschlägt, oder von den Hunden an Bord; ein Weimaraner erwidert die Liebkosungen seines Wärters »wie eine Frau, die den
Mann liebt, aber nicht seine Küsse«. Ein Hintergrund-Detail
hat er im Gespräch mit Griem preisgegeben: Die schmächtige
Miss Lasqueti hat den »Zauberberg« auf den Knien liegen,
liest aber nur (offensichtlich schlechte) Krimis, die sie überraschend kraftvoll über die Reling wirft. Schießen kann sie auch,
und sie hat eine geheimnisvolle Verbindung mit Whitehall.
Thomas Manns Roman sei ein Relikt, erzählt Ondaatje: Hier
wollte er recherchieren, was die bessere Gesellschaft auf einem
Schiff gegessen haben könnte; die Speisekarten spielten dann
aber doch keine so große Rolle. ||
und wir, zwei dahergelaufene Zeugen,
wissen wir denn, was Liebe war.
Nora Bossong
© Carl Hanser Verlag München 2011 |
mit freundlicher G
­ enehmigung des Verlags
Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, schreibt Romane und
Gedichte. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen für ihre literarischen Arbeiten: den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis 2007,
2008 das New-York-Stipendium im Deutschen Haus, 2011 den
Kunstpreis Berlin in der Sparte Literatur. Im Januar 2012 wurde
sie für ihren Gedichtband »Sommer vor den Mauern« mit dem
Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet, der am 3. April überreicht
wird. Ihre Gedichte erschienen im zu Klampen V
­ erlag und bei
Hanser. Der Münchner Frühling Verlag nahm ihr Gedicht »standort« in die Reihe »einmaleingedicht« auf, gelesen von der Autorin.
Sommer vor den Mauern. Gedichte
Nora Bossong
Edition Lyrik Kabinett | Hanser, 2011 | 96 Seiten | 14,90 Euro
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Amalienstrasse 83 a
Telefon: 089 - 346299
info@lyrik-kabinett.de
Der verschlossene Raum
Schade
ums Papier
Klassische Musik, so scheint es, eignet sich nicht für’ s Jugendbuch. Eine altmodische Parallelwelt mit artigen Scheitelchen und weißen
Krägelchen wird vermutet und so lässt der Frühjahrs-Spitzentitel aus dem Boje Verlag aufhorchen. »Virtuosity« ist die Geschichte einer
Spitzen-Geigerin, Untertitel allerdings: »Liebe um jeden Preis«. Und tatsächlich: Mal wieder ist alles nur Vorwand. Schon die erste Szene,
in der Carmen (!) ihre Stradivari über die Balkonbrüstung hängt – der Leser ahnt: dem Mädel stinkt’s und zwar gewaltig – erinnert arg
an »Crocodile Dundee«. Auch da trifft Wildheit und ungestümes Leben auf Leistung, Druck, Karriere. Klar, was der bessere Weg ist.
Prompt sieht Autorin Jessica Martínez, selbst ehemalige Geigen-Virtuosin, ihr Debüt als »Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben«. Nur
ist das leider genauso kitschiges Klischee wie der Rest des Romans, der jedes Vorurteil übertrifft. Da nimmt die vom Ehrgeiz zerfressene
Mutter die Tablettensucht der Tochter in Kauf, schmiert die Jury beim Guardini-Wettbewerb. Doch Carmen verliebt sich in –
den Konkurrenten. Genau. Die Liebe wird sie aus der verdorbenen Wunder-Kindheit retten. Noch was? Ach ja: Musiker sind
vorwiegend schwul, die Konzertgarderobe ist stets wichtiger als die Musik. Keine Überraschungen, keine Zwischentöne,
Klischee-und-Name-Dropping und alles im Fortissimo-Superlativ. Darum: vergeigt!
Die Münchner Rede zur Poesie
von Jan WagneR
Mittwoch, 28. März 2012, 20 Uhr
Eintritt: € 7 / ermäßigt € 5
mit freundlicher Unterstützung der
Christine Knödler
Virtuosity – Liebe um jeden Preis.
Jessica Martínez
Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Bhose |
Boje Verlag, 2012 | 253 Seiten | 12,99 Euro | Ab 14 Jahre
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birkenstraße 3
82346 andechs
tel (0 81 57) 99 75 9 - 0
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literatur
Seite 08 · märz · Münchner feuilleton
Protest
ohne Aufruhr
Michael Schmitt
Wie erzählt die Literatur vom Protest, wenn
der Widerstand ein selbst­verständliches
Bürgerrecht – also ­langweilig – geworden ist?
»Kann es denn wirklich noch Spaß machen,
mit dem Knüppel dauernd in einen immensen
Brei von Schlamm zu schlagen?«, fragte Heinrich Böll 1965 in einem Beitrag zur Geschichte
und zur Stellung der Gruppe 47. Die
Gesellschaft erwarte geradezu, von der
Literatur geprügelt zu werden. »Engagement« und »Nonkonformismus« seien
daher keine besonderen Attribute mehr,
denn das, was damit verbunden werde,
sei allgemein anerkannt. Nachlesen lässt
sich das in einem Sammelband mit
Reden und Aufsätzen, die Böll zwischen
1947 und 1985 verfasst hat – und der Titel
dieses dicken Buches, »Widerstand ist ein
Freiheitsrecht«, erinnert daran, woher
der Impuls stammt, Schriftstellern wie
Bürgern in der jungen Bundesrepublik
Mündigkeit abzuverlangen. Er macht
einem aber auch bewusst, wie selbstverständlich es mittlerweile geworden ist,
sein Widerstandsrecht in Anspruch zu
nehmen, und wer alles Anspruch darauf
erhebt.
Böll hat dabei seinerzeit stets kräftig mit­
gewirkt, hat sich aber nie für eine Partei eingesetzt und, was noch entscheidender ist, er
hat schon früh erkannt, wie sich die Stellung
des Schriftstellers und der engagierten Literatur verändert, wenn dieses gesellschaftliche
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Projekt Erfolg hat. Das »Kritische« wird dann
leicht beliebig, wird erwartbar und damit
langweilig – und das ist ein Todesurteil, wenn
Literatur, weil sie in langsameren Rhythmen
entsteht als gesellschaftspolitische Schlagworte und Moden, die flotten Themenwechsel
nicht mehr mitvollziehen kann.
Burkhard Spinnen hat in den letzten Jahren
darauf immer wieder hingewiesen und daraus
abgeleitet, dass sich Literatur, wenn sie politisch sein wolle, ihre Maßstäbe nicht von
außen oktroyieren lassen darf, dass sie nichts
zu »sollen« hat, außer vielleicht Proben auf
die Sagbarkeit dessen zu machen, das so neu
ist, dass dafür nur verbrauchte, überlebte Formeln zur Verfügung stehen. Und damit meint
er nicht unbedingt die Tragikomödien des
politischen Establishments und keine Romane
zur Bebilderung von Stéphane Hessels Aufruf
»Empört Euch!« aus dem vergangenen Jahr.
ARBEITEN SIE SICH GESUND
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Pacellistraße 5
80333 München
www.muckenthaler.de
15.02.12 13:02
Erinnert sich noch jemand an Otto F. Walters
Roman »Wie wird Beton zu Gras?« von 1979,
einem betont engagierten Roman über die
Anfänge der ökologischen Bewegung? So
etwas wäre heute nur mehr schwer erträglich,
obwohl dieser Themenkreis an Brisanz nur
zugelegt hat. Anna Katharina Hahn fragt
daher in ihrem Roman »Am schwarzen Berg«,
der auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis 2012 nominiert ist, nicht mehr, ob die
Camps und Demonstrationen am Stuttgarter
Hauptbahnhof berechtigt sind und ein utopisches Potential enthalten. Ihr Blick richtet
sich vielmehr darauf, welchen Platz sie im
Leben von Menschen einnehmen, die als Lehrer oder als Bibliothekarinnen alt geworden
sind, ein wohl eingerichtetes Leben führen
oder als jüngere Familienväter an Sinnfragen
zu scheitern drohen. Das lässt die erzählten
politischen Inhalte ein wenig unauffällig
erscheinen, weil sie auf der gleichen Höhe wie
Alkohol- oder Ehe-Probleme verhandelt werden. Damit erfasst der Roman aber eine
­Haltung, die dem einen nicht abverlangt, sich
vor dem anderen als wesentlich rechtfertigen
zu müssen, weil mittlerweile beides zum bürgerlichen Leben gleichermaßen dazugehören
darf. Das Private ist politisch und das Politische ist privat, aber nicht mehr im Sinne einer
Emanzipation des unpolitischen Menschen,
der sein gesellschaftliches Sein kritisch hinterfragen soll, sondern im Sinne einer Selbstverständlichkeit, die auf neuen gesellschaft­
lichen Übereinkünften und Frontverläufen
beruht.
Ganz ähnlich kann auch Literatur, die auf
Genre-Elementen aufbaut, ein Bild ihrer
Gegenwart gestalten. Krimi und Thriller
haben das schon vor Jahrzehnten erkannt
und die Plots oft mit soziologischen Befunden
angereichert, sie werden aber immer noch
gerne als »zweitrangig« abgetan. Und
auch ein Schriftsteller wie der Münchner
Georg M. Oswald, der pointierte Stellungnahmen zu sozialen Fragen so wenig
scheut wie unterhaltsame Elemente in
seinen Romanen, sah sich bei einigen
seiner Bücher vergleichbarer Kritik ausgesetzt. Sein neuer Roman, »Unter Feinden«, im Januar erschienen und schon
breit besprochen, kommt auf den ersten
Blick ebenfalls als Thriller daher, entpuppt sich aber, inspiriert von den
Un­ruhen in den Pariser Banlieues, als
eine Geschichte über die Topographie
von München, über die Verteilung von
Bessergestellten und Eingewanderten im
Stadtgebiet, über den Anteil ausge­
grenzter, aber wehrhafter Menschen mit
»Migrationshintergrund« in einer Stadt,
in der nach allgemeinem Dafürhalten gut
zu leben ist. Im Mittelpunkt zwei Polizisten, einer mit Drogenproblemen, der bei einem
Einsatz durchknallt, der andere mit Karrierechancen, der alles zu vertuschen versucht;
dazu junge Männer aus arabischen Familien,
eine Weltsicherheitskonferenz und ein international gesuchter Terrorist. Das klingt spektakulär und endet auch mit einer Art von
­»Straßen in Flammen« auf Bajuwarisch. Und
doch ist es nur die Fassade für einen Blick auf
Dinge, die jeder weiß, die aber keiner benennen will. Denn wenn man sie benennen
würde, müsste man sie ändern wollen.
Solche Bücher streben nicht nach irgendeiner
Form von Diskurs-Hoheit; im Gegenteil, sie
verweigern sich vorgegebenen Diskursen, es
geht ihnen vielmehr um Genauigkeit im Blick
auf Einzelheiten, um die Freiheit von Scheuklappen. Und dabei hilft vermutlich ihre Verhaftung in einem überschaubaren lokalen
Zusammenhang, der vor allem bei Anna
Katharina Hahn mit den Mitteln des Detail­
realismus ausgelotet wird. Vergleichbare
Geschichten könnten sicher auch über viele
andere Orte erzählt werden, aber das macht
sie nicht austauschbar. Und überall könnte
man wohl auch den Befund erwarten, dass das
gute Leben meist auf dubiosen schlechten
Fundamenten aufgebaut ist. ||
Widerstand ist ein Freiheitsrecht.
Schriften und Reden zu Literatur, Politik
und Zeitgeschichte
Heinrich Böll
Kiepenheuer & Witsch, 2011 | 990 Seiten |
29,99 Euro
Am schwarzen Berg
Anna Katharina Hahn
Suhrkamp, 2012 | 240 Seiten | 19,95 Euro
Unter Feinden
Georg M. Oswald
Piper, 2012 | 256 Seiten | 18,99 Euro
literatur
Münchner feuilleton · märz · Seite 09
Kleines Putin. Großer Herrscher?
Marcel Marin
Es gibt gute Bücher, die einen großen Nachteil haben: Sie tragen
den falschen Titel. Bei literarischen Werken mag das Anlass zu
inspirierten Diskussionen geben. Bei Sachbüchern stellt sich
die Frage: Hat der Autor sein Thema verfehlt? Oder wurde ein
redlich geschaffenes Werk zum Opfer einer Verlagspolitik, die
mehr vom Marketing als vom Lektorat geprägt und entschieden wird? Das vorliegende Buch ist so ein Fall. Sauber recherchiert – zumindest soweit man das mit
etwas Abstand und einer gewissen
Kenntnis von Fakten, Personen, Hintergründen und Zusammenhängen beurteilen kann. Nachvollziehbar analysiert
– mit Ausnahme vielleicht der Passagen,
in denen die psychoanalytische Phantasie der Autorin zu galoppieren beginnt.
Pünktlich zur Wahl in Russland
erscheint ein gründlich
recherchiertes Buch über Putins
Machenschaften – Psychogramm
eines skrupellosen Strategen.
Denken nicht verbieten ließen. Durch Serien von Bombenexplosionen, Geiselnahmen, Attentaten, denen Hunderte zum
Opfer fielen – Hausbewohner, Kinder, Frauen, Journalisten –
und die stets in seine Hände spielten, freilich nie mit seinen
Zirkeln in Verbindung gebracht werden k
­ onnten. Aber von
jedem, der die Fakten kombiniert, wie Masha Gessen das macht,
mit seinen ­Zirkeln in Verbindung gebracht werden müssen.
Schockierend schlüssig zum ­
Beispiel,
wie sie den FSB, also die Nachfolgeorganisation des russischen Geheimdienstes
KGB, als Urheber jener Serie von Explo­
sionen identifiziert, die in den Monaten
nach Putins Einzug im Kreml in Moskau
und mehreren anderen russischen Städten Wohnblöcke förmlich zum Einsturz
Eine eindrucksvolle, journalistische
brachten. Gezielt hatten Putins alte KolFleiß­arbeit, die im Wesentlichen zusamlegen hunderte unschuldiger Menschen
menträgt und mit eigenen Erfahrungen,
ermordet, massive Verunsicherung in
Einsichten und Gesprächen abgleicht,
der Bevölkerung geschaffen und den
was an vielen Orten und von unterVerdacht auf tschetschenische Rebellen
schiedlichen Kollegen bereits veröffentgelenkt. Ihr neuer Herr und Präsident
licht, aber in dieser, durchaus prägnansollte Anlass und Rechtfertigung bekomten Form noch nicht seziert, kombiniert,
men, den Krieg in Tschetschenien fortreflektiert worden ist. Gut geschrieben,
zusetzen, die Freiheit der Medien und
interessant zu lesen und jedem zu empdie Rechte der Opposition massiv zu
fehlen, der die Weltmacht Russland
beschneiden und, nicht zuletzt,
unter Wladimir Putin besser verstehen
Putin sollte der Welt in der hysterischen
will. Aber eine »Enthüllung«, wie es der
Zeit nach dem 11. September als KomUntertitel verspricht, oder gar ein Thrilbattant im Kampf gegen den islamischen
ler, wie es der Haupttitel raunend sugTerrorismus präsentiert werden. Der­
geriert, ist es nicht.
gleichen ist Männern wie Putin dann
schon mal das Opfer einiger MenschenFataler noch: Man fragt sich, wie ein
leben im eigenen Volke wert. Dessen
Verlag von diesem Namen und Format
durften sich seine alten Freunde beim
ernsthaft auf die Idee kommen kann,
FSB sicher sein. Vergleichbares gilt,
einen Titel wie »Der Mann ohne Gesicht«
wenn im eigenen Umfeld aufgeräumt
Putin und sein Freund Medwedew beim Schach | Gemälde in einem russischen Krankenhaus | © S. Baumgärtner
zu wählen und von niemandem im eigeoder hin und wieder ein Zeichen gegen
Das Amt, die Macht und »seine« eigene, über viele offene Fra- allzu viel Mut und Aufklärung gesetzt werden muss. Die Liste
nen Haus, vor allem aber auch nicht von der ansonsten so
kenntnisreichen Autorin darauf hingewiesen wird, dass diese gen hinweg geschriebenen Geschichte bekam »Wladimir Wla- der Toten am Rande von Putins Weg ist lang. Neben kritischen
Bezeichnung nicht nur unterstes Boulevard-Niveau, sondern, dimirowitsch« von einer Gruppe jener smarten Schmarotzer Journalisten finden sich vor allem auch ehemalige Gefährten
der kremlinschen Macht zugeschoben und zugeschustert, die
vor dem politischen Hintergrund, um den es hier geht, auf eine
darauf. »Gestern an seinem Tisch. Heute in deinem Sarg.« Ein
geradezu peinliche Weise absurd ist. Von kaum einer anderen allein es schaffen konnten – freilich, um ihr eigenes Scherflein Sprichwort, das man in Putins Russland zuweilen hört.
Figur im Panoptikum globaler Macht kennt die Welt Gesicht zu sichern, auch schaffen mussten – einen abgehalfterten,
und Charakter besser als von Wladimir Putin. Entscheidender alkoholkranken, nicht mehr vorzeigbaren und kaum mehr Freilich, auch Masha Gessen bleibt die allerletzten Beweise
aber noch: Das Attribut vom »Mann ohne Gesicht« ist seit den steuerbaren Boris Jelzin zu einem Coup d’Etat zu bewegen. So schuldig. Aber weiter als sie kam bislang keiner beim Versuch,
Zeiten des Kalten Krieges vergeben und untrennbar verbun- verbanden sich am Silvesterabend des Jahres 1999 drei Dinge vorhandene Fäden zusammenzuführen, ein Gesamtbild der
auf eine geradezu kongeniale Weise: ein Rücktritt Jelzins ohne Ära Putin zu entwerfen und es zu verknüpfen mit dem Porträt
den mit einer anderen Figur, die zumindest der deutschen
Politik nicht weniger zu schaffen machte als Herr Putin heute: Gesichtsverlust; die Ernennung des kleinen, damals noch und dem Psychogramm eines Mannes,
Markus Wolf, Chef der Auslandsspionage der DDR und zustän- dicklichen, damals schon sprachlich vulgären, sozial ordinäder nie einen Hehl aus seiner Überzeudig für geschichtsprägende Niederträchtig­keiten wie das Ein- ren, vor allem aber formbaren, ehrgeizigen, brauchbar rück- gung machte, dass »russische Demokrapflanzen von Günter Guillaume im Bundeskanzleramt und an sichtslosen Geheimdienstmannes namens Wladimir Putin zu
tie« andere Vorzeichen hat, besonderen
der Seite von Willy Brandt. Sei’s drum – es ist der Verlag, der seinem Nachfolger – ohne Notwendigkeit einer Wahl (stattdes- Gesetzen folgt und keinen anderen als
sen brauchte es nur eine Bestätigung durch die Duma); und ihn jetzt braucht. Die Welt wird sich
mit solchen Peinlichkeiten leben muss.
einen Paukenschlag in den Medien, der garantierte, dass sich
noch für eine Weile mit Wladimir Putin
Masha Gessen macht das Gegenteil dessen, was ihr Verlag die Blicke der Welt am ersten Tag des neuen Jahrtausends auf auseinandersetzen müssen. Und sie täte
behauptet – und überzeugt genau darin: Sie beschreibt keinen nichts anderes als auf Russland richteten. Was für ein Beginn. wohl gut daran, das ein wenig kritischer
»Mann ohne Gesicht«. Sie zeigt, wie einem Namenlosen erst Ein Gesicht gab, seinen Mythos schuf sich Putin anschließend und konfrontativer zu tun. ||
ein Amt übertragen wird, dann »seine« Geschichte zugeschrie- selbst. Durch zielgerichtet provozierte und vom Zaun gebroben, schließlich das Feld der Macht überlassen, auf dem er bis chene Kriege – erst gegen Tschetschenien, dann gegen Georgien. Durch zynisch organisierte Schau­prozesse gegen Oligar- Der Mann ohne Gesicht.
heute mit einem Blutzoll und einer Kaltschnäuzigkeit agiert,
die jeden seiner Kollegen im internationalen Geschäft wech- chen wie Mikhael Khodorkowskij, die Visionen folgten, in Wladimir Putin – Eine Enthüllung
Masha Gessen | Piper, 2012 | 384 Seiten | 22,99 Euro
gesellschaftlichen Wandel investierten und sich ein eigenes
selweise erblassen oder erschaudern lassen.
27. März
17. Februar bis 6. Mai
Vergesst Auschwitz!
Ein Abend mit Henryk M. Broder
Einführung: Rachel Salamander
Literaturhaus | Salvatorplatz 1 | 20.00 | Eintritt 9 Euro
Vom ABC bis zur Apokalypse
Ausstellung in der Staatsbibliothek zu spätmittelalterlichen Blockbüchern
Bayerische Staatsbibliothek, Schatzkammer, 1. Stock | ­Ludwigstraße 16 | Mo – Fr 10–17 Uhr, Do 10–19 Uhr,
Sa/So 13–17 Uhr (vom 6. bis 9. April und am 1. Mai geschlossen) | Eintritt frei | Katalog zur Ausstellung 18 Euro
»Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die
Endlösung der Israel-Frage«, so lautet der provokante Titel eines
Essays, der am 12. März im Knaus Verlag erscheint. Der Publizist
Henryk M. Broder enthüllt die bittere Ambivalenz deutschen
»Erinnerungswahns« und ruft zu engagiertem politischen Handeln
in der Gegenwart auf.
Blockbücher sind im Holzschnittverfahren hergestellte, meist illustrierte Bücher aus dem 15. Jahrhundert. Sie sind die Prunkstücke
einer jeden Bibliothek. 600 Exemplare gibt es weltweit noch, die oft schon so fragil sind, dass sie kaum noch in Ausstellungen
­präsentiert werden können. Die Bayerische Staatsbibliothek zeigt 15 Blockbücher, darunter die »Biblia pauperum«, die sogenannte
Armen­bibel, den »Totentanz«, in dem 24 Personen unterschiedlicher Schichten vom tanzenden Tod aus dem Leben gerissen werden,
oder einen Kalender des Mathematikers und Astronomen Regiomontanus mit den täglichen Mond- und Sonnenkonstellationen.
Im Rahmen eines zweijährigen Forschungsprojekts wurden Farbdigitalisate aller bayerischen Exemplare erstellt. Sie sind im
Internet unter www.bayerische-landesbibliothek-online.de/xylographa kostenfrei zugänglich.
Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz! | Knaus | 176 Seiten |
16,99 Euro
film
Seite 10 · märz · Münchner feuilleton
»Es kommt auf die
Wahl der Mittel an«
Peter Künzel
Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Kinoerlebnis?
Ja, ich war damals erst neun und sah »Aguirre,
der Zorn Gottes« von Werner Herzog – im
Kino des Goethe-Instituts in Mexiko City, in
das ich, weil mein Vater dort gearbeitet hat,
immer mal wieder reingesetzt wurde. Es
waren wahnsinnig imposante Bilder, viel zu
brutal für einen 9-Jährigen: Vor allem erinnere ich mich, wie da dieses lebendige Huhn
mit einem Schwert geköpft wurde; das lief da
einfach durchs Bild. Im Nachhinein betrachtet, war das fast schon so etwas wie eine dokumentarische Irritation, denn alles andere war
komponiert, aber das Huhn war etwas, was
man nicht im Griff hatte, ein dokumentarischer Moment, der mich immer noch beeindruckt.
Alexander Riedel, Regisseur der Filme »Draußen
bleiben« und »Morgen das Leben«,
über seinen neuen Film »Hundsbuam«, über
dokumentarisches Inszenieren und seinen
melancholischen Blick auf München
© Pelle Film | Alexander Riedel
Alexander Riedel
Wird 1969 in Augsburg geboren,
absolviert nach der Schule erst eine
Banklehre, holt dann sein
Abitur nach und beginnt Politik zu
studieren. Später wechselt er an die
Hochschule für Fernsehen und Film
in München. 2007 erscheint sein
Abschlussfilm »Draußen bleiben«.
Sein Spielfilmdebüt »Morgen das
Leben« steht aktuell auf
der Auswahlliste zum Deutschen
Filmpreis 2012.
»Hundsbuam« wird auf dem
27. Internationalen Dokumentarfilmfestival München zu sehen sein,
das vom 02. bis 09. Mai stattfindet.
Es fehlt nicht viel, dass es kippen könnte. | © Pelle Film | Alexander Riedel
Wie sind Sie zum Dokumentarfilm gekommen?
Ich war Fahrer, bei Helmuth Dietl, bei seinem
Film »Rossini«. Da habe ich all die namhaften
Schauspieler ans Set gefahren und dort auch
zum ersten Mal die Strukturen gesehen. Ich
war sehr erschrocken über die Art, wie man
scheinbar Filme machen muss. Dieses Hierarchische und Strenge; dass alles so wahnsinnig
ernst genommen wird, bis ins Kleinste, das
mochte ich nicht, bis heute nicht. Ich mag das
Freundschaftliche, gemeinsam mit Menschen
auf Augenhöhe zu arbeiten, und da bietet das
Dokumentarische viel mehr Chancen, nicht in
einem so eng abgesteckten Rahmen, ohne
Blick aufs Leben. Etwas so brutal und ohne
Rücksicht durchzuziehen, da kam mir der
Dietl fast vor wie Aguirre. Natürlich braucht
es viel Kraft und einen großen Willen, um
Filme zu machen, aber es kommt auf die Wahl
der Mittel an, und es muss Spaß machen,
darum geht’s mir.
ihnen umzugehen. Ich habe ein ernsthaftes
Interesse an den Menschen, das ist vielleicht
der Schlüssel.
»Hundsbuam« heißt Ihr aktueller Dokumentar-Film, über Jungen, die aus der normalen
Schule geflogen sind und in einer Förderklasse noch eine letzte Chance bekommen.
Was hat Sie an dem Thema gereizt?
Ich hab ja etwas ganz Ähnliches schon in
»Draußen bleiben«, meinem Abschlussfilm an
der Hochschule für Fernsehen und Film,
erzählt: die Geschichte von zwei Mädels, die
über Jahre ohne Aufenthaltsgenehmigung im
Asylbewerberheim in München leben; ihre
Freundschaft und auch ihre Probleme hier in
München, in der Schule, im Freundeskreis.
Der Film jetzt bewegt sich in eine ähnliche
Richtung: es geht um ein paar Jungs, alle
ohne Migrationshintergrund, die im Erdinger
Moos leben, also knapp hinter dem Münchner
Flughafen. Die sind erstmal alle ziemlich verloren, kriegen keine schulische Chance mehr
und scheinen an den gesellschaftlichen Rand
gedrängt.
Wofür stehen die »Hundsbuam«?
Von außen gesehen sind die »Hundsbuam«
vielleicht das, was man oberflächlich als
gewaltbereite renitente Jugendliche wahrnehmen könnte. Das Spannende ist, dass du
merkst, es fehlt nicht viel, dass es kippen
könnte. Und zu sagen: Schaut euch das mal
an, wie haarscharf das alles verläuft, warum
und durch welches Glück oder welchen
ungünstigen Zufall sich die Jungs in die eine
oder andere Richtung entwickeln; sie in die-
ser entscheidenden Phase über ein Jahr zu
begleiten – das war sehr spannend.
Auch die Protagonisten Ihrer früheren Filme
waren meist Menschen am gesellschaftlichen
Rand, deren Situation immer auch eine starke
politische Dimension hatte.
Zunächst mal ist das eine innere Haltung, die
alles bestimmt. Es gibt ja keine objektive
Beobachtung. Es ist ja immer ein subjektiver
Blick. Egal ob das der Bildausschnitt ist, oder
ob es die Wahl der Protagonisten ist, oder die
Art und Weise, wie man die Interviews führt,
es ist immer ein dokumentarisches Inszenieren und Verdichten. Und in diesem Verdichten
steckt natürlich schon der Wunsch drin, eine
Aussage zu formulieren, Missstände zu erzählen, sie aber nicht plakativ auf eine Fahne zu
schreiben, sondern den Menschen zu berühren und auf eine Ungerechtigkeit hinzuweisen, aber in einer selbstbestimmten Form der
Protagonisten.
Wie recherchieren Sie und wie nähern Sie
sich Ihren Protagonisten?
Ich fotografiere immer sehr viel im Vorfeld.
Mir sind die Orte sehr wichtig. Ich nähere
mich den Menschen über die Orte an. Ich hab
als erstes bei »Hundsbuam« die Schule
besucht und dort einige Zeit verbracht, die
Lehrer und die Schüler gesprochen und kennengelernt. Ich versuche eine Nähe aufzubauen und vertrauensvoll auf Augenhöhe mit
Wie übersetzen Sie Ihre Recherchen in filmische Situationen?
Erstmal ist es fast so wie in der fiktionalen
Erzählform. Jede Figur hat ihren Lebenslauf,
ihre Eigenheiten. Der eine ist der Coole, der
andere ist der Anführer, der dritte ist der
Schüchterne. Alle haben ihre Merkmale, Stärken und Schwächen und Aspekte, die am
spannendsten das Thema reflektieren. Letztlich ist das der Sprung zum fiktionalen Erzählen, den ich ja mit »Morgen das Leben«
gemacht habe. Ich sehe das als fließenden
Übergang. Ich bin kein Sammler von Bildern,
während die Kamera läuft, ich sammle im
Vorfeld. Die Energie ist am Anfang sehr stark
aufs Sammeln gerichtet, aber dann geht es
ans Konzentrieren, Zusammenschreiben, Verdichten und dann ans Drehen. Es ist eine Art
fiktionales Drehen in einem dokumentarischem Umfeld.
Bei Ihrem Spielfilm-Debüt »Morgen das
Leben« haben Sie tatsächlich eine Art dokumentarisches Drehbuch geschrieben.
Der Ursprung dieses Films war ja mein vierzigster Geburtstag und die Frage, wie geht es
den Menschen um die 40 in München. Ich
wollte wissen: Was habt ihr erreicht? In der
Familie, in der Liebe, im Glück, Sex, Geld und
Job? Und dabei habe ich gemerkt, dass da
ganz viel Selbstbetrug zu finden ist. Gerade in
München, weil es so einen Druck gibt, sich
immer rechtfertigen zu müssen, dass man das
hat und dass es gut läuft. Ich habe aus dem
Recherchierten drei Geschichten geschrieben
und hatte die Idee, die Hauptfiguren mit
Schauspielern zu besetzen und sie dann in ein
echtes Umfeld mit echten Menschen dokumentarisch hineinzuinszenieren; um stark
verdichtet zu erzählen und einer bestimmten
Dramaturgie folgen zu können, wie es sonst
beim reinen Dokumentarfilm nicht möglich
ist. Und genau dieses Aufeinandertreffen von
fiktionalen Elementen und Dokumentarischem hat in einigen Szenen eine unglaubliche Energie entwickelt. Und genau in diese
Richtung möchte ich auch weiterarbeiten:
dramatischer, weil mir wichtig ist, dass alles
möglich ist, dass zum Beispiel im Film auch
jemand sterben kann. Also im Prinzip auch
hier die Idee, aus einer dokumentarischen
Herangehensweise einen Spielfilm zu entwickeln.
Der Filmkritiker Michael Althen hat Ihr München in »Morgen das Leben« als ein München
der Einsamen und Verlorenen gesehen, als
eine Hauptstadt der Melancholie.
Ja, es ist tatsächlich ein melancholischer Blick
auf diese Stadt, weil sich eine gewisse Veränderung immer mehr etabliert. Es nervt, dass
das Geld sich so in den Vordergrund geschoben hat, in der ganzen Münchner Innenstadt,
nicht nur in der Fußgängerzone. Es nimmt
einem die Freiheit dieser wunderbaren Isarluft. Das nervt einfach und ich finde, man
muss in diese Richtung erzählen und weiterhin auf diesen Veränderungsprozess aufmerksam machen, gerade wenn man hier in dieser
Stadt bleiben will. ||
film
Münchner feuilleton · märz · Seite 11
Die
Furcht
ist
real
München im Film | 6
Blake Edwards
The Pink Panther
Strikes Again (1976)
Als es auf dem Oktoberfest noch keine
begründete Angst vor Splitterbomben gab,
konnte man sich ruhig über vertrottelte Terroristen lustig machen. Ohnehin erstickt die
Münchnerische Gemütlichkeit, so zeigt es
uns das infernalische Duo Blake Edwards
und Peter Sellers, Gewaltversuche einfach
mit Riesenbrezn. Eine ganze Armada internationaler Killer kann niemals so rigoros
durchgreifen wie eine langgediente Wiesnbedienung.
Ja, »Inspektor Clouseau, der beste Mann bei
Interpol« (so der deutsche Verleihtitel), darf
im fünften Teil der Pink-Panther-Meditation
einen Abstecher nach Bayern machen, Paris
ist nicht genug. Clouseau, der irre Flic, lernt
schnell, wo es in München am Gefährlichsten wird: Natürlich auf dem Männerklo eines
Wiesnzeltes, wo selbst die Flucht vor den
Urinrinnen ins vermeintlich sichere Kabinchen keinen wirklichen Schutz bedeutet –
außer man bückt sich nach der Klopapierrolle. Monsieur l’inspecteur schafft es
Michael Shannon im Angesicht des Sturmes © 2012 Ascot Elite Filmverleih GmbH
perfekt, sich von nichts beeindrucken zu
lassen – vermutlich ist niemals ein Nichtmünchner mit ausdrucksloserem Gesicht
Florian Koch
Manche (Alb-)Träume sind so intensiv, dass
man sie noch Stunden nach dem Erwachen in
den Gliedern spürt. Aber wie geht man mit
diesen nächtlichen Angriffen auf das Unterbewusstsein um, wenn sie nicht nur die Psyche,
sondern auch die Physis in Mitleidenschaft
ziehen? Diese Frage stellt Jeff Nichols in seinem preisgekrönten Independent-Drama
»Take Shelter«, das sich nahtlos in die zuletzt
stetig wachsende Zahl der Kino-Apokalypsen
einreiht.
Curtis (Michael Shannon) ist ein Mann der
stillen Sorte, einer, der am Bau genau weiß,
was er zu tut hat, und der mit seiner Frau
Samantha (Jessica Chastain) und seiner taubstummen Tochter in Ohio ein friedliches
Kleinstadtleben führt. Für solch einen Mann
der Tat, der die Routine des Alltags zu schätzen weiß, sind Überraschungen, und gerade
solche, die man nicht erklären kann, Gift.
Aber die nächtlichen Visionen – dunkle Wolken, die einen vergifteten Ölregen ausspucken, aggressive Vogel-Schwärme, die in seltsamen Formationen fliegen – lassen sich nicht
ignorieren. Der Frau erzählt Curtis erst einmal nichts, auch wenn seine Stimmung für
alle erkennbar frostiger wird. Aber als ihn
sogar sein geliebter Hund im Traum angreift
und sein Arm am nächsten Tag schmerzt, verliert Curtis die Contenance: Zum Schrecken
aller gräbt er bald einen Schutzbunker, um
Wir leben im Zeitalter
der Apokalypse.
Zumindest wenn
Maya-Kalender
interpretierende Prediger,
selbsternannte Propheten
und Hollywood Recht
behalten.
Mit »Take Shelter«
kommt jetzt eine
besondere Spielart des
Apokalypse-Films in die
Kinos.
seine Liebsten vor einem angeblich alles vernichtenden Sturm zu schützen; die ganzen
Familienersparnisse gehen für diese unheilvolle und kostspielige Vorahnung drauf.
»Ich schrieb den Film, weil ich glaubte, in
der Welt herrsche ein Gefühl vor, das geradezu greifbar war. Diese Furcht war in meinem Leben sehr real, und ich stellte mir vor,
dass es anderen Amerikanern und Menschen
auf dieser Welt genauso ging.« In der Regel
sollte man Künstler aus Selbstschutz nicht
über ihr eigenes Werk sprechen lassen, aber
Nichols umreißt in diesen dünnen Zeilen
doch sehr präzise den Kontext von »Take Shelter«.
Wir schreiben das Jahr 2012 und der Weltuntergang rückt näher – so lange man jedenfalls der schlichten Interpretation des MayaKalenders glaubt, die für den 21.12. das Ende
allen Lebens auf der Erde vorhersagt. Diese
sehr konkrete und abstruse Furcht wird bei
»Take Shelter« zwar nie genau thematisiert,
hängt aber, so wie die bizarren Wolkenformationen, dunstglockengleich über Nichols
Werk. Und auch auf seine merkwürdige Trennung von »Amerikanern und Menschen« gibt
es eine Antwort. Denn die filmischen Untergangs-Hirngespinste haben ihren Ursprung in
den USA, einem Land, das sich durch die
durch das Oktoberfest-Tohuwabohu marschiert.
Die Handlung des Films ist nicht wirklich
wichtig, denn die Reihe lebt schließlich
davon, dass der Protagonist sie selbst nicht
versteht – Ego kommt vor Umgebung – und
Wirtschaftskrise und die Terror-Hysterie im
mentalen Ausnahmezustand befindet. Verantwortlich für die größte Apokalypse-Materialschlacht war schließlich das Spielbergle aus
Sindelfingen. Roland Emmerich inszenierte
vor zwei Jahren mit »2012« den passend betitelten Mottofilm zum Untergangsjahr, packte
am Ende aber doch noch die gute alte Arche
aus, um einen Hoffnungsschimmer an den
Horizont zu zeichnen. Bibelfest gab sich auch
Denzel Washington als einsamer WüstenEndzeitkämpfer in »The Book of Eli«, während
Viggo Mortensen in »The Road« die christliche
Nächstenliebe auf seinen Sohn projizierte. Für
die spannendsten Armageddon-Neurosen
sorgte aber Lars von Tier in »Melancholia«,
dessen unheilvolle Stimmung und genaue
Seelenspiegelungen sich entfernt auch in
»Take Shelter« wiederfinden. Nichols lässt sich
lange Zeit nicht in die Karten blicken, ob denn
seine Hauptfigur nun ein Visionär oder ein –
erblich vorbelasteter – Spinner ist. Dieses
unbehagliche Gefühl des »Nicht-genau-Wissens« überträgt sich auf die Film-Familie.
Nichols analysiert präzise, wie sich die
Konsequenzen einer solchen Verunsicherung
auf die Zukunft auswirken: Die ökonomische
Katastrophe des Ausfalls des Ernährers ist am
Ende viel realer und erschütternder als alle
kursierenden Endzeit-Visionen und Untergangs-Prophetien. ||
in unendlicher Selbstüberschätzung der
eigenen Person durch die Welt stolpert. Ein
narrischer Held, mit Schnauzer, Hut und
einem formidablen Accent auf der Lippe.
Wie unersetzbar Peter Sellers das spielt, mit
vollem Körpereinsatz, ganz in der Tradition
der großen angelsächsischen Komiker,
haben in späteren Jahren Alan Arkin, Roger
Moore, Roberto Benigni und Steve Martin
blamabel demonstriert, als sie an Clouseau
scheiterten. Wie unübertrefflich Blake
Edwards das choreografiert – vom Drehbuch
bis zum Schnitt (was kann da alles schiefgehen!) bewahrt er ein Timing, das kaum einer
seiner Comedy-Nachfolger auf dem Regiestuhl hinbekam. Dank dieses Gespanns
kann niemand mehr das Spionage-Bonmot
»Folgen Sie diesem Wagen!« verwenden, und
dank dieses Films ist die Gefahr beim Überqueren von Hängebrücken und Durchschwimmen von Burggräben für alle Zeit
festgehalten.
David Steinitz
»Take Shelter«
(USA 2011. Jeff Nichols) |
Ab 22. März im Kino
Hässlich, sexy, liebevoll, arrogant, sonnig,
versoffen, größenwahnsinnig, fantastisch,
fanatisch, widerspenstig, geheimnisvoll …
In jeder Ausgabe stellen wir einen wichtigen
München-Film vor – der jedes Mal ein neues
Stadtbild enthüllt: Film-München.
film
Seite 12 · märz · Münchner feuilleton
»Etwas Anarchisches hat der
schon immer gehabt«
Mit seinen Videos und Satire-Projekten sorgt der junge
Münchner Fernsehmacher Philipp Walulis immer
wieder für Aufsehen. Nun ist er für den Grimme-Preis
nominiert worden. Ein Porträt.
Thierry Backes
Ein abgedunkelter Verhörraum. Eine hysterische Kommissarin. Und ein verdächtiger Atom-Lobbyist, der alles abstreitet.
»Blödsinn! Ich kann es gar nicht gewesen sein«, schreit er die
Ermittlerin an, um mit ruhiger Stimme hinzuzufügen: »Weil
wir erst in der Mitte des ›Tatorts‹ sind.«
Nein, Angst vor großen Namen hat der Münchner Autor
und Regisseur Philipp Walulis, 31, nicht. In dem Video »Der
typische Tatort in 123 Sekunden« persifliert er die ARD-Krimireihe, die jeden Sonntag Millionen von Zuschauern vor die
Mattscheibe lockt. Und man muss sagen: Selten hat jemand
das Baukastenprinzip so vieler »Tatorte« derart genüsslich
seziert wie er. Walulis macht sich über den »verkrampft sozialkritischen Einschlag« der Serie lustig, über Produktionshilfen
von BMW, den Drang, in jeder Folge zu zeigen, in welcher
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1.4.12 DOBRÉ Do the Dobré AGAIN
CIRCUS KRONE
23.4.12 WILLY ASTOR
PREMIERE Nachlachende Frohstoffe
27.4.12 BODO WARTKE
Klaviersdelikte
4.5.12 TABLE FOR TWO 25 Jahre
Table for Two – Das Fest
8.5.12 OLAF SCHUBERT
Meine Kämpfe
9.5.12 HELMUT SCHLEICH
Nicht mit mir
17.–19.5.12 HELGE SCHNEIDER
M.-PREMIERE Rettung naht –
Superhelgi auf Tour
12.7.12 ERWIN PELZIG
PREMIERE Pelzig stellt sich
30.9.12 DIETER NUHR Nuhr unter uns
2.10.12 ECKART V. HIRSCHHAUSEN
Liebesbeweise
9.+10.10.12 RENÉ MARIK KasperPop
31.10.12 VOLKER PISPERS Bis neulich
PRINZREGENTENTHEATER
1.10.12 BODO WARTKE König Ödipus
3.10.12 GÖTZ ALSMANN Paris!
24.10.12 GEORG SCHRAMM
Meister Yodas Ende
3.12.12 HAGEN RETHER Liebe
Tickets an allen VVK-Stellen:
Münchenticket www.muenchenticket.de • Tel.: 0 89-54 81 81 81
Eventim www.eventim.de • 0 18 05-57 00 70
Veranstalter: Eulenspiegel Concerts•www.eulenspiegel-concerts.de
Stadt gedreht wurde, und über stereotype Charakterzeichnungen. Genial ist sein Konzept, die Figuren nur auf einer Metaebene sprechen zu lassen: »Gut, dass wir die Leiche immer
ganz am Anfang finden«, sagt die Ermittlerin zu Beginn. »Ja,
ich war’s«, der Täter am Ende, »jetzt lauf ich einfach mal weg,
damit wir eine Verfolgungsjagd haben.«
Im Internet ist der Clip Kult. Allein auf Youtube wurde er
bereits über 365.000 Mal angeklickt, und weil er den Redakteuren von bild.de so gut gefiel, hievten sie ihn auf ihre Startseite. Philipp Walulis kann das nur recht gewesen sein, warben
die Kollegen damit doch für seine neue Comedy-Sendung
»Walulis sieht fern« (Motto: »Fernsehen macht blöd, aber auch
unglaublich viel Spaß!«), die zwischen den Erotikwerbungen
im Mitternachtsprogramm von Tele 5 unterzugehen drohte.
Es liegt wohl auch an dem großen Erfolg im Netz, dass der
Fernsehmacher Anfang Januar mit einer Nominierung für den
Grimme-Preis bedacht wurde. »Es ist surreal, in welcher Reihe
man da plötzlich steht«, sagt Philipp Walulis und meint die
Konkurrenten von der »heute-show«, »Pastewka» und »Stromberg«. »Gottseidank ist auch ›Let’s Dance‹ nominiert, das erdet
einen.«
Das ist so ein typischer Walulis-Satz. Irgendwie frech und
doch charmant. Genau so hat ihn auch der Programmchef des
Studentenradios M94.5 in Erinnerung, Wolfgang Sabisch.
Spricht man ihn auf Walulis an, erzählt er gerne die Geschichte
von der 10. Geburtstagsfeier des Senders im Jahr 2006. Walulis
sollte ihn mit ein paar vorbereiteten Fragen interviewen, um
die geladenen Gäste zu erheitern. »Sagen Sie mal, Herr
Sabisch«, hob Walulis dann jedoch an, »die Kollegen und ich,
wir fragen uns das die ganze Zeit, und ich denke, das hier ist
genau der richtige Rahmen, um Sie das mal direkt zu fragen:
Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag?« Das, sagt Sabisch
heute, habe ihn »arg ins Schlingern gebracht. Aber so ist der
Philipp eben. Etwas Anarchisches hat der schon immer
gehabt.«
Die Karriere des Philipp Walulis aus Pöcking am Starnberger See beginnt 2004 bei M94.5. Er wird bald die treibende Kraft hinter den »Nachtgestalten«, einer
Comedy-Sendung, in der etwa der »kleine
Miels« auftritt, das Alter Ego des »kleinen
Nils«, des süßen Telefonsschrecks von
Antenne Bayern. »Wir haben erst einmal
kopiert, was bei den anderen funktioniert«, erinnert sich Walulis. Wie
schnell die »Nachtgestalten« jedoch
lernen, Absurdes zu überhöhen, zeigen sie am 1. April 2006, als sie das
alternative M94.5 kapern, in »SHIT.fm« umtaufen und nur
noch den »größten Scheiß der Achtziger und Neunziger und
die dümmsten Sprüche von heute« spielen. Zwei Stunden lang
moderiert »Breakfast Bernie« die beste Morning-Show aller
Zeiten – zusammen mit »Karin Kicherschlampe«. Es gibt Werbung für »Puke Duke«, das Bier mit Zimt-Vanille-Geschmack,
einen Blitzerbericht ohne Blitzer und jede Menge aufgeblasener Jingles. Die Persiflage auf das Formatradio der Marke
Energy tut einigen M94.5-Stammhörern so weh in den Ohren,
dass sie schon bald zum Sender pilgern und auf Transparenten ihr Radio zurückfordern.
Einen Schritt weiter gehen Walulis und die »Nachtgestalten«, als sie 2007 das Hiphop-Label »Aggro Grünwald« gründen und als »Die Stehkrägen« ihre Freude am Reichtum besingen. Mit dem Song »Eure Armut kotzt uns an« wollen sie den
seinerzeit angesagten Hartz-IV-Rap aus Berlin auf die Schippe
nehmen, doch die Idee, als reiche Zahnarzt-Kiddies mit Geld
um sich zu werfen, sorgt für heftige Reaktionen im Internet.
Walulis: »So manchen Kommentator hätte ich damals am
liebsten schütteln wollen, um ihm zu sagen: Das ist Ironie,
verdammt, check das doch mal!« Doch selbst Journalisten fallen auf die »Stehkrägen« herein. Zum einen, weil der Tüftler
Walulis Video und Homepage so professionell und authentisch
gestaltet hat, dass das Ganze nur schwer als Satire zu entziffern ist. Und zum anderen, weil sich die Band-Mitglieder, die
sich MC Erbgraf, Yachtmeister oder Goldmann X nennen, in
Interviews eisern an ihren Rollen festhalten. »Wir wollten
sehen, wie weit wir gehen können, und haben gelernt, dass
man Satire im Zweifelsfall abschwächen sollte«, sagt Walulis.
Oder auflösen. Wie schwer es sein kann, sie zu enttarnen, hat
er, der Profi, neulich selbst erfahren müssen. »Ich war bei
einem Konzert des österreichischen Hiphoppers Money Boy,
der sich ähnlich aufführt wie wir damals. Und danach war ich
es, der im Internet verzweifelt rumgesucht hat, um herauszufinden, ob der Typ echt ist.«
2010 dann bastelt Walulis mit alten M94.5-Weggefährten an
seinem ersten TV-Format, »Philipp und Philipp unterhalten
sich«. Viele der Ideen entwickeln er und sein Co-Autor, die
»Nachtgestalt« Tobias Klose, für »Walulis sieht fern« weiter, das
wie sein Vorgänger vom Aus- und Fortbildungskanal afk tv in
München produziert wird. »Im Nachhinein sieht das alles wie
ein logischer Plan aus«, sagt Philipp Walulis. »Aber so war es
nicht. Mir ging es immer nur darum, Spaß zu haben – und
unregelmäßige Arbeitszeiten: Die Vorstellung, die ganze Zeit
in einer Redaktion zu sitzen, bis man mit 35 jegliche Lebensfreude aufgebraucht hat, finde ich unerträglich.«
Bleibt die Frage, wie es mit
»Walulis sieht fern« weitergehen
soll, vor allem jetzt, nachdem
die Nominierung zum
Grimme-Preis das Projekt
geadelt hat. »Also wir
haben Ideen, und wir
führen Gespräche«, sagt
Walulis. »Wenn uns
jemand eine Badewanne
voller Geld hinstellt,
machen wir schon was
damit. ||
Walulis in seiner »Tatort«Parodie als schmieriger und
verdutzter Atomfunktionär |
© Tele 5 / afk.tv
Die erste Staffel »Walulis sieht fern« lief 2011 bei Tele 5,
und 80.000 bis 90.000 Zuschauer waren bei jeder Folge dabei.
Weitere Infos und Videos unter www.walulissiehtfern.de
medien
Münchner feuilleton · märz · Seite 13
Was?
Sie lesen noch auf Papier!
Über das Ende des Formats und wie die Cloud
unsere Kultur verändern wird.
Michael Bartle
Liebe Leser,
Sie sind ganz schön stylisch und verwegen. Oder altmodisch.
Während eine Menge Menschen nur noch von der Cloud
reden, der großen virtuellen Kultur-Garage, in der sie all ihre
Artikel, Bücher und Musik geparkt haben, lesen Sie diesen
Beitrag noch auf Zeitungspapier. Am Ende hören sie Musik
noch auf Festplatte. Oder als CD? Ach, hören Sie doch auf
damit!
Letztes Wochenende habe ich leichten Herzens Kultur-FengShui betrieben. Einen ganzen Koffer voller CDs habe ich aussortiert. Plastikmüll! Ein paar wenige Informationen dieser
Datenträger der Vergangenheit habe ich auf den Rechner
gezogen und in meine Cloud verschoben. Noch habe ich ein
überquellendes Bücherregal, aber immer häufiger steht unser
Laptop mit auf dem Frühstückstisch.
The medium is the message. Die Geschichte der Kultur ist eine
Geschichte der Formate: Und die Cloud könnte das Format
aller Formate werden, ein Nicht-Format, selbst konturlos, das
aber alle anderen pulverisiert. Die Cloud ist der virtuelle Speicherplatz, auf den man mit mobilen Geräten wie Smartphones
oder iPads zugreifen kann – überall dort, wo ein Netz besteht.
Die ganze Familie kann mit jedem Endgerät auf alle Daten,
Bilder, CDs und E-Books zugreifen, egal von welchem Rechner aus. In der Regel kostet dieser Stellplatz je nach Anbieter
um die 10 Euro Miete im Monat für circa 50 Gigabyte.
Damit wird sich Kultur und die Art, wie wir sie produzieren,
wahrnehmen und gebrauchen, ein weiteres Mal fundamental
verändern. In Zukunft werden wir Kultur kaum mehr besitzen,
müssen dafür aber auch keine Kisten von Büchern und CDs
ins Auto hieven, wenn wir umziehen oder in den Urlaub fahren. Es ist der Beginn von Kultur-Konsum ohne Besitz. Und
damit der Abschied vom Haben. Stattdessen wird es um
»access« gehen, um Zugänge.
Wer mehr zum Thema hören will:
Im Podcast-Angebot des Bayerischen Rundfunks gibt es eine
Bayern2/Zündfunk Sendung über
die Cloud von Christian Schiffer
und Michael Bartle zum Nachhören und Herunterladen.
Wie verändert die Cloud unsere emotionale Bindung zu Musik
und Kultur, wenn wir sie nicht mehr besitzen, anfassen, streicheln können? Werden wir unsere Musik anders
hören, wenn sie zu einer reinen Link-Liste geworden ist? Wir werden Bücher doch nicht noch ein
zweites, drittes Mal aus dem Kindle ziehen können
wie aus dem Regal! Gehören zu unserer Kultur nicht
auch die Spuren der Benutzung, der Kratzer, das
Eselsohr, das Altern und Vergilben oder ist das nur
ein nostalgischer Flashback von gestern? Netzvordenker wie der Buchautor und Spiegel-OnlineKolumnist Sascha Lobo pfeifen auf Nostalgie. Kein
Mensch brauche den digitalen Hänger auf der CD,
den Kratzer auf der Platte, das Sich-Verhaken der
DVD. Digitale Nomaden wie der Blogger Michael
Seemann sind erleichtert, dass Ideen und Kultur
nicht mehr an ein Format festgekettet sind, das sie
trägt und das sie, wie das Buchcover, optisch oft
nur leidlich repräsentiert.
Die Cloud wird kommen, keine Frage. Allerdings
sind die Verdienstmöglichkeiten in der Wolke für
unsere Kulturproduzenten alles andere als himm-
lisch. Jedenfalls bisher. Für den Bayerischen Rundfunk hat die
Berliner Band Bodi Bill ihre Vergütung offengelegt. Pro Stream
bei Anbietern wie simfy ist sie am Ende mit weniger als 0,002
Cent entlohnt worden. Nach Abzug aller Unkosten blieben bei
der Gruppe nach einem Monat 9 Euro für insgesamt 16000
Streams hängen. Dafür könnten sie auch Straßenmusik
machen. Aber das Streaming-Modell ist erst am Anfang. Oke
Göttlich von der Plattform Finetunes macht eine einfache
Rechnung auf: Kunden von Streaming-Diensten zahlen 10
Euro im Monat für den Zugriff auf 10 Millionen Songs. Das
sind 120 Euro im Jahr pro Person für Musik und damit in etwa
vier Mal so viel, wie der durchschnittliche Deutsche bisher
dafür ausgibt. Auch e-books und Hörbücher lassen sich streamen, erste Anbieter wie Audiobooks.com oder 24Symbols sind
längst am Start. Die Kulturoptimisten sagen deshalb: Endlich
ein Geschäftsmodell, das ein legales Angebot für die Generation Internet eröffnet, die sich ohnehin – siehe die erfolgreichen Acta-Proteste – von nichts und niemand etwas vorschreiben lässt.
Ob ich Angst dabei empfinde, meine Bücher und CDs zu digitalisieren und in eine Wolke zu verschieben? Nicht mehr als
davor, dass meine Festplatte abrauchen könnte. Oder mein
Handy mit allen Daten zu verlieren. Ich vermute, mein Provider ist sicherer und weniger chaotisch als ich. Und meine
wichtigste Wertsache, mein Geld, ist doch längst virtualisiert
und lagert als Nullen und Einsen auf dem Konto meiner Bank,
ohne dass ich tagtäglich vor Sorgen zusammenbreche ...
Wer garantiert aber, dass alle Menschen diesen Zugang zu
Kultur bekommen? Dass Kultur nicht zum Privileg einiger
weniger wird, verwaltet und bereitgestellt von profitorientierten Unternehmen? Kultur, dies ist ein banaler Satz, macht
unsere Identität aus. Sagt, wer wir sind, wie wir ticken, was für
Werte uns wichtig sind. Die Cloud darf daher keine »gated
community« werden, in der die Nutzungsbedingungen großer
Firmen gelten, die den Zugang zu unserer Kultur regeln. Ob
die Generation Internet in der Lage ist, nicht nur die Macht der
Politik bisweilen zu brechen, sondern auch die der
neuen großen Player wie Google, Apple und Facebook, das wird sich zeigen. Darauf vertrauen sollte
man besser nicht.
Maurice Summen, Sänger der klugen deutschen
Band »Die Türen« fordert deshalb eine öffentlich
zugängliche Kultur-Cloud. Eine Lebensversicherung dafür, dass wir alle weiterhin Zugang haben zu
unserer dann weitestgehend digitalisierten Kultur. In
jedem Fall sollten wir alle gemeinsam konstruktiv darüber diskutieren, wie künftig diese Zugänge verwaltet werden. Immerhin hat die Wolke das große Potential, mehr
Menschen mehr Kultur zugänglich zu machen. Die Notwendigkeit, das Kunstwerk zu reproduzieren, ist dahin.
Denn es ist immer da.
Dieser Artikel gehört nicht mehr mir. Jetzt gehört er
Ihnen. Sie können ihn jetzt ruhig wegschmeißen. Noch
schöner wäre aber, Sie teilten ihn auf Facebook – oder
mit wem auch immer Sie sich gerade rumtreiben. ||
tanz
Seite 14 · märz · Münchner feuilleton
Kommen und Gehen
Leichte Muse und zeitgenössischer Tanz – wie geht das zusammen? Hans Henning Paar
verabschiedet sich, das Gärtnerplatztheater wird renoviert, und wie sich unter neuer Intendanz
das Ballett dort präsentiert, steht wieder einmal in den Sternen. Ein Blick zurück.
Klaus Kieser
In Deutschland gibt es traditionell jede Menge
Mehrspartentheater, doch bedeutet das nun
nicht, dass alle Sparten gleichberechtigt sind.
Welche Sparte als die wichtigste angesehen
wird, bestimmt der Intendant. Der kommt in
aller Regel aus dem Opern- oder SchauspielHans Henning Paar | Augenblick, verweile | 2012 | Fotos: Lioba Schöneck
bereich, und das heißt, dass das Ballett häufig
die ungeliebte Restsparte ist. Die man, falls
bei Sparmaßnahmen erforderlich, am ehesten
zur Disposition stellt.
Das Müncher Staatstheater am Gärtnerplatz, landläufig Gärtnerplatztheater genannt,
ist vor diesem Hintergrund ein Spezialfall in
der deutschen Theaterlandschaft. Die einstige
deutsche Staatsoperette – das Theater erhielt
diesen Titel 1937 und war damit im Dritten
Reich das einzige staatliche Operettentheater
– spielt nämlich seit seiner Wiedereröffnung
1948 Opern in deutscher Sprache und insbesondere die sogenannte leichte Muse, also
Operetten und Musicals. Deshalb brauchte
das Gärtnerplatztheater ein Ballettensemble,
weil ja in Operetten und Musicals Tanzeinlagen integraler Bestandteil sind. Andererseits
will ein Ballettdirektor seine Truppe nicht nur
in Inszenierungen des Musiktheaters tanzen
sehen, sondern auch Tänzerisches mit eigeHans Henning Paar | Romeo und Julia | 2008 | Foto: Ida Zenna
nem künstlerischem Anspruch verwirklichen.
Sofern ihn eben der Intendant lässt.
In den letzten 60 Jahren hat das Ballett am Gärtnerplatzam Gärtnerplatztheater »Die Dame und das Einhorn« – immertheater stets den Primat des (unterhaltenden) Musiktheaters
hin nach einem Libretto von Jean Cocteau (und mit der 17-jähakzeptieren müssen. Dabei hatte es an diesem Haus einen veririgen Veronika Mlakar, die damit den Grundstein ihrer Karriere
tablen Erfolg nur fünf Jahre nach der Wiedereröffnung gegelegte). Diese Uraufführung in der noch jungen Bundesrepublik
ben. 1953 choreographierte Heinz Rosen als Gastchoreograph
stellte ein bedeutendes kulturelles Ereignis dar, das ein »illustres internationales Premierenpublikum« anlockte, wie Otto
Friedrich Regner in der »Zeit« festhielt.
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So viel Flair verströmten die Stücke der choreographierenden Ballettmeister Günter Hess und Werner Stammer, die vom
21 bis 29 April 2012
Ausdruckstanz kamen und bis in die fünfziger Jahre hinein am
Gärtnerplatztheater wirkten, nicht. Auch spätere Ballettdirektoren, wie die Position dann genannt wurde, haben keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, wie etwa Imre Keres oder Ivan
Serti. Erst als Günter Pick 1984 das Ballett des Gärtnerplatztheatertheaters übernahm, gewann die Sparte an künstlerischer
Schlagkraft, konnte die Zahl der Premieren erhöht werden.
Pick, der bis 1996 das Ensemble leitete, holte auch Stücke des
Weltrepertoires ans Haus, wie José Limóns »The Moor’s
Pavane«, Kurt Jooss’ Antikriegsklassiker »Der grüne Tisch«
oder Birgit Cullbergs »Fräulein Julie« – Werke, die man eher
auf dem Spielplan des Balletts der Staatsoper vermutet hätte als
am Gärtnerplatztheater.
Unter Picks Nachfolger Philip Taylor, der viele Jahre unter
Ji í Kylián im Nederlands Dans Theater tanzte, setzte sich diese
Ausrichtung fort, verlagerten sich die eingekauften Stücke in
Richtung zeitgenössische Meisterwerke. So gelang es ihm etwa,
wichtige Choreographien von Rui Horta (»Ordinary Events«),
Das
Robert Cohan (»Stabat Mater«) und Kylián für seine Kompanie
Festival
zu erwerben. Gerade mit der Einstudierung eines für Kyliáns
Laufbahn so bedeutenden Stücks wie »Stamping Ground«
junger
schlug er dem Bayerischen Staatsballett ein gehöriges SchnippRegisseure
chen, reklamierte dieses doch den berühmten Choreografen
qua Renommee zu seinem angestammten Gefilde. Konkurrenz
ist Förderer des Festivals Radikal jung 2012
belebt das Geschäft, konnte man da nur sagen.
Foto: Rich Lam / Getty Images
radikal
jung
Eine solche Profilierung, wie sie Pick
und Taylor unternahmen, war nur möglich mit Unterstützung des Intendanten.
Insbesondere Taylor hatte da mit Klaus
Schultz Glück gehabt. Als Schultz 2007
ging, endete auch Taylors Direktorenzeit. Der Intendantennachfolger Ulrich
Peters holte einen neuen Chef fürs Ballett, das sich nun TanzTheaterMünchen
nannte: Hans Henning Paar. Peters wird
zum Ende dieser Spielzeit München
wieder verlassen und nach Münster ziehen, mit ihm geht Paar, den der zukünftige Intendant Josef Ernst Köpplinger
nicht halten wollte.
Paar wäre allerdings gern an der Isar
geblieben. Denn mit seinem Markenzeichen, narrative Ballette mit einer in
die heutige Zeit passenden Handlung
zu kreieren – egal ob Klassikerneudeutung oder Eigenschöpfung –, war er
zwar nicht ungeteilt bei der Presse,
doch dafür einstimmig beim Publikum
erfolgreich. Er reklamiert für sich, dass
er mit seiner Arbeit Zuschauerzahlen
und Einnahmen im Tanzbereich gesteigert habe: »2010/11 war für das Haus
die beste Spielzeit seit 16 Jahren. Die
Einnahmen des Tanztheaters haben
sich in den letzten vier Jahren, im Vergleich zu meinem Vorgänger Philip Taylor, um 75 Prozent gesteigert. Das Publikum
hat sich verjüngt, das ältere ist aber nicht weggeblieben«, sagte
er in einem Interview mit Malve Gradinger.
Wie sich die Zuschauerzahlen ab Mai dieses Jahres entwickeln, steht freilich in den Sternen. Denn dann beginnt eine
dreijährige Renovierung des Gärtnerplatztheaters; alle Sparten
spielen in Ausweichquartieren in der Stadt, darunter Prinzregententheater, Cuvilliéstheater, Reithalle und für den Tanz
auch Schwere Reiter. Köpplinger bringt aus Klagenfurt den
Choreographen Karl Alfred Schreiner mit, ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Dieser hat jedenfalls Köpplingers Auflage
akzeptiert, dass die Balletttruppe nicht nur in Musicals – wie
schon zu Zeiten von Taylor und Paar –, sondern auch wieder,
wie in fernerer Vergangenheit, in Operetten tanzen wird. Wenn
Schreiner mit seinen Stücken beim kritischen Münchner
Publikum keinen Erfolg haben sollte, weiß er wenigstens schon
eine berufliche Alternative, wie er in einem Interview mit Ingrid
Türk-Chlapek verriet: »Sollte es nicht klappen: Wissen Sie,
ich koche gern. Ich könnte eine Trattoria in Süditalien aufmachen.« ||
augenblick, verweile
Ein Abend über den Tanz zu Musik von Tschaikowsky.
Inszenierung/Choreographie: Hans Henning Paar
Staatstheater am Gärtnerplatz | 29. März, 19.30 | 31. März, 19.00 |
15. April, 15.00 | 18. April, 19.30
Spielplanpräsentation
durch den designierten Staatsintendanten
Josef E. Köpplinger
Staatstheater am Gärtnerplatz | 16. März | 17.00
tanz
Münchner feuilleton · märz · Seite 15
Von Neben- zum Miteinander
Johanna Richters Tanztheater »Intimate Stranger« in der Schauburg.
Gabriella Lorenz
Kennen Sie die Leute, die neben Ihnen im selben Stock des
Apartmenthauses wohnen? Vermutlich nicht. Aber Sie kriegen
doch deren Gewohnheiten mit: Wer wann nach Hause kommt,
ob er seine Fußmatte gerade rückt, ob er Ihnen auf dem Flur
zunickt oder lieber ausweicht. Genau diese Situation macht die
Choreografin Johanna Richter an der Schauburg zum Thema
ihres Tanztheaters »Intimate Stranger« für Jugendliche ab 13
und Erwachsene. Mit ihrem Ensemble aus drei Tänzern und
drei Schauspielern zaubert sie daraus soviel Witz und Situationskomik, dass einem am Ende alle diese vertrauten Fremden
– die anonymen Nachbarn – ans Herz gewachsen sind.
Das Jugendtheater Schauburg hat das Tanztheater seit
Jahren mit Eigenproduktionen und Gastspielen in sein Repertoire integriert. Johanna Richter arbeitet seit 2004 immer wieder hier, auch mit den Ensemble-Schauspielern, die keine
Tänzer sind, und hat mit ihnen schon in »Meeting Point« und
»U Turn« Aufführungen entwickelt, die ebenso unterhaltsam
wie aktuell sind. »Intimate Stranger« ist ein Highlight – mit nur
einem Makel: Es ist eine knappe halbe Stunde zu lang.
Sechs Apartment-Türen, ein Treppenhausflur, ein Lift. Die
sechs Bewohner haben alle ihre Ticks. Der Spanier Gonzalez
(Miguel Fiol Duran) klaut kleptomanisch alles, was im Flur
steht, und hat es vorzugsweise auf den Fußabstreifer von Maifeld abgesehen. Ein Running Gag: Immer, wenn der kleine
Gonzalez zum Mattenklau schleicht, öffnet der große Maifeld
die Tür. Tim Bergmanns Maifeld hat Berührungsängste: Er
nimmt lieber die Nottreppe, als den Lift mit einem anderen zu
teilen. Und versteckt sich in Türstöcken vor den Mitbewohnern. Ungesehen bleiben möchte auch Herr Gruber (Volker
Michl), wenn er in Frauenkleidern ausgeht. Der brasilianische
Blumenverkäufer (Ronni Oliveira) verschenkt Gladiolen an
alle und bleibt sogar heiter, wenn Gonzalez seine Topfpflanzen
stiehlt. Der Grieche Chalkidis (Jannis Spengler) pappt als Ordnungsfanatiker überall Zettel hin und fotografiert durch die
Türspione. Und der slawische Drogendealer (Sasa Kekez)
schließt die eigene Wohnung auf, als wäre er ein Einbrecher,
und vollführt mit Handys Taschenspielertricks.
Geredet wird wenig und nur in der jeweiligen Muttersprache. Wie man sich trotz des Nicht-Verstehens über Körpersprache annähert, erzählen die Darsteller aus fünf Ländern hinreißend komisch, musikalisch getragen von wunderbar atmosphärischen Jazz- und Swing-Songs der 20er- bis 40er-Jahre.
Nach einem kollektiven Disco-Fieber-Ausbruch allerdings
30., 31. März
partita
Choreografie/Tanz: Daniela Graça
mixed pickles
Drei Menschen in einem Raum verpassen sich.
Wie oft? Wieso? Warum?
Choreografie: Daniela Graça
Tanz: Caroline Finn, Claudia Senoner, Jack Waldas
zieht sich’s mit den Verbrüderungen bis zum gemeinsamen
Abendmahl auf dem Flur (Bühne: Mark Rosinski). Da könnte
man gut kürzen in dieser bezaubernden Aufführung über den
unbekannten Nachbarn. ||
INTIMATE STRANGER
Schauburg
20., 21. März, 18. Mai, jeweils 10.30, 19., 20. März, 17.–19. Mai,
jeweils 19.30 Uhr | Telefon 233 37155 | www.schauburg.net
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GoldBerG
variationen
Gods and
doGs
Schwere Reiter | Dachauer Straße 114 | 20:30
Eine neue Choreografin stellt sich vor: Daniela Graça ist seit
20 Jahren als Tänzerin, Choreografin und Lehrerin tätig. Sie
arbeitete in diversen europäischen Kompanien und Projekten,
unterrichtete 10 Jahre an der Amsterdamer Hochschule der
Künste und lebt nun in München.
PremIere
22. 4. 2012
15.,16. März
Throwing Myself in Front of You
Choreografie: Stephan Herwig | Tanz: Zufit Simon,
Mathias Schwarz, Stephan Herwig
Choreographien
jerome robbIns
jIří KylIán
Schwere Reiter | Dachauer Straße 114 | 20:30
Wiederaufnahme: Drei Tänzer mit spezieller Präsenz und
Artikulation präsentieren sich mit Oszillationen zwischen
Fiktion und Authentiziät, zwischen Alltag und Bewegungskunst. Eine Verausgabung vor und ein Spiel mit dem Publikum.
InformatIon/Karten
Anz_GOLD_188x325_Feull.indd 1
t 089 2185 1920
www.staatsballett.de
22.02.12 15:21
augenweide
Seite 16 · märz · Münchner feuilleton
»Hoffen« aus dem Triptychon »Tun, Nichtstun, Hoffen«
Florian Froese-Peeck
Tun, Nichtstun, Hoffen
Eine Ikonografie des
rebellischen Konflikts
Florian Froese-Peeck, geboren 1975 in
München, studierte an der Akademie
der Bildenden Künste bei Prof. Stephan Huber
Bildhauerei. Interaktion mit dem Betrachter
sind wiederkehrende Elemente seiner Arbeiten,
die in zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen gezeigt wurden. Voraussichtlich im
Mai 2012 sind aktuelle Arbeiten von ihm im
Rahmen der offenen Ateliertage im Atelierhaus
Baumstraße zu sehen.
Das Foto-Triptychon »Tun, Nichtstun, Hoffen«
zeigt dreimal denselben Mann in einer nächtlichen Parklandschaft: Liegend symbolisiert
er auf der linken Seite das »Nichtstun«, rechts
irgendwo im Schatten das »Tun«, und schließlich in der Mitte – vor einer Straßenlaterne
betend – das »Hoffen«. Dieses Triptychon
wurde erstmals im Rahmen der Ausstellung
»Erfolg durch Rebellion« in Barcelona 2009
gezeigt.
Der Künstler sagt: »Die Rebellion ist eine temporäre Struktur, in der sich um den Rebellen
die Motive ›Tun‹, ›Nichtstun‹ und ›Hoffnung‹
anordnen. Hinter ihr steht ein wahrer Aufbruch im ›Tun‹, als Potential die pure ›Hoffnung‹ und ihr entgegen steht das fatalistische
›Nichtstun‹. Man rebelliert, weil die Umstände
es verlangen. Allerdings sind bei jedem die
Grenzen anders gesteckt und die Verhaltensweisen höchst unterschiedlich. Sind die Nichtrebellen nicht von Anfang an Gefangene, die
gelernt haben, Kompromisse einzugehen?
Kompensieren sie mit Trugbildern und durch
Verweigerungsgesten, verharren dabei in stiller
Hoffnung? Fühlt sich ein Individuum machtlos, bleibt ihm zunächst nur die Hoffnung.
Solange man sagt, ›jemand habe die Hoffnung
nicht aufgegeben‹, scheint noch nichts verloren. Hoffnung ist das Gegenteil von Resignation und Depression. Aber Hoffnung hat
nichts mit Wahrheit zu tun; sie besteht meist
aus einem naiven Glauben an eine Sache.« ||
Florian Froese-Peeck
Atelierhaus Baumstraße
Baumstraße 8 | 80469 München
www.bildhauerarbeiten.com
kunst
Münchner feuilleton · märz · Seite 17
Sie wanderten zusammen,
machten Reisen,
schilderten die Natur:
Carl Spitzweg und sein Freund,
der Landschaftsmaler
Eduard Schleich. In Dachau
treffen sie sich jetzt wieder.
Landschaft
in Variationen
Carl Spitzweg | »Am Ammersee bei
Schondorf« | um 1860 |
Öl/Zigarrenkistenholz, 15,7 x 32 cm |
Privatbesitz, Foto Christian Mitko
Eduard Schleich d.Ä. | »Münchner Straße«
um 1860 | Öl/Holz, 28,5 x 72 cm |
Gemäldegalerie Dachau, Eigentum Stadt Dachau,
Foto Peter Brunner
Eduard Schleich d.Ä. | »Am Ammersee«
um 1855/60 | Öl/Leinwand, 30,5 x 59 cm |
Privatbesitz, Foto Christian Mitko
Thomas Betz
Was als erstes ins Auge fällt, ist das Licht in
der Landschaft. Schräg bricht es durch die
Wolken, beleuchtet die Ferne, umspielt Gipfel,
belebt die Wolkenhaufen, lässt den Abendhimmel erstrahlen, schwebt als Mondsichel
und erscheint im Regenbogen. Die Motive
und malerischen Zugriffe von Eduard Schleich
wurden prägend für die sich um 1850 entwickelnde Münchner Landschaftsmalerei. Was
als zweites auffällt, sind die verschiedenartigen Rahmen, denn die meisten Gemälde
stammen aus Privatbesitz. Die kleinsten Stücke passen unter eine Handfläche: ein Blick
auf die Silhouette Münchens von Schleich
und ein Beispiel der vielleicht häufigsten
Motivkombination, eine Voralpenlandschaft
mit weidenden Kühen und Hirten am Weiher,
von Carl Spitzweg. Denn um den zweihundertsten Geburtstag von Schleich, einem der
Pioniere der Münchner Landschaftsmalerei,
zu würdigen, wurde ihm ein zugkräftiger
Name beigesellt: sein Freund Spitzweg, der
hier als Landschaftsmaler zu entdecken ist.
Joseph Eduard Franz Xaver Kalistus
Schleich besuchte nach dem Tod der Vaters,
eines verarmten Freiherrn und Staatsrats, den
kostenlosen Unterricht an der Kunstakademie. 1827 inskribierte er im Fach Historienmalerei. Damit sollte es der begabte 14-Jährige
nicht weit bringen: Sein Lehrer, Akademiedirektor Peter von Cornelius, beurteilte ihn als
talentlos und empfahl ihm das Schuhmacherhandwerk.
Aufklärungsliteraten hatten die Schönheit
der bayerischen Landschaft gepriesen, der
englische Garten ließ in München malerische
Ansichten erleben. Schleich suchte nach seiner Entlassung nun als Autodidakt, statt idealisierende Kompositionen zu arrangieren, die
»unverfälschte« Landschaft zu schildern.
Neben dem Kopieren der Alten Meister widmete er sich immer stärker dem Naturstudium, wie es schon Johann Georg von Dillis,
der Pionier der Münchner Landschaftsmalerei, empfohlen hatte. Der hatte seinen Lehrstuhl bereits 1814 wieder aufgegeben. Die
sogenannten Landschafter waren in der akademischen Hierarchie der Genres ganz unten
angesiedelt. Cornelius schmähte sie 1825 als
»Moos und Flechtwerk am Stamme der
Kunst«. Doch sie waren es, die in München
eine neue Blüte der Malerei im 19. Jahrhundert hervorbrachten: wie die Freilichtmaler in
Barbizon oder Maler von Stimmungslandschaften aus dem Norden, die bald auch in
oberbayerischen Mooren ihre Motive fanden.
Schleich konnte sich auch an Carl Rottmann
und dem befreundeten Landschaftsmaler
Christian Morgenstern orientieren. Von den
Horizonten des einen oder den Panoramaansichten des anderen übernahm er später vielleicht das gestreckte Querformat. Was er
schon in jungen Jahren leistete, zeigt das früheste Gemälde der Ausstellung, »Landschaft
mit absterbender Eiche« von 1832 (im Besitz
der Neuen Pinakothek). In der Landschaft
hatte Schleich sein Lebensthema gefunden.
Carl Spitzweg suchte anfangs noch Stoffe
und Sichtweisen. Der Pharmazeut wechselte
zum Malerberuf und trat 1833 in den Münchner Kunstverein ein. Dort traf er auf Schleich,
denn die Kunstvereine waren Netzwerke
nichtakademischer Maler, eröffneten Ausstellungs- und Verkaufschancen. Schleichs Landschaftskunst beeindruckte ihn. Die Freunde
gingen auf Wanderfahrt, reisten nach Italien,
Prag, Paris, London. Spitzweg war mit seinem
Markenzeichen des humorvoll-satirischen
Pointenbilds (dieses Genre galt damals noch
weniger als die Landschaft) zunächst keine
prominente Figur im Münchner Kunstleben.
Ab den 1840er-Jahren wurden beide immer
erfolgreicher, Schleich verkaufte blendend,
musste in seinem Atelier in der Blumenstraße
schließlich Hilfskräfte anstellen, war hoch
angesehen als Ehrenmitglied der Akademie,
langjähriger Juryleiter und als Organisator
der Internationalen Kunstausstellung 1869 im
Glaspalast.Schleich starb 1874 an der Cholera.
Nach der Testamentseröffnung meldete sich
ein unehelicher Sohn, Eduard Zwengauer, der
das väterliche Erbe finanziell und künstlerisch antrat: Er nannte sich Eduard Schleich
d.J. und wurde Maler.
Schleich der Ältere liegt wie sein Freund
Spitzweg auf dem Alten Südfriedhof, und in
Dachau treffen sie nun wieder zusammen, wie
früher schon. Denn Schleich hatte hier viele
Ansichten gemalt, Spitzweg fleißig Land und
Leute skizziert. An den Wänden in der traditionsreichen Gemäldegalerie kann man anhand
von 60 Gemälden Schleichs Entwicklung und
Varianten studieren; ein Einbau präsentiert 30
Beispiele aus der Spitzweg-Welt, vom »Armen
Poeten« bis zu einer kühn abstrahierten Skizze
der Theresienwiese. An den Außenseiten dieses Gehäuses wird Spitzweg als Landschafter
präsentiert. Er malte, oft auf Zigarrenkistenholz, ähnliche Motive wie Schleich, und nicht
nur auf Schleichs Bild der Dachauer Allee
Richtung München dürfte Spitzweg die Figürchen vor den Fernblick in die Landschaft
gesetzt haben. Der Tiermaler und Freund
Friedrich Voltz soll mit Kühen ausgeholfen
haben. Schleich wiederum unterstützte Spitzweg bei der dynamischen Gestaltung des
Himmels. Eine Ausstellung für Liebhaber. ||
Eduard Schleich d.Ä. und
Carl Spitzweg. Eine Künstlerfreundschaft
Gemäldegalerie Dachau
Konrad-Adenauer-Str. 3 | 85221 Dachau |
bis 9. April | Di–Fr 11.00–17.00, Sa, So, Feiertag
13.00–17.00 | Der Katalog kostet 22 Euro.
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von Johanna richter
19./20.3. 19:30 Uhr
Das Kinder- und Jugendtheater der Landeshauptstadt München
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S chau B urg
am Elisabet hplatz
kunst
Felix Burger | »Train B« | 2012 | 3-teilige
Videoinstallation
Seite 18 · märz · Münchner feuilleton
Dem Tod ein
Gesicht geben
Der Künstler Stephan Huber hat in der
Gesellschaft für christliche Kunst eine
­kontemplative, ­irritierende Ausstellung
zu den ­letzten D
­ ingen kuratiert.
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Thomas Betz
Uraufführungen
Konzerte
3. /4. / 6. Mai, Muffathalle
4. Mai, Herkulessaal
Sarah Nemtsov
L’ABSENCE (nach Edmond Jabès)
Regie: Jasmin Solfaghari
Bundesjugendorchester, Leitung: Rüdiger Bohn
5./7./8. Mai, Gasteig/Carl-Orff-Saal
Eunyoung Kim
Mama Dolorosa
Regie: Yona Kim
Staatsorchester Braunschweig,
Leitung: Sebastian Beckedorf
16./18./19. Mai, Muffathalle
Arnulf Herrmann
Wasser
Regie: Florentine Klepper
Ensemble Modern, Leitung: Hartmut Keil
15./16. Mai, Gasteig/Carl-Orff-Saal
Biennale Extra
Studierende der Universität der Künste Berlin
A Game of Fives
Konzert der musica viva/Symphonieorchester des
Bayerischen Rundfunks, Leitung: George Benjamin
Werke von Ligeti, Murail (UA), Messiaen, Benjamin
8. Mai, Prinzregententheater
Münchener Kammerorchester, Leitung: Nicholas
Collon, Werke von Cage, Mozart, Fujikura, Schreker
18. Mai, Gasteig/Philharmonie
Münchner Philharmoniker, Leitung: Long Yu
Werke von Xiaogang Ye („Das Lied von der Erde“),
Xiaoyong Chen, Jia Guoping
Biennale Special
Nucleus 1-8/Helga Pogatschar/Ensemble piano
possibile/Musik zum Anfassen/Alexander Strauch
Veranstalter
In Zusammenarbeit mit Spielmotor München e. V. –
eine Initiative der Stadt München und der BMW Group
Karten über München Ticket
www.muenchenticket.de
Vorverkaufsbeginn: 20. März 2012
»Der Tod ist die Ruhe«, schrieb Cesare Pavese, »aber der
Gedanke an den Tod ist der Störer jeglicher Ruhe.« Wer
denkt also oft an den Tod? Gern? Der christliche Glaube
scheint eine hoffnungvolle Antwort zu bieten auf diese entscheidende Grenzüberschreitung, als die der Tod sich darstellt. Die deutsche Gesellschaft für christliche Kunst, die
seit 1893 zeitgenössische Kunst im Dialog von Kunst und
Kirche fördert, hat sich schon öfter dem Tod als Thema
gewidmet – und nun auch ihre letzte Ausstellung in den historischen Räumen am Wittelsbacher Platz. (Auch Immobilien sind vergänglich, denn Siemens reißt für den Neubau
seiner Zentrale den Gebäudekomplex ab.) Geschäftsführer
und Galerieleiter Wolfgang Jean Stock hat den Münchner
Künstler Stephan Huber als Kurator bestellt. Der wiederum
stellte 22 Werke (teils von Absolventen seiner Klasse an der
Kunstakademie) zusammen, die Gedanken provozieren und
Fragen nach dem Umgang mit Tod aufwerfen.
Was etwa sind Orte des Todes? Umgebungen, Bilder,
Gegenstände, Oberflächen? Leicht zu reinigender Edelstahl etwa, wie in der Pathologie, die uns Krimis und Thriller zeigen? Schauplätze von Kriegshandlungen und Attentaten, die uns die Bildmedien nahebringen? Ein
Passagierflugzeug? Die Video­installation von Felix Burger
etwa versetzt uns in eine U-Bahn, die zwischen Orten des
Todes verkehrt. Und bettet die sanft ineinander gleitenden
Schreckensbilder mit dem Kreischen der Schienen, mit anund abschwellenden Klängen in unser Ohr.
Zeichnungen, Skulpturen, Installationen, Filme hat
Huber zusammengestellt, bildnerische Mittel, mit denen
er selbst als Künstler wie auch als Professor mit den Studierenden arbeitet. Er selbst hat zwei schwarze Stelen von
archaischer Expressivität und frühindustrieller Strenge wie
Totempfähle mit Totenschädeln als Torpfosten im zentralen Raum positioniert, wo Ingmar Bergmans Tod uns
begrüßt. Eine andere Dimension von Skulptur demonstriert das »Tödlein« von Thomas Ort, als Replikat in der
Manier des spätgotischen Bildschnitzers Hans Leinberger
aus dem Holz herausgearbeitet. Das Gerippe mit Pfeilen
und Bogen – Haut und Kleidung hängen in Fetzen am Skelett – kokettiert in drastischer Dynamik mit den ComicIkonen unseres Kunststoff- und Virtual-Reality-Zeitalters.
Nicht das einzige Skelett in der Ausstellung, in der es
aber auch direkt ans Fleisch geht. Die Grenzüberschreitung
des Körpers aus dem Leben in den Stillstand, ins Verschwinden inszenieren etwa ein öbszönes Foto von Sophia Süßmilch, wo der Abschiedskuss, die Totenstarre, die Altersmesalliance von Girl-Senioren-Porno­graphie und nekrophiles
Zungezeigen miteinander oszil­lieren, und ein Film von
Stan Brakhage (1971). In dokumen­tarischem Gestus und
drastischen Nahaufnahmen verfolgt er die Zerlegung des
Körpers, die Handgriffe und Materialexperimente in der
Pa­thologie. Ständige Abschiede: wie es ist, wenn uns der
Tote abhanden kommt. Oder wie es wäre, wenn dem Sterbenden die Welt sich auflöst, zeigt ein Video von Verena
Seibt und Clea Stracke (2012), wo noch während der letzten
Atemzüge die Kulisse des Zimmers und Bettes davongeweht
wird. Filmbilder können, wie es scheint, die Zeit dehnen,
raffen, anhalten oder rückwärts laufen lassen. »Prestroke
Hold« ist die Projektion von Funda (2012) betitelt, das
heißt: der Moment des Hinauszögerns vor der Geste. Die
junge Frau hier hängt – verkehrt herum nach oben – in
der Luft, wie seltsam festgezaubert als Blüte im Wind, als
Fledermaus, als keusche Venus im Kunstpelz.
»Ich bin Günter Saree und sterbe. Bleibt ruhig«, schrieb
der an Krebs erkrankte Aktionskünstler Günter Saree auf
sein Sterbetuch, das er im letzten Lebensjahr als letzten
Willen (und letzte Aktion) bei sich trug. Dass diese Kunstwerke beunruhigen können, das ist ihre Leistung, ist ihre
Aufgabe. ||
TOD. Zweiundzwanzig Kunstwerke –
ausgewählt von Stephan Huber
Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst
Wittelsbacher Platz 2, Eingang Finkenstraße | bis 13. April |
Mo.–Fr. 14.00–18.00 | Eintritt frei | Der Katalog kostet 15 Euro.
BIE_020-12_AZ_Biennale_2012_Muenchner_Feuilleton_RZ.indd 1
01.03.12 15:29
kunst
Münchner feuilleton · märz · Seite 19
Claude Lorrain,­
eigentlich Claude Gellée
Landschaft mit
Gebäuden und Ruinen |
1640/45 | Feder in Braun,
braun laviert, über
schwarzem Stift,
212 x 307 mm |
© Staatliche Graphische
Sammlung München
Kreis des Annibale Carracci |
Schreibender Knabe
(Evangelist Johannes?) |
o. J. | Rötel, 375 x 285 mm
© Staatliche Graphische
­Sammlung München
Annibale Carracci,
Christus erscheint ­Petrus
um 1601 | Rötel, Feder in
Braun, weiß gehöht, auf grün
grundiertem Papier, 197 x 201 mm
| © Staatliche Graphische
­Sammlung München
Pier Francesco Mola | Urteil des Paris | um 1650 | Feder in Braun, braun laviert, 125 x 182 mm |
© Staatliche Graphische Sammlung München
Schätze aus den
Depots: Zum
ersten Mal werden
­Zeichnungen
­namhafter wie
Die heilige Stadt
der Künstler
Barbara Reitter-Welter
Wenn Martin Luther auch viele Gläubige in eine tiefe Krise
stürzte – ungewollt beförderte seine Reformation die Kunst.
Denn während in der protestantischen Kirche aller Bildschmuck verschwand, verstärkte die katholische Konkurrenz
ihre Bemühungen, die Gläubigen zu halten bzw. zurückzugewinnen. Und das mit dem Prunk und der Pracht ihrer Kirchenräume und der Suggestionskraft ihrer Innendekoration. Die
Nachwehen des Konzils von Trient führten zu einer wahren
Aufbruchstimmung in Europa, in deren Folge nicht nur italienische, sondern auch deutsche, französische, spanische und
niederländische Maler in die Stadt am Tiber strömten.
Sollten doch die bildenden Künste wieder in den Dienst des
Glaubens gestellt werden und die kirchliche Verkündigung
unterstützen, was den Künstlern nicht nur Aufträge von Seiten
des kunstsinnigen Adels und des bilderfreundlichen Bürgertums, sondern auch der solventen Kirche bescherte. Dank
eines Erlasses durch Papst Gregor XIII, der den Niedergang
von Malerei, Plastik und Zeichenkunst beklagte, kam es in
Rom zur Gründung einer ersten modernen Kunstakademie in
Europa, der berühmten »Accademia di San Luca«. Durch ihr
Angebot an Kursen wie »Zeichnen nach der Natur«, »Porträt«
und »Landschaft« zog die ewige Stadt weitere begabte Künstler
an. Doch sie verlockte auch durch die berühmten Werke der
Antike, die monumentalen Baudenkmäler und vor allem die
Anwesenheit großer Werke der Malergötter Raffael und
Michel­angelo – sowie durch deutlich höhere Einnahmen.
unbekannter
­Künstler aus dem
Besitz der
­Graphischen
Sammlung
­präsentiert, die Rom
um 1600 zum
Leuchten brachten.
Dieser Umstand steht hinter der Ausstellung »Zeichner in Rom
1550–1700«, in welcher die Graphische Sammlung zum ersten
Mal größtenteils unbekannte Schätze aus ihrem Besitz präsentiert. Die 150 Blätter stammen allesamt aus der umfangreichen
Kollektion des Kurfürsten Karl Theodor, der sie für sein Mannheimer Kunstkabinett in Rom erwerben und sie mit dem
gesamten Kupferstichkabinett 1794 nach München überführen
ließ, wo sie den Grundstock der Staatlichen Graphischen
Sammlung bildeten. Neben einer beachtlichen Reihe großer
Namen enthält sie jedoch auch einige unbekannte Positionen
von ebenso überzeugender Qualität. Die Werke sind im
­Vitrinenkorridor sowie in vier großen Sälen chronologisch
nach dem Geburtsjahr der Zeichner gehängt, nicht etwa nach
Genres wie Landschaft, Porträt, Figurengruppen oder Tierdar­
stellungen.
So lässt sich auf dem Rundgang bestens der stilistische Wandel
vom frühen Manierismus über den Eklektizismus der Spät­
renaissance bis zur sinnlichen Kraft des Barock verfolgen.
Dabei wird deutlich, dass die Künstler zwischen zwei extremen
Polen angesiedelt waren: einem kraftvollen Naturalismus auf
der einen und der idealisierten Sicht auf Mensch und Welt auf
der anderen Seite, was auf einem Konflikt der Zeit beruhte –
der Diskrepanz von Glauben und Wissen. In der Ausstellung
begegnet man wahren Meisterwerken der Zeichenkunst in den
verschiedensten Techniken: Zwei Aktstudien von Bernini, eine
Serie feiner Damenbildnisse aus der Werkstatt des Porträtspezialisten Ottavio Leoni, Heilige in dramatischer Lichtregie von
Caravaggio sind zu sehen, Blätter in Röteltechnik, auf denen
die Gebrüder Carraci alltägliche Szenen und biblische Motive
festhielten, aber auch Claude Lorrains atmosphärisch dichte
Landschaftsräume mit ihrer Tiefenstaffelung, detaillierte
Architekturzeichnungen der Deutschen Sandrart und Roos
und schließlich Adam Elsheimers populäre Zeichnung »Der in
Armut verzweifelte Künstler«. ||
Zeichner in Rom 1550–1700
Staatliche Graphische Sammlung in der Pinakothek
der Moderne
Barer Str. 29 | bis 13. Mai | Di–So 10.00–18.00, Do 10.00–20.00 |
Der reich illustrierte Bestandskatalog kostet 36 Euro.
kunst streifzug
Seite 20 · märz · Münchner feuilleton
ERIKA WÄCKER-BABNIK
Rund siebzig Galerien gibt es
in München. Hinzu kommen
zahlreiche Institutionen, die
Begegnungen mit zeitgenössischer Kunst ermöglichen.
Eine aktuelle Auswahl.
zu monochromen, je nach Lichteinfall changierenden, farblich an- und abschwellenden
Flächen verbinden. Im Ambiente des gleißenden White Cube tritt jede noch so leichte
Unebenheit der auf Leinwand gespannten
edlen Stoffe, jeder gezogene Faden schonungslos zutage, so dass handarbeitsbeflissene Besucherinnen dem Künstler bei der
Eröffnung gleich mit Ratschlägen zur Seite
standen. Ebenso auffallend ist der formale
Dialog, der sich zwischen den monumentalen,
fein strukturierten Hoch- und Querformaten
und den Wänden, Fenstern, Heizkörpern und
Durchgängen des Kunstvereins entfaltet.
als Requisiten in den ursprünglichen Künstlerfilmen dienten, tauchen wiederum in den
nachgedrehten Sequenzen auf und hängen
gleichzeitig als Originale in der Ausstellung.
Pohles bemerkenswerte Arbeiten sind erstmals in München zu sehen.
Mona Hatoum
Sammlung Goetz
Oberföhringer Str. 103 | bis 5. April
Mo–Fr 14–18, Sa 11.00–16.00 | Eintritt frei, nur
nach Vereinbarung | Tel. 089 9593969-0
Willem de Rooij
UNTILTED
Lucía Falconí
Kunstverein München e.V.
Galeriestr. 4 | bis 15. April | Di–So 10.00–18.00
Skulpturen und Bilder
Selten war eine Ausstellung in den Räumen
des Kunstvereins mit so einem intensiven
Raumerlebnis verbunden: Es scheint, als solle
der teuren Neurenovierung die gebührende
Willem de Rooij | Kunstverein München, 2012
Aufmerksamkeit verliehen werden. Tatsächlich
entwickeln die Webarbeiten des niederländischen Künstlers Willem de Rooij (geb. 1969)
hier die Eigenschaft, den Blick des Besuchers
unwillkürlich auf die Architektur zu lenken.
Das liegt an der äußerst reduzierten Hängung,
die ganze Wände ausspart, vor allem aber an
der spezifischen Qualität der Arbeiten: ihrer
monumentalen Form, ihrer Stofflichkeit und
ihrem farblichen Minimalismus.
Kunstvereinsleiter Bart van der Heide
spricht von einer »experimentellen Ausstellung« insofern, als die Webarbeiten des in
Berlin lebenden Künstlers erstmals nicht im
Kontext von »Referenzobjekten« wie Skulpturen, Film, Fotografie, Mode etc. präsentiert
werden wie bisher, sondern als abstrakte
Kunstwerke, die für sich allein stehen. Allenfalls Eingeweihten erschließt sich das interne
Bezugssystem der Arbeiten zu vorangegangenen Ausstellungen und Installationen. Losgelöst von konzeptuell aufgeladener Bedeutung
werden sieben Arbeiten aus den vergangenen
drei Jahren gezeigt, die nach einem handwerklich kunstvollen Verfahren mit einander
überkreuzenden Fäden so gewebt sind, dass
sich die verschiedenen Farben aus der Ferne
Elisabeth Heindl
Zeichnung und Installation
Galerie Bezirk Oberbayern
Prinzregentenstr. 14 | bis 13. April |
Mo–Do 8.00–17.00, Fr 8.00–13.00 | Eintritt frei
Auch wenn sie in dieser Ausstellung zusammengebracht wurden, sollte man gar nicht
erst versuchen, eine Verbindung zwischen den
beiden künstlerischen Positionen herzustellen: Die Arbeiten von Lucía Falconí (geb.
1962) und von Elisabeth Heindl (geb. 1960) –
beide studierten an der Münchner Kunstakademie, wurden mit Stipendien und Preisen
ausgezeichnet – könnten unterschiedlicher
nicht sein. Man tut gut daran, sie getrennt
voneinander zu betrachten, so wie die Kunstwerke auch räumlich unabhängig voneinander gezeigt werden.
Die Objekte und Bilder Lucía Falconís
stellen mit ihrem eigenwilligen Zusammenspiel von Kunst und Kitsch, mit barocker
Opulenz, expressiver Farbigkeit, floralen
Sujets und rätselhafter Metaphorik die Seherfahrung des Betrachters auf den Kopf. Manch
einer fühlt sich von so viel ungewohnter
Üppigkeit überfordert, doch erklärt sich die
künstlerische Haltung aus der ecuadorianischen Herkunft der Künstlerin: Naturszene-
Anzeige_Bay_Phil_65x105_Orff_65x180 24.02.12 18:06 Seite 1
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Prinzregententheater München
24. & 25. März 2012, 19 Uhr
Mühlviertler Quintett, Dumfart Trio u.a.
Solisten und Ensembles der Münchner Schule für
Bairische Musik und der Bayerischen Philharmonie
Gesamtleitung: Mark Mast
Bairische Musik & Carmina Burana
BAYERISCHE
PHILHARMONIE e.V.
Kartenvorverkauf: Geschäftsstelle der Bayerischen Philharmonie e.V.
unter Telefon 089-83 66 06 und info@bayerische-philharmonie.de
sowie bei www.muenchenticket.de
Preise: € 59 / € 49 / € 39 / € 29 Schüler und Studenten 50% Ermäßigung
www.bayerische-philharmonie.de
Lucía Falconí | Lo agarraron 1492, aus der
Serie ¡Yasuní, Oh Yasuni! | 2011 | Öl auf Leinwand,
Porzellan, 48 x 40 cm | Foto Christoph Hirtz
rien aus dem Regenwald im ovalen Rahmen
aus weißen Porzellanblumen, in Bronze
gegossene vegetabile Objekte, Orchideen im
ornamentalen Kupferrahmen – den dekorativen Stücken wohnt eine eigenwillige Poesie
inne, die dem Zusammentreffen verschiedener Welten zu entspringen scheint.
Die linearen Zeichnungen, plastischen
Wand- und Rauminstallationen der Münchnerin Elisabeth Heindl thematisieren Phänomene der optischen Wahrnehmung, der Perspektive und der Bewegung und machen Raum
erfahrbar. Das Prinzip ist oftmals denkbar
einfach, aber effektvoll: So erscheinen die farbigen Aluminiumplatten, die an Gummibändern an die Wand gespannt sind, durch die
vermeintlichen Fluchtlinien als dreidimensionale Objekte, die sich auf den Betrachter
zuzubewegen scheinen. Die Tuschezeichnungen auf übereinander gelegten Reispapieren
der Klotho-Serie deuten die Verschiebung
eines Quaders an. Vor dem Hintergrund die-
Elisabeth Heindl | Arbeit aus der Serie »Klotho« |
2011 | Tuschezeichnung auf transparentem Reispapier,
140 x 77 cm
ser Effekte lassen sich dann auch die bewegbaren Scherengitter-Objekte lesen, mittels
derer man perspektivische Wahrnehmung im
Raum selbst erproben soll.
Oft sind die Doppelausstellungen des
Bezirk Oberbayern ästhetisch und inhaltlich
schlüssig, die Verbindung Falconí – Heindl
diesmal erscheint sehr willkürlich.
1997 präsentierte Ingvild Goetz die Künstlerin
Mona Hatoum (geb. 1952) erstmals im Rahmen ihrer Ausstellung »Art from the UK«,
einer Auswahl sehr unterschiedlicher künstlerischer Positionen, die unter dem Etikett
»Young British Artists« als schrilles und rebellisches Exportgut der Ära Thatcher international für Aufsehen sorgten.
Schon damals stach die palästinensischbritische Künstlerin aus der Ausstellung mit
ihrer überraschenden Vielseitigkeit und der
inneren Konsequenz ihrer Arbeiten hervor,
egal ob sie auf das Schockerlebnis setzt wie in
ihrer Video-Installation »Deep Throat«, mit
der sie den Besucher an den gedeckten Tisch
einlädt und ihm auf dem Teller den Blick in
den Schlund präsentiert, oder ob sie – zart
und subtil – Kugeln aus eigenem Haar auf
dem Boden verteilt, oder ob sie Küchenutensilien
in bedrohlich wirkende skulpturale Objekte
verwandelt.
Sascha Pohle
Lothringer_13_Halle
Lothringer Str. 13 | Di–So 11.00–19.00 |
bis 1. April | Eintritt frei
Sascha Pohle (geb. 1972) beschäftigt sich in
seiner Kunst mit dem Thema der menschlichen Individualität, Nachahmung und Kopie
sowie der Authentizität. Mittels unterschiedlichster künstlerischer Medien wie Video,
Fotografie, Installation, Zeichnung und Malerei geht er der Frage nach, in welcher Weise
sich Menschen Vorbilder aneignen, sie imitieren, und ob und in welcher Weise sie dabei zu
Kopien dieser Vorlagen werden. Was bedeuten
Authentizität und subjektive Einzigartigkeit in
einer Zeit der medialen Überpräsenz und
Überflutung mit vermeintlichen Leitbildern?
Entsteht in der Vermischung von Individuum
und Vorbild nicht wieder etwas anderes, etwas
Neues und letztlich wieder Individuelles?
Das Kopieren und Nachahmen von kulturellen und personellen Mustern wird von
Sascha Pohle auf eine sehr komplexe, teils
dokumentarische, teils ästhetisierende, teils
unterhaltsame Weise in seinen künstlerischen
Arbeiten verhandelt. Wissenschaftlich-dokumentarisch aufbereitet etwa ist die Arbeit
»German Indian«, in der sich der Künstler
mittels Zeichnungen, Fotografien und in Vitrinen präsentierten Artefakten mit dem Phänomen der Hobbyindianer auseinandersetzt –
einer Form von Rollenspiel, das die Identifikation mit einer Kultur zum Ausdruck bringt,
die ihrerseits durch die Karl-May-Verfilmungen
stark romantisierend vorgefiltert ist.
Sascha Pohle | Reframing the Artist | 2010 |
Still, Video HD DV, 35 Min. | © Sascha Pohle
Amüsant wiederum sind zwei der VideoArbeiten, die sich mit Doppelgänger-Rollen
befassen: In »Reframing the Artist« etwa spielen chinesische Maler berühmte Künstler
nach, die wiederum in Spielfilmen nachgestellt worden sind. Kopien von Gemälden, die
Mona Hatoum | Hot Spot III | 2009 | Edelstahl,
Neonröhre, 234 x 223 x 223 cm |
Ausstellungsansicht Sammlung Goetz 2011 | Courtesy
Sammlung Goetz | Foto: Thomas Dashuber, München
Inzwischen wurde Mona Hatoum längst
vom marktschreierischen Label der »Young
Brit Art« befreit und die Sammlung Goetz um
einige wichtige Arbeiten der Künstlerin – u.a.
auch frühe Videos ihres performativen Werks
– erweitert. Seit Jahren weltweit in großen
Museen und auf den wichtigsten Biennalen
präsent, ist Mona Hatoum nun mit bedeutenden Werken aus drei Jahrzehnten in München
vertreten, die derzeit in einer sehenswerten
Einzelausstellung im exklusiven Ambiente
des Privatmuseums der Sammlerin gezeigt
werden: Eine Künstlerin, die die Welt mit kritisch-analytischem Blick betrachtet und für
ihre inhaltlichen Botschaften immer wieder
überraschende, ästhetisch eindrucksvolle
Formulierungen findet. Zu den jüngeren
Arbeiten zählen eine Reihe von Installationen,
die – nicht nur im wörtlichen Sinne - ihre
Spannung durch Elektrizität beziehen:
Gleichsam bedroht wie bedrohlich wirkt der
riesige Globus »Hot Spot«, dessen Kontinente
durch alarm-rote Neonröhren nachgezeichnet
sind. Nicht minder unheimlich auch die
zischende und blinkende Installation »Home«,
bei der Kochutensilien aus Metall unter Hochspannung zu stehen scheinen. Dass sich das
Weltgefüge im Auflösungsprozess zu befinden
scheint, illustriert die Bodenarbeit »Undercurrent«: Ein Web-Teppich aus Stromkabeln zerfleddert an den Rändern und verläuft in einem
Kranz aus an- und abschwellenden Glühbirnen. ||
design
Münchner feuilleton · märz · Seite 21
Stahlbroschen
& Trash trouvées
Das Armband »Charms« vereint Stücke
von sieben Schmuckautoren | Foto: Achim
Graf, Courtesy Galerie Wittenbrink
So üppig wie irritierend: Anhänger
von Lisa Walker | Foto: Lisa Walker
Schmuck als Handwerk, als Kunst, als kritische Praxis:
Faszinierende Objekte aus 27 Ländern lassen sich auf der
Schmuckwoche entdecken.
ASTRID MAYERLE
Für den Begriff »Zaus« ermittelt Google nur
eine Recherchealternative: nämlich den römischen Gott Zeus. Womit bewiesen wäre, Wikipedia und Co. weisen schwarze Löcher auf.
»Zaus« findet man dagegen in einem anderen
lexikalisch sortierten Begriffsinventar: ABECEDARIUM heißt das neue, äußerst ideenreiche Buch des Münchner Goldschmieds Peter
Bauhuis. Er definiert »Zaus« wie folgt: Abkürzung für zeitgenössischen Autorenschmuck.
Die Schmuckwoche 2012 widmet sich vom
14. bis 30. März allen nur denkbaren Spielarten des Zaus: Objekte, die sich im Grenzbereich zur Skulptur, zur Mode und zum Design
befinden. Schmuck, der tragbar sein kann,
aber nicht muss. Arabesken, die die Einzigartigkeit ihres Trägers feiern oder anders: extravagante Gebilde, die dem menschlichen Narzissmus seine schönsten Seiten abgewinnen.
Egal ob unmittelbar auf der Haut getragen, ans
Revers gesteckt, um den Rolli gewunden.
Manche Objekten traut man auch eine Karriere als ebenso beiläufige wie faszinierende
Stillleben zu: auf dem Fensterbrett oder im
Bad unter dem Spiegel.
Letzteres passt sicher auch zu den Objekten
des australischen Newcomers Simon Cottrell:
Aus Schiffsstahl entwirft er geheimnisvolle
Gebilde, bestehend aus verschiedenen, sich
aneinander schmiegenden geometrischen
Körpern. Fein geschliffene, ineinander greifende Miniaturzargen erinnern noch einmal
daran, dass Stahl eigentlich eine robuste Natur
hat und eine vielseitige Geschichte. Christian
Hoedl, Kurator der Ausstellung in der Galerie
Von Argentinien bis Kanada, von Australien
bis China, von Israel bis Estland: Die Sonderschau auf der Internatonalen Handwerksmesse
ist ein Treffpunkt von Schmuckkünstlern aus
aller Welt, die auch in zahlreichen Ausstellungen, mit Events und Performances in der Stadt
ihre Werke präsentieren. Eine Auswahl.
Wittenbrink, konfrontiert die abstrakten Broschen Simon Cottrells mit der bizarren Vanitassymbolik der New Yorkerin Mielle Harvey:
Sie lässt in ihren Gussobjekten Bienen an Pilzen herumknabbern. Motive, wie aus der
Kulisse von Alice in Wonderland herausgeschält.
Die Münchner Schmuckszene verdankt
ihre neuen Talente vor allem der Akademie
der Bildenden Künste. Die Klasse Otto Künzlis, Professor für Schmuck, ist bekannt für ihre
legendären Inszenierungen bei den Jahresausstellungen der Akademie: Hier gab es
bereits Schmuck an lebendigen Stillleben und
Objekte, die geheimnisvoll aus nachtschwarzen Lichtschächten auftauchten. Einige Nochoder Ex-Künzlianer sind auch auf der
Schmuckwoche vertreten: Die Galerie Wittenbrink präsentiert Armbänder, die mit mehreren Miniaturobjekten von ehemaligen Studenten und Otto Künzli selbst bestückt sind.
Akihiro Ikeyama radelt eine Mobile Gallery
durch die Stadt und Lisa Walker ist in der
Galerie Biro zu sehen. Die Neuseeländerin
experimentiert mit Fundstücken aller Art. Aus
Spielzeug, Perlen, Stoffen und Abfallmaterialien entstehen absurde Trash trouvées. Lisa
Walker spielt auch häufig mit dem Format, sie
entwirft Monsterbroschen und XXL-Ketten.
Alles ebenso komisch wie geheimnisvoll. Die
Schmuckwoche zeigt aber auch handwerkliche Facetten: Etwa die klassischen Emailleobjekte, die in der Galerie Handwerk zu sehen
sind. Unter dem Titel »Die Renaissance des
Emaillierens« stellen mehr als vierzig Gestal-
ter aus Großbritannien, Italien, Spanien und
den USA aus. Überhaupt ist die Schmuckwoche als Treffpunkt der Szene sehr international ausgerichtet und präsentiert in diesem
Jahr Entwürfe und Objekte aus siebenundzwanzig Ländern.
Die Neue Sammlung in der Pinakothek der
Moderne zeigt die jüngsten Ideen der Konstfack Stockholm unter der Leitung von Karen
Pontoppidan. »Die Objekte sind in dieser Form
entstanden, weil ein Künstler, ein menschliches Wesen mit Erfahrungen, Gefühlen, Träumen und Fehlern, sie so hervorbringen wollte
und geschaffen hat«, so Karen Pontoppidan
über ihre Studenten. Nicht weit von der Pinakothek entfernt, in der Galerie Spektrum, sind
Objekte der Professorin selbst zu sehen. Ihre
Ohrringe und Kettenanhänger tragen charmante Metallgravuren, außerdem betreibt
Karen Pontoppidan eine ironische Rettung des
Siegelrings in Zeiten digitaler Kommunikation. Übrigens trifft man in der Galerie Spektrum auch verschiedene Klassiker des zeitgenössischen Autorenschmuck, darunter den
Niederländer Ruudt Peters.
Der ganz große Rundumschlag ist auf dem
Messegelände bei der diesjährigen »Handwerk
und Design« möglich. Die Sonderschau zeigt
65 internationale Goldschmiede und Schmuckgestalter, neue Talente ebenso wie prämierte
Klassiker. Außerdem wartet hier eine Überraschung besonderer Art: eine Schmucktombola
der Klasse Künzli. Man darf spekulieren, ob
oder in welcher Weise das verheißungsvolle
Motto eingelöst wird: »Everyone’s a winner!« ||
Akihiro Ikeyama
Mobile Gallery
www.akihiroikeyama.com
Peter bauhuis
Buchpräsentation ABECEDARIUM
Galerie Handwerk | 16. März | 11.00 |
www.artfree.de
Schmuck-Show 2012
»Schmuck braucht den Körper!«
MaximiliansForum | Fußgängerunterführung
Altstadtring | 14. März | 21.00 |
www.maximiliansforum.de
Wittenbrink zeigt Schmuck
Fünf Höfe, Theatinerstr. 14 | 17.-24. März |
10.00-19.00
Ruudt Peters Corpus | 30 Jahre galerie
Spektrum
Theresienstr. 46 | 16. März bis 28. April |
Sa 11.00-14.00, So 13.00-18.00, Mo 13.00-19.00 |
www.galerie-spektrum.de
Ädellab. Konstfack Stockholm
Pinakothek der Moderne | Barer Str. 40 |
17. März-29. April | www.die-neue-sammlung.de
schmuck 2012
Neue Messe München | Halle A1 »Handwerk &
Design« | 14.– 20. März | 9.30–18.00
Gesamtprogramm unter: www.ihm-handwerkdesign.com/besucher/highlights/
Playlist
Doris Betz und Henriette Schuster
Geschäft | Rothmundstr. 6 | 15., 16., 18. März |
13.00-18.00
Everyone´s a winner!
Schmucktombola der Klasse Otto Künzli
Neue Messe, Halle A1 | 17. März | 15.00
Die Renaissance des Emaillierens
Galerie Handwerk | Max-Joseph-Str. 4 |
bis 14. April | www.hwk-muenchen.de/galerie
What’s in a Frame?
Welserstr. 15 | 15.-18. März, Do 17.00, Fr 10.0018.00, Sa/So 10.00-14.00 | www.3stations.de
Mia Maljojoki
Crossing the Line, Performance
MaximilansForum | 17. März | 14.00-17.00
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bühne
Seite 22 · märz · Münchner feuilleton
Theaterbretter als Lebensretter
To be or not to be? Wie sinnvoll sind Bühnenstücke auf Englisch
im deutschen Sprachraum? Laut Elisa Moolecherry, der Leiterin des Münchner BeMe Theatre,
macht das Theater die Existenz erst lebenswert.
Christine Madden
Ein Weltuntergang hat eine gewisse Erotik. Spätestens seit der
cineastischen Besamung eines enormen Himmelskörpers
durch die vergleichsweise winzige Erde in Lars von Triers
»Melancholia« wissen dies nicht nur Künstler, sondern auch
die gefesselten Zuschauer.
Das Bühnenstück »boom« von Peter Sinn Nachtrieb, das
demnächst im amerikanischen Original von der Münchner
Kompanie BeMe Theatre präsentiert
wird, zeichnet eine eher skurrile Vision
der Apokalypse: Fortpflanzung als salvator mundi. Obwohl diese düstere
Komödie letztendlich auch alle Hoffnung aufs Überleben ersticken lässt,
bietet sie jedoch eine Art Erlösung –
auch wenn diese für unsere erbärmliche Spezies leider zu spät kommt.
Für die Intendantin des BeMe,
Elisa Moolecherry, stellt das Theater
selbst eine Art Lebensrettung dar. Seit
die gebürtige Kanadierin 2005 die
Kompanie in Barcelona gegründet hat,
ist sie bestrebt, intelligente, kurzweilige Stücke in englischer Sprache auf
die Bühne zu bringen.
Eigentlich wollte Moolecherry
ursprünglich Mathematik und Philosophie studieren. Eine Lehrerin hatte sie
aber überredet, an einem strengen
Auswahlverfahren für ein Schauspielstudium in Montreal teilzunehmen.
Ihre erfolgreiche Aufnahme in das Programm hat ihr Leben verändert. Nach
der Ausbildung kehrte sie in ihre Heimatstadt Toronto zurück, wo sie hauptsächlich in Fernseh- und Filmarbeiten
mitspielte. Das flache Niveau und die
lauen Herausforderungen haben sie
jedoch frustriert. »Ich fühlte mich etwas
intelligenter als die Arbeit, die ich machen musste,« erinnert sie
sich. Die Enttäuschung ließ ihre Welt zusammenbrechen.
Desillusioniert floh Moolecherry nach Barcelona, um sich
von dem Sog einer Depression zu befreien. Aber nach wenigen
Monaten spürte sie wieder trotz allem eine heftige Sehnsucht
nach der Bühne. »Ich konnte keinen Film sehen, ohne auf die
Schauspieler wahnsinnig eifersüchtig zu werden,« sagt sie. Aus
dieser Leidenschaft entstand die erste Aufführung des BeMe
Theatres. Ihr Partner und Ehemann Felix Leicher, den sie während Dreharbeiten in Toronto kennengelernt hat, brachte sie
dann nach München. Obwohl er als Architekt tätig ist, übernahm er die Produktionsleitung der Kompanie.
Nach bislang zehn meist ausverkauften Inszenierungen in
München erfreut sich Moolecherry, jetzt Mitte dreißig, eines
Das Theater erzeuge ein Gefühl von Community in einer globalisierten, multikulturellen Gesellschaft. Gleichzeitig sei es
Zweck des Theaters, »der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten«, zitiert Moolecherry aus Shakespeares »Hamlet«, damit
wir das Gesicht der Gegenwart erkennen können.
Sprache ist jedoch eher nebensächlich, was das nackte
Überleben während des Weltuntergangs betrifft – wie das
Stück »boom« beweist. Da kommt es
eher darauf an, weltbewegenden
Geschlechtsverkehr zu genießen, oder
zumindest zu erdulden. Zum Auftakt
meldet sich die Journalistikstudentin
Jo auf eine Internetannonce, die »Sex,
der das Ende der Welt verändert« verspricht. Umso bitterer ist die Enttäuschung, als sie den Meeresbiologen
Jules trifft, der alles andere als eine
Bettkanone ist. Der Sonderling hat
jedoch andere Fähigkeiten vorzuweisen: Ein scharfes, wissenschaftliches
Beobachtungsvermögen, das ihn das
rätselhafte Verhalten verschreckter
Meeresfische entschlüsseln lässt. Diese
Erkenntnis versucht er in eine Überlebensstrategie umzusetzen, mit irrwitzigen Folgen.
Obwohl es die Sinnlosigkeit der
menschlichen Existenz fokussiert, feiert das Stück auch die zähe Eigenschaft
des Lebens, zu überdauern und weiterzubestehen. Für Moolecherry verleiht
das Theater dem Leben einen Sinn. Dafür
lebt sie. »Immer, wenn ich die Zuschauer
nach der Vorstellung diskutieren höre,
weiß ich, warum ich diese Arbeit mache,«
Frau und Fisch in schöner Eintracht – ob das so ist, wie es aussieht,
betont sie. Theater sei ihr »drug of choice«
fragt das BeMe Theatre in Peter Sinn Nachtriebs Stück »Boom«. Foto: Felix Leicher
– ihr bevorzugtes Rauschmittel. ||
großen und sehr treuen Publikums, obwohl die Stücke in englischer Sprache ohne Übertitel aufgeführt werden. Künstlerisch gesehen spielt für sie die Sprache eine Nebenrolle. »Ich
will nicht als ›englischsprachiges Theater‹ abgestempelt werden,“ erklärt sie. Auf der anderen Seite erkennt sie, dass »man
nicht mehr ignorieren kann, dass Englisch wahrscheinlich die
häufigste Zweitsprache ist, wenn nicht gar die erste Sprache«.
BOOM
Einstein Kulturzentrum
Einsteinstaße 42 | 13.–31. März | Di–Sa 20.00 |
Telefon 089 38537766 und tickets@bemetheatre.com
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Zum achten Mal veranstaltet das Volkstheater sein Festival junger Regisseure.
Gabriella Lorenz
Die schlechte Nachricht zuerst: Der E.ON-Energie-Konzern
wird ab 2013 nicht mehr das Festival »Radikal jung« im Münchner Volkstheater unterstützen. Das war zu befürchten, nachdem E.ON entschieden hatte, den Firmensitz in München zu
schließen. In aller Klarheit sprach es der Vorstandsvorsitzende
Ingo Luge allerdings erst auf der Pressekonferenz aus, mit der
das Programm des kommenden Festivals vom 21. bis 29. April
vorgestellt wurde. Auch für Volkstheater-Intendant Christian
Stückl war die Nachricht neu, aber so schnell gibt er die Hoffnung nicht auf. »Überlegt’s es euch nochmal«, appellierte er
mehrmals. »In einer globalisierten Welt ist Düsseldorf auch
nicht so weit weg.« »Und eine Überweisung geht ruckzuck«,
ergänzte Kulturreferent Hans-Georg Küppers,
Die gute Nachricht: Die achte Ausgabe des Festivals junger
Regisseure ist gesichert. Zwar hat E.ON seinen Zuschuss reduziert, doch für den Fehlbetrag im Gesamtbudget von rund
300 000 Euro sprang großzügig die Stadt München ein. 2005
fand »Radikal jung« zum ersten Mal statt und wurde schnell zu
einem Publikumsmagneten, inzwischen ist auch die überregionale Beachtung groß. Für das Volkstheater ist das Festival
»jedes Jahr ein großes Highlight«, sagt Stückl, »das ganze
Theater fiebert darauf hin«. Er holt sich auch aus den eingeladenen Regisseuren jedes Jahr ein oder zwei ans eigene Haus.
Acht Produktionen hat die Jury ausgewählt, darunter zwei
ausländische. Aus Budapest kommt Shakespeares »Coriolanus«, aus Holland »This Is My Dad«. Darin befragt Regisseur
Hay den Boer auf der Bühne seinen Vater Gert über dessen
Leben. Fremdsprachig ist auch das dokumentarische Projekt
»Hate Radio«: In Ruanda hatte 1994 das Radio RTLM mit HetzPropaganda den Völkermord an den Tutsi massiv befördert.
Milo Rau lässt in originalgetreuen Studiokulissen Überlebende
des Genozids live auf Sendung gehen.
Jetzt heißt es rasch Karten sichern, denn vieles ist ganz
schnell ausverkauft. Der Vorverkauf läuft.
Für 2013 gibt sich Stückl optimistisch: »Wir machen das
Festival weiter, und einen, der was zahlt, werden wir schon
finden.« ||
radikal jung
Volkstheater
21.–29. April | T. 089 5234655 | www.muenchner-volkstheater.de
bühne
Münchner feuilleton · märz · Seite 23
Weg vom eigenen Kopf
Wie bringt man 1500 Buchseiten in drei Stunden auf die Bühne?
Regisseurin Bettina Bruinier und Dramaturgin Katja Friedrich wagen im Volkstheater eine Bearbeitung
des Romans »Unendlicher Spaß« von David Foster Wallace.
Gabriella Lorenz
»Unendlicher Spaß« von David Foster Wallace erschien 1996
in Amerika und wurde vom Time Magazine zu einem der 100
einflussreichsten Romane der letzten 80 Jahre gekürt. Für die
deutsche Übersetzung, die erst 2009 erschien, brauchte Ulrich
Blumenberg sechs Jahre. Ein Mammutbuch, eine ausufernde
Zeitgeistbetrachtung über Drogenabhängigkeit, Depressionen, Kindesmissbrauch, Tennis, die Unterhaltungsindustrie
und Politik. Im Mittelpunkt steht der 18-jährige Hal Incandenza, Student der Enfield Tennis Academy. Sein Vater hat den
Film »Unendlicher Spaß« gedreht, der angeblich jeden
Zuschauer so süchtig macht, dass er noch vor dem Bildschirm
stirbt.
Regisseurin Bettina Bruinier ist Expertin für Romanadaptionen. Die 37-Jährige hat am Volkstheater bereits »Schilf« von
Juli Zeh und »Solaris« inszeniert. »Mich reizt daran, Bild- und
Sprachwelten in ein anderes Medium zu übertragen, etwas auf
der Bühne erlebbar zu machen«, erklärt sie ihr Interesse. »Ob
die Vorlage ein Stück, ein Film oder Literatur ist, ist nicht
wichtig – nur der Stoff.« Am Volkstheater arbeitet sie seit
Dezember intensiv mit der Dramaturgin Katja Friedrich
an der Wallace-Fassung. Wie wählt man aus solcher
Überfülle des Materials aus, was man zeigen will?
»Man muss sich beim Lesen auf das verlassen,
was hängen bleibt«, sagt Bruinier. »Eine Auswahl
treffen, immer wieder rausschmeißen – kill your
darlings – und neu zusammenwürfeln.« Friedrich fragt: »Welche Figuren sind auf der Bühne
tragend und verkörpern Themen des Romans?
Bei einer Bearbeitung muss man einen klaren
Fokus setzen.« Roman-Adaptionen sind immer
Work in Progress, auch durch die Reaktionen der
Schauspieler auf den Proben.
Bruinier geht im Theater auf eine klassische
Erzählstruktur zurück: »Wir lassen unterschiedliche Geschichtsstränge von verschiedenen Figurengruppen erzählen«. Nur die Figur des Hal –
Justin Mühlenhardt spielt ihn – bleibt durchgängig,
die anderen acht Darsteller spielen wechselnde Rollen. Nun
erzählt »Unendlicher Spaß« aber keine stringente Story. »Hal
erlebt keine Entwicklung, er bleibt in sich gefangen«, erklärt
Bruinier. »Es kommt heraus, dass der ominöse Film von Hals
Vater gedreht wurde, um seinen Sohn aus der Depression
rauszuholen. Dieser Film führt verschiedene Erzählstränge
zusammen: Er will mit dem Zuschauer kommunizieren und
ein großes Gebabbel hörbar machen. Mit dem Hörbarmachen
der verschiedenen
Stimmen
legitimieren
wir die Auflösung in
kularer Narration, Kreise schließen sich wie ein Netz, das sich
drunter spannt. Hier geht es mehr um Themen, um ein
Gesamtpanorama.«
Foster Wallace hat den Roman in einer nahen Zukunft
angesiedelt, die jetzt Gegenwart ist. Hat ihn die Entwicklung
überholt? Friedrich widerspricht: »Teilweise. Aber was die
Kommerzialisierung öffentlichen und politischen Lebens
anbelangt, ist er hoch aktuell. Im Roman werden mittlerweile
schon ganze Jahre an Sponsoren verkauft.«
Bruinier erläutert: »Mit 9/11 hat die amerikanische
Geschichte eine andere Entwicklung genommen. Aber Foster
Wallace beschreibt eine Zeit des totalen Glaubensverlustes,
der transzendentalen Obdachlosigkeit. Wie kann man mit
den vielen Lebensmodellen und Angeboten sein Leben zu
führen, umgehen, ohne nur egozentrisch um sich zu kreisen.
Was macht man, um von sich selber wegzukommen? Dafür
bieten uns die Medien viele Ablenkungen. Foster Wallace
ist genau im Abbilden von unseren Süchten (auch unserer Unterhaltungssucht).«
David Foster Wallace litt unter schweren Depressionen und erhängte sich 2008. Muss man den
Roman als Vermächtnis lesen? »Man findet den
Autor in zig Abspaltungen in jeder Figur«, meint
Friedrich. »Er hatte ja auch diese Angst, dass ihm
der Kopf platzt, dass er wahnsinnig wird an seinen eigenen Gedanken. Hal ist unfähig, sich
selbst zu ertragen, er will sich selbst entkommen. Für Wallace ging’s auch darum, vom eigenen Kopf wegzukommen, seinen Gedanken zu
entfliehen.« ||
Bettina Bruinier | © Iko Freese | www.drama-berlin.de
Einzelszenen, die nicht immer logisch zu Ende zu erzählen
sind. Wir zoomen immer wieder auf die Figuren.« Friedrich
ergänzt: »Es gibt ja keinen klassischen Plot und keine Auflösung im Roman, vieles bleibt im Dunkeln. Es ist eine Art zir-
UNENDLICHER SPASS
Volkstheater
Premiere 22. März | 19.30 | Telefon 089 5234655 |
www.muenchner-volkstheater.de
Es fassbindert flächendeckend
Zum 30. Todestag des Regisseurs beschäftigen sich
Theater und Museen mit seinem Werk.
Gabriella Lorenz
Als Rainer Werner Fassbinder am 10. Juni 1982 nur 37-jährig
starb, hinterließ der Münchner Regisseur und Autor über 40
Filme, Theaterstücke und TV-Serien. Zum 30. Todestag untersucht das Festival »Postparadise Fassbinder Now« im Marstall
bis 31. März die Aktualität und Rezeption dieses Schaffens. In
den Kammerspielen bringt Stefan Pucher den wenig bekannten Film »Satansbraten« am 14. März auf die Bühne. Das Filmmuseum zeigt im April 12 Fassbinder-Filme mit deutlichem
München-Bezug. Und das Theatermuseum widmet Fassbinder
ab 25. Mai eine Ausstellung über seine Theaterarbeit.
Was macht Fassbinder heute noch so spannend? Stefan
Bläske, der als Dramaturgie-Assistent am Residenztheater
»Postparadise Fassbinder Now« mitkonzipiert hat, meint:
»Fassbinder hat früh das Außenseitertum und die Ausgrenzung thematisiert, er zeigt Machtverhältnisse und wechselseitige Unterdrückung. Sein Kameramann Michael Ballhaus hat
das in Bilder gesetzt, die in sich gerahmt sind – er schafft statt
Einengung einen Rahmen.« Intendant Martin Kušej hat das
Festival am 3. März mit seiner Inszenierung »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« mit Bibiana Beglau in der Titelrolle
eröffnet. Einen Vergleich liefert das Tanztheater »Petra und
Gäste« der spanischen Choreografin Sol Picó: Neben den
Hauptfiguren Petra, Karin und Marlene erzählen hier auch
sechs Monster ihre ungewöhnlichen Liebesgeschichten
(13. – 15. März). Das Resi-Konzept, so Bläske, sucht »den Spannungsbogen zwischen Erinnerung und heutiger Rezeption«,
vor allem auch im Ausland: Drei weitere Gastspiele kommen
aus Wien (»Showghost-3«, 9. – 11. März), Prag (»Der Müll, die
Stadt und der Tod«, 17., 18. März) und Italien (»Blut am Hals
der Katze«, 30., 31. März).
Wie Fassbinder andere Künstler – etwa Schlingensief –
inspirierte, wie ihn Mitarbeiter und Zeitzeugen erlebt haben,
beleuchtet das Wochenende »Fassbinder still alive« mit Filmen, Vorträgen und Gesprächen (23. – 25. März).
»Fast eine Entdeckung« sieht der Kammerspiele-Dramaturg Matthias Günther in dem weitgehend unbekannten Film
»Satansbraten« von 1976. »Im Zentrum steht eine Schreibkrise
des Arbeiterdichters Walter Kranz, daraus entwickelt sich ein
Künstlerdrama«, sagt Günther. »Das passt gut nach München,
wo Künstler einen gewissen Status haben.« Kranz ist geplagt
von Geldnot und dem verzweifelten Bemühen, wieder kreativ
zu werden. Kranz ist verheiratet, sein behinderter Bruder lebt
mit im Haushalt, Kranz hat auch eine Geliebte, die eine offene
Ehe führt. Eines Tages plagiiert er unbewusst ein Gedicht von
Stefan George, hat Erfolg und fühlt sich nun als wiedergeborener George, dessen exaltierten Lebensstil er von der Kleidung
über homosexuelle Versuche bis hin zur Rekonstruktion des
Schwabinger Kreises um den Dichter nachleben will.
»Der Sado-Masochismus spielt eine zentrale Rolle«, sagt
Günther. »Es ist die Geschichte einer verkorksten Sexualität
mit den Fragen, die die 68er stellten: Wie leben wir eigentlich?« Besonders hat ihn jedoch die Form beeindruckt: »Der
Spielstil ist ganz expressiv und total übertrieben. Die sehr ironische, satirische Darstellung überspitzt die neuen Formen,
die sich nach 1968 rausgebildet haben«, so Günther. Stefan
Pucher wagt ein ungewöhnliches Experiment: »Wir versuchen,
den Film auf der Bühne zu rekonstruieren. Die Darsteller spielen exakt den Film nach, den der Zuschauer aber nicht sieht.
So etwas haben wir noch nie gemacht«, erklärt Günther. »Der
Text des Theaters ist der Film!« ||
Veranstaltungsinformationen
www.residenztheater.de
www.muenchner-kammerspiele.de
bühne
Seite 24 · märz · Münchner feuilleton
Kabinettstück im
Rattenloch
Armin Petras inszeniert Ibsens »John
Gabriel Borkman« an den Kammerspielen
und treibt die Figuren ins Lächerliche.
Sabine Leucht
Geschichte von 1912 in eine vage Gegenwart rüberzuholen.
Und er kehrt die Vorzeichen um. Mariann Mayr hat das Sach,
die Wirtschaft und die Metzgerei, in die Ehe mitgebracht. Der
Knecht ist eine Magd und die Tochter ein Sohn. Florian Brückner spielt den Leonhard Mayr, genannt Leni, als windiges
Zigarettenbürscherl, als großspurigen Loser, der seine Stricherexistenz verdrängt und dennoch mit seinem erotischen
Pfund wuchert. Auch wenn die Aktualisierungen gelegentlich
mit dem Text kollidieren, tut Regisseur Brückner doch ein
Fenster auf zu einer in einem formelhaften Katholizismus
erstarrten Gesellschaft (Peter Mitterrutzners Pfarrer pflegt
Latein im Gottesdienst), macht die drückende Enge dieser
sogenannten Gemeinschaft sichtbar, gerade weil er die Handlung ins Freie verlegt, in den Biergarten der Mayr’schen Wirtschaft (Ausstattung: Katharina Dobner). Das Dorf ist immer
anwesend und beobachtet genau, was der Einzelne tut.
Brückners Regie konzentriert sich auf den Machtkampf
der älteren Männer. Hier Lenis Vater Thomas Mayr, den Wolfgang Maria Bauer mit verzweifelter Emotionalität und berser-
»Rattenloch«: Das sagt sich so leicht, dass wer in einem Rattenloch lebt. »John Gabriel Borkman« und Co. aber tun es wirklich. Bei Armin Petras in den Kammerspielen kriechen und
rutschen die Schauspieler mit eckigen
Verrenkungen durch einen engen Metallgang, der im Zickzack von Borkmans
Eremitenhöhle links oben bis zur Nische
rechts unten führt, in der Gattin Gunhild
sich mit ihren Verbitterungen eingenistet
hat.
Olaf Altmanns Bühne ist ein herrliches Bild für den Druck der Verhältnisse
auf die Menschen – und es enthält durch
die Papierstöße, die der Herbstwind des
Lebens durch die Gänge treibt, eine gehörige Portion schwermütiger Poesie. Was
einst vielleicht Liebesbriefe waren von
Ella, der Zwillingsschwester jener Frau,
die Borkman aus Karrieregründen ehelichte, oder die geheimen Aufzeichnungen des Zockers, der aus dem einst erfolgreichen Bankier wurde, dient allenfalls
noch als Polstermaterial fürs Nagernest.
So sehr Henrik Ibsens 1896 entstandenes Stück von einem Selbst- und
Machtbesessenen, der Etliche in den Ruin
und sich selbst ins gesellschaftliche Aus
»John Gabriel Borkman« | © Iko Freese | www.drama-berlin.de
trieb, in unsere Zeit passt, so sehr widersteht Petras jeder Form der Aktualisierung. Statt dessen treibt er das Bild des Menschen als erbärm- kerhafter Körperlichkeit als eine Art Michael Kohlhaas spielt,
der das Recht sucht. Sein Gegner ist Alexander Dudas Bürgerlich um sich selbst kreisende Kreatur durch eine exaltierte,
gehetzte Spielweise auf die Spitze, die in Akteuren wie André meister, der vordergründig jovial die Strippen der Intrige zieht,
Jung (als Borkman), Wiebke Puls (als todgeweihte Ella) und um an ein Grundstück von Mayr zu kommen. Dafür opfert er
Hildegard Schmahl (als reife, lebensgierige Frau Fanny Wilton) »Leni« den Dorfburschen, die ihn wie Raubtiere umzingeln
die innere Grandezza nicht zerstören kann. Sie trotzen der rat- und ihre eigene Verlorenheit im Dschungel der sexuellen
tenhaften Überzeichnung ihrer Figuren spannende und zeit- Identitäten in einer starken Szene an dem Außenseiter auslassen. Martin Sperrs »Jagdszenen aus Niederbayern« lassen grüweise sogar bewegende Momente ab, während Cristin Königs
ßen. Das ist Volkstheater im besten Sinn und ein einfühlsames
keifende Gunhild und Lasse Myhr als ihr Sohn schon über
beides hinaus sind. Erhart, der Junge, an dem alle zerren wie Regiedebüt. ||
an einem Rettungsseil, zuckt und züngelt wie ein in die Enge
getriebenes Tier, schnarcht im Stehen, gießt sich wüst grimassierend Champagner über den Kopf – und am Ende des Mono- MAGDALENA
logs, den Petras dem Vertreter der freiheitsliebenden Jugend Volkstheater
ins Stück hineingeschrieben hat, presst sich diese Karikatur 17., 18. März., 4. April | 19.30 Uhr | Telefon 089 5234655 |
www.muenchner-volkstheater.de
eines Aufbruchwilligen in eine Superman-Pelle. Weit mehr
Hoffnung auf Zukunft macht da Hanna Plaß als punkiges Girlie Frida Foldal, das am Klavier einige leise, langsam verhallende Töne und zornige Rio-Reiser-Zeilen beisteuert zu diesem anfangs unterhaltsamen Sammelsurium von
Kabinettstückchen, aus dem gegen Ende jede Spannung entweicht wie die Luft aus einem Ballon. ||
JOHN GABRIEL BORKMAN
Kammerspiele
10., 22., 25. 29. März | Telefon 089 23396600 |
www.muenchner-kammerspiele.de
Jagdszenen aus
Oberbayern
Maximilian Brückner reanimiert
Ludwig Thomas »Magdalena« im
Volkstheater.
Christiane Wechselberger
Die »Magdalena« lässt ihn nicht los. Vor zehn Jahren hat Maximilian Brückner Ludwig Thomas bedrückende Dörflertragödie
in seinem Heimatort Riedering mit Laien aufgeführt. Jetzt
debütiert er mit dem Stück um Bigotterie und Macht offiziell
als Regisseur am Volkstheater.
Die Leni ist ein Kerl. Das ist Brückners Kniff, um die
Alles für die
Familie
Alvis Hermanis macht Gorkis »Wassa«
zum puren Theaterglück.
Gabriella Lorenz
Eine durch und durch korrumpierte Gesellschaft, eine ebenso
verrottete, dekadente und zerfallende Familie, ein von Pleite
bedrohtes Transportschiff-Unternehmen. Und mittendrin, als
fädenziehende Spinne im Netz, eine Mutter, die alles zusammenhalten will. Der russische Dramatiker Maxim Gorki
schrieb »Wassa Shelesnowa« 1910, 1935 überarbeitete er das
Stück und fügte eine Revolutionärin ein. Der lettische Regisseur Alvis Hermanis inszenierte unter dem Kurztitel »Wassa«
die frühe Fassung für die Kammerspiele. Ihm gelang mit seinem fabelhaften Ensemble ein Theaterwunder, wie man es
lange nicht mehr gesehen hat.
Bühnenbildnerin Kristine Jurjane macht die ganze Länge
der Spielhalle zur Breitwandbühne für die häusliche Atmosphäre: ein Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer nebeneinander, hypernaturalistisch mit altmodischen Mobiliar vollgestopft, mit Gardinen an den gravierten Fenstern zum
Wintergarten, Grünpflanzen und sogar Vogelkäfigen mit
lebenden Tauben. Hier herrscht Wassa, die Familien- und Firmenchefin, deren Mann seit 15 Jahren dem Tod entgegen
dämmert. Familie und Firma gehen Wassa über alles, im Überlebenskampf wagt sie alles. In Wassas Reich wird gelogen,
betrogen, werden Dokumente gefälscht und unterschlagen,
Menschen in den Selbstmord getrieben oder einfach umgebracht und buchstäblich unter den Teppich gekehrt, während
man ruhig daneben Suppe schlürft.
Elsie de Brauw ist eine herbe, harte Herrscherin. Als Mutter ist sie ein Raubtier, das zwar die eigenen Söhne gnadenlos
ausbootet, aber nur zum Erhalt des Rudels, wie sie ihrer Tochter Anna (Katja Herbers) erklärt. Und Anna zeigt sich als würdige Nachfolgerin. Hier sind die Männer Schwächlinge: Wassas
Sohn Semjon (Oliver Mallison) ist ein nichtsnutziger Lebemann, den debilen Pawel spielt Benny Claessens als sabberndes, brüllendes, neurotisch zerstörtes Fettbündel. Seine
lebenslustige Frau Ljudmila, die ihn aus Geschäftsgründen
heiraten musste, hat ein Verhältnis mit dem Onkel Prochor
(Stephan Bissmeier). Brigitte Hobmeier zeigt großartig den
Freiheitsdurst, die Liebessehnsucht der jungen Frau.
Hermanis legt die Familie und die Gesellschaftsstruktur
unter das Mikroskop, er seziert ganz
genau. Und führt seine bis in die kleinsten
Rollen grandiosen Schauspieler zu einer
realistischen und psychologischen Stimmigkeit und Wahrhaftigkeit, die exakt der
Authentizität des Raumes entspricht.
Zusammen ergibt das pures Theaterglück
von morbider Schönheit, historisch genau
und doch ganz heutig. Ein Ereignis. ||
wassa
Kammerspiele
Spielhalle | 10., 22., 23., 25. März (ausverkauft), am 25. Zusatzvorstellung um 12.00 |
Telefon 089 23396600
Der befreiende
Orgasmusspender
Enttäuschend harmlos: »Nebenan –
The Vibrator Play« im Cuvilliéstheater.
Petra Hallmayer
Sie rufen »Oh!« und »Uh!« und »Ohlala!«. Ein magisches Gerät
versetzt Frauen in Verzückung. In »Nebenan – The Vibrator
Play« greift die Amerikanerin Sarah Ruhl ein kurioses Kapitel
der Medizingeschichte auf, das mit dem Film »In guten Händen« unlängst die Kinos eroberte. Mit Hilfe des Vibrators erlöst
Dr. Givings (Norman Hacker) frustrierte Ehefrauen von ihren
hysterischen Symptomen und natürlich will bald auch seine
eigene den elektrischen Freudenspender testen.
Barbara Weber hat daraus eine putzige Komödie gebastelt.
Bekannt wurde die Schweizer Regisseurin durch mit dem
Label »unplugged« versehene poppige Diskurs-Schnipseleien.
Daran erinnern in der verblüffend biederen Inszenierung nur
mehr ein paar unmotiviert eingefügte Songnummern. Freunde
des gewitzten Boulevards können sich hier gut amüsieren. Die
Frauen führen schöne Kleider vor und bereiten sich heimlich
wechselseitig Genuss. Hanna Scheibe als hyperaktives Quasselstrippchen Catherine Givings hastet durch sämtliche Stereotypen unbefriedigter Gattinnen. Carolin Conrad zitiert akrobatisch den Arc de cercle, die berühmteste der hysterischen
Verrenkungen. Ein bizarrer Analvibrator rettet einen Künstler
aus seiner Schaffenskrise. Das alles ist leidlich unterhaltsam,
doch etwa so prickelnd wie ein Glas lauwarmer Prosecco.
Anhand der Sprache der Hysterie und der Deutungsmacht
der Ärzte haben Scharen von Feministinnen die Geschlechterverhältnisse analysiert. Völlig unbekümmert darum schnürt
das Stück alte und neue Klischees zusammen. Die Unterschicht
wusste immer schon, wie`s geht und so klärt die schwarze
Amme die Damen darüber auf, dass es Lust auch im Ehebett
gibt. Mit multiplen Orgasmen sind Körper und Seele jeder
Quengelsusi zu heilen. Die Elektrizität fungiert als Geburtshelferin der seligen Ära der sexuellen Moderne. Am Ende kuriert
Catherine den Doktor von seinen Verklemmungen und alle spielen glücklich befreit Hasch-mich. Soviel BeziehungsratgeberNaivität ist atemberaubend. Willkommen im Spaßzeitalter. ||
NEBENAN – THE VIBRATOR PLAY
Cuvilliéstheater
8., 19., 28. März | 20.00 | Telefon 089 21851940
bühne
Münchner feuilleton · märz · Seite 25
Polyphoner Konkurrenzkampf
Die »Biermösl Blosn« ist tot – es leben
die Wells. Ein musikalischer
Familienabend in den Kammerspielen.
Barbara Reitter-Welter
»Familienaufstellung« heißt die Therapieform, in der jeder in
die Rolle eines Anverwandten schlüpft – um so richtig die
Seelen-Sau rauszulassen. Die Well-Family benutzt Instrumente, um zu zeigen, wer Mamas
Liebling, die »Scheena« oder der
»Gscheiter« ist. Und so blasen und
tuten, tröten und trompeten sie in
einem hinreißenden polyphonen
Konkurrenzkampf um die Wette. Bis
zum Schluss das bayerische Harmonielied »Fein sein, beinander
bleibn« erklingt. Dass eine der Strophen das »aussi grasn« verbietet, ist
ein ironischer Schlenker dieser
Theater-Sternstunde, denn gerade
hat sich die legendäre »Biermösl
Blosn« aufgelöst. Doch am Premierenabend stehen sechs der insgesamt 15 Well-Kinder auf der Bühne;
selbst Mama Traudl ist mit ihren 92
Jahren dabei und zupft die Zither...
»Fein sein, beinander bleibn« ist
ein Hausmusik-Abend der besonderen Art. Die drei »Wellküren« Burgi,
Bärbi und Moni und ihre Brüder
Stofferl, Michi und Karli musizieren, singen, jodeln und schuhplattln. Sie erzählen aber auch
Kindheitserlebnisse – darunter
sechs Versionen einer SchürhakenAttacke auf Stofferl. Und sie derblecken satirisch die Großkopferten und Gwapperten in Politik, Wirtschaft und Society. Ein
Beispiel dafür ist das freche Gstanzl über Seehofers Darm, in
dem viele Platz haben oder der Milchpreis-Rap »40 Cent oder
da Müller brennt«. Zum Verständnis baumeln pralle Euter vom
Bühnenhimmel, während 40 verschiedene Instrumente, dar-
The philosopher’s
Stone
unter ausgefallene wie Brummtopf oder Nonnentrompete, an
einer Wäscheleine hängen. Nur die Alphörner wachsen zum
»Andachtsjodler« aus dem Boden.
Bei so viel Überraschungen zwischen Volksmusik, Klassik
und Pop ist die Rahmenhandlung nebensächlich, die sich das
freche Sextett ausgedacht hat: Es sollen Proben für ungewöhnliche Auftraggeber wie die Pharmaindustrie oder den Pfarrer
sein, der eine Eröffnungshymne für die Weihrauch-Pipeline
von Tschenstochau nach Altötting braucht. Als Überraschungsgast erscheint der Familien-Nikolausi der Wells: Gerhard Polt
in einem kabarettistischen Kurzauftritt. ||
mission Accomplished
Aufhören, wenn’s am schönsten ist. Die Party auf dem Höhepunkt
verlassen, bevor’s fad wird. Bloß kein Abziehbild werden des
immer gleichen, weil immer garantierten Erfolgs. So oder ähnlich
mögen die Brüder Hans, Michael und Christoph Well aus Günzlkofen gedacht haben, als sie vor kurzem das Ende der Biermösl
Blosn verkündeten.
Dass ein schon lange schwelender Bruderzwist im Hause Well
dabei auch eine wichtige Rolle gespielt haben mag, steht auf
einem anderen – einem privaten – Blatt. Aber wo sollten sie auch
noch hin? Die jahrzehntelang berannte Festung ist gefallen, die
absolut(istisch)e Herrschaft der CSU gebrochen. Mission accomplished. Ein Publikum gibt’s nicht mehr zu gewinnen, weil ihnen
das ohnehin längst zu Füßen liegt, bevor sie überhaupt nur einen
Fuß auf die Bühne setzen; und »ausverkauft« ist bekanntlich ein
Wort, das sich nicht steigern lässt. Bestimmt gibt es in Bayern
(und woanders versteht man sie ja gar nicht) heutzutage mehr
bekennende Biermöslianer als gläubige Katholiken. Um diesen
Erfolg noch zu toppen, müssten die drei wahrscheinlich mit preussischen Übertiteln spielen, oder mit chinesischen. Aber das ginge
dann ja auch irgendwie an der Sache vorbei.
Also doch: Aufhören, wenn’ s am schönsten ist. Abspringen,
wenn die Welle ganz oben ist. Schluss machen, wenn man noch
richtig vermisst wird. Das mag zwar traurig sein für uns Fans, sehr
»Fein sein, beinander bleibn« | oben v.l.n.r.: Gertraud, Bärbi, Moni, Burgi,
unten: Karli, Stofferl und Michael Well | Foto: Andrea Huber
traurig – was soll bloß aus Bayern werden, wenn eine ganze neue
Generation post Biermösl heranwächst? Wer soll unseren Kindern
und Enkeln diese wunderbare bayerische Gleichzeitigkeit aus
FEIN SEIN, BEINANDER BLEIBN
Kammerspiele
15., 21., 30. März | 20.00 (ausverkauft) | Telefon 089 23396600
www.muenchner-kammerspiele.de
Liebe zur gelebten Tradition und Respektlosigkeit vor den Popanzen der Macht vermitteln?
Aber man muss dieser Entscheidung auch Respekt, ja sogar
Hochachtung zollen: Wer will schon zur Dauer-Weißwurst werden,
zur fest einkalkulierten Größe in der weißblaulinken Unterhal-
Theaterwundermaschinerie
Das Residenztheater lockt junge
Besucher ans große Haus. Tina Lanik
inszeniert aufwändig Jules Verne.
tungs-Schickeria, zum Trachtenverein für die kritische Intelligenz?
Wer möchte eine bayerische Liz Taylor werden, mumifiziert in der
Erinnerung der eigenen Legende? Gibt es heutzutage, wo die
Revolution oder Scientology mit drin sind, schmälert das Vergnügen in dieser satt mit optischen Gags, parodistischen Elementen und witzigem Slapstick unterfütterten Aufführung
jedoch nicht. ||
bunte Flut der diversen Medien fast schon jedem Straßenkehrer
zu einem zweifelhaften Ruf als »Promi-Straßenkehrer« verhilft,
wenn er nur drei Mal in Grünwald gefegt hat – gibt es da nicht
schon genug abschreckende Pattex-Fälle, die verzweifelt an ihrem
Barbara Reitter-Welter
Das Theaterpublikum ist überaltert. Deshalb heißt es für alle
Häuser, Strategien zu finden, um sich Nachwuchs zu ziehen.
Das »Junge Resi« ist schon heftig dabei; nach den hinreißenden Erzähltheaterabenden im Marstall folgt jetzt erstmals eine
Produktion am großen Haus. Tina Lanik schickt ihre Zuschauer
von acht bis 80 knapp drei Stunden lang auf eine Reise »In 80
Tagen um die Welt«. Die Dramatisierung des Romans von Jules
Verne pinselt geschickt die spannendsten Episoden und aufregendsten Abenteuer des englischen Gentlemans Phileas Fogg
aus, die er mit seinem treuen Diener Passepartout bestreiten
muss. Eine Wette unter den Club-Freunden des reichen Snobs
ist schuld an diesem waghalsigen Unterfangen. Dass sich auch
noch ein Detektiv von Scotland Yard an die Fersen des ungleichen Herr-Knecht-Gespanns heftet, weil er Fogg für einen
Bankräuber auf der Flucht hält, vervielfacht die Turbulenzen ...
Raffiniert öffnet die Regisseurin die Trickkiste, um alles
vorzuführen, was die Theaterzaubermaschinerie kann. Da
staunen selbst die Kleinen, deren Ästhetik von Comics und
Computerspielen geprägt ist. Denn sie werden in ein Märchenreich der Imagination verführt, in dem es wogende Wellen und
trappelnde Bisons, eine brennende indische Witwe und einen
chinesisch sprechenden Mond gibt, wo sich ruckzuck das Londoner Puppenhaus in ein Zugabteil verwandelt, Gegenstände
im Schnürboden verschwinden oder aus dem Untergrund
Figuren auftauchen, wo’s Blüten regnet und der Eisbär die
Menschensprache versteht. Geräusche, Licht und Musik schaffen die Basis für das plakative Spiel der Darsteller, unter denen
mit Johannes Zirner und Jens Atzorn zwei bekannte Schauspielersöhne auf der Bühne stehen, Michele Cuciuffo und Thomas Gräßle aber die Zuschauerlieblinge sind. Dass die Grenze
zum effektvollen Klamauk, zur Anbiederung an den Kindergeschmack manchmal nur knapp gehalten wird, dass für die
Erwachsenen unnötigerweise Realitätspartikel wie ägyptische
In 80 Tagen um die Welt.
Residenztheater
12., 16., 18., 19. März, 9., 21., 25., 26., 28. April | wechselnde
Zeiten | Termine Telefon 089 2185-1940 | www.residenztheater.de
Stückchen Ruhm und Glanz von Gnaden der Regenbogen-Presse
kleben? Man muss ja gar nicht bis zum Bundespräsidenten gehen,
um dafür Beispiele zu finden. Es reicht schon, auf ein TourneePlakat der Rolling Stones zu schauen ...
Und jetzt die gute Nachricht: Es ist ja gar nicht alles vorbei. Es
Anzeige
gibt sie wieder, die Hoffnungsfrohen mit den »Karte gesucht«Schildern vor der Tür. Die euphorisierten Zuschauer nach der Vorstellung. In den Kammerspielen machen Michael und Stofferl Well
weiter, neu formatiert mit vier anderen Geschwistern ihrer zahlreichen Familie und der 92-jährigen Mutter. »Fein sein, beinander
bleibn« heißt das Ganze mit feiner Ironie im Doppel- und Dreifachsinn und ist vor allem musikalisch ein großartiger Spaß (siehe
Kritik auf dieser Seite). Die Biermösl Blosn ist tot, es lebe die Well
Gang!
Und wenn man sich diese Familie mit ihrer ungeheuren
Reproduktionskraft (15 Kinder von einem Elternpaar!) und ihrem
offenbar unerschöpflichen musikalischen Gen-Pool so ansieht,
dann brauchen wir eigentlich keine Angst zu haben: Auch unsere
Kinder und Enkelkinder werden sich noch aus diesem Brunnen
laben können. Und wenn die CSU dereinst einmal als Splittergruppe aus dem Landtagswahlen hervorgeht – dann wird die
Musik dazu bestimmt aus Günzlkofen kommen.
ROLF MAY
musik
Seite 26 · märz · Münchner feuilleton
Das Glitzer-Männchen
Cameron Carpenter verpasst einem Kircheninstrument ein neues Image:
An der Orgel spielt er klassische Werke genauso wie Pop und Jazz.
Eva Mackensen
Cameron Carpenter auf der Orgel spielen zu
sehen, ist ein Ereignis. Der eine oder andere
wird vielleicht ein eigenartiges Déjà-vu erleben: Wo hat man das nur schon mal gehört?
Die Hände, die in irrsinniger Geschwindigkeit
über die Tastatur fliegen, die tanzenden Füße
auf den Pedalen, die weichen und fließenden
Bewegungen des Rückens? Tatsächlich mag
man eben jenes Bild vor Augen gehabt haben,
wenn man Robert Schneiders Roman »Schlafes Bruder« gelesen hat, der das Leben des
musikalischen Autodidakten Johannes Elias
Alder schildert. Alder, der natürlich rein fiktiv
ist, wird im Roman als der größte Orgelvirtuose aller Zeiten beschrieben, der »herrliche
Kathedralen aus Musik« errichtet. Carpenter
wirkt, wenn er an der Orgel sitzt, wie sein real
gewordenes Abbild.
Unscheinbar sieht er aus, mit seiner kleinen Statur, den braunen Augen und Haaren.
Auf der Straße würde man ihn übersehen. Bei
seinen Auftritten aber gibt er sich gern exzentrisch, seine Bühnenoutfits sind legendär; sie
bestehen aus weißen Glitzershirts, schwarzen
Paillettenhemden, engen, mit Strass besetzten
Hosen. Seine Schuhe mit dem kleinen Absatz,
die aussehen wie eine Kreuzung zwischen
höfischem Schuhwerk aus dem 18. Jahrhundert und Ballettschläppchen, bestickt er eigenhändig mit Swarovski-Kristallen. Carpenter
Cameron Carpenter | © Scott Gordon Bleicher
versteht sich als Entertainer, er möchte schillern, er möchte sein Publikum betören und
umgarnen. Er weiß, dass er etwas bieten
muss. Dass er mit seinen 31 Jahren fast schon
zu alt ist für die Rolle des jungen Wilden, dessen überbordendes Talent alle Konventionen
des Klassikbetriebes naturgewaltig hinwegfegt. Er hat eine Heidenangst vor den Klischees in den Köpfen der Menschen: Bloß keine Assoziationen wecken an verstaubte und
windschiefe Kirchenemporen, an lichtscheue
Organisten mit chronischem Hustenleiden.
Dabei hat er sich längst vom rein sakralen
Repertoire verabschiedet. Carpenter ist ein
musikalischer Pionier, er möchte sein Instrument neu entdecken. Er erschließt ihm den
Jazz, er unternimmt Ausflüge in die Popmusik. Seine immensen technischen Fertigkeiten, die er während seines Studiums an der
Juilliard School in New York erwarb, verwendet er außerdem darauf, herausragende
Werke der Musikgeschichte für die Orgel zu
transkribieren. Etwa die Études von Chopin
oder Bachs Wohltemperiertes Klavier, aber
auch ganze Orchesterwerke. So gibt es eine
Orgelfassung der 5. Symphonie Gustav Mahlers von seiner Hand. Daneben ist Carpenter
auch selbst als Komponist tätig. Seine Eigenwerke werden seit 2010 in der renommierten
Edition Peters verlegt.
Aber vor allem ist ihm der Kontakt zum
Publikum wichtig. Carpenter ist wohl der einzige berühmte Solist, der sich vor jedem Auftritt an die Eingangstüren stellt, um jedem
seiner Zuhörer einzeln die Hand zu schütteln.
Um nicht übersehen zu werden, trägt er dabei
etwas Glitzerndes. ||
Cameron Carpenter
Philharmonie | 26. März | 20.00
Karten: www.muenchenticket.de
Anhören!
Schon wieder das erste Quartal um. Eine Pop-Frühjahrsauslese.
david steinitz
Soap&Skin – »Narrow«
Da können alle Freizeit-Melancholiker einpacken: An die düstere Brutalität des zweiten
Soap&Skin-Albums »Narrow« muss man sich
schmerzlich gewöhnen – eine Platte, die alle
Wehmutsadjektive kraftlos erscheinen lässt.
Die zwanzigjährige Österreicherin Anja Franziska Blaschg steckt hinter dem Projekt
Soap&Skin, wurde schon oft als Wunderkind
bezeichnet und jetzt vermutlich noch viel
öfter, so erbarmungslos wie sie hier ihren
toten Vater besingt. Oder »Voyage Voyage«
interpretiert, mit steirischem Einschlag, ein
Monster von einem Cover. Für dieses Album
könnte man das Wort Gänsehaut ausnahmsweise aus dem Giftschrank nehmen.
Pet Shop Boys – »Format«
Eine B-Seiten-Sammlung aus den letzten 18 Jahren Pet-shop-boys-Geschichte. Mit 38 Songs,
von denen mindestens 37 besser sind als
das, was sich viele Bands als A-Seiten zu veröffentlichen trauen. Absolutes Meisterstück
ist der Song »In Private«, den Neil Tennant
und Chris Lowe Ende der Achtziger für die
wunderbare Dusty Springfield geschrieben
haben und hier – gemeinsam mit Elton John –
selbst einsingen. Ansonsten? »Hit and Miss«,
»In the Night 1995«, »Girls Don’t Cry« … Wie
man seit 30 Jahren auf diesem Niveau Musik
machen kann, bleibt rätselhaft. Hauptsache,
sie machen es.
Soap&Skin | © Play it again Sam
Nada Surf | © City Slang
Pet Shop Boys | © EMI Records
Trent Reznor, Atticus Ross | © Mute
Nada Surf – »The Stars are indifferent to
Astronomy«
Irgendwann verwandeln sich die meisten Popfetischisten in nörgelnde Veteranen der eigenen Jugend und deren Soundtrack. Ja, man
altert, ja, ist nicht immer toll. Man kann die
Nostalgie aber produktiv nützen, um ein sehr
hörenswertes Album aufzunehmen. Nada Surf
haben das gemacht – auf »The Stars are indif-
Dobré | © Millaphon
ferent to Astronomy« besingen sie die Evolution vom Indie-Boy zum Indie-Mann Anfang
vierzig. So schönen Gitarrenpop haben sie seit
zehn Jahren nicht mehr gemacht. Und mal
ehrlich: Wer will wirklich nochmal fünfzehn
sein und die Erkenntnis aufgeben, wann und
wie man ein Mädchen zu küssen hat?
Trent Reznor & Atticus Ross – »The Girl
with the Dragon Tatoo«
Wie fühlt es sich an, ein Eiszapfen zu sein?
Nach den knapp drei Stunden, die dieser
Soundtrack zum amerikanischen Remake von
Stieg Larssons »Verblendung« dauert, kann
man es sich in etwa vorstellen. Trent Reznor,
Sänger und Komponist der Nine Inch Nails,
und der Produzent Atticus Ross haben im
letzten Jahr einen Oscar für ihren Soundtrack
zu David Finchers »The Social Network«
bekommen, jetzt haben sie sich für den Regisseur erneut zusammengetan. Und was sie hier
machen, ist noch atemberaubender. Eine Vertonung klirrender Kälte, ein musikalisches
Nirwana aus Eis und Schnee. Brrr.
Dobré – »Do the Dobré … Again«
»Recorded and produced at Lovebox Studios,
Augsburg« steht im Booklet. Das klingt zwar
nicht so cool wie Abbey Road, aber so lange
die Musik deren Geist folgt, ist ja alles gut:
Sixties-Pop für Jungen und Mädchen, die
gerne tanzen. Ein Re-Release ist dieses Album
der Münchner Band Dobré, die nun bei Millaphon Records ein neues Zuhause gefunden
haben, dem Label der drei vielbeschäftigten
Herren Gerd Baumann (Filmmusik für Dietl
und Rosenmüller), Til Hofmann (Lustspielhaus) und Mehmet Scholl (ehem. Mittelfeld).
Live kann man Dobré am 1. April im Atomic
Café hören. Kein Scherz. ||
musik
Münchner feuilleton · märz · Seite 27
Die Mumifizierung
der Rockmusik
Max Theiss
Man soll das Fell des Bären nicht verteilen,
ehe er erlegt ist. Aber wehe dem Vieh, wenn es
endlich tot ist, dann geht die große Umverteilung so richtig los. Und damit wären wir beim
guten alten Rock’n’Roll angelangt. Viele werden jetzt natürlich protestieren, der
Rock’n’Roll würde niemals sterben, das habe
ja schon der alte Neil Young gesagt. Das ist
wohl wahr, aber nehmen wir mal die Beatles.
Die gibt es zweifelsohne seit 1970 nicht mehr,
da wurde gewissermaßen der Bär aus Liverpool erlegt. Dessen Fell hat sich als ganz
schön dick und großflächig erwiesen. Ob die
dreiteilige Beatles-Anthology, das Best-OfAlbum »1« oder die aufgeblasene iTunes-Kollektion mit all ihren jemals veröffentlichten
Songs – die Ex-Mitglieder verstanden es seit
jeher, die immergleichen Songs wieder und
wieder zu verkaufen.
Aber die Fell-Verteilung ist noch vielfältiger, und zwar entlang zweier Verwertungsketten – eine für die ländlichen und eine für die
städtischen Gebiete. In den Dorfgegenden
geht schon seit geraumer Zeit das Gespenst
der Cover-Bands um – und in den Städten
jenes der Musicals. Letztere sind eigentlich im
Grunde nichts weiter als Auftritte von CoverBands – nur eben mit aufwändigerer Bühnenshow, einer rudimentären Rahmenhandlung
sowie einem erheblich höheren Eintrittsgeld.
Jetzt erzählt im Zeltpalast des Deutschen
Theaters ein Musical die Geschichte der Beatles nach. Unter dem naheliegenden Titel »All
You Need Is Love« werden alle Hits noch einmal aufgewärmt und von vier Beatles-Imitatoren nachgeträllert.
Tragischer Höhepunkt dieser lebenserhaltenden Maßnahmen der Pop- und RockLegenden dürfte die Show über Michael Jackson gewesen sein, die im März im Deutschen
Theater lief. Nicht, dass dieses Spektakel nicht
absolut mitreißend ist und obendrein die
bewegende und bewegte Karriere des King of
Pop effektreich und choreographisch brillant
vor Augen führt. Allein: Michael Jackson lebte
noch, als dieses Musical in London uraufgeführt wurde. Und jetzt, wo er tot ist, verwehren ihm gerade solche Veranstaltungen jegliche Form von Legendenbildungen. Die
meisterhaften Videoclips und großartigen
Platten, die allesamt von jacksoneskem Größenwahn und Ingenium zeugen – hier glaubt
man tatsächlich, dass er irgendwie weiterlebt.
Doch eine Nacht lang vor Youtube zu sitzen
und sich Michael-Jackson-Videos reinzuziehen ist sehr wohl etwas anderes, als sich mit
einer Michael-Jackson-Soirée zu konfrontieren, die zwar eine großartige Show sein mag,
aber eben nicht seine Show ist. Ob nun Abba,
Queen, Falco, die Beatles oder Michael Jackson: Es sind gerade diese glorifizierenden
Shows mit ihren perfekt-sterilen Hochglanz-
In diesem Frühjahr sind im Deutschen Theater
Leben und Tod beängstigend nah beieinander:
Die wilden Zeiten des Rock werden zu Hochglanz-Musicals –
diszipliniert im Klappsessel statt wild in Woodstock.
Inszenierungen, die die Zuschauer immer
weiter von Original entfernen. Die Legende
lebt kurzzeitig auf und ist in dieser verkitschten Überhöhung doch nur ein lebloser
Abklatsch.
Neben diesen beiden Ereignissen reiht
sich am Deutschen Theater noch ein ganz
anderer, hoch interessanter Fall von Selbstmumifizierung ein: »Die große Peter Kraus
Revue« von und mit: Peter Kraus. Eigentlich
ist Peters Karriere schon lange zu Ende. Alle
Songs sind geschrieben (oder in seinem Falle
übersetzt und neu eingespielt), das Häuschen
am Luganer See mutmaßlich abbezahlt, und
die allgemeine Pop-Musik ist schon eine
Handvoll Generationen weiter. Und dann
kommt man plötzlich auf die Idee, sein eigenes Rock’n’Roll-Museum zu errichten. Doch
anstatt andere machen zu lassen, geht man
einfach selbst auf Tournee, um exakt jene Lieder einem diszipliniert im Klappsessel sitzenden Publikum vorzuspielen, die einst eine
ganze Teenager-Generation prägten. Dass
diese Tournee betitelt ist mit »Für immer
Jeans« – nun ja, man wird sehen, wie viele
Leute in Jeans kommen werden.
Die Frage, wie man nun den Rock’n’Roll
tatsächlich am Leben erhalten kann, beantwortet das Deutsche Theater übrigens selbst:
Noch im März kommen die dem Glam-Rock
huldigende »Rocky Horror Show« sowie das
Hippie-Musical »Hair«, und auf das BeatlesMusical folgt ab Mitte April die Rock-Oper
»Tommy« von The Who. Alle drei sind Originalmusicals, die den jeweiligen Pop-Strömungen ein Denkmal setzten – und zwar nicht im
Nachhinein, sondern noch mitten in der
jeweiligen Ära. Es stimmt schon: Rock’n’Roll
will never die. ||
DEUTSCHES THEATER
Peter Kraus-Revue:
Für immer in Jeans
15. bis 18. März
Rocky Horror Show
20. bis 25. März
Hair:
The Love & Rock-Musical
27. März bis 7. April
Das Beatles-Musical:
All You Need Is Love
12. bis 15. April
von oben nach unten:
Hair | © Deutsches Theater
Beatles Show | © Deutsches Theater
Rocky Horror Picture Show | Foto: Thommy Mardo
Peter Krauss | Foto: Mike Kraus
Thriller | Foto: Hugo Glendinning
The Who's Tommy:
A Legendary Rock Opera
18. bis 29. April
Karten: www.muenchenticket.de
Impressum
Herausgeber
Münchner Feuilleton UG (haftungs-beschränkt)
Breisacher Straße 4 l 81667 München
Telefon: 089 / 48920971 l info@muenchner-feuilleton.de
www.muenchner-feuilleton.de
Im Gedenken an Helmut Lesch.
Redaktion
Thomas Betz, Gisela Fichtl, Matthias Leitner,
Gabriella Lorenz, David Steinitz
Autoren dieser Ausgabe
Thierry Backes, Michael Bartle, Patrick Bethke, Thomas Betz,
Volker Derlath, Rozsika Farkas, Cornelia Fiedler, Florian
Froese-Peeck, Petra Hallmayer, Sven Hanuschek, Günter
Keil, Bernhard Keller, Klaus Kieser, Anne Klein, Christine
Knödler, Florian Koch, Peter Künzel, Sabine Leucht, Gabriella
Lorenz, Gabriele Luster, Eva Mackensen, Christine Madden,
Marcel Marin, Rolf May, Astrid Mayerle, Ecco Meineke,
Sylvia Rein, Barbara Reitter-Welter, Michael Schmitt,
David Steinitz, Max Theiss, Erika Wäcker-Babnik, Christiane
Wechselberger, Lukas Wilhelmi
Beratung »Augenweide«: Martin Potsch
Projektleitung l V.i.S.d.P. Christiane Pfau
Geschäftsführung Ulrich Rogun, Christiane Pfau
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musik
Seite 28 · märz · Münchner feuilleton
Hörsturz
Der Apple-Algorithmus
Die Münchener Wohnungssuche prägt fürs Leben. Doch wenn der neue Mietvertrag endlich unterschrieben ist, steht der eigentliche
Horror erst bevor. In der neuen Bleibe eingetroffen, will die CD-Sammlung aus den Umzugskartons gehoben und neu sortiert werden
– dabei findet man in der Zeit des Mp3-Players leider kaum noch Gleichgesinnte, die die Kunst der kreativen Ordnung zu schätzen
wissen.
Vom Singer-Songwriter-Pop bis zur Philharmonie, vom glückseligsten Liebeslied der neusten R’n’B-Queen bis zum tiefsten Weltschmerz vergangener Wohlstandsgesellschaften soll nichts unter den Tisch fallen – beziehungsweise ins tiefste Fach des Billy-Regals.
Die passende Musik ist eine Frage der Situation: Ob man mit einer hübschen Dame auf der Bettkante sitzt, die man begeistern möchte
(erstes Coldplay-Album) oder mit einer hübschen Dame, die zu leicht zu begeistern ist (jedes andere Coldplay-Album).
Also erarbeitet man ein komplexes System: Mit Hilfe eines selbstgebastelten Genre-Würfels und dem Wikipediawissen zu den
Komplementärfarben der Alben-Cover findet sich eine gesunde Mischung aus Willkür und musikalischer Persönlichkeit. Doch dann die
Einzugsparty – Ernüchterung! Niemandem fällt die Mühe auf.
Der Shuffle-Modus hat den Moment des Erlebens verändert. Im Apple-Algorithmus, im ewigen, glücksoptimierenden Weiterklicken,
auf der Suche nach dem einen Lied, wird der Song zu einem Dienstleister. Er hat sich der Situation anzupassen. Dass Songs eines
Albums auch in ihrer Zusammenstellung funktionieren; dass eine Platte so etwas wie einen dramaturgischen Spannungsbogen hat, die
einen Anfang, eine Mitte und ein Ende aufweist, verliert sich. Und damit auch der Sinn für die Bedeutsamkeit einer klugen und kreativen
Anordnung der Plattensammlung. In größeren Sinneinheiten als dem Lied wird nicht mehr gedacht. Im dauerhaften Vorwärtsschalten
entsteht Gleichschaltung. Der Vorwurf an die Jugend, ihre Musik würde sich immer gleich anhören, ist auch ihrer Hörsozialisation
geschuldet. Wann immer ein Song es heute in eine Playlist schaffen will, muss er schnell funktionieren und laut sein. »Eingängig« ist da
ein passender Euphemismus.
Also sitzt man auf der Bettkante – allein. Wie gerne würde man jetzt einer hübschen Dame seine prunkvolle Regalinstallation zeigen,
die vom Sammeln und Jagen erzählt. Womit eine wunderbare Basis für eine charmante Annäherung gelegt wäre. Doch dazu kommt es
nicht. Drüben dröhnt es aus der Docking-Station. Irgendwas mit Beat.
Lukas Wilhelmi
»Das Geld gehört sich selbst.«
Alle zwei Jahre vergibt die Forberg-Schneider-Stiftung den mit 20.000 Euro dotierten
Belmont-Preis für zeitgenössische Musik. Die Initiatorin Gabriele Forberg über ihre
Förderziele und Stiften in Krisenzeiten.
gabriele luster
Gabriele Forberg | © privat
Forberg-Schneider-Stiftung
Mäzene und Stifter sind eine rare Spezies.
Dennoch hat sich ihre Zahl seit dem Jahr
2000 in Oberbayern verdoppelt: 1457 Stiftungen verfügen über insgesamt 3,9 Milliarden Euro. In München gibt es insgesamt
945 Stiftungen. Eine dieser Stiftungen ist
die Forberg-Schneider-Stiftung, die 1997
von Gabriele Forberg und Achim Schneider
in Frankfurt ins Leben gerufen wurde und
mittlerweile in München ihren Sitz hat.
Woher hat denn der Belmont-Preis seinen Namen?
Der Name stammt aus Shakespeares »Der Kaufmann von
Venedig«. Portia lebt auf einem Landsitz namens Belmont. Und
außerdem heißt Belmont übersetzt Schönberg.
Dieses Jahr wurde der amerikanische Journalist und
Musikwissenschaftler Alex Ross für sein Buch »The Rest is
Noise« ausgezeichnet. Wer gehört noch zu den Preisträgern?
Unter anderen der Münchner Komponist Jörg Widmann, die
Geigerin Carolin Widmann, das französische Quatuor Ebène,
der Komponist Bruno Mantovani, der Pianist und Dirigent Marino Formenti.
Und wer entscheidet über die Vergabe des Preises?
Es gibt drei Kuratoren. Momentan sind das die Musikwissenschaftler Eric Denut und Markus Fein von den Berliner Philharmonikern. Und daneben ich als Kuratoriumsvorsitzende
auf Lebenszeit.
Wie kamen Sie und Ihr Mann auf die Idee, Stifter zu werden, und warum fördern Sie die zeitgenössische Musik?
Da mein Mann und ich keine direkten Erben haben, gründeten wir die Stiftung. Zunächst widmete sie sich parallel der
Architektur und Gartengestaltung, die mein Mann favorisierte,
und der Musik – meiner Leidenschaft. Nach dem Tod meines
Mannes verlegte ich die Stiftung nach Bayern und seither konzentriert sie sich ausschließlich auf die Musik.
Ist die Stiftung Ihr Hobby oder mehr?
Sie war einmal gedacht als intellektuelles Ausgleichshobby.
Aber inzwischen ist sie mein Lebensinhalt.
Wie viel Geld mussten Sie und Ihr Mann als Stifter einbringen?
Die gesetzliche Mindesteinlage betrug damals 640.000 DM.
Mittlerweile ist unser Stiftungsvermögen durch Erbschaften
und Finanzanlagen um ein Vielfaches angewachsen.
Gehört das Stiftungsg eld denn weiterhin Ihnen?
Nein, das Geld gehört sozusagen sich selbst. Der Staat, in
unserem Fall die Regierung von Oberbayern, hat ein waches
Auge auf das Vermögen und die Einhaltung unserer von ihr
genehmigten Stiftungszwecke. Und die Frankfurter Metzler
Bank verwaltet es. Sie agiert eher konservativ und risikoarm,
weshalb wir auch in den vergangenen turbulenten Jahren gut
davongekommen sind. Viele andere Stiftungen mussten
ordentlich Federn lassen.
Agiert die Stiftung nur auf dem »Preis-Niveau« oder gibt
es auch unterm Jahr Förderungen und schnelle Hilfe in Akutfällen?
Selbstverständlich. Wir unterstützen zum Beispiel auch Kompositionsaufträge etwa beim Weimarer Kunstfest »pèlerinages«
und sponsern Auftrittshonorare. Wir springen aber auch ein,
wenn junge Musiker oder Sänger Demo-CDs oder Teilnahmegebühren für Wettbewerbe brauchen. Dann helfen wir mit
kleineren Finanzspritzen weiter. Das summiert sich auf etwa
40.000 Euro pro Jahr. Auch eigene Projekte haben wir schon
ins Leben gerufen.
Haben Sie ein enges Verhältnis zu den geförderten Musikern und Preisträgern?
Natürlich verfolge ich die Entwicklung der jungen Leute und
vernetze sie, wo immer es geht. Zu manchen hat sich ein
freundschaftliches, fast familiäres Verhältnis entwickelt. So
übernehme ich mittlerweile bei einem jungen, von uns geförderten Sänger-Ehepaar aus Budapest die Rolle der Oma und
schiebe dort das Baby durch die Stadt.
musik
Münchner feuilleton · märz · Seite 29
Mit Balkon
und ohne Strom
Die Reihe Hauskonzerte schafft in München von der Isar bis zum Waschsalon
ein intimes Forum für Bands aus aller Welt – und entdeckt dabei die Stadt neu.
Auch im Internet sind die Sessions ein großer Erfolg.
Patrick Bethke
Letzten Sommer im Kiki Genusslokal, Neuhausen. Zwischen
Salbeitöpfen und Schokokuchen sitzen die zwei Damen von
Boy und spielen ein Lied. Gedämpftes Sonnenlicht und gleichmäßiges Verkehrsrauschen dringen von draußen ins Lokal,
passend zum zarten Bitten der Sängerin: »drive, darling,
drive«. An den Kachelwänden werden Licht und Ton sanft verstärkt. Als die letzten Noten verklungen sind, lässt die Sängerin sich zu einem Augenaufschlag hinreißen, dem man ohne
zu zögern ewige Liebesschwüre folgen lassen will. In einer
vergleichbar intimen Atmosphäre wird man Boy so schnell
nicht wieder erleben können. Im Februar erst traten sie auf der
Berlinale-Eröffnungsfeier auf, woraufhin die versammelte
Presse sich genötigt sah, verrückt zu spielen – ein Glück, dass
der intime Auftritt im Kiki für jedermann festgehalten wurde.
Stichwort: Hauskonzerte!
Die Veranstaltungsreihe lässt sich im Internet nochmal
erleben: wunderschön gefilmte Live-Performances in Songlänge, meist ohne elektrische Verstärkung. Der technische
Aufwand wird vor wie hinter der Kamera möglichst klein
gehalten. Ziel ist es, den Musikern und ihrer Musik so nahe
wie möglich zu kommen. Über sechzig Künstler standen mittlerweile für Tobias Tzschaschel und Stefan Zinsbacher, die
Erfinder der Hauskonzerte-Reihe, vor der Kamera.
Was zu Beginn vor knapp zwei Jahren als Schmankerl für die
Mediathek des von Tobias geleiteten Online-Feuilletons »zeitjung« gedacht war, entwickelte schnell ein Eigenleben. Heute
werden die Hauskonzerte-Videos im Schnitt 12.000 Mal am
Tag angesehen. Unter den Künstlern finden sich neben Boy so
klangvolle Namen wie The Black Heart Procession, Junip, I Am
Kloot oder Wye Oak.
Münchner Topografien, die unterschiedlichen Viertel und
Räume, sind in den Videos allgegenwärtig: Das Surfen auf der
Hauskonzerte-Homepage gleicht einem kleinen Streifzug
durch die Stadt. Die Isar, ein Westender Waschsalon, ein Vorführsaal der Museum Lichtspiele, ein anonymer Balkon dienen als Kulisse, aber auch beliebte Kneipen, wie die Favoritbar, das Café Kosmos oder die Südstadt. Fast alle
Live-Mitschnitte sind mit einem zusätzlichen, kurzen Text
ausgestattet, der Charakter und Stimmung der jeweiligen
Lokalität beschreibt. Zur Atmosphäre der Hauskonzerte-Sessions gehört immer auch eine räumliche Vertrautheit. »Der
Bezug zur Stadt ist wichtig«, erklärt Stefan. Er und Tobias kennen sich seit der Schulzeit und sind eingefleischte Münchner.
Im Zuge ihrer Arbeit lernten sie die Stadt noch besser kennen
und konnten dabei auf das Entgegenkommen ihrer Bewohner
zählen.
Darauf sind die beiden auch angewiesen, denn Geld verdienen sie mit den Hauskonzerten nach wie vor nicht. Angefangen haben Tobias und Stefan als enthusiastische Musikliebhaber, die persönlich bei Bands anfragten, ob vor oder
nach ihrem Auftritt in München noch Zeit bliebe für eine
kurze Aufnahme-Session. Als sie dann die ersten Male tatsächlich den eigenen musikalischen Helden gegenüber standen, war die Euphorie groß. Nachgelassen hat die Liebe zur
Musik zwar nicht, dennoch sehen sich die beiden mittlerweile
www.hauskonzerte.com
www.facebook.com/hauskonzertecom
Folk-Pop an der Isar: The Head and the Heart aus Seattle zu Gast für ein Freiluft-Hauskonzert | © Tobias Tzschaschel, Stefan Zinsbacher
etwas nüchterner als Teilchen in einer gewaltigen Promomaschinerie. Aber die läuft. Mittlerweile sind Agenturen und
Labels die Bittsteller. Tobias und Stefan können längst nicht
mehr alle Anfragen in ein Video verwandeln – und sie arbeiten
immer noch nur mit Musikern zusammen, von denen sie
selbst überzeugt sind. Sie filmen und schneiden ihre Videos
selbst und wollen voll und ganz hinter dem stehen, was sie tun.
Die Idee, Musiker vor die Kamera zu stellen und sie ohne
Choreographie und Strom Songs vortragen zu lassen, ist natürlich nicht ganz neu. Vorbilder für die Hauskonzerte sind
Anzeige
Online-Plattformen wie La Blogothèque oder Watch Listen Tell.
Allen gemeinsam ist ein sehr eigener visueller Stil. Die Sessions werden mit kleinen digitalen Spiegelreflexkameras aufgenommen, natürliche Lichtverhältnisse und das Spiel mit wechselnder Tiefenschärfe sind die ästhetischen Koordinaten. Wem
die Videos trotzdem kein Ersatz für das Live-Erlebnis sind, der
muss flink sein. Wo und wann ein Hauskonzert stattfindet,
erfährt man sehr kurzfristig über die Hauskonzerte-Facebookseite – sofern man sich für einen Platz auf der Gästeliste beworben hat. ||
stadtbild
Seite 30 · märz · Münchner feuilleton
Bauch
und Basar
Essen ist nicht nur Lifestyle, sondern zuallererst Versorgung.
Die Großmarkthalle bestimmt seit 100 Jahren Handel und Wandel des Münchner Obst- und Gemüsekonsums.
ROZSIKA FARKAS
Halb fünf in der Früh, der Himmel ist schwarz,
die Straßen sind leer, einsam leuchtet nur der
rote Schriftzug der Tabledance-Bar »Pigalle«
in der Thalkirchner Straße. Ein paar Meter
weiter, hinter Mauern, herrscht geschäftiges
Treiben. Gabelstapler flitzen durch riesige
Hallen, Männer und Frauen in wattierten
Jacken – der Morgen ist kühl – laden Paletten
mit Obst und Gemüse um, kontrollieren und
verhandeln. Süßer Birnenduft weht von einem
Stand herüber, mischt sich mit den herberen
Gerüchen von Kräutern und Zwiebeln. Im
Stimmengewirr sind italienische, türkische
und bayerische Sprachfetzen zu unterscheiden, dazu spanisch, griechisch, kroatisch.
Lange bevor die »Integration« ins politische Vokabular aufgenommen wurde, war sie
hier eine Selbstverständlichkeit. Im Mikrokosmos Großmarkthalle ist Multikulti Alltag,
seit hundert Jahren schon. Im Februar 1912 –
Bayern ist Königreich, in Schwabing malt
Kandinsky erste abstrakte Bilder – eröffnet in
Sendling die Großmarkthalle. Die Schrannenhalle nämlich kann die Versorgung der rasant
wachsenden Bevölkerung – von 100 000 im
Jahr 1852 auf 600 000 sechs Jahrzehnte danach
– nicht mehr gewährleisten. Heute ist die in
Sendling ansässige Großmarkthalle nach Paris
und Barcelona die drittgrößte Europas; vierhundert Firmen, vom kleinen Gärtnerbetrieb
aus der Region bis zum global agierenden Handelsunternehmen mit Milliardenumsatz sind
hier ansässig, 3 000 Menschen arbeiten hier.
Das Münchner Stadtmuseum hat dem
»Bauch von München« zur Feier des Hundertsten die Ausstellung »Täglich frisch!«
gewidmet. Die Schau gewährt spannende Einblicke in die Struktur und die Geschichte des
Marktes, und obwohl die Protagonisten – die
Händler sowie ihr Obst und Gemüse – naturgemäß nicht als Exponate dienen können,
gibt es genug zu sehen und zu hören. Wir
erfahren, dass bereits vor hundert Jahren in
München Litschis ihren Weg in Münchner
Delikatessengeschäfte fanden. Dass die Halle
ein Non-Profit-Unternehmen ist, an dem
die Stadt festhält, weil sie der »Daseinsvorsorge« für ihre Bürger dient. Wir verstehen, dass der Großmarkt nötig
wurde, weil durch steigende Bebauung viele Stadtbewohner ihre Gärten verloren, aus denen sie sich
zuvor selbst versorgt hatten.
Dokumentiert sind Nachfrageeinbrüche, die entstanden, als frisches Obst und Gemüse auf einmal bedrohlich wirkten, Stichwort
Tschernobyl oder Ehec. Nachfragespitzen hat die Wende den Obsthändlern beschert, ironischer
Beleg: der Titanic-Titel mit »ZonenGaby« und ihrer »ersten Banane«.
Die Entwicklung der kulinarischen
Vorlieben in der Nachkriegszeit
beweist, dass der Austausch von
Waren immer auch ein kultureller
strebig steuert er die majestätisch anmutende
Halle 1 an, die einzige der ursprünglich vier
zusammenhängenden Hallen, die den Krieg
überstanden hat. Sie sieht aus wie eine Kathedrale, in der ganzjährig Erntedank gefeiert
wird. Inzwischen weiß Velagic, wo er die beste
Ware bekommt. Anfangs war er regelrecht
verstört durch das Gewusel. »Man hat das
Gefühl, jeder fährt jeden über den Haufen.
Doch irgendwann schwimmt man einfach im
Strom mit.« Der Strom fließt vorbei an Ständen mit sizilianischen Orangen, französischen
Radieschen, Mangos aus Thailand, Avocados
aus Israel. Ob man günstig ein- oder verkauft,
hängt vom Verhandlungsgeschick ab,
feste Preise gibt es
nicht, hier herrschen die Gesetze
des Basars.
Trödeln für die Kunst
Gabriella Lorenz
Märkte waren immer kommunale Zentren
und soziale Treffpunkte. Ab 16. März wird’s in
München einen neuen Treffpunkt geben. An
der Schwere-Reiter-Straße zwischen Ackermann- und Dachauer Straße eröffnet der
Kavalleriemarkt. Das soll ein Kultur-Trödelmarkt werden, dessen Erlöse nach Abzug der
Festkosten in Kulturprojekte fließen soll. Für
diese Idee hatte der Münchner Gert Neuner
schon lange nach einem Gelände gesucht. Das
Aus für die Münchner Olympiade-Bewerbung
2018 kam ihm zu Hilfe. Hier hätte nämlich das
Pressedorf gebaut werden sollen, doch nach
Austausch ist. Stolz auf die eigene Weltoffenheit spricht aus einem Plakat von 1960, das
eine polnische Zwiebel als Weltkugel zeigt.
Abschottung ist dagegen das Ziel eines Plakats von 1930: »Deutsche Gartenbau Erzeugnisse kaufen!«, fordert es, streng schaut der
blonde Teutone, auf der Tomatenkiste prangt
der Reichsadler.
Halb sechs, das Schwarz des Himmels
weicht einem fahlen Grau. Jetzt ist das Haupttor für die Kunden offen, sie kommen im
LKW, Lieferwagen oder Kombi: Gastronomen
und Einzelhändler aus München und
ganz Bayern. Einer von ihnen ist
Sadet Velagic, vor zwanzig Jahren
kam er aus Bosnien nach München. Vor knapp drei Jahren hat
er in der Siegfriedstraße in
Schwabing einen Lebensmittelladen übernommen. Ziel-
der Absage stand das staatliche Gelände wieder zur Verpachtung. Unterstützt vom Bayerischen Landesverband freier Theater, bewarb
sich Neuner mit seinem Konzept und erhielt
2011 den Zuschlag.
Seine Idee klingt attraktiv: Geld zu verdienen über einen gehobenen Themen-Flohmarkt, das dann wieder der Kunst zufließt.
Gert Neuner stammt aus einer Künstlerfamilie, hat selbst Bildende Kunst studiert und
früh gelernt, dass Geldverdienen einem die
Freiheit gibt, nicht bei Geldgebern antichambrieren zu müssen. Er war deshalb immer
unternehmerisch kreativ: »Ich bin kein Kaufmann, aber ich weiß, wie’s funktionieren
könnte«, sagt er.
1976 war Neuner Mitbegründer des
Schwabinger Weihnachtsmarktes, auf dem er
einen Gastro-Stand betrieb. 1982 gründete er
sein ETA-Theater, mit dem er bis heute seine
eigenen Bühnenstücke inszeniert. Ende der
80er baute er mit Uwe Kleinschmidt das
»Tollwood«-Festival auf. 1990 stellte er das
Freie-Szene-Festival »Starke Stücke« auf die
Beine und holte dafür zum ersten Mal die spanische Gruppe Fura dels Baus nach München.
Die »Starken Stücke« gab‘s nochmal 2008,
daraus entstand das »Rodeo«-Festival, das er
2010 kuratierte.
Auf dem Areal des Kavalleriemarktes
gegenüber vom Theaterzelt Das Schloss stehen auch die Probenhallen des Residenztheaters. Somit sind Wasser- und Stromanschlüsse vorhanden. Bis zu 400 private und
gewerbliche Händler finden hier Platz, die
Bewerber wählt Neuner selbst aus: »Wir wollen keine neue Ramschware.« Er möchte ein
attraktives Misch-Angebot: Kunst und Kitsch,
Antiquitäten und Kunsthandwerk, Möbel und
stadtbild
Münchner feuilleton · märz · Seite 31
Fotos im Uhrzeigersinn:
Großmarkthalle München, 1912 | Fotografie |
© Markthallen München
Großmarkthalle München (Halle 2), um 1915 |
Fotografie | © Stadtarchiv München, Fotosammlung
Großmarkthalle München, 2011 | Fotografie |
© Daniel Schvarcz, München
Gemüsehändler Sadet Velagic mit Mairübchen |
Foto: Farkas
Ambulanter Tomatenhändler, um 1945 | Fotografie |
© Bayerischer Landesverband der Marktkaufleute und der
Schausteller e.V. (München)
Das Stadtmuseum gibt Einblicke in die Kulturgeschichte und alltägliche Arbeit dieser Institution.
86 Länder liefern ihre feinen Früchte in
den Münchner Markt. Nur in der Gärtnerhalle
bieten ausschließlich Erzeuger aus der Region
ihre etwa in Feldmoching oder Parsdorf
gewachsenen Produkte an. Da angesichts der
Ökobilanz von im Winter eingeflogenen Erdbeeren und Spargeln vielen die unbefangene
Freude an der Internationalität vergangen ist,
sind Waren aus der Region gefragt. Verständlich, denn der Salat von nebenan ist am frischesten und belastet die Umwelt am wenigsten. Andererseits: Ist es freundlich gegenüber dem
Rest der Welt, wenn
ein Land, das seinen Wohlstand
fast zur Gänze dem Export verdankt, sich dem
Import verweigert?
Halb sieben, der Himmel färbt sich lila.
Die Bedienungen in der Gaststätte Grossmarkthalle decken die Tische, in einer halben
Stunde wird das Lokal öffnen. Auf der »Frühstückskarte« stehen Nudelsuppe und hausgemachte Weißwürscht, abgebräunte Milzwurst
und Wiener Schnitzel vom Kalb. Die Gaststätte ist der einzige Teil des Großmarkts, der
auch der Allgemeinheit offensteht. Am Tor
daneben steht in schönstem Verwaltungsdeutsch: »Der Zutritt und Aufenthalt ist nur
Personen gestattet, die im Rahmen des
Betriebszwecks tätig sind.« Über mehr als
dreißig Hektar erstreckt sich das
Gelände. In der Metropole mit der notorischen Wohnungsknappheit weckt so
ein Areal Begehrlichkeiten. Die Immobilienbranche wirft der Stadt vor, dass sie
bebaubaren Grund im Marktwert einer
hoch dreistelligen Millionensumme
brachliegen lässt. Auch im Viertel ist
nicht jeder glücklich über das Sperrgebiet, das immerhin acht Prozent
der Fläche Sendlings der
Öffentlichkeit entzieht. Eine
Verlagerung in die Peripherie
kommt für die Stadt allerdings
nicht in Frage, erst 2011 hat der
Stadtrat beschlossen, die Halle
in der Stadt zu belassen. Wohin
gehört denn ein Bauch, wenn
nicht in die Mitte? Trotzdem wird nicht alles
bleiben, wie es war. Die Gebäude sind sanierungsbedürftig, die Planungen für die Erneuerung noch nicht abgeschlossen. Die Ausstellung im Stadtmuseum zeigt Entwürfe.
Halb acht, noch überzieht ein zarter Rosaschleier den Himmel. Auf den Straßen Kinder
und Erwachsene auf dem Weg zur Schule und
zur Arbeit. Sadet Velagic ist zurück in Schwabing und packt seine Schätze aus. Er stellt ein
individuelles Angebot für seine Kunden
zusammen, mit einem hohen Anteil an Bioware und immer mit ein paar Raritäten. Auch
diesmal hat er etwas Besonderes dabei:
Mairübchen, die aussehen wie riesige schneeweiße Radieschen, und Rübstiel, eine fast vergessene Gemüsesorte, die heute eher unter
ihrem italienischen Namen Cime di rapa
bekannt ist. Ähnlich war es mit der Rauke,
dem alten deutschen Küchenkraut, das keiner
mehr kannte – bis es als Rucola aus Italien
kam und ein triumphales Comeback in deutschen Küchen feierte. Von halb neun bis halb
acht wird Sadet Velagic verkaufen, was er zu
nachtschlafender Zeit in der Halle besorgt hat.
Am nächsten Morgen wird er wieder pünktlich um halb sechs in Halle 1 eintreffen. Für
die Ausstellung im Stadtmuseum bleibt ihm
keine Zeit.
Das Begleitbuch zur Ausstellung, zugleich
Festschrift zum Jubiläum, ist opulent und teilweise informativ. Nicht wenige Seiten und
ganzseitige Bilder gehen allerdings eher für
Werbezwecke drauf: Der hintere Buchteil bietet ein Sammelsurium von Münchner Läden
und Lokalen, die mit der Großmarkthalle
nicht mal mehr indirekt was zu tun haben.
Das Steakhaus in der Blumenstraße bezieht
seine Fleischtrümmer jedenfalls nicht von
dort, und auch die vorgestellte Brauerei kauft
Hopfen und Malz nicht frühmorgens in Sendling ein. Auf vier Seiten darf sich Sepp Krätz
als Wiesn- und WaWi-Wirt präsentieren, ohne
dass der leiseste Zusammenhang mit dem
Buchthema ersichtlich wäre. Für eine Vorstellung der mit 89 Jahren ältesten Mitarbeiterin
Maria Reitmeier, die seit mehr als einem halben Jahrhundert in der Großmarkthalle werkelt, reicht der Platz da nicht mehr. ||
Täglich frisch!
100 Jahre Münchner GroSSmarkthalle
Münchner Stadtmuseum
St.-Jakobs-Platz 1 | bis 15. Juli |
Di–So 10.00–18.00 | Die Jubiläumspublikation
im Umschau Buchverlag kostet 58 Euro.
Geschichten aus der
GroSSmarkthalle
Zwei Folgen der vierteilige Dokumentation
des Bayerischen Fernsehens sind noch am
11. und 18. März, jeweils um 15.00 zu sehen.
Anzeige
Deko, Mode und Wäsche, Spielzeug, Mittelalter-Ware, Werkzeuge und Elektronik. Die Gastronomie der Foodstände und Deli-Shops soll
gehoben sein - und natürlich Bio. Zwischen
den Ständen tummeln sich Gaukler, Jongleure, Sänger und Straßenmusikanten. Auf
Open-Air-Bühnen finden Aktionen statt - alles
kostenlos. Mittelalter-Spiele soll es genauso
geben wie Tanz. Und ein reichhaltiges Kinderprogramm, auch mit Clowns. Dazu wird
extra ein Kinderspielplatz mit Trampolin, Rutsche und einem Baumspringparcours gebaut.
Neuner hofft, dass die Vielfalt bei den Besu-
chern einen Entschleunigungs-Prozess
bewirkt: »Sie sollen sich Zeit lassen.«
Zunächst will Neuner den Trödelmarkt
immer freitags und samstags abhalten, im
Sommer plant er auch einen Nachtflohmarkt.
Die erwirtschafteten Gewinne sollen Kunst
und Kultur zugute kommen - entweder Einzelprojekten oder der Vernetzung bayerischer
Städte über einen Gastspiele-Austausch. Die
würden aber nicht auf dem Markt-Gelände,
sondern an Münchner Spielorten gezeigt. Er
träumt auch schon von einem Austausch zwischen Berlin und Bayern und vielleicht einem
Marktableger in Berlin. Da gebe es für sowas
viel mehr Freiräume als in München, meint
er. ||
KAVALLERIEMARKT
ab 16. März
freitags 10.00–20.00, samstags 8.00–20.00 |
Schwere-Reiter-Straße zwischen Ackermannund Dachauer Straße |
Information www.kavalleriemarkt.de
Favoriten der redaktion | 11.3.-6.4.
C. Freimann | »Sputnik« 1998
© Galerie Spielvogel
Seite 32 · März · Münchner feuilleton
So, 11.3.
Sa 17. und So 18.03.
Mi, 21.3.
So, 25.3.
Literatur | Meine Lehrerin,
Dora Lux Lesung und Gespräch mit Hilde Schramm
Familienprogramm
Die Kuh, die wollt ins Kino gehen!
gesangs-Vortrag
Walter Siegfried: Die leergeräumte
Wunderkammer
Film | best.DOK.s 2012
Der Fall Chodorkowski
Ein Muhsical von Muht und Glück haben
Einführung: Rachel Salamander
Literaturhaus Saal | 18.00
Salvatorplatz 1
Tickets: www.literaturhaus-muenchen.de
Dora Lux (1882–1959) war von 1953 bis 1955
die Geschichtslehrerin von Hilde Schramm,
die 1936 als Tochter von Albert Speer geboren wurde. Im »Dritten Reich« verstieß sie
gegen die gesetzliche Vorschrift, sich als
Jüdin registrieren zu lassen – und überlebte.
In Zusammenarbeit mit Margit Sarholz und
Werner Meier (Sternschnuppe)
Lustspielhaus | 14.00
Occamstr. 8 | Tickets: 089 34 49 74
»I geh heut no ins Kino!«, sagt die Kuh zu den
anderen Kühen, macht sich auf die Reise in
die Stadt, begegnet den albernen Knödeln
Fritz und Franzisco, entkommt mit knapper
Not dem scheinheiligen Metzger-Schwein und
landet auf dem Roller der flotten Rosa ...
Botanische Staatssammlung
Großer Hörsaal | 19.00
Menzinger Str. 67 | Botanischer Garten
So, 18.3.
Musik | The Duke Spirit
59to1 | 21.30
Sonnenstr. 27 | Tickets: www.muenchenticket.de
The Duke Spirit stellt mit Power-Frontfrau
Liela Moss ihre aktuelle CD »Bruiser« vor.
»Wir haben unsere Songs auf Diät gesetzt,
damit sie noch hungriger klingen«, kommentieren die Briten ihren Beitrag zur Fastenzeit.
Matinee | pOLT
mit Gerd Holzheimer, Christoph und Michael
Well & Well-Kindern
Literaturhaus Saal | 11.30
Salvatorplatz 1 | Tickets: www.literaturhausmuenchen.de
Sein »Leberkäs Hawaii« ist sprichwörtlich,
keine Adventszeit vergeht ohne »Nikolausi«
und »Osterhasi«, Sketche wie »Mai Ling« sind
Kult zwischen Hamburg und München. Gerd
Holzheimer nähert sich dem »Phänomen Polt«
und sucht ihm einen Platz in der deutschen
Humor- und Kulturgeschichte.
© The Duke
So, 18.3.
Di, 13.3.
Film | best.DOKs 2012
Adrift: People of a Lesser God
Literatur | Liebe und andere
Versprechen Buchpremiere mit Andrea Bajani
Regie: Dominique Christian Mollard,
Mauretanien, Marokko, Senegal, USA
2010, Franz. mit engl. UT
Moderation: Maria Gazzetti (Lyrik-Kabinett)
Deutscher Text: Thomas Loibl
ARRI Kino | 11.30
Türkenstr. 91 | Tickets: Kinokasse
Literaturhaus Bibliothek | 20.00
Salvatorplatz 1
Tickets: www.literaturhaus-muenchen.de
Pietro spürt, dass es an der Zeit ist, zurückzublicken. In seinem neuen Roman erzählt Andrea Bajani eine zutiefst berührende Geschichte
über Verlorenes, Vergessenes und Verdrängtes.
Di, 13.03.
Musik | Anna Depenbusch
Solo am Klavier: »schwarz weiß«
Lustspielhaus | 20.30
Occamstr. 8 | Tickets: 089 34 49 74
»Die Mathematik der Anna Depenbusch« ist
das zweite Album, mit dem die Hamburger
Pianistin und Sängerin zwischen Chanson,
Jazz und Pop hochkonzentriert über das
Wesentliche im Leben sinniert.
»Wenn du einen so großen Leidensdruck
hast, tust du alles«, sagt einer der Flüchtlinge, die der Regisseur auf ihrer riskanten
Fahrt über das Meer begleitet. Was treibt
Menschen dazu, für ihren Traum von Europa
ihr Leben aufs Spiel zu setzen?
So, 18.3.
Literatur
Schwester Cordula liest Arztromane
Theater Drehleier
Rosenheimer Str. 123 | Tickets: Tel. 089 48 27 42
Dutzende von Romanen hat Saskia Kästner
seziert, gefiltert und gerührt und daraus den
ultimativen Arztroman destilliert. Schwester
Cordula verabreicht dem Publikum ein Elixier,
das auch den traurigsten Patienten selig macht.
Di, 20.3. – So, 25.3.
Foto: Mathias Bothor
Do, 15.3.
theater | Benefiz
Die Woche des Dachschadens
Musik | Orchester Jakobsplatz
München
TamS Theater | 20.30
Haimhauser Str. 13 a | Tickets: 089 34 58 90
Jüdisches Zentrum am Jakobsplatz
Hubert-Burda-Saal | 20.00
Das TamS hat einen Dachschaden. Ein Sturm
hat einfach das halbe Dach mitgenommen
und nicht wieder zurückgebracht. Aber Dachdecker kosten Geld – deshalb ruft das TamS
»Die Woche des Dachschadens« aus. Zu Hilfe
eilen Sigi Zimmerschied, Maria Peschek, Wolf
Euba, Dieter Hildebrandt u.v.m.
Zwei Komponisten, zwei Freunde, zwei
Sinfonien: Schostakowitschs 14. trifft auf
Mieczyslaw Weinbergs 10. Sinfonie, vorgestellt von Daniel Grossmann.
ARRI Kino | 11.30
Türkenstr. 91 | Tickets: Kinokasse
»Pflanzen Bilder Geschichten«:
Unter diesem Motto referiert
der Sänger und Performancekünstler Walter Siegfried über
das Phänomen der »Wunderkammer«.
© Arri
Mi, 21.3.
Mo, 12.3.
Regie: Cyril Tuschi, Deutschland 2011,
111 min, Russ., Engl., Deutsch mit dt. UT
Literatur-Vortrag
Wolf Singer: Die Willensfreiheit –
ein Irrtum?
Aufstieg und Fall eines der schillerndsten
Männer des neuen Jahrtausends: Als Michail
Chodorkowski, Geschäftsmann und Unterstützer der politische Opposition, sich öffentlich
mit Präsident Putin anlegt, wird er verurteilt –
bis voraussichtlich 2016 ist er noch in Haft.
Gasteig Black Box | 20.00
Rosenheimer Str. 5
Tickets: www.muenchenticket.de
So, 25.3.
Wolf Singer, einer der bedeutendsten Neurowissenschaftler der Welt, sagt: »Die Annahme,
wir hätten uns in diesem Augenblick auch
anders entscheiden können, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar.« In der Reihe
»Goethe im Gasteig« widmet er sich der Frage
Goethes nach der Existenz des freien Willens.
Kleines Theater Haar |15.00
Casinostr. 75, 85540 Haar b. München
Tickets: 089 890 56 98 13
www.kleinestheaterhaar.de
Fr, 23. – So, 25.3.
Theater | Kalteis (Uraufführung)
Das Junge Schauspiel Ensemble Haar bringt
»Kalteis« nach dem gleichnamigen Roman von
Andrea Maria Schenkel auf die Bühne und
erzählt die Geschichte des 1939 hingerichteten
Münchner Frauenmörders Johann Eichhorn.
Tanzperformance | Otone
Sato: Shinsai – Shattering Gods
Benefizveranstaltung zugunsten der
Bewohner von Tohoku | Japan
i-camp | 20.30
Entenbachstr. 37
Tickets: www.i-camp.de | 089 65 00 00
Zum Gedenken an den ersten Jahrestag der Katastrophe in Japan vom 11. März 2011 fragt das Künstlerkollektiv um Regis-
seurin Otone Sato mit Tanz, Schauspiel und Texten nach den katastrophenbedingten Veränderungen von Geist und Seele der Menschen.
© Arri
Sa, 24.3. und So, 25.3.
Foto: Veranstalter
Mi, 28.3.
kabarett | Hagen Rether | Liebe
Lustspielhaus | 20.30
Occamstr. 8 | Tickets: 089-34 49 74
Hagen Rether verbirgt hinter seinen netten
Plaudereien und leichten Klavierakkorden
böse Wahrheiten. Von seinem Programmtitel
»Liebe« darf man sich nicht beirren lassen. Als
gnadenloser Beobachter beschäftigt er sich
mit allem – außer mit politischer Korrektheit.
Musik | »Der Bairische Orff«
Prinzregententheater | 19.00
Fr, 30.3.
Solisten und Ensembles der Münchner
Schule für Bairische Musik und der Bayerischen Philharmonie bringen erstmals die
Carmina Burana zur Aufführung.
musik | »white noise/black silence«
Das Münchner Feuilleton verlost 3x2
Tickets für die Vorstellung am 25.3.:
Schicken Sie am 12.3. eine Mail an
info@muenchner-feuilleton.de.
Die ersten Einsender gewinnen!
Sa, 4.3. – Sa, 28.4.
A PUBLIC MOMENT | Wie
erschließt sich das Ökosystem
eines Kunstwerkes?
Mo–Sa 11–19.00, Mi 12–20.00
So geschlossen
Kistlerhofstr. 70 | www.platform3.de
3 Jahre PLATFORM3: 18 Künstler forschen
gemeinsam nach Instrumenten zur Darstellung ihrer künstlerischen Praxis und
machen den künstlerischen Prozess
erfahrbar. Die Ergebnisse spiegeln sich in
der Ausstellung, in offenen Ateliers und in
einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm.
Gasteig Black Box | Kleiner Konzertsaal | 19.00
Rosenheimer Str. 5 | www.muenchenticket.de
Zwei Tage Wechselwirkung von ruhiger, atmosphärischer Stille und brachialer Härte: Der
Kleine Konzertsaal wird von den Formationen
Bohren & der Club of Gore, Kammerflimmer
Kollektief, Liliath und SampleMinded bespielt,
während sich in der Black Box Panzerballett,
Lee Harvey & the Oswalds, Instrument und Alison Thunderland die Beats um die Ohren hauen.
bis Mo, 5.5.
ausstellung | Christoph Freimann
»Rückblick« Skulpturen und Wandobjekte
Galerie Gudrun Spielvogel
Di–Fr 13–18.30, Sa 11–14.00
Maximilianstr. 45, www.spielvogel-galerie.de
Freimann zerlegt Stahlkörper in Kanten und
Flächen und deckt neue Strukturen auf. Aus
Winkelprofilen unterschiedlicher Grösse und
Länge entstehen leichte und dynamische
Skulpturen, die immer einem strengen Grundkonzept folgen. Plastik und realer Raum
durchdringen sich.