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Nr. 10/2015 Ruthie Foster • Gary Clark Jr. - Rusty Stone & Robert Richter – Mitch Kashmar – Otis Redding • Album des Monats: Sugar Brown – Poor Lazarus • Mit Erzählungen von Brygida Helbig und Bret Harte 2 EDITORIAL IMPRESSUM Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin erscheint in der Regel monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de verschickt. Wasser-Prawda Nr. 10/2015 Redaktionsschluss: 20.10.2015 Titelseite: Ruthie Foster links: Jo Kubek REDAKTION: C he f r e d a k t e u r : R a i mu nd Nitzsche (V.i.S.d.P.) Redaktion: Mario Bollinger, Bernd Kreikmann, Matthias Schneider, Dave Watkins, Darren Weale Mitarbeiter dieser Ausgabe: Gary Burnett, Iain Patience, Markus Reimer Die nächste Ausgabe erscheint am 27. November 2015. Adresse: Redaktion Wasser-Prawda c/o wirkstatt Gützkower Str. 83 17489 Greifswald Tel.: 03834/535664 redaktion@wasser-prawda.de Anzeigenabteilung: marketing@wasser-prawda.de Wasser-Prawda | Oktober 2015 I N H A LT 3 INHALT OKTOBER 2015 3 4 5 9 10 13 14 17 20 22 25 29 30 Inhalt Editorial Auf Tour Musik 13./14. November: Zwei Tage Blues in Volksdorf Die Schnellen & die Toten Gary Clark Jr.: Wenn diese Welt mich aufregt Ruthie Foster: Mehr als Nur eine Blueslady Bayern – Dein Blues Teil 1: Rusty Stone und Robert Richter in der Schrottgalerie Mitch Kashmar: Harmonica-Heaven on Earth Blues At Sea Otis Blue: Otis Redding und die Entstehung eines Soulklassikers Netzfundstücke: Kurzticker Netzfundstücke: Hörbi Schmidt Band 31 Blueskalender 37 39 52 54 56 58 60 69 Rezensionen Sugar Brown – Poor Lazarus Rezensionen A bis Z Wiederhören Meilensteine: Willie Dixon – I Am The Blues Feuilleton Literatur-ABC: F Wie Fiktion Sprachraum Brigyda Helbig: Die Privatdozentin Bret Harte: Der Mann am Semaphor Die Vestalinnen 80 English Articles Wasser-Prawda | Oktober 2015 4 EDITORIAL EDITORIAL VON RAIMUND NITZSCHE Wie geht‘s jetzt weiter mit der Wasser-Prawda? Das war so ziemlich jedes Mal die erste Frage, nachdem ich Freunden mitgeteilt habe, dass ich ab sofort zumindest für vier Wochen einen „echten“ Job habe. Acht Jahre und mehr haben wir bislang unser Kulturmagazin in purer Selbstausbeutung jeden Monat neu mit Rezensionen, Biografien und Interviews, mit literarischen Texten und Buchkritiken gefüllt. Möglich war das nur, weil trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten immer noch ein paar journalistische Beiträge an andere Auftraggeber verkauft werden konnten. Das hatte in letzter Zeit aber immer mehr abgenommen. Auch ist es in den letzten Jahren nicht gelungen, regelmäßige Einnahmen durch den Verkauf von Anzeigen zu generieren. Und so ist meine Karriere als freier Journalist zumindest momentan an sein Ende gekommen. Ab sofort bin ich nur noch in meiner Freizeit journalistisch tätig. Und das wird sich natürlich auch bei der Wasser-Prawda auswirken. Die erste „Streichung“ im Magazin betrifft den Terminkalender: Die Sammlung von Tourterminen und Veranstaltungsplänen aus den Bereichen des Blues und verwandter Musik wird es so nicht mehr geben. Wer seine Termine weiterhin auf diesen Seiten und online sehen möchte, kann gerne nach den Preisen für Werbeanzeigen fragen. Und für Musikerinnen und Musiker werden wir hier ebenso Spezialangebote unterbreiten wie für kleine Clubs. Aber kostenlos gibt es diesen Service nicht mehr. In diesem Monat ist das Heft noch prall gefüllt. Aber auch das könnte sich in den nächsten Wochen ändern. Wenn man täglich zwischen acht und vier im Büro sitzt und außerdem noch drei Stunden Fahrzeit hat, kann man nicht mehr täglich bis zu drei Rezensionen schreiben oder einen Berg englischer Texte übersetzen. Das heißt jetzt aber nicht, dass wir die Wasser-Prawda jetzt zum reinen Spaß- und Feierabendprojekt zurückfahren wollen. Wir sind im Gegenteil dabei, andere wirtschaftliche Möglichkeiten zu erschließen. Zukünftig Wasser-Prawda | Oktober 2015 wird es etwa Bücher des freiraum-verlags über unseren neuen Webshop zu kaufen geben. Und wer als Musiker unsere Seite unterstützen möchte, kann uns gerne seine Alben zum Verkauf in physischer Form oder als Download zur Verfügung stellen. Fragt einfach per Mail nach den Konditionen nach. Euer Raimund Nitzsche TERMINE Festivals 7. Volksdorfer Blues Festival 13./14.11. Hamburg-Volksdorf Luca Sestak Duo, Jazz-Combo des Walddörfer Gymnasiums, Meena Cryle & The Chris Fillmore Band, Abi Wallenstein, The Double Vision Auf Tour 3 Dayz Whizkey 08.11. Freising, Schlüter Bar Abi Wallenstein 21.11. Oederan, Volkskunstschule im „Spital“ (BluesCulture) Bad Temper Joe 23.11. Bielefeld, Spökes (mit Greyhound George) B.B. & The Blues Shacks 02.11. Köln Soundstation im Bahnhof Köln 06.11. Bachs Blues Night Bachs (CH) 07.11. Itzehoe Lions Blues Night 13.11. Czechowice-Dziedzice ROCK & BLUES FESTIWAL (PL) 16.11. Kassel Theaterstübchen 17.11. Fürth Kofferfabrik 19.11. Wien BlueSimon (A) 20.11. Frauental Blue Garage (A) Big Daddy Wilson 06.+07.11. Dresden / Jazztage Dresden 13.11. Kiel / Räucherei 14.11. Twist / Heimathaus 19.11. Menen / Culturcentrum (BE) Blue Note Blues Band 27.11. München, Alfonso’s 28.11. Bad Aibling, Campus Bar 05.12. Kolbermoor, Nikolausi im Grammophon 11.12. Bad Soden, Franky’s 5 12.12. Würzburg, Omnibus Cologne Blues Club 7.11. Rhede, Blues 12.11. Wien, Reigen Live (A) 13.11. Steyregg, Weissenwolf (A) 14.11. Frauental, Bluegarage (A) Daniel Puente Encina 20.11. Eckernförde, Carls (Trio) Dr. Will & The Wizards 7.11. Zürich, El Lokal (CH) 13.11. Runding, Robinson 14.11. München, Anton‘s East Blues Experience 06.11. Markneukirchen, Framus & Warwick Music Hall 07.11. Hainichen, Ratskeller 13.11. Stralsund, Alte Brauerei 20.11. Sondershausen, Jazzclub 21.11. Mülsen, Rock- und Bluesnacht 27.11. Pirna, Q24 28.11. Langenlipsdorf, Kulturkantine Engerling 07.11. Chemnitz, Kabarettkneipe 20.11. Rostock, Pumpe 21.11. Stralsund, Anker Werkstatt 27.11. Eisenach, Schlachthof Flemming Borby 04.11. Cottbus, Grenzenlos 05.11. Dresden, Laika 06.11. München, Trachtenvogl 07.11. Emerkingen, Café Ohne 11.11. Landau, Akzent Kaffehaus 12.11. Basel, Caff è Bologna (CH) 13.11. Thun, Mundwerk (CH) 14.11. Aarau, Garage (CH) 15.11. Karlsruhe, Wohnzimmerkonzert Wasser-Prawda | Oktober 2015 6 TERMINE 25.11. Halle, Café Ludwig 26.11. Grevenbroich, Café Kultus 27.11. Bochum, I am LOVE 28.11. Köln, Kulturcafé Lichtung 29.11. Stuttgart, Sideways Georg Schroeter & Marc Breitfelder 08.11. Rohrbach, incontri 14.11. Garching, Bürgerhaus Glen David Andrews & The Sazerac Swingers 20.11. Gütersloh, Weberei 21.11. Heerlen (NL), Jazz Out Festival 22.11. Gronau, Benefiz Gospel Gala 25.11. Heiligenhaus, Jazz im Museum 26.11. Paderborn, Jazzclub 27.11. Mannheim, Jazz Night im Hauptbahnhof 28.11. Brackenheim, Kulturforum 29.11. Tübingen, Gospelkonzert, Jakobuskirche Greyhound George 09.11. Bielefeld, Spökes - m. Thomas Feldmann 23.11. Bielefeld, Spökes - m. Bad Temper Joe Hamburg Blues Band 13.11. Ascheberg „Landgasthof Langenrade“ 14.11. Magdeburg, „Festung Mark“ 20.11. Oldenburg, „Charlys“ 21.11. Goslar, „Kubik“ 04.12. Isernhagen, „Bluesgarage“ 05.12. Hamm „Kulturwerkstatt“ 19.12. Worpswede, „Music Hall“ 23.12. Vechta, „Gulfhaus“ Hattler 16.11. Bonn, Harmonie 17.11. Aschaffenburg, Colossaal 18.11. Göttingen, Musa 27.11. Markneukirchen, Warwick Musichall 28.11. Altenburg, Jazzklub Wasser-Prawda | Oktober 2015 Henning Pertiet 13.11. Isernhagen, Isernhagenhof (mit: Axel Zwingenberger) 15.11. Bremen, Club Moments (mit: Axel Zwingenberger) Jessy Martens & Band 07.11. Twistringen, Alte Zieglei 13.11. Berlin, Ratskeller Köpenick 14.11. Affalter, Gasthof Zur Linde Jewish Monkeys 04.11. Berlin, Badehaus Szimpla 05.11. Augsburg, Kresslesmühle 07.11. Dresden, Scheune Jimmy Reiter 04.12. Cuxhaven - Captain Ahab‘s Klaus Major Heuser Band 06.11. Bonn - Pantheon Theater 14.11. Stemwede - Life House 15.11. Leer (Ostfriesland) - Zollhaus 20.11. Gelsenkirchen - Kaue 27.11. Eppelborn - Big Eppel Marius Tilly Band 27.11. Bremen, VILLA SPONTE 28.11. Lauenau, KESSELHAUS Meena Cryle 06.11. Visp, Blues Night (CH) 07.11. Baden Baden, Bluesclub 10.11. Offenbach, KJK 13.11. Melle, Kulturwerkstatt 14.11 HH-Volksdorf, Bluesfestival 17.11. Bremen, Meisenfrei 19.11. Eppstein, Wunderbar Mike Zito 09.11. Bonn, Harmonie Bonn TERMINE 10.11. Bensheim, The Rex 12.11. Enschede, Nixenmeer (NL) 13.11. Weert, De Bosuil (NL) 14.11. Hannover, Blues Garage Richard Bargel & Dead Slow Stampede 18.11. PULHEIM | Kultur- und Medienzentrum Samantha Fish/Laurence Jones 01.11. Grolloo, De Hofsteenge (NL) 03.11. Köln, GreensClub 04.11. Hamburg, Downtown Bluesclub 05.11. Kerteminde, Samlingsstuen (DK) 06.11. Berlin, Quasimodo 08.11. Rheinberg, Schwarzer Adler Savoy Brown 18.11. Dortmund, Musiktheater Piano 19.11. Lindewerra, Gemeindesaal 20.11. Rubigen, Muhle Hunziken (CH) 21.11. Hannover, Blues Garage 22.11. München, Garage Deluxe 24.11. Wien, Reigen Live (A) 26.11. Weinheim, Cafe Central Weinheim 27.11. Hamburg, Downtown Bluesclub 28.11. Berlin, Quasimodo Sena Ehrhardt 01.11. Kodersdorf, Weinscheune The Dynamite Daze 02.11. Lahnstein, JUKZ 14.11. Nürtingen, Kuckucksei 28.11. Offenbach, Wiener Hof THORBJØRN RISAGER 12.11. Dortmund, Musiktheater Piano 13.11. Übach, Rockfabrik 14.11. MontbEliard, Atelier des Moles (F) 15.11. Beverstedt, Kulturtransport 27.11. Hildesheim, Bischofsmühle 28.11. Rheinberg, Schwarzer Adler 7 Wille and the Bandits (UK) 19.11. Münster, Hot Jazz Club 20.11. Hamburg, Rock Café St. Pauli 21.11. Worpswede, Music Hall 23.11. Aschaffenburg, Colos-Saal 24.11. Köln, Yard Club 26.11. Berlin, Auster Club NEW 27.11. Isernhagen, Blues Garage 28.11. Lorsch, Kulturhaus Rex Wolf Maahn 06.11. Torgau, Kulturbastion 07.11. Schrecksbach, Mylord 20.11. Worpswede, Live Music Hall 21.11. Bad Lippspringe, Kongresshaus 27.11. Berlin, Tempodrom 28.11. Göttingen, MUSA Clubs Blues & More Eiscafe Temmler, Chemnitz 07.11. Eb Davis & Superband (Exil/Schauspielhaus) 20.11. The Desperate Blues Girls 28.12. Ballroomshakers feat Roberta Collins Bluesgarage Hannover Isernhagen 06.11. Nikki Hill 07.11. Mike Osborn Band 12.11. Stef Burns League 13.11. Hundred Seventy Split 14.11. Mike Zit & The Wheel 20.11. Brother Dege & The Brotherhood of Blues ChaBah Kandern 04.11. Larry Griffith 11.11. Joe Filisko & Eric Noden 18.11. The Blues Bones Wasser-Prawda | Oktober 2015 8 TERMINE 25.11. Marily Oliver and Gas Blues Band Downtown Bluesclub Hamburg 04.11. Samantha Fish/Laurence Jones Kulturspeicher (Bergstraße, Ueckermünde) 14.11. Eisbrenner 28.11. Hubertus Rösch Laboratorium Stuttgart 06.11. Erja Lyytinen 26.11. Danny Bryant Music Hall Worpswede 06.11. NDR Bigband feat. Pee Wee Ellis Quasimodo Berlin 06.11. SAMANTHA FISH & LAURENCE JONES 07.11. ERIC GALES 13.11. NIKKI HILL 20.11. JC DOOK‘S MOTOWN PROJECT 21.11. BABA SOUL & THE PROFESSORS OF FUNK 27.11. LAYLA ZOE & BAND 28.11. SAVOY BROWN Troisdorfer Bluesclub Realschule Heimbachstrasse 10, Troisdorf 20.11. Meena Cryle & Chris Fillmore Band Wasser-Prawda | Oktober 2015 MUSIK 9 1 3. / 1 4. NOVE M B E R : Z WE I TAGE BLUES IN VOLKSDORF Irgendwie scheint den Machern des zumindest kleinsten deutschen Bluesfes vals der Rahmen zu eng geworden zu sein. Sta wie in den letzten Jahren drei Acts aus der Region, aus Deutschland und dem Rest der Welt finden sich auf dem Programm der siebeten Auflage gleich fünf Bands. Das „normale“ Festivalprogramm bestreiten dann am 14. November Meena Cryle und die Chris Fillmore Band aus Österreich, Abi Wallenstein und die Thüringer Band The Double Vision. Die Bluesrocker sind mittlerweile längst über ihren ehemaligen Stauts als Rory Gallegher Tribut Band hinausgewachsen und haben in den letzten Jahren Alben mit eigenen Stücken veröffentlicht und bei den verschiedensten Festivals für Aufmerksamkeit gesorgt. Über Abi Wallenstein muss man hier wohl Am ersten Abend werden (vor lediglich 75 Zuschauern) ebensowenig große Worte verlieren wie über die fanim Club Riff (dem ehemaligen Flava Club) die Jazz- tastische Sängerin Meena (Foto)aus Österreich, die mit Combo des Walddörfer Gymnasiums (Hamburg) und ihren Alben auf Ruf Records nicht nur in der Redaktion das Duo des jungen Boogie Pianisten Luca Stestak auf- der Wasser-Prawda Freunde gefunden hat. treten. Vor allem der 1995 geborene Niedersachse hat mit Hier kann man nur sagen: Ein spannendes Programm zwei bereits zwei eigenen Alben und vielen Konzerten haben die engagierten Festivalmacher mal wieder nicht nur im Norden Deutschlands schon einen äußerst zusammen gestellt. Man sollte sich möglichst schnell guten Ruf erspielt. Trotz seiner Jugend spielt er mittler- um Karten bemühen. Denn bislang war das Volksdorfer weile hauptsächlich eigene Kompositionen! Bluesfestival noch jedes Mal komplett ausverkauft. Wasser-Prawda | Oktober 2015 10 INTERVIEW D IE SC HNE LLE N & D I E T OT E N EIN NEUER BRIEF AUS DEM VEREINIGTEN KÖNIGREICH VON DARREN WEALE Link zur Musik dabei! Es ist gut sich daran zu erinnern, dass, als schwarze amerikanische Blueskünstler in ihrem Heimatland Meine Entschuldigung an die Leser der Wasser-Prawda Rassismus und Ausgrenzung erlitten, war Europa für dafür, dass in letzter Zeit die Briefe aus dem UK fehlten. sie eine bessere Erfahrung. Und einige von ihnen ließen Briefe sind schwierig zu schreiben in sehr arbeitsreichen sich dann auch hier nieder. Zeiten. Und hier war eine ganze Menge los. Deutschland Was war eigentlich los im UK, hör ich Euch fragen. ist hierzulande häufig in den Nachrichten mit dem, was Oder ich stell mir zumindest vor, dass Ihr das macht. man die Flüchtlingskrise nennt und dem Willkommen, Ok, da das hier ein auf die Musik konzentrierter Brief ist: das man vielen Migranten gibt. Und das ist mehr, als wir Hier ist musikalisch eine Menge passiert. Das Lead Belly selbst geschaff t haben. Wie auch immer: Es gibt einen Welcome to the LeƩer from the United Kingdom! Wasser-Prawda | Oktober 2015 INTERVIEW Fest früher in diesem Jahr war so gut, wie man sich ein Tribut an irgendjemanden nur vorstellen kann. Es wurde veranstaltet in der Royal Albert Hall. Der Abend endete, indem Van Morrison gemeinsam mit Eric Burdon sang, begleitet von Jools Holland am Piano, Chris Barber (auf dem Foto links) an der Posaune und Paul Jones an der Mundharmonika. Man muss kein Musiklexikon sein, um zu verstehen, wie groß diese Namen sind. Die Veranstaltung wird im Dezember nach New York gehen. Und wenn man den Gerüchten glauben kann, ist auch in Deutschland eine Aufführung erwartet werden kann. Dieses Festival zu Ehren des verstorbenen amerikanischen Folk-Blues-Musikers und traurige Ereignisse wie der Tod von BB King und Jack Bruce von Cream erklären den Titel dieses Briefs. Hier passiert eine Menge bei den Schnellen (den Lebenden) und den Toten. The Quick & The Dad ist auch der Name eines ziemlich guten Albums von Geoff Everett. Und dann waren da die Anfänge eine Ausstellung zur Geschichte des britischen Blues, welche sowohl lebende als auch verstorbene Künstler ehren will, und UK Blues, ein neuer Verband für den Britischen Blues. Beide feiern die Schnellen und die Toten. Es ist ironisch, dass mit einer bevorstehenden Volkabstimmung über die Mitgliedschaft in der in der Europäischen Union bei uns im Vereinigten Königreich, der Blues einen eigenen Verband gegründet hat, der voller Freude Mitglied der European Blues Union ist. Enge Verbindungen mit Europa und auch mit Deutschland sind sehr erwünscht. Klar, es gibt hier die allgemeine Erkenntnis, dass in Deutschland Musiker viel mehr respektiert und besser behandelt werden als im UK. So erwartet mehr umherziehende britsche Musiker. Und bitte bezieht sie auch in Euer Willkommen mit ein! Be prosperous and enjoy your live music and all that is German! 11 Eric Burdon, Van Morrison und Paul Jones beim Lead Belly Fest in der Londoner Royal Albert Hall. Am 7. und 8. Dezember wird das Festival auch in der New Yorker Carnegie Hall zu erleben sein. Dort war Leadbelly 1949 kurz vor seinem Tod zum letzten Male aufgetreten. Links Alistair Cooke - www.bbc.co.uk/programmes/ b00f6hbp Lead Belly Fest: www.leadbellyfest.com (Auf dieser Seite finden sich auch Videos verschiedener Künstler, während des Festivals in der Royal Albert Hall.) British Blues Exhibition: www.britishbluesexhibition.co.uk Wasser-Prawda | Oktober 2015 12 MUSIK Wasser-Prawda | Oktober 2015 MUSIK 13 G ARY C LA RK JR.: WE NN D I E S E W ELT MIC H A UF R E GT VON GARY BURNETT Gary Clark Jr. aus Aus n, Texas ist eines der hellsten Lichter im Blues zur Zeit. Mit lediglich 31 Jahren hat er drei außerordentliche Alben veröffentlicht, 2012 das für den Grammy nominierte Studioalbum „Blak and Blu“, das großar ge „Gary Clark Jr. Live“ im letzten Jahr und jetzt „The Story of Sonny Boy Slim“. Bezeichnend für die Aufmerksamkeit, die ihm in letzter Zeit zuteil wurde, ist sein kürzlicher Auftrit in der Jimmy Fallon Show, wo Fallon ihn bejubelte als einen der bestern Performer, die es da draußen momentan gibt. Und dort gab er eine hervorragende Version von „The Healing“ vom neuen Album zum Besten: „Church“, bei dem Clarks Schwestern Shawn und Savannah die Harmonievocals singen. Die Gospelmusik, die sie während ihrer Kindheit gemeinsam hörten, ist ohne Zweifel ein grundlegender Einfluss in diesem Lied. Der Song spricht von gemachten Fehlern, Bedauern und der Sehnsucht nach den früheren Zeiten, die besser waren. “I was taught to be paƟent, I was taught to be kind, But I unwind…” is followed by “I’m all alone, Miles from home.” Auch wenn Clark selbst niemals behauptet, gläubig zu sein, kommt doch in dem klagenden Schrei des Subjekts im Song ein hoffnungsvoller Ton zum Klingen: “Aw my lord, I need your helping hand” Clark sagt über das Lied: „Ich glaube, wenn Du Zeit hast, um über die Herausforderungen in Deinem Leben „Music Is Our healing oder über den Weltschmerz nachzudenken, da haben When this world upsets me, this music sets me mich meine Leute immer gelehrt, nach geistlicher Stärke free.“ zu suchen. Ein Teil (dieses Songs) stammt aus einem Der Sonny Boy Slim vom Albumtitel ist tatsächlich Kapitel meines Lebens, wo ich darüber nachdachte, wo Clark selbst. Seine Mutter nannte ihn von Zeit zu Zeit ich herkomme und wo ich hingehen will“. Sonny Boy. Und für Clark beschwört der Name Bilder von einigen seiner Lieblingskünfster herauf, etwa von Auch wenn Clark nach der Musik sucht für seine Sonny Boy Williamson. Außerdem fügt Clark hinzu: „Heilung“ („when this world upsets me, This music sets „Greg Izor, ein großartiger Harmonikaspieler, pflegte me free“) hat er doch ganz sicher recht, dass es im Ende, mich jedes mal Slim zu nennen, wenn er mich sah. wenn wir uns mit Herausforderungen, Enttäuschungen, Danach annten mich auch paar andere so. Und so setzte Fehlern oder Sorgen auseinandersetzen müssen, dass es dann nötig ist, nach geistlicher Stärke zu suchen. Die ich die beiden Namen zusammen.“ Frage ist, wo wir sie finden können. Ist die Musik genug? Wenn das Album ein Thema hat, dann ist es nach Clark Manchmal ist das Leid zu groß und die Belastungen ganz einfach die Hoffnung „Bei all dem Bullshit gibt es zu schwer zu gragen, so dass wir etwas mehr brauchen. immer Hoffnung“. Schaut einfach mal ins Matthäusevangelium 11,28: Einer meiner Lieblingssongs von dem Album ist das . “Aw my lord, I need your helping hand.” größtenteils akustische, warme und voller Soul stekcende Wasser-Prawda | Oktober 2015 14 INTERVIEW R UTH IE FOSTE R: M E HR A L S N UR E INE BLUES L A DY TEXT: IAIN PATIENCE, FOTOS: KARSTEN SPEHR Ruthie Foster ist viel mehr als nur eine weitere Blueslady. Sie ist eine wahre Gospel-Diva mit einer erstaunlich kra vollen S mme, die klingt als habe sie im buchstäblichen Sinne mehr als ein paar Dächer und Dachstühle im Laufe der Jahre angehoben. Ihre Bühnenpräsenz ist immer dynamisch: Ihr vertraute Gibson-Gitarre umklammernd startet sie jeden Titel unmi elbar und mit klarer Absicht. Das Publikum schaut erführch g, wenn von einem Song zum nächsten stürmt. Blueswelt kann sie auch Musik lesen. Bevor sie bei Uncle Sam unterschrieb und der Navy beitrat, um die Welt als Ingenieurin zu sehen, graduierte sie im Fach Musik. Während sie bei der Navy war, wandte sie ihr Interesse der Gitarre zu und entwickelte ihren eigenen harten und percussiven Stil, der sie seit ihrer Demobilierung begleitet hat. eine Familienangelegenheit. Für MuƩer und GroßmuƩer war das wichƟg. Und so war es niemals eine Möglichkeit, nicht in der Kirche zu singen“, sagt sie mit einem reumüƟgen aber eindeuƟg dankbaren Lächeln. Als Inspiration nimmt sie einfach Themen vom täglichen Leben und Lieben. So entstehen Lieder, die ihre eigenen Interessen und Beobachtungen widerspiegeln, wenn “Meine SƟmme ist mein erssie auf Tour geht, für lange Zeiten tes Instrument“, sagt sie. aus dem Koffer fern von zu Hause Und die hat eine umwerfende lebt oder ihre junge Tochter vermisst. Qualität, die sie schon als Kind im ländlichen Texas trainierte, Es ist schwer, Vergleiche mit Mavis wo ihre Großmutter die lokale Staples zu vermeiden. Beide sind Baptistenkirche und wöchentli- preisgekrönte Sängerinnen mit che Singeabende besuchte. Die großartigen Stimmen und einem selbe Großmutter war es auch, die Verständnis der Gospelmusik wie sie zuerst mit dem Klavier bekannt kaum jemand anderes. Foster ist Die Songs hat sie im Kopf - einen machte und ihr die Liebe zur Musik schnell bereit, der langgedienten und beeindruckenden Katalog voller im weitesten Sinne nahe brachte. fast legendären Staples Respekt zu heißblütiger seelenvoller Musik, zollen als eindeutiges Gospelvorbild. den sie mit Leichtigkeit und Foster dankt ihrer Mutter und ihrer Ich liebe Mavis Staples. Sie Selbstbewusstsein vorträgt. Und das Großmutter dafür, dass sie ihr die hat noch immer eine solch könnte vielleicht eine Überraschung Musik und das Singen vor anderen faszinierende SƟmme und sein: Die Gitarre ist nicht ihr erstes nahe gebracht haben, zunächst Energie. Und trotz ihres AlInstrument. Ruthie ist eigent- nur in der Familie, später bei ters gibt sie jedes Mal alles. lich Pianistin, aber sie dazu merkt Veranstaltungen in der Kirche und bei einem College-Kurs, in dem sie Im Studio versucht sie den Geist der lachend an: ihren Major machte. Live-Auftritte so sehr wie möglich Die Gitarre ist wesentlich einzufangen. So vermeidet sie überIch fing mit dem Singen in besser transporƟerbar. flüssige Technologien und Overdubs. unserer heimatlichen BapƟsAnders als die meisten Musiker der tenkirche an. Das was wirklich Ich hab immer den akusƟschen Wasser-Prawda | Oktober 2015 INTERVIEW 15 Wasser-Prawda | Oktober 2015 16 INTERVIEW Sound und akusƟsche Instrumente bevorzugt, sƟmmt sie zu. Klar muss ich meine Gitarre über einen Pick-Up an den Verstärker anschließen. Aber das ist wichƟg, weil ich ja gehört werden muss, wenn ich auf der Bühne vor einer Menschenmenge stehe. Dort ist die ganze Frage des Sounds wirklich wichƟg. Das ist eine Formel, die eindeutig funktioniert. Foster hat jede Menge Preise gewonnen: Beste zeitgenössische Bluessängerin, Gewinnerin des Readers Poll des Magazins „Living Blues“, Koko Taylor Award für die beste traditionelle Bluessängerin 2012, 2013 und auch 2015 wieder. Hinzu kommen noch GrammyNominierungen und Lobeshymnen von überall her. Foster scheint das alles ohne Selbstgefälligkeit hinzunehmen: SƟmmung vor der Bühne wahrnehmen und sich danach richten. Das Publikum ist da drüben wirklich cool. Sie kennen die Musik. Sie lieben sie. Und Für ihr jüngstes Album „Promise sie geben mir immer das Geof A Brand New Day“ bekommt sie fühl, willkommen zu sein. Kritikerlob von überall her. Foster freut sich darüber - und auch darauf, in Europa zu spielen. In letzter Zeit war sie etwa in Italien, Frankreich und Spanien unterwegs. „Yeah, mit den Preisen hab ich wirklich Glück gehabt. Es war einfach großarƟg“ Mit einem knappen Duzend Alben hinter sich - die meisten davon seit sie 1995/96 Profi wurde, liebt sie noch immer, was sie tut, nur nicht das Reisen und das damit verbundene Theater. Ich liebe das Singen, das ist, was ich am Besten kann. Und ich hab die Freiheit, mein Programm immer dann zu ändern, wenn ich Lust habe. Ich kann den AuŌriƩ mal mit einem Lied beginnen oder mit einem völlig anderen wie etwa „Ring of Fire“. Das hängt immer vom Gig und dem Publikum ab. Man muss die Wasser-Prawda | Oktober 2015 INTERVIEW 17 BAYERN – D E IN B L U E S T E I L 1: R US TY STONE UND R OB E R T R I CHT E R IN DER SC HROTT GA L E R I E TEXT: MARIO BOLLINGER, FOTOS: CHRISTOPHE RASCLE In einer kleinen Serie möchte ich mal den Blues von der bayerischen Seite her betrachten. Wer spielt in Bayern Blues und vor allem wo kann man Blues in Bayern spielen und hören. Der erste Beitrag der Serie setzt Rusty Stone und seinen Duopartner Robert Richter ins Licht. Rusty Stone ist gut bekannt als Reverent Rusty und seinem Trio und Robert Richter ist im Münchner Bereich durch Auftritte mit Titus Waldenfels gut bekannt. Aber warum jetzt beide zusammen? Wir haben die Gelegenheit, beide zu einem Auftritt in der Schrottgalerie zu treffen, der für Beide sogar leicht denkwürdig wird. Davon aber später mehr. Die Schrottgalerie von Sven Friedel ist eine Begegnungsstätte oder „Forum für den freien Geist“ in Glonn bei München, wo sich Musiker und bildschaffende Künstler die Klinke in die Hand geben. Musiker mit kleinen, leisen akustischen Auftritten haben hier genauso eine Stätte gefunden wie auch der Sammeltrieb von Wasser-Prawda | Oktober 2015 18 INTERVIEW Sven Friedel, der hier allerlei schrottig-künstlerische Gegenstände zur Schau stellt wie auch Vernissagen und Lesungen organisiert. Als Ergänzung stellt hier Hanno Größl seine Steinmetzarbeiten aus. Die Musikerliste liest sich wie das Whois-Who der lokalen und weiterentfernten Liveszene: Schorsch Hampel, Dr. Will, „Sir“ Oliver Mally, Black Patty und viele mehr. Das Konzept ist einfach: Sven Friedel öffnet seinen Galerieraum, stellt Getränke auf Vertrauensbezahlbasis zur Verfügung und die Band spielt gegen den Hut. Damit die Künstler nicht ohne signifikante Gage nach Hause gehen, läutet Sven seinen Hutgang Rusty Stone, nächste Seite: Robert Richter immer wie folgt ein: „Klimpern darf vorrangig und wir sind wieder auf Themenspektrums von Blues, Folk es nicht, aber rascheln soll es“ Tour z.B. im Chiemgau Blues Club. und Country allzu viele Etiketten zu Heute Abend stehen zwei Musiker In der Musikschule haben wir uns vermeiden. Wenn Du zu zehn verunterschiedlicher Couleur auf dem dann wir uns ein paar Mal getrof- schiedenen Leute über Blues sprichst, Programm: Rusty Stone, stadt- fen, gejammt und uns die Frage bekommst Du zehn verschiedene bekannter Bluesmusiker und gestellt, ob wir nicht mal als Duo Vorstellungen von Blues. Vom Robert Richter, „grenzenloser“ was machen können. Dann haben Robert Johnson bis Gary Moore ist Songschreiber und zupfinstrumente- wir festgestellt, das, wo andere Bands halt alles Blues. Auch möchten wir spielender Sänger. Im Rahmen eines jahrelang proben, es bei uns ohne unser eigenen Songs mit einbringen. Interviews stellen sich die beiden proben trotzdem passt. Wir wollten WP: Ihr habt das Wort „CD“ dann eine eigene CD zum Verkaufen schon in den Mund genommen. Musiker und Ihre Pläne vor. und Bewerben aufnehmen. Was ist da geplant? WP: Wir kennen Rusty Stone aus seinem Trio. Wir haben Deine WP: Was ist das Programm vom R+R: Du kennst ja meine CD „Struggle“ und die ist ja sehr aufCD ja bereits rezensiert, aber wo Duo im Gegensatz zum Trio? wendig gemacht worden. Jetzt kommt Robert Richter her? R+R: Das geht in die Richtung Rusty+Robert: Der Robert hat bei Tom Waits und Bob Dylan, also wollen wir fast wie „home recording“ der „Blues District“ gespielt, das war Americana. Teilweise Folk und in der Musikschule FMZ als oneeine alte Blues Band. Wir wussten rockiger Blues. Der Blues ist nicht takes aufnehmen: Ein Mikrophon von einander, aber wir haben nie 100% im Zentrum des Geschehens. in den Raum stellen, schauen, dass zusammen gespielt. Letztes Jahr hat Wir spielen zwar „You gotta move“ es gut da steht und dann „You Hear mich der Robert angerufen, ob ich und wir teilen die Vorliebe für die What You Get“. Lust habe, Unterricht zu geben. Ich alten Bluesleute wie Fred McDowell WP: Und wann ist das geplant? sagte „Ja, warum nicht, weil bei mir oder Blind Willie McTell, aber hat sich alles etwas verschoben“. Das Robert mag Bob Dylan. Wir ver- R+R: Das ist jetzt die andere Frage. Trio Reverent Rusty ist natürlich suchen halt , innerhalb des ganzen Wir sind beide ziemlich eingespannt. Wasser-Prawda | Oktober 2015 INTERVIEW Vorgenommen haben wir uns es gestern, versuchen tun wir es heute und schaffen tun wir es vielleicht übermorgen. WP: Wird das noch was für dieses Jahr? kein Netzwerk, um den Austausch mal zu verstärken. Wenn die Kosten reinkommen, dann würden wir es mehr als Promotion sehen, um für uns für später Werbung zu machen. GEMA-Kosten tun das ihre, um die Veranstaltungskosten ungünstig R+R: Hoffentlich. Sagen wir mal so: erscheinen zu lassen. Früher haben Vornehmen tun wir das. Aber das ist die Wirte nach einem guten Konzert immer eine Timingsache. zwei Fässer Bier bei der Brauerei WP: Wohin geht dann die Reise? nachbestellt und heute halten sich die Gäste an einem Glas Wasser fest. R+R: Wir lassen das jetzt einfach mal wuchern. Das ist unser 6. Konzert. WP: Wenn ich mich hier in der Schrottgalerie so umschaue, WP: Habt Ihr gesehen, dass die dann ist es mehrheitlich weibBlues Challenge in Eutin ohne liches Publikum. Seid Ihr die nennenswerte Beteiligung aus dem „Frauenversteherband“? süddeutschen Raum stattfand? R+R: Das ist reiner Zufall, weil R+R: War nicht mal Black Patty deren Männer heute bei der Hitze dabei? im Biergarten sitzen. WP: Nein, nicht mal die. Woran kann das liegen, dass die süddeutschen Bands nicht im Norden und umgekehrt spielen? R+R: Das Problem liegt an den Gagen und der Fahrerei. Es gibt da 19 die kommenden Veranstaltungen angesagt, das Email-Brett vorgestellt, um den Newsletter anzubieten und dann der Gast des Abends angesagt. Rusty Stone und Robert Richter treten 100% akustisch auf. Im Verlauf des Abends präsentieren die Beiden Songs, die beider Neigungen entsprechen. Rusty ist der Bluesman und Robert macht seinem Vornamensvetter Herrn Zimmermann Ehre. Was man aber hört, ist mehr das Nebeneinander der beiden großen Stilrichtungen Blues und Folk. Ich habe ein wenig die Symbiose vermisst. Rusty steuert eine akustische Version von „Low Down Blues“ und „Born for the Blues“ aus seiner CD “Struggle“ bei, Roberts Beitrag wird durch Nummern wie der „Folsom Prison Blues“ gekennzeichnet. Was mir immer gefällt ist die Abwechslung, die durch Stücke mit Slidegitarre, Mandoline, Banjo und Blues Harp gegeben war. Aber die Überraschung des Abends zeigt den richtigen Weg auf. Rusty und Robert verkünden nämlich, dass das Duo ab sofort unter dem Namen „One More Mile“ auftritt und das untermalt, dass die beiden Herren das Projekt intensiv vorwärts treiben wollen. Die WasserPrawda ist gespannt auf die CD, die wir natürlich gerne in unserer Rubrik „Werkstattberichte“ verfolgen wollen. Nach diesem Interview ging es für Rusty Stone und Robert Richter an die Arbeit. Das Konzert wird wie immer vom Veranstalter angesagt. Da der Jens Friedel heute nicht da war, hat das ein Kollege übernommen. Es werden normalerweise Wasser-Prawda | Oktober 2015 20 MUSIK H AR M ONIC A-HE AV E N ON E A R T H MITCH KASHMAR & THE BLUES- AND BOOGIEKINGS IM MEISENFREI BREMEN, AM 13.10.2015 TEXT UND FOTOS: TORSTEN ROLFS Dank des unermüdlichen Booking-Einsatzes von Andreas Bock, Schlagzeuger aus Hannover, konnte die Bremer Bluesgemeinde auch in diesem Jahr den grandiosen HarpSpieler Mitch Kashmar aus Portland, Oregon im Meisenfrei begrüßen. Das Renommee des Künstlers und die Werbung zeigten Erfolg – der Laden war gut gefüllt. Wie im letzten Jahr auch schon trat er mit Andreas Bock am Schlagzeug und Niels v.d. Leyen am Piano auf. Neu in diesem Jahr war Jan Hirte aus Berlin an der Gitarre. Und ja dem Leser fällt nun auf: Wo ist der Bass? Eine Spezialität der Blues- and Boogiekings ist der Verzicht auf das rhythmusunterstützende Instrument. So fragt man sich anfangs, wird da etwas fehlen. Um es schon einmal vorweg zu nehmen: Nein! Niels v.d. Leyen ist ein ausgezeichneter Boogie Woogie Spe- Wasser-Prawda | Oktober 2015 zialist, mit einer unglaublich stoischen linken Hand, der damit rhythmisch die Band führt und hält. Dabei unterstützt Andreas Bock mit seinem uhrwerkartigen Schlagzeugspiel dies im besonderen Maße und stellt das pfundige Fundament der Band. Jan Hirte komplettiert das Begleittrio in besonderer Weise, sowohl rhythmisch unterstützend als auch solistisch brillierend. Vom ersten Ton an mit IGot No Reason, bereits auf Kashmars Delta Groove Records Veröffentlichung „Live at Labatt“ der Ope- MUSIK ner, wurde die Spielfreude der Band sichtbar. Eine kurzweilige Ansage von Niels v.d. Leyen stellte seine Conferencier-Fähigkeiten unter Beweis. Bei der Vorbereitung auf diesen Konzertabend stellte ich fest, dass ich Mitch Kashmar bereits vier oder fünf Mal gesehen und gehört hatte. Aber man mag es kaum glauben, jedes Konzert hat seinen einzigartigen Charakter. Dies zeigte sich jetzt im Verlauf des Abends mit einer unglaublich spannenden Version von Route 66, einem Klassiker, der hier einmal ganz anders intoniert wurde. Und dann dieser Harpton, sehr elegant und unaufdringlich, kaum zu glauben, was man aus dem kleinen diatonischen Instrument von Hohner herausholen kann. Nur am Rande sei erwähnt, dass ein brandneuer Marble Harpwood von A.J. Folkerts aus Renkum in den Niederlanden in der Vorwoche fertig gestellt, das Harpspiel von Mitch Kashmar verstärkte. Und er ist auch ein wunderbarer Sänger mit einer sonoren, von einem warmen Timbre geprägten Stimme. So ging es mit einer weiteren markanten Spezialität des Meisters weiter. In Whiskey Drinkin´Woman, auch auf der o.g. Scheibe, begann Kashmar mit dem Spiel der höchsten Töne auf der Harp. Dies ist auch eines seiner Markenzeichen, mit dem man ihn aus der überschaubaren Menge der besten Harpspieler heraushören kann. Dieses Stück beflügelte die Musiker zu beson- deren Einfällen: Jan Hirte wurde in seinem Solo immer leiser, ein aufmerksames Publikum folgte gebannt, und dann zog er das Kabel aus der Gitarre und man hörte den reinen Gitarrenton der roten Gibson ES 335. Sehr eindrucksvoll und hörenswert. Nach Sugar Sweet von Muddy Waters folgte ein Jazz-Klassiker auf der Chromatischen Mundharmonika. Song For My Father von Horace Silver machte unmissverständlich klar, hier ist der Meister aller Harmonikaarten auf der Bühne und die Begleitmusiker hatten sichtlich Spaß an dieser Art Musik. Jumpin´Jive, komponiert von Niels v.d. Leyen, beendete in einer opulenten 11 Minuten-Version das erste Set. Alle Musiker hatten Gelegenheit ihre solistischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, v.a. auch Andreas Bock mit einem impressionablen Schlagzeugsolo. Nicht Schnelligkeit und fixe Wirbel über alle Trommeln und Becken hinweg zeigten sein Können, sondern die überraschenden Effekte machten dieses Solo so einzigartig. Welche Töne macht ein Schlagzeugstock senkrecht stehend auf der Snare? Zuhörerinnen und Zuhörer waren ganz mitgerissen. Die Pause nutzten viele Gäste zum Kauf von CD´s, auf denen man die Qualitäten der einzelnen Bandmitglieder gut mit nach Hause nehmen kann. Im 2. Set folgten dann Klassiker aus dem Repertoire von MitchKashmar ebenso wie Klassiker des 21 Blues: Evil Man Blues, Mean Old Frisco, You Can’t Judge a Book by Its Cover usw. Auch hier setzte sich wieder die Spielfreude fort, dynamisch vorgetragen, Raum gebend, v.a. auch leise Töne nutzend, eben ein absoluter Hör- und Ohrenschmaus. Vom Shuffle über Rhumba hin zu Boogie-Krachern, hier war alles dabei. Nach zwei sehr unterschiedlichen Stücken in der Zugabe, einem Slow „Sad Night Hours“ und einem Rock´n´Roll- Stück „Sweet Lovin´ Mama“ ging der Abend nach 2 ½ Stunden bestens vorgetragener Blues- und BoogieMusik zu Ende. Mein Fazit dieses Abends: Auch ein sechstes, siebtes, achtes und und und Mal kann man sich Mitch Kashmar anhören, nicht nur als Harpjünger. Wasser-Prawda | Oktober 2015 22 MUSIK Sofie Reed B LUE S AT S EA STOCKHOLM, 17./18. OKTOBER 2015. BY IAIN PATIENCE (TEXT) & JANET PATIENCE (FOTOS) Der Oktober kann ein heikler Monat sein, um Schwedens Hauptstadt Stockholm zu besuchen. Denn immer droht die hohe Wahrscheinlichkeit von kühlem und nassem We er. Das Wochenende vom 17./18. Oktober aber widersetzte sich dem Trend mit sonnigen Tagen und jeder Menge kochendem Blues an Bord der MS Cinderella von der Viking Line. Zwei Tage fuhr sie mit einer riesigen Menge Fans und Musiker. Und alle ha en Wasser-Prawda | Oktober 2015 sich vorgenommen, jede Menge Spaß zu haben. Gleich nachdem das Schiff die Leinen los warf und den Kai verließ, begann die Musik. Der in den USA geborene Gitarrist und Harpspieler Dr. Harmonica schmetterte feine Traditionals und mixte sie mit seinen eigenen Kompositionen in einer der zahllosen Bars. MUSIK 23 Shoutin Red Später am Abend produzierte Dänemarks Bluesstar Thorbjörn R i sa ger m it sei nen Black Tornados ein explosives Set auf der Hauptbühne vor einer dicht gepackten Zuschauerschar. Auf der Bühne wurde Risager von der aus Simbabwe stammenden Blues- und Gospelsängerin Miriam Mandipira begleitet, einer Lady mit riesiger Stimme und ebensolcher Bühnenpräsenz. Aus Memphis stammt die Jeff Jensen Band, die auch als Mini-PowerTrio einen großartigen Auftritt mit heftig rockendem Blues hinlegten. Im Zentrum standen Stücke des aktuellen fantastischen Albums „Morose Elephant“. Diese Band und ihr Album waren für mich eine der echten Entdeckungen der Reise. Und man muss sie zukünftig auf jeden Fall im Blick behalten. eine Harp bläst, einen Song herausschreit und das Publikum mühelos bei der Stange hält. Eine weitere fantastische Blues-Entdeckung, der das Nicht-Erscheinen von Lil‘ Ed mehr als wett machte. Eigentlich waren Lil‘ Ed & The Blues Imperials aus Chicago als Headliner angekündigt. In letzter Minute aber musste man ihn durch Gene „Birdlegg“ Pittman ersetzen, einen würdigen Bluesman aus Texas, der vielen der jüngeren Performer zeigte, wie man den Laden mit einem ungebremsten Hochenergieschlag von allerbestem Blues zerlegt. Dieser „Birdlegg“ weiß ganz klar, wie man Ein weiterer Höhepunkt war ein Auftritt toller Blues Ladies aus Schweden. Gemeinsam standen Ida Bang, die Schweden 2016 bei der European Blues Challenge vertreten wird und Lisa Lystem auf der Bühne, die im letzten Jahr bei dem Wettbewerb angetreten war. Dazu kamen noch viele weitere und lieferten eine krafvolle Performance voller Leidenschaft ab. Wasser-Prawda | Oktober 2015 24 MUSIK Ida Bang & Lisa Lystam. unten: Birdlegg Pittman Aus Colorado kam die wie immer wundervolle und immer für einen Spaß zu habende Sofie Reed. Die geborene Schwedin rockte das Boot mit ihrer Blues-Dulcimer. Für mich eindeutig auch eine Künstlerin, auf die man achten muss ist eine weitere ausgezeichnete junge Schwedin ist Shoutin‘ Red, die auf dem Schiff perfekt vom altgedienten Harpspieler Bill Ohrstrom begleitet wurde. Auf dem Programm stand eine Reine toller traditioneller Bluesnummern aus den 20er und 30er Jahren mit nur scheinbar einfachem Fingerpicking - und einem Griff in den Katalog von Mississippi John Hurt. Insgesamt war das eine tolle Veranstaltung mit vielen Musikern und jeder Menge Abwechslung. Ein echter Gewinner mit mehr als genug Musik um jeden sowohl zu packen als auch zufrieden zu stellen. Wasser-Prawda | Oktober 2015 MUSIK 25 Otis Redding und die Stax-Musiker bei den Aufnahmen zu „Otis Blue“ O TIS BLUE : OTIS R E D D I NG U ND D I E E N TSTEHUNG E I NE S S OU L K LA S S I K ER S VON RAIMUND NITZSCHE Im Anfang war Soulmusik vor allem eine auf Singles veröffentlichte Musik. Erst später wurde auch hier das Album als eine eigenständige Form - und nicht nur als Zweitverwertung der Hits angesehen. O s Blue ist zwar Reddings dri es Album, aber das erste, das von vornherein als LP geplant war. Wobei natürlich auch hier der Hit zuerst kam. Mit „I‘ve Been Loving You Too Long“ war der erste Top Ten Erfolg von Otis Redding. Dieser Song scha e es immerhin bis auf Platz 2 der Charts. Bis auf den schon veröffentlichten Hit wurden alle Titel innerhalb von 24 Stunden amd 9. und 10 Juli 1965 in den Studios von Stax aufgenommen. Wasser-Prawda | Oktober 2015 26 MUSIK Die Begleitband waren Booker T & MG‘s (verstärkt durch Isaac Hayes am Piano, der gleichzeitig Produzent war und natürlich die Memphis Horns.) Musikalisch bietet die LP ein Panorama, das die stimmlichen Fähigkeiten von Redding von sanften Balladen bis zum rockenden Soul komplett abdecken konnte. So sind drei Stücke der Platte von Reddings großem Vorbild Sam Cooke, der im Jahr zuvor verstorben war. Und Otis zeigt bei „Shake“ oder „A Change Is Gonna Come“, dass er längst vom Nachahmer zu einem großen Interpreten geworden war. Auch „Satisfaction“ der Stones sang er derartig furios, dass in manchen Kreisen der Verdacht aufkam, die Stones hätten das Stück von ihm geklaut. Anders herum passierte es mit einem der anderen Titel der Platte: „Respect“ verbindet heute jeder sofort und Wasser-Prawda | Oktober 2015 ohne Nachdenken mit Aretha Franklin, obwohl es von Redding geschrieben und zuerst aufgenommen worden war. Wobei es weniger um die einzelen Songs geht: „Otis Blue“ ist trotz der verschiedenen Songquellen eine komplette Einheit. Otis Redding präsentiert sich als ein Geschichtenerzähler des Soul, nimmt den Hörer mit auf seine Reise zwischen Liebe, Protest und Hoffnung. Und er ist gleichermaßen überzeugend als zärtlicher Balladensänger wie als Prediger, als Partysänger wie als Kämpfer für Respekt. Eine so komplette und durchweg großartige Sammlung von Soulnummern findet man selten in der Musikgeschichte. Und so ist es kein Wunder, dass bei jeder neuen Runde von Journalistenumfragen Otis Blue wieder irgendwo in den Top 100 auftauchen wird. MUSIK Otis Redding erhielt als Sohn eines schwarzen Baptistenpredigers in Dawson, Georgia sehr früh ein Gefühl für Soulmusik. Bereits als Jugendlicher sang er in einem Kirchenchor. Im Alter von 15 Jahren besuchte er die High School in Macon, Georgia, dem Geburtsort von Little Richard, den er ebenso bewunderte wie Sam Cooke, und aus deren beiden Stilen er seinen Gesang formte. 27 (so auch bei ”Shout Bamalama“, ebenfalls aus dem Jahre 1960) ist noch stark die Anlehnung an Little Richard zu erkennen. Der Durchbruch in seiner Solokarriere kam erst im Jahre 1962. Im Oktober 1962 nutzte Otis Redding seine Chance, als er am Ende eines erfolglosen Aufnahmetages von Johnny Jenkins and the Pinetoppers die Möglichkeit bekam, in der verbleibenden Zeit eine eigene Platte aufzunehmen. Das selbst komponierte Lied ”These Arms Nach Abbruch der Studien schloss er sich Little Richards of Mine“ wurde in Windeseile aufgenommen und entdamaliger Band an, den Upsetters. Ab 1960 arbeitete er wickelte sich nach der Veröffentlichung im November mit Johnny Jenkins and the Pinetoppers zusammen und 1962 zu seinem ersten Hit (US-R&B 20, US-Pop 85). nahm mit der Band im Juli des gleichen Jahres unter Redding ging dann zu Stax Records in Memphis. Bis zu dem Namen Otis and the Shooters seine erste Platte auf seinem frühen Tod, war Otis der wichtigste Star der Firma (”She’s all right“). Gerade bei diesen frühen Aufnahmen Wasser-Prawda | Oktober 2015 28 MUSIK und nach Meinung aller damals musikalisches Herz und Inspiration für alle anderen Beteiligten. Nach weiteren Single-Veröffentlichungen mit mittleren Platzierungen in den Jahren 1963 und 1964 konnte er mit ”Mr. Pitiful“ Anfang 1965 seinen ersten Top 10-Hit in den R&B-/ Soulcharts landen. Redding schrieb viele seiner Lieder selbst, manche in Zusammenarbeit mit Steve Cropper (Booker T. & the M.G.’s). Auf einer Europa-Tournee des Stax-Labels erlebte er es 1967 das erste mal wie ihm weiße Fans in Massen zujubelten. Im selben Jahr trat er auf dem bekannten Monterey Pop Festival auf, welches ihm einen großen Popularitätsschub beim weißen Publikum in den USA einbrachte. Das Festival war das erste große der Flower Power Bewegung; die Auftritte wurden zwar nicht bezahlt, jedoch diente das gemeinsame Auftreten mit vielen Größen der damaligen Musik eine ungeahnte Chance auf Publizität. Andere, die hier ihre ersten großen Konzertauftritte hatten, waren Jimi Hendrix oder Janis Joplin. auf dem Weg zu einem Konzert in Cleveland, Ohio, in den vereisten Winono-See bei Madison, Wisconsin stürzte. Zu seiner Beerdigung kamen 4500 Menschen. Seine erst am 22. November 1967 aufgenommene Single ”(Sittin On) The Dock Of The Bay“ wurde postum veröffentlicht und brachte ihm Anfang 1968 den einzigen Nr. 1-Hit in den R&B-Charts und gleichzeitig auch in den PopHitparaden. Die Single war für sein damaliges Werk extrem poppig und hatte wenig Soul-Anklänge. Er hatte den Song während seines Sommerurlaubs in der San Francisco Bay nach ausgiebigem Anhörn von ”Sgt. Pepper“ der Beatles geschrieben. Alle damals an den Aufnahmen Beteiligten sagten, dass er gesanglich in der Form seines Lebens war. Ein Erfolg, für den er immer gearbeitet hatte und den er jetzt nicht mehr persölich erleben konnte. Redding brachte das Publikum nach damaligen Augenzeugenberichten bis an den Rand der Ekstase. Jetzt konnte er endlich auch auf den Durchbruch in den weißen Pophitparaden hoffen. Doch leider wurden seine Hoffnungen durch einen Unglücksfall zerstört. Otis Redding starb am 10. Dezember 1967 zusammen mit vier Mitgliedern seiner damaligen Begleitband, The Bar Kays, als sein zweimotoriges Flugzeug vom Typ Beechcraft Wasser-Prawda | Oktober 2015 O s Blue/O s Redding sings Soul Im Laufe der Jahre wurde dieser Klassiker immer wieder neu veröffentlicht. Zum 50ährigen Geburtstag gab es eine Fassung auf zwei CDs mit einmal der Monofassung und einmal der Stereoversion. Beide Platten wurden durch Live-Tracks des Albums und alternative Mixe ergänzt. Hier kann man gut nachvollziehen, wie der Anspruch, eine moderne Stereoplatte anzubieten mit den technischen Möglichkeiten der damaligen Zeit kollidierten: Ist das Monoalbum geschlossen und druckvoll, erscheinen die Musiker im Stereosound künstlich auf die Boxen verteilt und allein Otis als Sänger hält den Laden wirklich zusammen. Und noch etwas kann man hier beobachten: Mit seiner notmalen Begleitband gerieten seine LiveShows rauh, erdig und fast überbordend vor Energie. Der Sound der Band ist of weit von der Perfektion entfernt. Aber die Show ist noch immer ansteckend. Ebenso ansteckend wie im übrigen die auf CD 2 veröffentlichten Ausschnitte aus „Live In Europe“. Doch bei der Europatour wurde er von der StaxBand begleitet. Und die brachte auf der Bühne fast die gleiche Präzision und Schärfe wie die Musiker von James Brown damals rüber. Und so entsteht ein ganz anderes Konzerterlebnis. MUSIK 29 NETZFUNDSTÜCKE: KURZTICKER VON MATTHIAS SCHNEIDER und Mathias eines Besseren. (http:// berühmten Ragtime-Pianisten, wie James Scott und Tummer Turpin www.electrified-soul.de/home) stark beeinflußt, andererseits kann er seine Liebe zum schwarzen Blues„Poor Howard“ S th Piano nicht verleugnen besonders Seit mehr als 40 Jahren spielt Poor steht er in der Tradition von L. D. Howard Stiff den Barrelhouse Blues Montgomery. Mit allen Oldtimeauf seiner 12-saitigen Gitarre. Als Jazzern gemeinsam hat Robert Student bei Dave „Snaker“ Ray Kaiser seine Vorliebe für Stücke in Minneapolis perfektionierte des legendären Jelly Roll Morton, er seinen Gitarrenstil und zeigte, der Blues und Ragtime zum ersten dass man den Deltablues an beiden Jazzklavierspiel zusammenfasste. Enden des Mississippi finden kann. (http://fidelio-oggersheim.de/ Das führte dazu, dass ihm ein robert-kaiser/) anderer Künstler aus Minneapolis den Künstlernamen „Poor Howard“ O lia Donaire and The Back nach einem Song von Leadbelly ver- Alley Boys passste. Auch in Deutschland kann man diesen Künstler regelmäßig Die Band hat ein riesiges Repertoire ELECTRIFIED SOUL live erleben. Hier spielt er beispiels- an tanzbarem klassischem Rock, Blues, R & B und Soul. (http:// „Nüchtern betrachtet besteht der weise regelmäßig gemeinsam mit www.otiliadonaire.com) Blues aus drei Akkorden, die über 12 Greyhound George. (http://www. Takte monoton wiederholt werden poorhowardstith.com/) Paul Bo er und Texte begleiten, die meist von Robert Kaiser - Blues Rags & bösen, davon gelaufenen Frauen Vocal aus Ludwigshafen Geboren wurde Paul Botter 1951 handeln. Die Einschränkung auf auf Helgoland. Mit 16 kam er Technik und Texte geht jedoch Es war ihm in die Wiege gelegt: nach Hamburg und gründete dort genauso an der Essenz des Blues Sein Vater war engagierter seine erste Schülerband, die gleich vorbei wie Elton Johns Behauptung, Kirchenmusiker, er selbest erfuhr Nachwuchspreise abräumte. Im Keith Richards sei „ein Affe mit eine klassische Musikausbildung gleichen Jahr stand er schon auf einer Gitarre“. (Quelle: laut.de) am Klavier. Dass dies keine schlechte der legendären Bühne im Star ELECTR IFIED SOUL grün- Voraussetzung für den klassischen Club. Aus der ersten Band „Jumbo“ dete sich im Jahr 2009 um den Ragtime darstellt zeigt sich an einem wurde Elephant. Europaweite Gitarristen Fabian Brugger mit dem seiner Vorbilder, dem großen Scott Tourneen gab es unter anderem mit Ziel puren und echten hangemach- Joplin aus St. Louis, der bereits Mitch Ryder. Und 1986 stand er im ten Blues zu spielen. Wer bislang mit sieben Jahren vone einem Vorprogramm der Beach Boys vor noch geglaubt hat, dass Blues nur aus deutschen Lehrer eine klassische 14.000 Zuschauern in Bad Segeberg. Wandergitarre und Baumwollfeldern Klavierausbildung erhielt. Heute tritt Botter meist im Duo mit besteht, den belehren Fabian, Lars Einerseits ist Robert Kaiser von Jan Mohr auf. Beim Stöbern im Internet stößt man auf interessante Personen und Bands in Sachen Blues. Leider können diese nicht immer gleich eine CD vorweisen oder eine vorhandene CD ist schon etwas älter. Ich möchte Euch diese Sachen nicht vorenthalten und stelle Euch diese Künstler in unregelmäßigen Abständen hier vor. Wasser-Prawda | Oktober 2015 30 MUSIK NETZ FUND STÜC K E : HÖR B I S CHMID T BA ND VON MATTHIAS SCHNEIDER Beim Stöbern im Netz bin ich bei den „Lübecker Nachrichten“ auf den Artikel „Viel Blues wenig Zuschauer“ gestoßen. Darin tauchte die Hörbi Schmidt Band auf. Das klang interessant und ich begann im Netz nach Informationen zu suchen. Zunächst fand ich bei Youtube ihren Song „Wir kommen aus dem Hohen Norden“. Und der klang so vielversprechend, dass ich über Facebook mit dem Namensgeber der Band Kontakt aufnahm. Von ihm erfuhr ich, dass sich die Band schon die ersten Sporen verdient hat. Gleich acht Auszeichnungen räumte sie 2014 beim Deutschen Rock & Pop Preis ab. Ihr Debüt „Wir kommen aus dem Hohen Norden“ wurde zum besten Album in der Rubrik „Rhythm & Blues“ gewählt. Hörbi selbst wurde als bester Sänger ausgezeichnet. Und als solcher kommentiert er musikalisch seinen Alltag und das bewegte Rock & Roll Leben heiter-ironisch, voller Gefühl, klar und direkt. Der langjährige Mitstreiter Sven Selle (Hamburg) wurde 2014 als bester Keyboarder geehrt. Den Preis kannte ich bislang noch nicht. Poppreise sind ja auch nicht unbedingt mein Interessengebiet. Und bei der Bezeichnung Rhythm & Blues werde ich vorsichtig, denn da wird ja mittlerweille alles reingepackt. Hörbi hat mir aber freundlicherweise die erste CD der Band zur Verfügung gestellt. Die enthält eine Mischung aus Eigenkompositionenen und Standards. Mich hat am meisten die Version von „Pride And Joy“ überzeugt. Aber auch „The Th rill Is Gone“ und „Old Love“ sind sehr gute Bluesnummern. Wenn man sich die Besetzung der Band ansieht, wundert man sich nicht mehr, dass diese gute Musik bei ihrem Zusammenspiel herauskommt. Es sind alles gestandene Musiker. Bandcamps. Cathrine Jauer (voc) Mit ihrer eigenen Band hat Cathrin im Sommer 2015 beim NDRWettbewerb „Schleswig-HolsteinHammer“ einen hervorragenden 2. Platz belegt. Die Sängerin/ Songwriterin aus Nordfriesland begeistert die Zuhörer in der Region aber schon seit einigen Jahren mit iherer ausdrucksstarken Stimme. Lili Czuya (voc) Schon als Teenager probierte Lili Czuya verschiedene Instrumente aus Hörbie Schmidt (g,voc) und begann, eigene Songs zu schreiDer Songwriter mit der Löwenmähne ben. Zwischen 1999 und 2003 absolhat Blues, Rock, Funk und Balladen vierte sie als jüngste Teilnehmerin in den Fingern, im Kopf und der den Studiengang für Popularmusik an der Hochschule für Musik und Seele. Theater in Hamburg. Sven Selle (keyb) Wir werden den weiteren Weg der In der selbsternannten Pophauptstadt Band auf jeden Fall mit Interesse Hamburg gilt Sven Selle als Meister verfolgen. seines Fachs. Zu Hause ist er in allen Stilen zwischen Rock, Blues, Pop und Jazz. Christian Nowak (dr) Christian spielte schon als Jungspund mit internationalen Stars wie Chuck Berry, Gary Brooker (Procol Harum) und Bobby Kimball (Toto). Daneben ist der studierte Orchestermusiker auch Autor verschiedener DrumLehrbüchern und Coach in diversen Wasser-Prawda | Oktober 2015 B L U E S K A L E N D E R 31 BLUESKALENDER Zusammenstellung: Matthias Schneider (blueskalender. blogspot.de) 1898 1917 1924 1956 1963 1986 01.11. Sippie Wallace* Johnny Woods* Little Johnny Jones* Tommy Johnson+ Johnny Watson (Daddy Stovepipe)+ Sippie Wallace+ 02.11. 1943 1955 1966 2014 2014 David Vest* Danny Caron* Mississippi John Hurt+ Finis Tasby+ Michael Coleman+ Johnny Mastro * 1940 1959 1964 1982 Sonny Rhodes* Mary Ann Redmond* John Henry Barbee+ Henrik Freischlader* 1906 1911 1937 1940 1943 1998 Willie Love* Memphis Willie B.* James Peterson* Delbert McClinton* Boo Boo Davis* Sonny Boy Nelson+ 1931 1952 1967 1983 05.11. Ike Turner* Studebaker John* Robert Nighthawk+ Lee Andrew Williams Jr.* 03.11. 04.11. 32 BLUESKALENDER 06.11. 1927 1941 1949 1966 1977 Joe Carter* Roscoe Chenier* Rory Block* Washboard Sam+ Michael Kielak* Gianni Massarutto* 07.11 1955 1969 1972 1992 Slavko Hilvert* Mike Sponza* Black Ace Turner+ Jack Kelly+ Steve Hoy* 1913 1949 1968 1974 1983 1998 Gatemouth Moore* Bonnie Raitt* Kokomo Arnold+ Ivory Joe Hunter+ James Booker+ Lonnie Pitchford+ Sue Palmer* 08.11. 09.11. 1945 1970 1972 Frank Hutchison+ Susan Tedeschi* Carolyn Wonderland* 10.11. 1914 1929 1936 1938 1940 1963 1967 1970 Big Chief Ellis* George Buford* Hip Linkchain* James „Thunderbird“ Davis* Bobby Rush* Flávio Guimarães* Ida Cox+ Eric Sardinas* Christoph „Jimmy“ Reiter* 11.11. 1920 1927 Annisteen Allen* Mose Allison* B L U E S K A L E N D E R 33 1929 1936 1942 1955 LaVern Baker* Buddy Ace* Jim Schwall* Dave Alvin* 1909 1944 1959 1997 2011 2014 2014 Bukka White* Booker T. Jones* Lester Butler* Rainer Ptacek+ Doyle Bramhall+ Johnny Dyer+ Little Joe Washington+ 1913 1942 1944 1965 1968 Blue Lu Barker* John P. Hammond* Kenny Wayne* Candye Kane* Debbie Bond* 12.11. 13.11 1932 1937 1941 1954 1956 14.11. John Henry Barbee* Carey Bell* Rockie Charles* Johnny A.* Anson Funderburgh* Valerie Wellington* Ernest Lawlars (Little Son Joe)+ Gwyn Ashton* Aynsley Lister* Mick Simpson* 15.11. Clyde McPhatter* Little Willie John* Jim Dickinson* Charley Jordan+ John H. Schiessler (Beige Fish)* 1873 1923 W. C. Handy* Francis Clay* 1905 1936 1942 1952 1954 1959 1961 1961 1976 16.11. 34 BLUESKALENDER 1924 1931 1939 1945 1949 1980 1991 Brewer Phillips* Hubert Sumlin* W. C. Clark* Paul Raymond* Big George Jackson* O. V. Wright+ Jeradine Blues Mumma Hume* Santos Puertas * 1904 1943 1955 1963 1967 2006 2008 17.11. Jack Owens* Willie Murphy* James P. Johnson+ Ingrid Simons - B.B. Queen* Tab Benoit* Ruth Brown+ Pat Ramsey+ 1923 1928 1950 1952 1971 Sidney Maiden* Dennis Binder* Randy Chortkoff * Ace Moreland* Junior Parker+ 18.11. 1) 1) Das genaue Datum ist nicht bekannt 19.11. 1933 1964 1965 1970 Big Leon Brooks* Little Johnny Jones+ Mike Osborn* Mike Zito* 1901 1920 1946 2010 Julius Daniels* Pernell Charity* Duane Allman* Little Smokey Smothers+ 1909 1913 1923 1940 Lloyd Glenn* K. C. Douglas* Big John Greer* Dr. John* 20.11. 21.11. B L U E S K A L E N D E R 35 2006 Robert Lockwood junior+ Randa Lee* 1945 1947 1951 1968 Angela Strehli* Rod Price* William Moore+ Johnny Temple+ Linda Hornbuckle* 1926 1963 2008 R. L. Burnside* Chicago Slim* Robert Lucas+ Gail Muldrow* Scottie Blinn* 1896 1941 1950 1964 1969 1985 1991 1993 Rosa Henderson* Donald Dunn* Jeff Chaz* Buster Pickens+ J. T. Brown+ Big Joe Turner+ Brad Stivers* Albert Collins+ 22.11. 23.11. 24.11. 1914 1928 1931 1943 1987 1997 2011 2011 1927 1938 1941 1945 25.11. Eddie Boyd* Jimmy Johnson (James Earl Thompson)* Johnny Embry* Jerry Portnoy* Little Willie Foster+ Fenton Robinson+ Henry Lee „Shot“ Williams+ Coco Robicheaux+ Eric Demmer* 26.11. Hosea Leavy* Travis „Moonchild“ Haddix* Amos Garrett* John McVie* 36 BLUESKALENDER 1953 1958 1965 1999 2006 Big Clara McDaniel* Tiny Bradshaw+ Bernard Allison* Fred „Sweet Daddy Goodlow“ Ford+ H-Bomb Ferguson+ 27.11. 1934 1942 1999 2011 2012 1928 1946 1949 1971 1978 1987 2002 1894 1933 1957 1909 1915 1943 1953 1953 1956 1959 1962 1999 Al Jackson, Jr.* Jimi Hendrix* Johnny „Big Moose“ Walker+ Keef Hartley+ Mickey „Guitar“ Baker+ Roach Thompson* 28.11. Little Sammy Davis* Blues Boy Willie* Paul Shaffer* Papa George Lightfoot+ Tim De Graeve aka Tiny Legs Tim* Ori Naftaly* Dave „Snaker“ Ray+ Neil Sadler* Torsten „Red Fox“ Rolfs* 29.11. Lucille Hegamin* John Mayall* Jennifer Batten* 30.11. Robert Nighthawk* Walter „Brownie“ McGhee* Leo Lyons (born David William Lyons)* Ernie Lancaster* Shuggie Otis* Smokin ‚Joe Kubek* Mike Morgan* Kelly Richey* Don „Sugarcane“ Harris+ Hinweis: Für weitere Informationen siehe hier: http://blueskalender. blogspot.de/ A L B U M D E S M O N A T S 37 SUGAR BROWN – PO OR L AZ A R U S ALBUM DES MONATS OKTOBER 2015 über den Polizistenmord an einem Unschuldigen wurde zwar schon von Dylan und vielen anderen interpretiert. Doch bei Brown erhält die Nummer mit einem hypnotischen Gitarrenriff, treibenden Rhythmen und dem wütenden Gesang fast das Feelings eines frühen Songs der Doors. Wobei es eben niemals nach Hippieseeligkeit sondern ganz nach ehrlicher und angebrachter Wut klingt. Unwahrscheinlich packend und großartig! Live im Studio und nur mit wenigen Overdubs, so muss Sugar Brown interpretiert hier aber nicht nur fremdes seiner Meinung nach der Blues aufgenommen werden. Material, er ist mittlerweile auch ein äußerst begnaWenn Sugar Brown mit der von Franie Lee Sims stam- deter Songwriter, dessen Stücke problemlos neben menden Nummer „Walkin‘ With Frankie“ loslegt, Klassikern wie dem aus den Sammlungen der Familie versteht man sofort, was er damit meint: Blues muss Lomax stammenden Titelsong bestehen können. „Train Ecken und Kanten haben, man muss die Energie der Sixty-Four“ etwa könnte auch als Stück des ganz jungen Musiker spüren, ihre spontanen Einfälle wahrnehmen Muddy Waters durchgehen. Und erst beim Hörern auf können. So entstehen Songs, bei denen selbst zufällige die Nonsense-Lyrics wird klar, dass The Mad Gardeners Hörer sofort die Ohren spitzen. Denn hier ereignet Song Part 1 eben keine Johnny Otis-Version einer Bo sich Musik, die heutzutage selten geworden ist. Beim Diddley-Nummer ist, sondern Browns eigener Versuch, Opener hört man Brown mit seiner Gitarre, zweulen ein Gedicht von Lewis Carroll in Blues zu verwandeln. eine Rhythmusgitarre und vor allem das Saxophon von Joolyah Narveson und das reduzierte Drumkit von Mart Maky. Manche Leute wollten auch nach dem dritten Hören nicht glauben, dass diese Aufnahme nicht aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts stammt. Wo der Opener als wilder Rhythm & Blues daherkommt, sind andere Stücke wüster Rockabilly (Tom Waits‘ „Get Behind The Mule“) oder Blues im Stile des nördlichen Mississippi oder haben gar einen Schuss Country & Western drin. Mit „Tokyo Nagaremono“ findet sich noch ein komplett bluesfreier Titel, der Titelsong des japanischen Films „Tokyo Drifter“. Angesichts der gerade in letzter Zeit bekannt gewordenen Fälle von Polizeigewalt gegen farbige Menschen in den USA ist es ein passender Zufall, dass Brown gerade dann auf „Poor Lazarus“ gestoßen ist. Diese Nummer Eigentlich heißt Sugar Brown Ken Kawashima und ist Professor für asia sche Geschichte. „Poor Lazarus“ ist das zweite Album des kanadischen Gitarristen und Songwriters. Und es gehört mit Leich gkeit zu den besten Bluesalben des Jahres 2015. Wasser-Prawda | September 2015 38 A L B U M D E S M O N AT S Sugar Brown (Foto: Rick Zolkower) Beim Teil 2 des Gedichts bekommt die Bluesrock-Basis es spätestens auf den Wunschze el dann noch ein wenig asiatisches Flair dazu. Bei „Not für Weihnachten. Und dann findet Your Backdoor Man“ schreibt er den Gegensatz zum sich hoffentlich auch ein Label, Klassiker von Willie Dixon. dass es in Europa vertreibt. Denn Und dann ist da noch „Blue Light Hooker“, ein einfach bislang kann man das Album hier nur fantastisch zu nennendes Instrumental: Ein langsalediglich als Download kaufen. mer Chicagoblues mit ganz einfacher Gitarrenlinie, ein wenig Vibraphon und Schlagzeug und dazu die mächtig sich emporschwingende chromatische Harp von Bharath Rajakumar - das ist schlichtweg atemberaubend! „Poor Lazarus“ ist ein seiner Direktheit und musikalischen Lebendigkeit eines der besten Alben der letzten Monate. Für jeden wirklichen Bluesfan gehört Wasser-Prawda | September 2015 Raimund Nitzsche P L AT T E N 39 REZENSIONEN A BIS Z A Andre Bisson – Left With The Blues 40 Andy Poxon – Must Be Crazy 40 Artur & Band – Zeile für Zeile 40 B Babajack – Live Summer 2015 41 Ole Frimer Band – Live at Blues Baltica 46 50 Omar & The Howlers – The Kitchen Sink 47 R Ragpicker String Band – The Ragpicker String Band 47 Bad Company – Rock n roll Fantasy. The Very Best of Bad Company 52 Reverend Shawn Amos – The Reverend Shawn Amos Loves You 48 Brad Wilson – Blue Thunder 41 S C Shemekia Copeland – Outskirts of Love 48 Crazy Hambones – 45 Live 42 D Deb Callahan – Sweet Soul 42 Deep Down South – An Acoustic Journey To The Blues 43 D.L. Duncan – D.L. Duncan 43 Dr. John – The Atco/Atlantic Singles 52 E Ebony Jo-Ann – Please Save Your Love For Me 44 Engerling – 40 Jahre unterwegs 44 J Jochen Volpert – Session 52.2 45 M Micke Björklof & Blue Strip – Ain‘t Bad Yet 46 O Southside Johnny & The Ashbury Jukes – Soultime 49 Stefan Saffer – Singers & Players 49 Steve „Big Man“ Clayton – Best of 1999-2007 53 T The Reverend Shawn Amos – The Reverend Shawn Amos Loves You 48 V Various – Feeling Nice 3: A Collection of Superrare and Superheavy Funk 45s from the lat 1960s & Early 1970s 53 W Wily Bo Walker – Moon Over Indigo 50 Z Zac Harmon – Right Man Right Now Wasser-Prawda | Oktober 2015 40 P L AT T E N „Tomorrow“ hatte Poxon derartig überzeugend gespielt, dass man kaum glauben konnte, dass da ein achtzehnjähriger Jungspund spielte. Inzwischen ist Poxon zwei Jahre älter geworden und hat seine Zeit hörbar genutzt: Stücke der „Cold Weather Blues“ sind Paradebeispiele dafür, wie man meisterliche Solos spielt und beim Hörer für eine gehörige Gänsehaut sorgt. Da ist keine Note zuviel! Auch wenn es rockiger oder swingender wird: Die von Poxon teilweise in Kooperation mit McKendree (und einmal auch mit dessen Sohn Yates) geschriebenen Stücke sind genau auf seine Stimme und Gitarre zugeschnitten. Hier wird der Blues regelrecht zelebriert. Und die Saxophone (von Jim Hoke gespielt) oder die McCrary Sisters im Backgroundchor setzen die nöAndy Poxon – Must Be Crazy tigen Akzente zu der klassischen Für sein zweites Album beim Label Bandbesetzung. Sehr überzeugend Ellersoul zog der aus der Gegend von und damit eine echte Empfehlung Washington stammende Gitarrist wert! (Ellersoul) Andy Poxon nach Nashville. Dort Raimund Nitzsche entstand mit seiner Band und dem Produzenten Kevin McKendree in dessen Studio eine Scheibe, die Fans das klassischen Gitarrenblues in der Nachfolge von T-Bone Walker und B.B. King begeistern dürfte. Die Kunst, mit der Gitarre eigene Geschichten zu erzählen ist grundsätzlich unterdschieden von der Fähigkeit, Skalen und Tonleitern in irrwitzigen Tempi abzuspulen. Letzteres kann man im Unterricht lernen und durch beständiges Artur & Band – Zeile für Zeile Üben perfektionieren. Ersteres er- Mal melancholisch, mal rockig fordert Erfahrung und ein Stück groovend und immer mit sehr perWeisheit. Schon auf dem von Duke sönlichen Texten auf gut Deutsch: Robillard produzierten Vorgänger Mit „Zeile für Zeile“ hat die noch Die neun selbst geschriebenen Songs machen eine Menge Spaß. Und auch das einzige Cover, eine Version des von Albert King bekannt gemachten Cross Cut Saw zeigt; Hier hat einer jede Menge Spaß am Muszieren. Und dieser Spaß wirkt von Anfang bis Ende äußerst ansteckend. (cdbaby) Nathan Nörgel Andre Bisson – Le With The Blues Auf seinem sechsten Studioalbum schöpft der kanadische Gitarrist/ Songwreiter Andre Bisson so richtig aus dem Vollen: Soulige Bläser, Streicher, Anklänge an Motown, Stax und Jump Blues mit Bigband. und Backup-Chorsängerinnen. „Left With The Blues“ ist ein Album für alle Fans des zu Herzen gehenden Soulblues. Schon seit zehn Jahren pflegt der aus Hamilton in Ontario stammende Bisson seine Mixtur aus Soul, klassischem Rhythm & Blues und Blues. Auf seinem neuen Album kommen dazu noch Einflüsse aus dem Gospel ebenso hinzu wie Referenzen eines jungen Tom Waits oder Gitarrenlinien aus dem Texasblues. Mit seinen orchestralen Arrangements könnte man meinen, hier wolle jemand unbedingt in den Kreis der angesagten RetroSoul-Gemeinde aufgenommen werden. Doch dann gibt es auch wieder Momente, wo Bisson mit seiner zeitweise rauchigen Stimme ganz allein zum Piano oder eine röhrenden Harp den Bluesprediger gibt. Wasser-Prawda | Oktober 2015 P L AT T E N junge Band um Sänger/Pianist/ Songwriter Artur Apinyan ein hörenswertes Debüt veröffentlicht. Manchmal ärgere ich mich wirklich, dass bei den Hunderten Alben, die hier jährtlich in der Redaktion ankommen und gehört werden, fast nie was hier aus der Region dabei ist. Als ich daher vor einiger Zeit erstmals Artur und Band im Konzert hörte, freute ich mich schon auf das damals angekündigte Album. Und auch wenn ich normalerweise nicht der Typ bin, der häufig deutschsprachigen Pop hört: „Zeile für Zeile“ macht wirklich Spaß. Es sind Lieder, die mich mal an Wolf Maahn, seltener an Grönemeyer und Konsorten erinnern. Und genau hier liegen natürlich auch die Grenzen des Albums: Das hier sind Lieder, die weit entfernt sind von lyrischen Großtaten von Element of Crime oder Keimzeit. Aber die wollen Stücke „Wie sie mal war“, „Halt mich nicht auf“ oder „Wie ich ticke“ auch niemals sein. Das sind sehr persönliche und direkte Texte, keine ausgefeilten literarischen Kunstwerke. Und vielleicht macht das dieses Album so sympathisch. Artur ist ein toller Pianist und ein Sänger, der sowohl bei Balladen als auch bei rockigen Nummern überzeugen kann. Zusammen mit seinen Mitstreitern (Ole Weichbrodt - g, Michael Meier - bg, Peter Hartmann - dr und Saxophonist Johann Putensen) hat er ein Album eingespielt, dass Fans der erwähnten Künstler ebenso überzeugen wird wie auch andere Freunde deutscher Popmusik. Raimund Nitzsche 41 tischer Rock. Becky Tate ist eine Sängerin, die notfalls auch ganz alleine auftreten könnte. Die Harp von Steiger bringt die bluesige Stimmung in den musikalischen Mix. Und die Ryhthmusgruppe und die als Gast immer häufiger mit auftretende Cellistin Julia Palmer Price sorgt für eine Note, wie sie in der heutigen Bluesszene einfach nirgendwo anders zu hören ist. Ein unbedingt Babajack – Live Summer 2015 hörenswertes Livealbum. Und bei Eigentlich wollten Babajack ein der nächsten Deutschlandtour muss Livealbum aus der Royal Albert Hall ich unbedingt dabei sein! veröffentlichen, wo ein Konzert für die BBC-Sendung von Paul Jones mitgeschnitten worden war. Doch aus Lizenzgründen wurde nichts. So schnitt die Band um Sängerin/ Percussionistin Becky Tate und Gitarrist/Harpspieler Trevor Steiger im Sommer ein anderes Konzert mit, dass Mitte Oktober als Album auf den Markt kommen soll. Noch immer hab ich es nicht geschafft, Babajack live zu erleben. Nathan NörgelBrad Wilson – Mittlerweile war die Gruppe ja Blues Thunder schon mehrere Male hierzlande unBluesrock aus Kalifornien: Das neue terwegs. Und eigentlich hätte ich da die Gelegenheit ergreifen müssen. Album des Gitarristen ist etwas für Das jedenfalls wird mir sofort deut- die, die lieber hochpolierte als rauhe lich, wenn das erste Live-Album mit und ungeschliffene Alben hören. „Money‘s All Gone“ losgeht: Sofort B l i t z u n d D o n n e r s i n d ist hier eine Spannung spürbar, wie Naturgewalten. Wer versucht, sie zu sie nur bei ganz besonders guten zähmen, wird scheitern. Oder bösarMusikern zu finden ist. Hier wird tiger gesagt: Der erntet Langeweile. nicht auf solistische Exzesse gesetzt Brad Wilson hat in seinem Leben sondern darauf, tolle Songs span- schon mit verschiedenen bekannnend und mitreißend zum Klingen ten Bands und Musikern zusamzu bringen. Man wird von den men gespielt. Doch scheint er sich Musikern regelrecht in den Bann zur Zeit zu sehr drauf zu kongezogen. Und da ist es egal, ob der zentrieren, mit seiner Musik bei Song grad mehr Blues ist oder akus- den Radioprogrammdirektoren anzukommen. Wasser-Prawda | Oktober 2015 42 P L AT T E N „It‘s Any Wonder“, mit dem „Blues Thunder“ beginnt, schreit regelrecht: Classic Rock Radio! Die Gitarre fein melodisch und zaghaft, die Stimme wie für den nächsten Kuschelrocksampler - das ist die richtige Midtemponummer fürs Nachmittagsprogramm. Auch Balladen wie „Blue Shadows“ bedienen eher den Gary-Moore- als den Bluesfan. Rauher geht‘s bei Nummern wie „Change It Up“ zur Sache. Aber erst bei „Step By Step“ oder „Let‘s Go Barfootin“ kommen die Blueser wirklich ins zufrieden rhythmische Kopfnicken. Hieran ist nicht nur der an Bo Diddley gemahnende Beat sondern vor allem die kratzige Bluesharp von Tumbleweed Money Schuld. Auch der fein dahintreibende Boogie von „Black Cofee At Sunrise“ ist Klasse. Das ist feiner Blues, hier ist noch genügend Dreck in den Zwischenräumen. Und genau das ist es, was einem großen Teil von „Blues Thunder“ leider fehlt. Nathan Nörgel Crazy Hambones – 45 Live zu den Bluesbands, die wirklich einen eigenständigen Sound gefunden haben. Ihr aktuelles Album 45 Live entstand (für die Band unangekündigt) bei Auftritten in der Berliner Kulturbrauerei. Verrücktheit im besten Wortsinn gehört wahrscheinlich dazu, wenn man sich als Musiker heute dem Blues verschreibt. Nur so schafft man es bei allen Schwierigkeiten Musik zu erschaffen, die mitreißend, ehrlich und einzigartig ist. Schon immer haben die Crazy Hambones sich auf die Suche nach ihrer Art, den Blues zu spielen, gemacht. Und was sie gefunden haben, ist eine bunte Mischung akustischer Sounds, und verzerrter Gitarren, von Boogie Rhythmen und Gospelsounds, von überraschend arrangierten Klassikern und eigenen Songs jenseits der Klischees. Auf 45 Live findet man all diese einzelnen Zutaten in der Form, die der Band am ehesten angemessen ist: live, unpoliert und vor einem begeisterten Publikum. Schwer fällt es bei dem Programm, besondere Highlights herauszuheben. Meine persönlichen Favoriten dieses tollen Konzertmitschnitts sind das eigene „Hard Being A Man“ und die wunderbare Version des Gospelklassikers „12 Gates To The City“. Mein Fazit: Unbedingt in ein Konzert gehen. Und das Album an gute Freunde zu Weihnachten verschenken! (Stormy Monday Records) Raimund Nitzsche Micha Maas, Henry Heggen und Gitarrist Brian Barnett aka Crazy Hambones zählen in Deutschland Wasser-Prawda | Oktober 2015 Deb Callahan – Sweet Soul Wie kann man Blues singen, wenn man glücklich ist? Wer der Meinung ist: Gar nicht!, der hat den Blues noch nicht verstanden. Wer ein akustisches Beispiel für äußerst glückliche Bluesmusik hören will, sollte zu „Sweet Soul“ greifen, dem fünften Album der aus Philadelphia stammenden Sängerin und Songwriterin Deb Callahan. Wenn man Kinder bekommt, dann verändert das bei den meisten Menschen komplett den Blick auf die Welt und die Perspektiven des Lebens, wie man sie bis dahin hatte. Davon kann Deb Callahan mehr als ein Lied singen: Kurz nach Veröffentlichung ihres vierten Albums kam ihr Sohn Elijah zur Welt. Und erst jetzt nach rund fünf Jahren ist wieder Zeit für die Musik. In den Liedern (ob selbst geschrieben oder von anderen „ausgeborgt) auf „Sweet Soul“ geht es entsprechend um Liebe, um Karriereentscheidungen - und natürlich um all das was sich geändert hat. In „Seven States Away“ etwa beschreibt sie die Sehnsucht, nach dem P L AT T E N Konzert sofort wieder die Heimreise anzutreten - auch wenn die Strecke durch sieben Bundestaaten geht. Im wundervoll funkigen „I Keep Things Running“ macht sie klar, dass sie stark genug ist, um die Dinge am Laufen zu halten. Und dann gibt es noch solch großartige Cover wie ihre Fassung von Tom Waits‘ „Way Down In The Hole“ oder Dr. Johns „I Been Hoodooed“, musikalisch mit dreckiger Gitarre über Callahans Powerstimme. Daumen hoch für ein tolles Album zwischen Blues & Soul! (Blue Pearl Records) Raimund Nitzsche Whiskey, also dem illegal gebrannten Alkohol. Da die Songs so reduziert mit Gesang und Gitarre aufgenommen sind, steht Gregs Copelands tolle Stimme im Vordergrund: Der Sänger wird zum Erzähler und wir werden in seinen Bann gezogen. reg Copeland muss man einfach zuhören. Dazu kommt ein sehr authentisches Gitarrenspiel vom Martin Messing, der für mich bislang ein völlig Unbekannter war. Wie Greg mir selbst sagte, war es für ihn ein Glücksfall, Martin Messing für das Projekt zu gewinnen. Wenn er mit ihm auf der Bühne steht, ist es, als wenn Leadbelly, Robert Johnson oder Muddy Waters sie anlächeln. Auch ist die CD nach seinen Worten eine Danksagung an seine Vorfahren, die als Sklaven nach Amerika gebracht worden sind. Eine verdammt lange Reise! Mein Favoriten auf der CD sind die Coverversion von „Willie & the Handjive“, weil sie trotz der puristischen Besetzung den Drive von Jimmy Otis in sich birgt und die Copeland/Messing Songs „I’m Deep Down South – An Acous c Journey To The Blues gonna hurt you“ und „Moonshine Deep Down South ist ein Projekt Whiskey Blues“ – Schicksal und der beiden Musiker Greg Copeland Lebensfreude in zwei Songs stehen aus Virginia und des aus Bocholt stellvertretend für das ganze Album. Mario Bollinger stammenden Martin Messing. Die CD ist ein Acoustic Blues Album mit 4 Coverversionen und 11 eigenen Songs. Der Schwerpunkt der CD liegt im Erzählen der typischen Bluesgeschichten. Es geht um Frauen und unglücklicher Liebe, Lebensfreude mit BBQ und dem berühmt-berüchtigten Moonshine 43 D.L. Duncan – D.L. Duncan Für sein aktuelles selbstbetiteltes Album hat sich Songwriter/Gitarrist Dave Duncan eine Menge Gäste eingeladen. Bei den Aufnahmen in Lafayette (Louisiana) und Nashville waren unter anderem Sonny Landreth (g), Delbert McClinton (mharm) und Pianist Kevin McKendree mit dabei, um die acht eigenen und zwei Coversongs einzuspielen. Geboten wird hier die komplette Bandbreite von Americana: Blues, Gospel, Country und mehr. „I Ain‘t the Sharpest Marble“ meint Duncan im ersten Lied seines Albums. Ich bin hier wirklich nicht das hellste Licht am Weihnachtsbaum würde ich den Titel frei übersetzen. Ein wundervoll humorvoller Blues über einen Mann, dem die Dinge nicht so einfach zufliegen. An sich schon ein Kandidat für den besten Bluessong des Jahres. Auch die anderen Nummern - ob sie nun relaxt daherkommen wie „Dickerson Road“, als Blues mit klassischen Riffzitaten wie „You Just Don‘t Never Know“ oder auch mal poppig wie „Sweet Magnolia Love“ sind eine echte Empfehlung wert. Genregrenzen sind längst nicht so Wasser-Prawda | Oktober 2015 44 P L AT T E N wichtig wie gutes Songwriting. Und Leidenschaft und Musikalität sind wichtiger als kalte Intelligenz und Stromlininienförmigkeit. „D.L. Duncan“ - beide Daumen hoch für dieses Album! Raimund Niztsche sondern absolut überzeugend und persönlich. Manche Kritiker fühlen sich an Bluessängerinnen wie Etta James oder die Jazzdiva Etta Jones erinnert. Womit allerdings eher die musikalische Spannbreite des Albums zwischen Blues, Soulpop, Jazz und Gospel umschrieben wird als die wirkliche Stimme dieser Sängerin. Und vor allem wird eine Tatsache davon fast verdeckt, die diese Scheibe zu einer echten Entdeckung macht: Ebony Jo-Ann ist eine Sängerin, die eben nicht nur über Liebe und Liebesleid singt, sondern die den Blues immer auch in seiner gesellschaftlichen Relevanz begreift. Lieder wie „Is It Because I‘m Black“ oder „Just Rain“ setzen sich mit den gerade 2015 immer stärEbony Jo-Ann – Please Save ker ins Bewusstsein der Gesellschaft Your Love For Me Bekannt wurde Ebony Jo-Ann als getretenen rassischen und sozialen Musicalsängerin und Schauspielerin. Probleme nicht nur der USA ausSo spielte sie etwa am Broadway in einander. Unbedingt hörenswert! Nathan Nörgel „Ma Rainey‘s Black Bottom“ und in Adam Sandlers von der Kritik verrissenen, aber weltweit in den Kinos erfolgreichen Komödie Grown Ups und dessen Fortsetzung. Jetzt hat sie mit „Please Save Your Love For Me“ ihr erstes Bluesalbum veröffentlicht. Wie kann man als vielfach ausgezeichnete Künstlerin heutzutage auf die Idee kommen, gerade ein Bluesalbum zu veröffentlichen? Für Ebony Jo-Ann scheint das keine geschäftliche Entscheidung, sondern eher eine Herzensangelegenheit ge- Engerling – 40 Jahre wesen zu sein. Ob sie speziell für sie unterwegs verfasste Liebeslieder wie „Yo Love“ 40 Jahre ist das jetzt her? Immerhin oder „Glad I Waited For Love“ singt war Engerling eine der ersten oder Bluesklassiker wie „Sittin‘ On Bands, deren Konzerte ich damals Top Of The World“ singt: Hier wirkt im Umland von Berlin besucht nichts theatralisch oder gekünstelt habe, hauptsächlich wegen ihrer Wasser-Prawda | Oktober 2015 Interpretation von „Riders on the Storm“ (leider nicht Bestandteil des Jubiläumskonzertes). Engerling hält mir den Spiegel vor´s Gesicht, auch ich bin wohl 40 Jahre älter geworden, das kann ich leider nicht in Abrede stellen. Neue Songs hat Engerling gefühlte 20 Jahre nicht mehr produziert, weswegen die Erwartungen bei mir an diese Platte eher gedämpft waren. Ich hatte so den Eindruck, Engerling spielt von Jubiläum zu Jubiläum, um jedes mal einen Konzertmitschnitt auf CD oder DVD pressen zu können. Dieses Jubiläumskonzert hat aber positiv überrascht. Eine illustere Auswahl an hochkarätigen Gästen, neu arrangierte EngerlingTitel und eine Auswahl an Bluesund Rockklassikern macht dieses Konzert zu einem Erlebnis. Auch die Tonqualität bei dieser Buschfunkproduktion ist sehr gut, was bei Buschfunkproduktionen in der Vergangenheit nicht immer der Fall war. Ich werde jetzt nicht jeden Titel durchgehen, aber die auffälligsten erwähnen. „Da hilft kein Jammern“ frisch aufgemotzt, mit der Unterstützung von Beata Kossowska an der Harp. Boddi zeigt sein ganzes Können am Piano und auch, dass er der „Boss“ dieser Veranstaltung ist. Mit dem Dylanklassiker „For ever young“, gesungen von Steffi Breiting (Masterpiece), wird wohl der Wunsch aller alten Männer auf die Bühne projiziert. „MasterPeace“ heißt die neue Band, in der Musiker aus verschiedenen Ländern zusammen spielen und Bob Dylan Tribut P L AT T E N zollen. Dazu gehören der Gitarrist Bernd Römer (Karat) und auch Wolfram Bodag an Orgel, Piano und Harp. Von den Engerlingtiteln gefiel mir besonders Nr. 48 (aus dem Jahr 1988), wohl auch weil ich ihn bisher nicht kannte. „Schwester Bessie‘s Boogie“ wurde neu arrangiert und klingt jetzt wie Cajun-Musik. „Der Zug / Die Weiße Ziege“, einer meiner Lieblingstitel, hört sich wie neu an, auch weil Jürgen Ehle hier mitwirkt. Natürlich standen auch Titel aus dem Stonesprogramm der Engerlinge auf dem Programm. Stellvertretend er wähne ich hier einen der Höhepunkte des Konzertes, bei dem fast alle Musiker auf der Bühne standen: „Honky Tonk Woman“ Über „Mama Wilson“, dem Tribut an Al Wilson, muss man nicht viel sagen. Es ist eben ein wunderbarer Song, auch weil hier die Bläsergruppe und die Harp von Beata Kossowska unterstützend mitwirken. Unbedingt erwähnen muss auch man noch den Auftritt von Uschi Brüning mit dem mittlerweile 81(!)-jährigen Ernst-Ludwig „Luten“ Petrowsky. Beim zweiten Titel dieses Auftrittes gesellte sich noch Gala Gahler hinzu, was leider auf der CD unerwähnt blieb. Diese Version vom „Stormy Monday Blues“ ist einfach großartig interpretiert. Rundherum war das ein großartiges Jubiläumskonzert, was ich gerne jedem empfehle. (Buschfunk) Matthias Schneider Jochen Volpert – Session 52.2 Wir hatten ja schon in der Reihe „Netzfundstücke“ in der Septemberausgabe über Jochen Volpert berichtet und nun ist sie schon da, die neu CD „Session 52.2.“. Irgendwie macht Jochen Volpert schon andere Musik als der Rest der Blues- und Bluesrockszene. Woran liegt die Faszination dieser Musik? Ich muss zugeben, dieser Gedanke beschäftigt mich noch immer und ich kann mich gar nicht satt hören an dem Album, auch um diese Faszination zu erfassen. Es liegt zum einen sicher daran, dass Jochen Volpert Elemente des Blues, Bluesrock und des Jazz miteinander kombiniert. Und er hat Musiker zusammengeholt, die durchweg ihr Handwerk beherrschen. Und natürlich: Hier wurde ein Album als Session aufgenommen. künstler, die sonst eher selten miteinander spielen, trafen sich zum zwanglosen spiel und bekamen Raum zum Improvisieren. Das zwanglose Zusammenspiel der Musiker, ihre Freude dabei, trifft sicherlich den Kern des Albums. Und durch das Kombinieren der ver- 45 schiedensten Genre ist ein abwechslungsreiches Album entstanden, bei dem Eigenkompositionen neben außergewöhnlichen Arrangements von Rock- und Bluesklassikern stehen. „Bei der Auswahl der Stücke stand im Focus, dass sie genügend Raum für Improvisationen bieten und trotzdem über eine nachvollziehbare Songstruktur verfügen, um nicht in die Beliebigkeit mancher JamSession abzudriften.“ Das schreibt Volpert auf seiner Homepage dazu. So ein „Gimme shelter“ habe ich noch nie gehört, kann mich aber daran gewöhnen, dass dieser Titel sehr jazzig rüber gebracht wird. Für „All along the watchtower“ kann man diese Beschreibung auch benutzen, wobei bei dem Gitarrenspiel von Jochen Volpert durchaus Erinnerungen an Jimi Hendrix geweckt werden. „Something“ passt meiner Meinung nach in diese Zusammenstellung nicht rein, klingt wie ein Fremdkörper, das ist aber mein einziger Kritikpunkt. Bei „ Walk in my shadow“ (acoustic Version) hüpft mein Blueserherz dann wieder vor Freude. Aber auch die elektrische Version des Titels mit dem Gesang von Carola Thieme sollte man nicht auslassen. Alles in Allem ein aussergewöhnliches Album, was man nicht versäumen sollte. Matthias Schneider Wasser-Prawda | Oktober 2015 46 P L AT T E N eben nicht auf rockende Stupidität sonden auf lebendige Grooves gesetzt. Und man darf schon mal die Frage aufwerfen, ob man Songs wie diesen überhaupt als Bluesrock bezeichnen sollte. Denn eigentlich ist das Blues in Hochgeschwindigkeit. Aauch Stücke wie „Rain In Jerusalem“, „Rat Chase“ oder der tolle Slowblues „Ain‘t Bad Yet“ sind musikalisch und textlich absolut einzigartig und hörensMicke Björklof & Blue Strip wert- Besonders die differenzier– Ain‘t Bad Yet Schon seit mehr als 15 Jahren spie- ten Grooves der Rhythmusgruppe len die Finnen von Micke Björklof sind es, die Blue Strip aus dem & Blue Strip zusammen. Nachdem Einerlei der Bluesrockszene heraussie in Skandinavien schon seit stechen lassen. Daneben sind auch Jahren sehr erfolgreich unterwegs Björkloff an der Harp und der fansind, starten sie im Rest der Welt tastische Lefty Leppänen an der seit ihrem Vorgängeralbum „After Gitarre ebenso für die musikalische The Flood“ und der Teilnahme an Qualität mit verantwortlich. Für die der European Blues Challenge voll nöitige Abwechslung sorgen auch durch. Im Frühjahr 2015 veröffent- ein paar Gastmusiker, die die Finnen lichten sie mit „Ain‘t Bad Yet“ ihr ins Studio nach Wales eingeladen sechstes Album, das zweite, das auch hatten. Vor allem Keyboarder Tim Lewin ist eine tolle Bereicherung. international vertrieben wird. Bluesrock hat oftmals die Tendenz, „Ain‘t Bad Yet“ ist ein perfekt prodie Musik - besonders den Bluesanteil duziertes Album mit echtem Blues – zu verflachen und zum Klischee zu und paar rockigen Einlagen von verknappen. Hier einen eigenständi- einer der besten Bluesband des eugen Sound zu finden, ist keine ganz ropäischen Kontinents. Nathan Nörgel leichte Aufgabe. Vor allem braucht es neben einem eigenständigen Sound gute Songs, die eben nicht in den üblichen Revieren wildern. Beides haben Björklof (harp,voc) und seine Mitstreiter in den Jahren ihres Bestehens gefunden. Auch wenn der Opener „Last Train To Memphis“ vom Titel her so klischeehaft wie nur möglich ist: Wie der jagende Rhythmus und das prägnante Harpspiel zusammen klingen, reist jeden sofort mit. Hier wird Wasser-Prawda | Oktober 2015 Ole Frimer Band – Live at Blues Bal ca Mit seiner jungen Band war der dänische Gitarrist Ole Frimer 2014 zu Gast beim Festival Blues Baltica in Eutin. Jetzt ist der Mitschnitt des Konzertes auf CD veröffentlicht worden. Bei Ole Frimer kommt nicht nur der Fan traditioneller Bluesklänge auf seine Kosten. Immer wieder hatte er sich bei dem Auftritt in Eutin auch in Richtung Fusionjazz und Rock begeben. Songs wie „If You Only Could Forgive Me“ oder „The Way You Move“ lebten geradezu durch diese musikalischen Exkursionen, zu denen Frimer immer wieder auch durch die Orgeleinlagen des wunderbaren Palle Hjorth angeheizt wurde. Hjorths Spiel alleine zwischen klassischen Bluessounds, Eskapaden a la Jon Lord oder fast freiem Jazz ist den Kauf dieses Albums wert. Wobei natürlich nicht gesagt werden soll, dass der Rest der Musik banal wäre. Ganz im Gegenteil: Frimers Songs entwickeln hier eine Spannung und Leidenschaft, die fast körperlich spürbar ist. Hier spielen Musiker auf höchstem Niveau und mit voller Spielfreude. Und genau P L AT T E N das ist es, was ich von einem LiveAlbum erwarte. Insofern ist „Live At Blues Baltica“ eine Empfehlung wert für alle Blues und Jazzfans. Für mich ist dieses Album um Längen besser und spannender als sein 2014 veröffentlichtes letztes Studioalbum! Raimund Nitzsche Omar & The Howlers – The Kitchen Sink Mit seinem neuen Album setzt Omar mit seinen Howlers vier Freunden und Kollegen ein Denkmal, die 2014 gestorben sind. Und so finden sich auf dem Album nicht nur sieben neue Stück des Texaners sondern auch fünf Nummern, die er für zu gut und wichtig hält, um sie im Archiv verstauben zu lassen. Bei „Omar“ Kent Dykes weiß man immer nicht, ob er sich mehr als Bluesman sieht oder als CountryTroubadour. Auf der ersten Hälfte von Kitchen Sink ist er darum beides: Der von der Leine gelassene Bluesrocker in „That Ain‘t It“, der klagende Slowblueser in „Fire And Gasoline“ und eben der Countrysänger zwischen CountryGospel („The Battle Rages On“) und Western Swing („I‘ll Keep On Dreaming“) oder Truckerromantik („Dixie‘s All Night“). Dykes ist ein toller Songwriter, der hier seine alltäglichen Geschichten erzählt. Und da muss eben immer die gerade passende Musik dazu gefunden werden. Die Tribute an Efrain Ramos (Präsident seines Fanclubs). DJ Larry Monroe, den Howlers Schlagzeuger Gene Brandon und Jack Primich, den Vater des schon 2007 verstorbenen Harpspielers Gary Primich) startet musikalisch als Kreuzung zwischen Little Richard und den Fabulous Thunderbirds: „Cutie Named Judy“ ist wilder rauher Rock & Roll mit rotzigem Baritonsaxophon. Und Dykes schreit wie Captain Beefheart. Auch „Who Do You Love“ oder das selbst geschriebene „Hello Operator“ sind wilde und ausgelassen rockende Nummern, mit denen man die Meute auf die Tanzfläche jagt. Und vielleicht ist das die passende Art und Weise, wie man sich würdig von alten Freunden verabschiedet. Und danach kommt mit „Climb Aboard“ noch die passende Gospelnummer zum Abschied. Dykes verneigt sich hier mehr als ein wenig vor dem großen Johnny Cash. Insgesamt ein buntes vielseitiges und hörenswertes Album für Blues & Country-Fans gleichermaßen. Nathan Nörgel 47 The Ragpicker String Band – The Ragpicker String Band Man nehme drei preisgekrönte Musiker und ein Programm aus den Klassikern des Vorkriegsblues und ein paar neue Nummern, lasse die drei nicht nur instrumental glänzen sondern auch noch mit umwerfendem Harmoniegesang. Fertig ist die Ragpicker String Band und ihr tolles selbstbetiteltes Debüt. Rich DelGrosso zählt mit seiner Mandoline ebenso wie Gitarristin Mary Flower und Multiinstrumentalist Martin Grosswendt zu den bekannten Namen in der akustischen Bluesszene. Zusammen haben die drei schon neun Nominierungen für die Blues Music Awards erhalten. Als Trio in der klassischen Stringbandbesetzung mit Mandoline, Gitarre und Fiddle können sie eine Stimmung verbreiten, die einen sofort und ohne Umwege in die zwanziger Jahre zurückversetzt. Dort fühlt man sich so lange wohlig und sicher, bis man dann plötzlich realisiert, wie die alten Songs plötzlich nach der Gegenwart klingen: Man kann klassischen Blues der Vergangenheit Wasser-Prawda | Oktober 2015 48 P L AT T E N auch mit modernen Themen anfüttern. Umwerfend gut etwa ist der „Google Blues“. Aber auch Lieder über Handrücher in Motels und ähnliche Themen passen gut zwischen Songs der Mississippi Sheiks oder Blind Boy Fuller. Ein tolles Album für aller Fans des akustischen Blues! Raimund Nitzsche The Reverend Shawn Amos – The Reverend Shawn Amos Loves You Seine Musik nennt er säkularen Gospel. Auf seinem neuen Album macht der Songwriter, Sänger und Harpspieler namens The Reverend Shawn Amos klar, was das bedeutet: Soulblues voller Leidenschaft und Energie, der nicht nur ein wenig an die großen Zeiten der Soulmusik in den 60ern erinnert, teilweise klassischer Chicagoblues und mehr aber immer vorgetragen von einem Sänger, der in jeder Sekunde echt und glaubwürdig ist. Geboren wurde er als Sohn eines Schoko-Cookie Magnaten und einer Nachtclubsängerin in New York. Aufgewachsen ist er am Sunset Strip in Hollywood. Und noch bevor er zum Bluesprediger wurde, arbeitete Amos schon in der Musikindustrie und produzierte die verschiedensten Projekte selbst für Quincy Jones. Selbst Musik zu machen wurde für ihn allerdings erst wichtig, nachdem seine viele Jahre lang psychisch kranke Mutter 2003 Selbstmord begangen hatte. Seit 2005 hat er insgesamt fünf Alben veröffentlicht. Spätestens seit der EP „The Reverend Shawn Amos Tells It“ konzentriert er sich ganz auf den Blues, den er schon als Student entdeckt hat. Allerdings sind es heute nicht nur die Klassiker des Chicagoblues wie Howlin Wolf, Junior Wells oder Muddy Waters, die er heute predigt. Auf „Loves You“ schreit zwar auch eine Bluesharp ganz traditionell (wie etwa in „You Gonna Miss Me (When I Get Home)“. Häufig hört man auch den Sound von MemphisSoul zu Stax-Zeiten, selbst Anklänge an Worksongs und andere Zutaten der weiten Bluesgeschichte sind zu erkennen, wenn der Reverend seine Botschaft von der Liebe verkündet. Das ist keine christliche Liebe, die er predigt, manchmal könnte man meinen, er wäre gar ein Jünger des Satans. Doch da spricht eher der enttäuschte Liebhaber, der vor Wut auf Rache sinnt, anstatt brav zu vergeben. Das sind Bluessongs, die man so gut nicht jeden Tag zu hören bekommt. Und Amos ist ein Sänger, dem man die ganze Bandbreite der hier gepredigten Emotionen auch sofort abnimmt. Dieses Album sollte man sich als Bluesfan unbedingt aufmerksam hören. Sehr empfehlenswert! (Put Together/Kobalt). Nathan Nörgel Wasser-Prawda | Oktober 2015 Shemekia Copeland – Outskirts of Love Blues mit sozialem Gewissen – schon seit Jahren ist Shemekia Copeland eine Sängerin und Songwriterin, die nicht nur den Blues immer mehr in Richtung Americana öffnet, sondern vor allem auch Songs wählt, die Kommentare zum Status der Gesellschaft abgeben. Nach „Never Going Back“ und „33 1/3“ ist „Outskirts of Love“ das dritte Album dieser künstlerischen Neubesinnung. Begleitet wird sie dabei unter anderem von Billy Gibbons (ZZ Top), Alvin Youngblood Hart, Will Kimbrough und Robert Randolph. Los geht‘s gleich mit gehöriger Rockpower: Der Titelsong über Lieblosigkeit und Kälte, geschrieben von ihrem Proudzenten John Hahn mit Gitarrist Oliver Woods, mit dem sie schon seit Jahren immer wieder zusammenarbeitet und der genau die richtigen Töne für ihre kraftvolle Stimme findet. Im Duett „Cardboard Box“ singt sie mit Alvin Youngblood Hart über Obdachlosigkeit, Bei „Crossbone Beach“ (mit einem tollen Solo von Robert Randolph auf seiner Pedal Steele) singt sie von den Folgen se- P L AT T E N xuellen Missbrauchs. Und auch die Coverversionen zählen zu den Songs, die ein Licht auf diese Welt werfen, ob es sich um das von ihrem Vater geschriebene „Devil‘s Hand“, ZZ Tops „Jesus Just Left Chicago“ oder „The Battle Is Over (But The War Goes On)“ von Sonny Terry & Brownie McGhee handelt. Musikalisch wird hier die ganze Bandbreite vom Texas Blues mit Afrobeat-Anleihen bis zum Gospel und Country Soul abgedeckt. Und das macht „Outskirts of Love“ zu einem absolut spannenden und hörenswerten Album einer großartigen Sängerin. (Alligator/in-akustik) Raimund Nitzsche Southside Johnny & The Ashbury Jukes – Soul me! Wo Bruce Springsteen in aller Welt zum „Boss“ wurde, blieb Southside Johnny mit seinen Ashbury Jukes immer ein geliebter Geheimtipp. Niemals hat er sich in den fund 40 Jahren zu Kompromissen bereit gefunden. Und so wird auch das tolle aktuelle Album „Soultime!“ ihn jetzt nicht zum Superstar machen, auch wenn er das eigentlich längst verdient hätte. Mittlerweile ist Southside Johnny nicht mehr von Plattenlabels abhängig. Und so sagt er auch schon mal auf die Frage: Wann kommt das neue Album? Dann, wenn es fertig ist. Bei Soultime dauerte das ein paar Jahre, was doch der Vorgänger schon 2010 veröffentlicht worden. Aber für eine solch fette Soulrevue muss man sich gehörig Zeit nehmen, um die passenden Songs zu finden. Los geht es mit „Spinning“ und gehörigem Stax-Feeling und fetten Bläsern. Ein ähnlicher Kracher ist „Looking For A Good Time“, nur dass hier ein wenig mehr Anklänge an Blaxploitationsoundtracks aufkommen können. Bei „Walking On a Thin Line“ kommen düstere Latinbeats hinzu, bei „I‘m Not That Lonely“ werden die Fans frühen der Motown-Bands bedientt und „Reality“ ist dann eher psychedelischer Soul/Funk der späteren 60er Jahre. Insgesamt haben Southside Johnny und seine Ashbury Jukes damit ein Soulalbum für Fans der Klassiker und der Gegenwart ebenso aufgenommen. Ein prima Album für die nächsten Soulparties! Nathan Nörgel 49 Stefan Saffer – Singers & Players Mit „This Is Not A Dark Ride“ hatte der Leipziger Songwriter Stefan Saffer ein düsteres und kraftvolles Rockalbum vorgelegt. Wer dazu jetzt eine Fortsetzung erwarten sollte, dürfte sich ganz schön die Ohren reiben: „Singers & Players“ ist ein Songzyklus, der vom Bluegrass zum Country, vom Rock & Roll bis zu typisch amerikanischem Rocksongs das ganze Feld des Americana abdeckt. Eigentlich habe er nach der letzten Scheibe gar nicht so schnell wieder ein neues Album veröffentlichen wollen, schreibt Saffer auf Facebook. Doch dann kam er in eine Phase musikalischer und sonstiger Zweifel. Und das war dann der Punkt, an dem der Songwriter Ideen zu neuen Songs bekam. Letztlich haber er den größten Teil der Stücke in rund sechs Wochen zu Papier gebracht. Eingespielt wurde das neue Album gemeinsam mit Alex Wurlitzer (Produzent und an diversen Gitarren) nicht nur in Sachsen sondern auch den USA. Denn als Gäste hat er unter anderem Lisa Lowell (Backgroundsängerin beispielsweise bei Springsteen), den Wasser-Prawda | Oktober 2015 50 P L AT T E N Bluegrass-Fiddler und Banjospieler Aaron Jonah Lewis und andere gewinnen können. Und so nimmt einen „Singers & Players“ mit auf eine musikalische Reise vom Bluegrass über Rockabilly („Better Than A Broken Heart“), Soul („Angel from the Jersey Shore“) bis hin zu Songs, die ein wenig an den ganz frühen Springsteen erinnern. Aber keine Angst: Das hier sind Saffer-Songs mit ihrer Melancholie, Düsternis - aber auch mit ihrer Kraft und Hoffnung in der Dunkelheit. Und damit ist klar: Dieses Album sollte man sich unbedingt anhören! (Timezone) Nathan Nörgel Devil“, „Walk In Chinese Footsteps“ oder „Jenny (Traces In My Arms)“ klingen mal nach dem Voodoorock des ganz jungen Dr. John, mal nach einer Soulparty der „Rocky Horror Picture Show“. Das meint: zur bluesrockenden Gitarre kommen fette Bläser, Backgroundchöre und diverse altertümliche Synthesizer aus den Anfangstagen von Disco. Gedämpfte Trompeten weigern sich, nach Fahrstuhljazz zu klingen sondern schreien die Klage des Sängers blechern heraus. Funkrhythmen laden wahlweise zum Tanz auf dem Vulkan oder zur Parade in Richtung Friedhof ein. Selbst ein fröhlicher Rhythmus wird spätestens dann bedrohlich, wenn der Gesang einsetzt. Sängerin Karena K spendet den nötigen Trost. Und alle paar Takte fragt man sich: Wer ist dieser Sänger eigentlich? Ist er ein zurück gekehrter Captain Beefheart, der es doch mal mit hitparadenverdächtigen Nummern versuchen will? Ist er ein Wahnsinniger, vergeblich versucht, der Zwangsjacke zu entfliehen? Oder ist es einfach so, dass Wily Bo Walker einer der verrücktesten und talentiertesten Songwriter ist, den die gesamte briWily Bo Walker – Moon Over tische Musikszene zur Zeit zu bieIndigo Blues, Funk, Rock & Soul von der ten hat? Ich tendiere hier zu letzdunklen Seite: Wily Bo Walkers terem und empfehle „Moon Over drittes Album im Jahre 2015 ist Indigo“ als die passende Partymusik eine Tour durch Nächte, Friedhöfe, für die nächste Helloweenparty. Trauer und Party am Ende der Welt. Und ebenso für den Morgen (und Wo der Vorgänger „Stone Cold den Kater) danach. Einfach herrBeautiful“ noch eine Angelegenheit lich durchgeknallt und fabelhaft! für Sologitarre war, ist Wily Bo Und für einen Song wie „When The Walker jetzt in einem ganz ande- Angels Call Your Time“ muss man ren musikalischen Kosmos gelan- diesen Mann einfach mit Preisen det. Songs wie „Walking With The überschütten! Hape Kerkeling: Hast Wasser-Prawda | Oktober 2015 Du noch paar Bambis übrig? Raimund Nitzsche Zac Harmon – Right Man Right Now Blues mit der Aktualität von Schlagzeilen im einen Moment und kraftvoller Partyblues im nächsten bei Zac Harmon kann man beides erwarten, nicht erst seit er 2004 den Titel als „Best Unsigned Band“ bei der International Blues Challenge gewann. Er stammt aus Jackson, Mississippi, wo ein Nachbar Musiker wie Duke Ellington, Harry Belafonte oder Cab Calloway zu seinen Gästen zählte und ein anderer nicht nur mit Alan Lomax gearbeitet hatte und Gründer des Center for the Study of Southern Culture an der University of Mississippi war. Nein, er nahm in seinem Haus auch Bluesmusiker wie Skip James auf Band auf. Dass Harmon da schon als Teenager Blues spielte, nimmt nicht Wunder. Schon bald spielte er für zahlreiche namhafte Musiker auf der Durchreise die Gitarre. Dann allerding zog er mit 21 Jahren nach Los Angeles, um „wirklich“ im Musikgeschäft zu arbeiten. Das war in den frühen 80er Jahren. P L AT T E N 51 Nach Jobs als Studiomusiker begann er eine Karriere als Produzent und Songschreiber. Irgendwann heuerte ihn sogar Michael Jackson als Songschreiber für seinen Musikverlag an. Als Produzent erhielt er für seine Mitarbeit am Album „Mystical Truth“ der Reggae Band Black Uhuru gar eine Grammy-Nominierung. Zum Blues kehrte er allerdings erst 2003 zurück mit seinem Album „Live at Babe & Ricky‘s Inn“. Dann folgte der Trip zur IBC nach Memphis und die Karriere als Bluesmusiker begann richtig. Man feierte ihn in der Presse als „future of the Blues“, als „latter-day Eric Clapton or Robert Cray with Shades of Luther Allison and BB King.“ Und natürlich spielte er seither überall zwischen Memphis und Bombay. Für „Right Man Right Now“ hat er sich unter anderem Lucky Peterson, Anson Funderburgh, Bobby Rush und Mike Finnegan als Gäste geladen. Herausgekommen ist ein vielleicht etwas zu routiniertes Bluesalbum: Man spürt in jedem Moment, dass hier großartige Musiker am Werke sind. Aber dann fragt man sich doch wieder: Warum spielen die mit angezogener Handbremse? Es sind tolle Songs - aber warum werden sie nur so professionell und nicht leidenschaftlich präsentiert? Da ist die Kollegenvergleich zu Robert Cray nicht so fehl am Platz. Auch bei ihm stört mich meist nur eines: diese absolute Professionalität, die keinen Raum läst für wirklich mitreißende Emotionen. Das ist schade! Nathan Nörgel Wasser-Prawda | Oktober 2015 52 P L AT T E N WIEDERHÖREN KLASSIKER, RARITÄTEN, WIEDERVERÖFFENTLICHUNGEN immer sofort zu erkennen. Und daran hat sich in der 60 jährigen Karriere von Mac Rebenack niemals wirklich etwas geändert. Damals in den späten 60er Jahren waren es zuerst Kollegen wie die Stones, Van Morrison oder Frank Zappa, die auf ihn aufmerksam wurden. Und daran waren Songs wie das gespenstische „I Walk On Gilded Splinters“, „Loop Garoo“ oder „Mama Roux“ verantwortlich. Oder natürlich der große Hit „Right Place Wrong Time“. Die hat aber wohl jeder Fan schon in seiner Plattensammlung. Was diese Zusammenstellung einzigartig und empfehlenswert macht, sind die unbekannteren Nummern und B-Seiten. Hier spielt Dr. John etwa ein Medley von Huey Smith-Songs Dr. John – The Atco/Atlan c oder macht mit seinem „Wang Dang Singles Doodle“ Howlin Wolf Konkurrenz: Zwischen 1968 und 1974 wurde Wild, heftig und großartig wie auch die Welt erstmals wirklich aufmerk- das ganze Album! sam auf Dr. John, diesen einzigarNathan nörgel tigen Musiker aus New Orleans. Die in dieser Zeit in den USA und dem Vereinigten Königreich erschienenen Singles hat Omnivore Records jetzt auf einem Album zusammengefasst. Ob Rock & Roll, klassischer Rhythm & Blues oder psychedelischer Voodoo-Funk: Songs von Dr. John sind bei aller Vielseitigkeit Company dürfte die Anschaffung des Albums nicht wirklich lohnend sein. Außer, sie wollen unbedingt die bislang unbekannten Versionen von „Easy On My Soul“ und „See The Sunlight“ auch noch in der Sammlung haben. Raimund Nitzsche Bad Company – Rock n roll Fantasy. The Very Best of Bad Company Als im Frühjahr die ersten beiden Alben von Bad Company wiederveröffentlicht wurde, lag es nahe, dem Projekt noch ein Greatest Hits Album nachzuschicken. „Rock N roll Fantasy“ vereint 19 Klassiker aus den ersten zehn Jahren der Band um Sänger Paul Rodgers. Mit dabei sind auch zwei bislang unveröffentlichte Versionen. „Can‘t Get Enogh“, „Bad Company“, … die Klassiker sind hier alle zu finden. Diese Stücke sind zeitlos und altern scheinbar nicht. Und wo immer mehr jüngere Bands ihre Anregungen eben aus dem Classic Rock der 70er Jahre beziehen, ist das hier ein Album, mit dem man der Jugend eine der prägendsten Rockbands der 70er nahe bringen kann. Für Fans der Bad Wasser-Prawda | Oktober 2015 P L AT T E N 53 von Tramp Records eigentlich Pflichtkäufe sein. Und wer als DJ die Leute wirklich mit den echten Grooves versorgen will, der hat auch Feeling Nice hoffentlich schon auf der Wunschliste. Unbedingt anhören und abtanzen! Das befielt der Nörgler von der Wasser-Prawda. Nathan Nörgel Steve „Big Man“ Clayton – Best of 1999-2007 Various – Feeling Nice 3: A Collec on of Superrare and In Großbritannien zählt er seit Superheavy Funk 45s from Jahren zu den beliebtesten Boogie- the lat 1960s & Early 1970s und Bluespianisten und hat schon mehrfach den British Blues Award gewonnen. Seit 1998 lebt er in Deutschland. Und hier veröffentlicht Steve Big Man Clayton die meisten seiner Alben beim Label Stormy Monday Records. Aus den dort erschienenen Scheiben hat Clayton selbst die Auswahl für seine aktuelle „Best of“ getroffen. Wenn Steve „Big Man“ Clayton an den Tasten sitzt, dann sind da nicht nur klassische Boogiesounds zu hören sondern auch Pianoblues mit einem Geschichtenerzähler an den Tasten oder swingenden und groovenden Rhythm & Blues. Man kann an den 16 Stücken des Albums die Vielseitigkeit Claytons und seine musikalische Entwicklung seit seiner Übersiedlung nach Deutschland nachvollziehen. Und das ist gleichzeitig auch eine gute Gelegenheit, diesen tollen Pianisten erstmals oder wieder zu entdecken. (Stormy Monday Records) Raimund Nitzsche Letztens erwähnte ich im Gespräch mit einem Musiker die Alben von Tramp Records: Ja, er kenne diese Sampler meinte der Italiener, der mittlerweile in Berlin lebt. Doch er war völlig verblüfft, dass es sich um ein deutsches Label handelt. So cool wie diese Zusammenstellungen seien, hätte er vermutet, dass die Plattenfirma irgendwo in New York oder anderswo in den USA sitzen müsse. Auch der dritte Teil der Reihe „Feeling Nice“ passt wieder genau ins Raster: Funk von irgendwelchen Kleinslabels irgendwo in den Vereinigten Staaten (und diesmal sogar ein Titel von Jamaica), hart, dreckig und auf den Punkt gespielt. Oft ist das die reine Funklehre in der Nachfolge von James Brown. Aber man hört bei einigen Titeln auch schon das Aufkommen von Disco, manchmal rollt der Boogie, ab und zu sind jazzige Ausflüge zu erkennen. Wer auf Soul und Funk steht, für den sollten die Veröffentlichungen Wasser-Prawda | Oktober 2015 54 P L AT T E N MEILE NS T E IN E : W I L L I E D IXO N – I A M TH E B L U E S BEST BLUES ALBUMS EVER. VON MATTHIAS SCHNEIDER Bob Hite ha e bis zu seinem Tod jedes Konzert mit den Worten „And don’t forget to boogie!“ beendet. Daran anlehnend sage ich: And don’t forget Willie Dixon! Deswegen appeliere ich an alle, beschä igt euch einmal mit diesem Bluesgiganten. Eine CD von Willie Dixon lohnt sich immer. n Bluegrössen. Eine CD von Willie Dixon lohnt sich immer. 1970 erschien „I Am The Blues“ von Willie Dixon auf Columbia Records. Bei jedem anderen könnte solch ein Albumtitel unbescheiden klingen. Doch für Dixon ist er nicht übertrieben. Schließlich gehört er zu den Musikern, die den Chicagoblues formten. Besonders in seinen Jahren bei Chess Records war er der wichtigste Songschreiber und Produzent in der Stadt. Einige der klassischen Titel des Chicagoblues stammen aus seiner Feder – auch wenn andere Künstler sie weltweit bekannt machten mit ihren Aufnahmen. Auf diesem Album nahm sich Dixon neun seiner Songs aus den 50er und 60er Jahren und spielte sie mit einer Studioband aus den bedeutendsten Musikern Chicagos neu auf. So hören wir hier Harpspieler Big Walter Horton, Wasser-Prawda | Oktober 2015 die Pianisten Sunnyland Slim und Lafayette Leake (die beide auch zur Band von Muddy Waters gehörten). Johnny Shines spielte die Gitarre und am Schlagzeug saß Clifton James, während Dixon neben dem Gesang auch noch seinen prägnanten Kontrabass spielte. P L AT T E N 55 Nach Beginn des digitalen Zeitalters wurde „I Am The Blues“ in verschiedenen Ausgaben neu auf den Markt gebracht. 2008 erschien die digital bearbeitete Version innerhalb der Roots n Blues Serie bei Legacy Records, die wohl bislang lohnendste CD-Version dieses späten Klassikers des Chicagoblues. Titelliste 1. „Back Door Man“ – 6:08 2. „I Can‘t Quit You, Baby“ – 6:40 3. „The Seventh Son“ – 4:15 4. „Spoonful“ – 4:56 5. „I Ain‘t Superstitious“ – 4:03 6. „You Shook Me“ (Dixon, J. B. Lenoir) – 4:15 7. „(I‘m Your) Hoochie Coochie Man“ – 4:48 8. „The Little Red Rooster“ – 3:36 9. „The Same Thing“ – 4:40 Drei Lieder von Willie Dixion Line up: • Willie Dixon – vocals, bass • Walter Horton – harmonica • Lafayette Leake - piano • Sunnyland Slim – piano • Johnny Shines – guitar • Clifton James – drums • Abner Spector – producer In den 60ern wurden viele seiner besten Songs von britischen und amerikanischen Bands interpretiert. Cream („Spoonful“), Led Zeppelin („I Can’t Quit You Baby“ und “You Shook Me”) und die Doors (“Back Door Man”) waren nur einige Rockgruppen, die Willie Dixons Kompositionen aufnahmen. Aber ennt ihr auch die Originale? Spoonful wurde zuerst 1960 von Howlin Wolf aufgenomen. Durch zahllose andere Coverversionen anderer Bluesmusiker wurde die Nummer zu einem Standard. Auch Dixons Back Door Man wurde zuerst 1960 von Howlin Wolf aufgenommen. Er erschien zunächst als B-Seite seiner Single „Wang Dang Doodle“ bei Chess Records. Dort hatte Dixon zeitweise fast den Status als wichtigster Songschreiber des Labels. Zu finden sind die Lieder auch auf dem Album „Howlin Wolf“, welches eigentlich eine Sammlung von sechs Chess-Singles von Howlin Wolf aus den Jahren 1960-1962 ist. I Can‘t Quit You Baby ist ein Dixon-Stück, das zuerst 1956 von Otis Rush aufgenommen wurde. Später haben sich auch Led Zeppelin auf ihrem Debüt dieses Songs angenommen. Wasser-Prawda | Oktober 2015 56 F E U I L LTO N LITER AT UR -A B C: F WIE FIKT I ON VON KRISTIN GORA Ab und an kommen Bücher auf den Markt, die einem ganz besondere Fragen stellen. Bei Moritz von Uslars Deutschboden stellten sich viele die Frage, ob das jetzt Literatur sei oder nur eine Reportage zwischen Buchdeckeln. Schildert er uns hier die Realität der Kleinstadt Zedenick oder eine reine Fik on? Ist das jetzt etwas Faktuales oder Fik onales? Diese vielen F-Wörter wollen wir heute mal etwas genauer unter die Lupe nehmen. Ein anderes Beispiel: Das Wetter vor 15 Jahren von Wolf Haas ist ein Buch, indem wir einem Gespräch zwischen einem Autor und einer Literaturredakteurin über den letzten Roman des Autors folgen, welchen sie dann auch zitieren und ausführlich besprechen. Die Lektüre dieses Werkes von Wolf Haas soll angeblich zahlreiche LeserInnen dazu bewogen haben, beim Verlag anzurufen und zu fragen, wann denn nun dieses Buch erscheinen würde, über das sie dort stundenlang diskutieren. Wolf Haas hat nämlich, um die Verwirrung und Vermischung von Fiktion und Wahrheit perfekt zu machen, den diskutierenden Autoren auch noch nach sich selbst benannt. Dieser Roman, über den sie dort sprechen, ist jedoch rein Wasser-Prawda | September 2015 fiktiv! Er existiert ausschließlich in der Welt des Buches Das Wetter vor 15 Jahren. Um zu unsren F-Wörtern zurückzukommen: Er hat keine eigene Realität in der Buchhandlung unseren Vertrauens und kann damit auch nicht fiktional sein. Fiktionalitität und Faktualität können ausschließlich Eigenschaften eines erzählenden Textes sein. Eines Romanes oder Dramas. Fiktion und Realität dienen der Beschreibung der erzählten Welt. Die Fiktion ist also – knapp zusammengefasst – die Darstellung einer ausschließlich im literarischen Text existenten Wirklichkeit. Ein Text wiederum ist dann fiktional, wenn die in ihm beschriebene Welt fiktiv ist. Ist diese erzählte Welt nicht fiktiv sondern der Realität entnommen – wie z. B. in den Reportagen eines Moritz von Uslars – handelt es sich um einen faktualen Text. Wenn also nun jemand sagen sollte, dass er ein Buch geschrieben hat, das rein fiktiv ist, sollten wir hellhörig werden. Dann existiert es wohl nur in seinem Kopf! Fiktive Bücher wären z. B. die Schulbücher Harry Potters oder eben der Roman Das Wetter vor 15 Jahren im Buch von Wolf Haas. Das Buch unseres Gegenübers ist wahrscheinlich doch eher fiktional. Der freiraum-verlag sucht einen Einband! Im Frühjahr 2016 veröffentlichen wir einen Roman, welcher die gegenseitige Entfremdung eines Mannes und seiner Frau, ihre unerfüllten Erwartungen aneinander und an das Leben präzise seziert. Die Tragödie eines politisch motivierten Mordes zwingt sie dazu, sich ihren Lebenslügen zu stellen und sich letztlich für ihre neue Heimat in Ostdeutschland zu entscheiden. Wir suchen für diese Veröffentlichung bis zum 06.11.2015 Einband-Entwürfe von Grafikern, Designern, Künstlern oder Fotografen. Wer Interesse hat, bekommt per Mail (info@freiraum-verlag.de) ausführlichere Informationen zum Buch, die genauen Teilnahmebedingungen und die Konditionen mitgeteilt. Kondi onen • • • • Einband-Entwurf: Vorder- und Rückseite mit je 14,8 x 21,0 cm (+ 3 mm Beschnitt) Einsendeschluss: 06.11.2015 Im Falle einer Nutzung des Entwurfs: 5 % (nach Abzug der Kosten) je verkauften Exemplars; stückzahlunbegrenzt; ausreichende Nennung im Impressum der Veröffentlichung, auf der Homepage usw. Möglichkeit der Nutzung des Entwurfs für jede Auflage und für Werbezwecke 58 SPRACHRAUM DIE P R IVAT D O Z E N TI N VON BRYGIDA HELBIG. VORABDRUCK AUS: OSSIS UND ANDERE LEUTE. AUS DEM POLNISCHEN VON PAULINA SCHULZ UNTER MITARBEIT VON BRYGIDA HELBIG, FREIRAUM-VERLAG GREIFSWALD, 2015. Ob die anderen auch ständig hetzen und hetzen, ihrem eigenen Schwanz nachjagen, sich selbst Stück für Stück auffressen? Wie viele Ratgeber habe ich schon verschlungen, wie viel Weisheit aufgesogen – darüber, wie eine Frau die Königin ihres Lebens werden und tänzerisch der Stimme ihrer Berufung folgen könne, dass man sich selbst lieben sollte, dann sei es egal, wen man heirate, dass man sich nicht sorgen, sondern einfach leben müsse. Wie viel habe ich darüber gelesen, wie man nach den Lehren des Buddhismus den NikotinDämon mit einem Dolchstoß töten könne, dass die warme chinesische Küche mit Ingwer und Kardamom die bekömmlichste Nahrung sei, und darüber, wie glücklich doch eine polnische Schriftstellerin sei, die jeden Tag die Fünf Tibeter praktiziere und eine Liebesbeziehung mit dem Indischen Ozean unterhielte. Oder darüber, wie erfüllt es einen mache, um fünf Uhr früh aufzustehen und den Tag mit einem Dankesgebet zu beginnen. Beenden sollte man ihn wiederum mit dem Einreiben mit Aprikosenkernöl und einer Affirmation an unser Höheres Selbst. Und wie sieht die Realität aus? Nicht nur, dass ich es nicht schaffe, vor meinem Kind aufzustehen, um Dankesgebete gen Himmel zu richten – nein, mein Kind muss mich jeden Morgen aus dem Bett zerren und zu unchristlicher Stunde mit bohrenden Fragen wachrütteln: „Mama, was ist eine Ellipse? Mama, was ist ein Paradoxon? Ich muss es wissen, weil es heute abgefragt wird! Gib mir doch ein Beispiel dafür, bitte nicht so abstrakt, so bringt mir das nämlich nichts!“ Als ob ich auf Arbeit nicht genug von solchen Fragen hätte. Wie, auf Arbeit? Ich bin doch arbeitslos. Was machst du eigentlich den ganzen Tag? Die Welt da draußen hat sich fest vorgenommen, mich tagtäglich mit dieser Frage in den Wahnsinn Wasser-Prawda | Oktober 2015 zu treiben. Meine lieben Tanten, Onkel, Omas, Opas, Schwägerinnen und Schwager mit Kind und Kegel: Ich verkünde hiermit öffentlich, dass ich mitnichten arbeitslos sei – Arbeit habe ich genug, nur dass ich für diese nicht entlohnt werde. Das ist ein gravierender Unterschied! Ich bin nicht arbeitslos, sondern brotlos. Das nennt sich in der Bundesrepublik Deutschland dann Privatdozent. Eine Erfindung deutscher Universitäten. Ich muss mich erklären. Tag für Tag. Ich muss berichtigen, dass ich nicht wirklich ein Faulpelz sei, und erkläre, was ich den ganzen Tag so mache. Das ist auch harte Arbeit. Was ich außerdem noch tue? Ich schreibe und lektoriere, ich übersetze und korrigiere, lese und examiniere – und all das für nichts und wieder nichts. Außerdem denke ich darüber nach, ob ich meine Tochter gegen Gebärmutterhalskrebs impfen lassen soll, weil die Meinungen geteilt und die Konsequenzen vielleicht schwerwiegend, jedoch unbekannt sind. Ich fahre meine Mutter zum Arzt und schaue mit meiner Tochter Desperate Housewives an, ich telefoniere Handwerkern hinterher, weil die Heizung im Wohnzimmer nur dann heizt, wenn man gleichzeitig auch die Heizung im Zimmer meiner Tochter anwirft. Die Herren kommen: Guten Tag, Frau Stopa-Müller, wo drückt denn der Schuh? Sie fahren zufrieden wieder weg, ich mache die Heizung an, und tatsächlich, die Abhängigkeit der Heizkörper untereinander ist nicht mehr gegeben – stattdessen powert die Heizung dermaßen, dass mir der Schweiß ausbricht. Weil es so heiß ist und ich weiß, was es mich kosten wird. Szlag trafi! Die Deutschsprachigen amüsieren sich immer über alle Maßen, wenn ich das so sage. Der Schlag soll euch treffen auf Polnisch. Und ich sage es sehr oft: Wenn ich mit der Faust auf den Laptop haue, der mir nicht gehorchen will, wenn ich mit meinem Daewoo aus Versehen SPRACHRAUM 59 einen Mercedes sanft streife und gelbe Spuren auf seinem Lack hinterlasse, um anschließend von dem einen oder anderen privaten Ordnungshüter in die Ecke gedrängt zu werden, die hierzulande besonders gut gedeihen. An Gelegenheiten mangelt es nicht. Danach klopfe ich auf Holz. Nein, der Schlag soll nicht die Handwerker treffen! Mich soll er treffen. Bevor ich die nächste Zahlungsaufforderung im Briefkasten finde, die nächste Mahnung, die nächste Job-Absage wegen überdurchschnittlicher Qualifizierung oder von besorgten Bekannten erneut gefragt werde, was ich denn den ganzen Tag so treibe. Was treibe ich, was treibe ich? Ich schreibe! Berlin 2005 Über die Autorin Die deutsch-polnische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Brygida Helbig wurde in Stettin geboren, siedelte 1983 nach Deutschland über und lebt zurzeit in Berlin. Nach einem Studium der Slawistik und Germanistik an der Ruhr-Universität in Bochum arbeitete sie einige Jahre an der HumboldtUniversität zu Berlin, bevor sie Professorin am Deutsch-Polnischen Forschungsinstitut im Collegium Polonicum in Słubice wurde. Von ihr sind zahlreiche Romane, Erzähl- und Lyrikbände sowie dramatische Werke erschienen. Ihr satirischer Prosaband „Enerdowce i inne ludzie“ („Ossis und andere Leute“, 2011) wurde für den wichtigsten polnischen Literaturpreis NIKE und für GRYFIA nominiert, ihr Roman „Niebko“ („Himmelchen“, 2013) kam ins Finale des NIKE-Preises. Brygida Helbig: Ossis und andere Leute [Neue Polnische Literatur, Band 1] Aus dem Polnischen von Paulina Schulz unter Mitarbeit von Brygida Helbig Voraussichtliches Erscheinungsdatum: 12.11.2015 126 Seiten; Softcover; 12,5 x 19,0 cm ISBN: 978-3-943672-71-8 14,95 EUR (D) Wasser-Prawda | Oktober 2015 60 SPRACHRAUM DER M A NN A M S E M A P H O R EINE ERZÄHLUNG VON BRET HARTE Auf der äußersten Spitze der sandigen Halbinsel, welche an der Stelle liegt, wo die Bai von San Francisco mit dem Stillen Ozean zusammenfl ießt, stand zur Zeit der ersten Einwanderung nach Kalifornien ein optischer Küstentelegraph. Er hob seine schwarzen Arme gen Himmel, kehrte den Rücken dem Goldenen Thor und der ganzen ungeheuern Wasserfläche zu, deren nächstes Ufer Japan ist, und verkündete einem zweiten Semaphor, das weiter landeinwärts stand, durch gewisse kunstlose Zeichen, was für Fahrzeuge ankamen. Von dort ging die Nachricht nach dem Telegraphenhügel in San Francisco, wo die nämlichen Signale auf einem dritten Semaphor sichtbar wurden, so Wasser-Prawda | Oktober 2015 daß jeder Eingeweihte ›Schoner‹, ›Brigg‹, ›Segelschiff‹ oder ›Dampfboot‹ lesen konnte. Mit letzterem Zeichen waren besonders alle Heimwehkranken in San Francisco wohl vertraut, und an gewissen Tagen im Monat wandten sich viele Blicke sehnsüchtig nach den großen Armen hin. Wenn sie weit ausgebreitet im rechten Winkel standen, so bedeutete das: ›Raddampfer‹ und ›Briefe aus der Heimat‹; kein anderes Dampfschiff beförderte die Post. Lauter Jubel begrüßte jedesmal die Freudenbotschaft, aber nur wenige gedachten dabei des einsamen Wächters auf der Sanddüne, der sie abschickte; man wußte ja kaum etwas von dem Vorhandensein jener abgelegenen Telegraphenstation. SPRACHRAUM Sie lag in der trostlosesten Einöde, die man sich vorstellen kann. Kein Bewohner von San Francisco wanderte je weiter hinaus, als bis zum Presidio, das sich mit seinen stummen Kanonen und den leeren Schießscharten in einer Bodensenkung verbarg, oder bis nach der Mission Dolores, deren verfallene Mauern samt dem Glockenturm in eben solcher Vertiefung lagen. Den berühmten Vergnügungsort Cliff House gab es damals noch ebensowenig wie Fort Point, und von Black Point aus sah man auf dem Ufer der Ziegeninsel, ›Yerba Buena‹, oder in der Umgegend von San Francisco selbst, nichts als glitzernde Sanddünen, über die der Wind fegte, und hier und da einen Wassergraben, aus dem nur die Kronen der schwarzen Zwergeichen hervorragten. Sechs Monate lang sandte die Sommersonne hier ihre glühenden Strahlen aus dem wolkenlosen Himmel herab; sechs Monate lang stürmten dann die Passatwinde vom Westen wild einher; unablässig kamen die breiten Wogen des Stillen Ozeans herangerollt, um sich mit einförmigem Geräusch am Ufer zu brechen. Bei Tage war es fast unmöglich durch den Treibsand zu waten und dem rasenden Winde zu trotzen; bei Nacht hüllte der dichte Nebel, der sich um Sonnenuntergang leise durch das Goldene Thor stahl, alles in undurchdringliche Schleier. Bis zum Morgen waren dann Meer und Land eine pfadlose Wüste und nur die unsichtbare Brandung erhob ihre Warnungsstimme mit Donnergetöse. Die Telegraphenstation selbst, eine roh gezimmerte Hütte mit zwei Fenstern – in dem einen war das Teleskop angebracht – sah aus wie ein gestrandetes Wrack, das die Flut ans Ufer gespült hat, oder wie ein Haufen Treibholz. Meilenweit ragte kein Gegenstand über die wellenförmigen Dünen hinaus, außer dem Semaphor, das je nach dem Wetter oder der Tageszeit eine mehr oder minder düstere Form annahm. Bald glich es einem entblätterten Baum, bald den Masten und Spieren eines auf den Strand gezogenen Schiffs, bald einem verwitterten Galgen. Streckte es aber die Arme im rechten Winkel aus und hob sich dabei von einem goldigen Hintergrund ab, wenn die Sonne in der Bai unterging, so hätte eine lebhafte Einbildungskraft es leicht für das Erlöserkreuz halten können, welches der begeisterte Missionar Portala vor hundert Jahren an jener heidnischen Küste aufgerichtet hat. In so hoffnungsvoller Gestalt war es aber dem einsamen Stationswächter Richard Jarman schwerlich je erschienen. Aus einer britischen Verbrecherkolonie entflohen, hatte sich der Sträfling im Packraum eines australischen Schiffes als blinder Passagier eingeschmuggelt und war ohne einen Heller in der Tasche in San Francisco gelandet. Natürlich vermied er jede Berührung mit seinen rechtschaffeneren Landsleuten, die sich schon länger dort aufhielten, weil er sich keinen Augenblick sicher wußte. Es war sein Glück, 61 daß die englischen Einwanderer ohne Ausnahme zu den Goldsuchern gehörten, die nach Sacramento und den südlichen Minenbezirken zogen. Jarman war klug genug der Versuchung zu widerstehen, ihnen dahin zu folgen; statt dessen nahm er die Stelle eines Semaphor-Wächters an, die erste, welche sich ihm bot. Kein Bewerber machte sie ihm streitig, denn selbst der armseligste Einwanderer, den goldene Träume umgaukelten, würde sie verschmäht haben, während Jarman sich nichts Besseres hätte wünschen können. Seine Vorgesetzten thaten weder verfängliche Fragen, noch verlangten sie irgend welche Empfehlungen. Einen Vertrauensposten konnte man es ja auch kaum nennen, es war nichts da, was man hätte entwenden können, außer dem Teleskop; Versuchungen oder schlechte Gesellschaft gab es für den Mann dort in der Einsamkeit nicht, seine Obliegenheiten waren rein mechanischer Natur und jede Versäumnis, die er sich zu Schulden kommen ließ, müßte sofort in San Francisco bemerkt werden. Außer Kost und Wohnung versprach man ihm monatlich fünfundsiebzig Dollars, eine lächerlich kleine Summe in jenen flotten Tagen, die aber dem geängsteten und halbverhungerten Flüchtling wie ein fürstlicher Gehalt vorkam. Ueberdies winkte ihm endlich Ruhe und Sicherheit. Von der quälenden Sorge und Furcht vor Entdeckung, die ihn seit drei Monaten Tag und Nacht verfolgte, war er erlöst. Er brauchte nicht mehr unausgesetzt zu wachen und auf der Lauer zu sein; die Wächterhütte bot ihm eine Zuflucht, in der er sich verkroch wie ein gehetztes Wild in seiner Höhle. Daß ihn hier irgend jemand aufspüren würde, schien undenkbar; er entging seinen Feinden und war zugleich der Schmach überhoben, einem ihm befreundeten Menschen zu begegnen, bis er von Freund und Feind vergessen war. Von seinem Beobachtungsposten in jener Einöde konnte er auf zwei bis drei Meilen jeden Fremden sehen, der sich der Hütte näherte. Und im schlimmsten Fall, wenn er doch verfolgt werden sollte, so lag ja die pfadlose Sandwüste vor ihm und das weite Meer. Ungesehen und unbehelligt beobachtete er zuweilen mit einer gewissen Befriedigung das Verdeck der vorbeifahrenden Schiffe. Sein Fernglas brachte ihn doch wieder mit der Welt in Beziehung, die ihn ausgestoßen hatte. Ob unter den Passagieren wohl jemand den einsamen Wächter kannte oder von seinen Missethaten gehört hatte? so fragte er sich oft in düsterm Sinnen. Es würde seine Stimmung nicht heiterer gemacht haben, hätte er gewußt, daß die meisten Menschen, deren Blicke mit so heißem Verlangen nach dem goldenen Hafen ausschauten, nur an sich selber dachten. Nicht ohne Neid betrachtete er die Gesichter auf den wenigen heimwärts segelnden Schiffen, um darin zu lesen, ob sie ihr Glück gefunden hätten. Auch er dachte bisweilen – wenn auch nur selten Wasser-Prawda | Oktober 2015 62 SPRACHRAUM – an seine Heimat und sein früheres Leben. Es war keine glorreiche Vergangenheit. Seine verschwenderische, genußsüchtige Jugend hatte ihn zu Betrug und Fälschung geführt, und so war er für immer aus seiner alten, ehrbaren Heimatstadt verbannt. Daß die Seinigen glaubten und wünschten, daß er tot wäre – das wußte er. Aber, obschon er ohne Freude an seine Vergangenheit dachte, so quälte ihn doch auch die Reue wenig. Wie die meisten Menschen seines Schlages schob er die Schuld auf andere Leute, auf sein Mißgeschick, auf den Zufall – sich selbst machte er niemals dafür verantwortlich. Sein Unrecht war ihm nicht leid, er wollte nur ein andermal klüger sein. Und lebendig sollten sie ihn nicht wieder fangen! In völlig einförmiger Weise vergingen ihm zwei oder drei Monate, in denen er wieder einigermaßen zu Kräften kam und neuen Mut faßte. Sein Auge verlor den versteckten, ruhelos lauernden Ausdruck; die kräftige Seeluft und die glühende Sonne bräunten sein Gesicht und gaben ihm die gesunde Farbe und das freimütige Aussehen eines Matrosen. Die Gewohnheit den Horizont zu durchforschen hatte auch sein Auge geschärft; mit Leichtigkeit unterschied er jetzt den langsam an der Küste kreuzenden Schoner von dem weit ausgreifenden Kauffahrteischiff, das vom Kap Horn kam; auch die schwache Dunstlinie, welche den Dampfer ankündigte, entdeckte er bevor noch Masten und Schornsteine sichtbar wurden. Außer dem Schiffer, der ihm allwöchentlich seinen Vorrat an Lebensmitteln im Kahn herüberbrachte und in der kleinen nahgelegenen Bucht landete, sah er keine Menschenseele. Sein abweisendes, verschlossenes Wesen hielt der Schiffer für englischen Hochmut und kümmerte sich wenig um einen Mann, der nicht einmal fragte, ob es etwas Neues gäbe und an den er niemals Briefe abzugeben hatte. Zuerst brachten die langen Nächte, wenn die Hütte im Nebel verschwand, dem Flüchtling ein erhöhtes Gefühl der Sicherheit, allmählich lastete jedoch ihre furchtbare Einförmigkeit schwer auf ihm und versetzte ihn in eine sonderbare Ruhelosigkeit, die er durch Branntweingenuß zu bekämpfen suchte. Dies Getränk, das ihm geliefert wurde, dämpfte seine erregten Sinne, doch sorgte er dafür, daß es ihn niemals an der mechanischen Ausübung seiner Pflichten hinderte. Fünf Monate war er nun schon auf dem Posten, und die Hügel am jenseitigen Ufer bis nach Tamalpais hin, begannen sich gelb und rot zu färben; da beobachtete er an einem klaren Morgen die kleine Flotte der italienischen Fischerboote, welche in der Bai kreuzten. Dies war stets ein höchst malerisches Schauspiel, das einzige vielleicht, welches etwas Abwechslung in die sonst eintönige Aussicht brachte. Die absonderlichen, mattroten oder gelben lateinischen Segel, die sich grell von dem funkelnden Wasserspiegel abhoben, dazu die Fischer mit ihren roten Kappen und Schärpen, fesselten Wasser-Prawda | Oktober 2015 die Aufmerksamkeit unwillkürlich. Plötzlich änderte eine der größeren Barken ihren Kurs und kam gerade auf die kleine Bucht losgesteuert, wo Jarmans wöchentlicher Proviantkahn zu landen pflegte. Sofort wurde Jarmans Argwohn rege, er musterte das Fahrzeug aufs genauste durch sein Fernglas, erkannte jedoch, daß sich außer den Bootsleuten nur noch ein paar Frauen auf Deck befanden, die vermutlich zur Familie des Fischers gehörten. Bald sah er die ganze Gesellschaft am Ufer aussteigen und als er bemerkte, daß sie nur einen harmlosen und friedlichen Streifzug vorhatten, schlug er sich alle Bedenken aus dem Sinn. Die Fremden wanderten unter lebhaften Gebärden lachend und scherzend durch den Ufersand; sie hatten Kochgeschirr mitgebracht, zündeten ein Feuer an und bereiteten ihr einfaches Mahl. Offenbar war ihnen das Semaphor etwas Neues, denn Jarman sah, daß es immer wieder ihre Aufmerksamkeit erregte. Da er gerade die Ankunft eines Fahrzeugs signalisieren mußte, wagten sich die Kinder sogar mit halb ängstlicher Neugierde näher heran, um zu sehen, wie sich die großen Arme bewegten, während die Erwachsenen von ferne standen, als fürchteten sie, unbefugterweise den Grund und Boden der Regierung zu betreten, über den die Polizei sicherlich im geheimen wachte. Nach einigen Tagen entdeckte der Wächter mit Ueberraschung an der nämlichen Uferstelle einen Haufen Bauholz, der wohl im Morgennebel gelandet worden war. Tags darauf erhob sich dort ein altes Zelt und die Fischer begannen daneben eine rohe Hütte zu zimmern. Soviel Jarman wußte war jener Landstreifen öffentliches Eigentum und man würde die armen Ansiedler dort aller Wahrscheinlichkeit nach eine Zeitlang ruhig gewähren lassen. Der Gedanke beschäftigte ihn sehr. Die Leute waren zwar Ausländer und über eine halbe Meile von ihm entfernt, aber bei dem gesetzlosen Zustand der hier herrschte, konnte ihr Beispiel leicht andere ermutigen sich gleichfalls in dieser Gegend niederzulassen. Dem mußte Einhalt gethan werden. Diesmal stand Richard Jarman ganz auf seiten von Gesetz und Ordnung. Als jedoch die armselige Hütte fertig war, überzeugte er sich, daß sie dem Fischer und seiner Familie nur vorübergehend als Obdach dienen sollte; vermutlich fanden sie es bequemer, dort ihre Vorräte unterzubringen und das Boot segelfertig zu machen als auf der Werft von San Francisco. Es war ein ganz malerischer Anblick, wenn sie ihre Netze und Segel am Ufer ausbesserten, denn trotz der scharfen Nordwestwinde verlockten die wolkenlosen, sonnigen Tage die Italiener ihr heimatliches Leben im Freien hier wieder zu beginnen. Sie schwelgten nicht nur im Sonnenschein sondern verrichteten auch viele ihrer wirtschaftlichen Obliegenheiten außerhalb des Hauses, sogar ihre Toilette wurde al fresco vorgenommen. In die öde Gegend, die in ihrem Rücken SPRACHRAUM lag, weiter vorzudringen hatte offenbar keinen Reiz für sie; aus halb amphibienartiger Gewohnheit blieben sie am Uferrande. Jarman hatte in den ersten Tagen auf seinen kurzen Spaziergängen eine andere Richtung eingeschlagen, aber bald hielt er es für unnötig den Ort zu vermeiden, ja er vergaß zuweilen völlig, daß die Leute in der Nähe waren. Als er eines Morgens sein Frühstück eingenommen hatte, begann sich der Nebel gerade zu teilen und er konnte vom Fenster aus das ferne Meer glitzern sehen. Er wollte Wasser aus dem Faß draußen holen, das einmal wöchentlich von Sancelito aus gefüllt werden mußte, da es in seiner Nachbarschaft keine Quelle gab. Doch blieb er vor Schrecken wie angewurzelt stehen, denn beim Oeffnen der Thür sah er sich einem jungen Mädchen gegenüber, das mit halb ängstlichem Lachen vor ihm zurückprallte. Als sie jedoch seine sichtliche Verwirrung bemerkte, faßte sie wieder Mut. »Ich wollt‘ mir nur eben mal das Ding ansehen,« sagte sie schüchtern und deutete nach dem Semaphor. Sein Staunen wuchs, denn als er ihre Olivenfarbe und die dunkeln Augen sah, hatte er geglaubt, sie würde italienisch reden oder seine Sprache radebrechen; auch ihre Schönheit machte ihm großen Eindruck, vielleicht weil er so lange mit keinem weiblichen Wesen verkehrt hatte. Nach einer Weile stammelte er zögernd: »Wollt Ihr nicht eintreten?« Sie wich noch einen Schritt zurück und machte eine abwehrende Gebärde, nicht nur mit der Hand sondern auch mit dem Kopf und der ganzen biegsamen Gestalt. Dann erwiderte sie in echt amerikanischer Betonung: »Nein, Herr!« »Warum nicht?« fragte Jarman unwillkürlich. Das Mädchen schob sich seitwärts gegen die Hütte und in ihren Augen, die sie fest auf ihn heftete, lag ein gewisser Ausdruck jugendlicher Schlauheit, als sie erwiderte: »Das wißt Ihr doch!« »Nein, wirklich nicht. Sagt mir den Grund.« Da legte sie die Hände auf den Rücken und richtete sich nicht ohne kindlichen Stolz empor: »Solche Sorte Mädchen bin ich nicht,« sagte sie einfach. Jarman stieg alles Blut ins Gesicht. Er hatte ein wüstes, ausschweifendes Leben geführt und die Weiber wenig geachtet, aber – dies verletzte sein Ehrgefühl und empörte ihn auch, weil er wußte, daß er mit ganz andern Dingen beschäftigt war und an nichts Arges gedacht hatte. »Nun so laßt‘s bleiben,« entgegnete er kurz und trat wieder in die Hütte. Aber schon im nächsten Augenblick besann er sich, daß er ein Thor gewesen war seinen Aerger zu zeigen, der falsch ausgelegt werden konnte. Er kam wieder heraus, warf aber kaum einen Blick auf das Mädchen, das sich langsam entfernen wollte. 63 »Soll ich Euch erklären wie man das Ding handhaben muß?« fragte er in gleichgültigem Ton. »Zeigen kann ich‘s Euch nur, wenn gerade ein Schiff vorbeifährt.« In den Augen des Mädchens, die sie ihm jetzt wieder zuwandte, schimmerte ein sanfter Glanz. »Bitte,« erwiderte sie mit freundlichem Lächeln, wobei ihre weißen Zähne blitzten, »wenn Ihr so gut sein wollt.« Sie war doch sehr hübsch und voll kindlicher Einfalt, obgleich sie ihm jene Antwort gegeben hatte. Während ihr Jarman kurz und bündig auseinandersetzte, was die verschiedenen Bewegungen der Arme des Semaphors bedeuteten, hielt sie den Kopf, auf dem das bunte Käppchen saß, gleich einem aufmerksamen Vögelchen ein wenig zur Seite geneigt und machte unwillkürlich mit ihren Armen alle Zeichen nach. Ihr Gebärdenspiel war entschieden italienisch, wenn sie auch ganz wie eine Amerikanerin sprach. »Und wenn die Schiffer das Zeichen sehen,« rief sie triumphierend als er schwieg, »dann wissen sie, daß sie in den Hafen kommen!« Jarman lächelte – das hatte er so lange er dort war noch nie gethan. Er berichtigte den Irrtum, in den sie im Eifer ihr Verständnis zu zeigen verfallen war und ließ sie durch das Teleskop nach dem zweiten Semaphor schauen, das landeinwärts wie eine dünne schwarze Linie auf dem fernen Hügel stand. Dann erklärte er ihr auch, daß dies Instrument seine Zeichen nach San Francisco weiter schicke. »Wirklich! Und ich dachte immer es wäre ein Kreuz, das man auf dem einsamen Bergkirchhof aufgerichtet hat.« »Ihr seid katholisch?« »Jawohl.« »Und eine Italienerin?« »Vater stammt aus Italien; doch ich bin Amerikanerin, wie meine verstorbene Mutter.« »Der Fischer dort drüben ist wohl Euer Vater?« »Ja – aber sein Boot ist größer als alle anderen,« entgegnete sie nicht ohne Stolz. »Und nur Ihr seid hier am Ufer und Eure Angehörigen?« »Manchmal kommt Mark auch,« sagte sie mit halb verlegenem Lachen. »Mark? Wer ist denn das?« stieß er rasch hervor. Er dachte nur an die Möglichkeit einer Entdeckung durch die Fremden und des Mädchens verschämtes, etwas geziertes Gebahren entging ihm gänzlich. »Eigentlich heißt er Marco Franti – aber ich nenne ihn ›Mark‹; es ist derselbe Name, wißt Ihr, und es ärgert ihn.« »Also auch ein Italiener,« sagte Jarman sichtlich erleichtert, ohne auf ihre kokette Schalkhaftigkeit zu achten. »Und Euer eigener Name – den weiß ich noch nicht.« »Cara,« antwortete sie und wandte sich etwas verlegen beiseite. Wasser-Prawda | Oktober 2015 64 SPRACHRAUM »Cara – nicht wahr, das heißt ›lieb‹ auf Italienisch.« Seine früheren Opernbesuche fielen ihm ein. »Ja, aber es ist nur eine Abkürzung von Carlotta, oder Charlotte. Manche Mädchen nennen mich auch ›Charley‹,« fügte sie rasch in wegwerfendem Ton hinzu. »Also Cara oder Carlotta Franti.« Zu seiner Verwunderung brach sie in ein lustiges Gelächter aus. »Oho, soweit ist‘s noch nicht. Franti ist Marks Name. Ich heiße Murano – Carlotta Murano. Lebt wohl.« Sie eilte fort, stand dann plötzlich still und rief: »Ich komme noch mal wieder, wenn das Ding in Bewegung ist.« Nach einem flüchtigen Kopfnicken sprang sie davon und Jarman schaute ihr nach. In der feuchten Seeluft schmiegte sich das dünne Kattunkleid dicht an ihre schlanke Gestalt, auch kamen dann und wann die nackten Knöchel zum Vorschein, da ihre Füße ohne Strümpfe in Schuhen aus Segeltuch steckten. Als er wieder in die Hütte trat, nahm ein näherkommendes Fahrzeug seine Aufmerksamkeit sofort in Anspruch. Während er das Signal gab, erwartete er jeden Augenblick, daß das Mädchen zurückkehren und ihm zusehen werde. Allein vergebens – sie war schon hinter den Sanddünen verschwunden. Doch glaubte er noch immer den Wiederhall von seiner und ihrer Stimme in der Hütte zu hören, wo so lange dumpfes Schweigen geherrscht hatte; bei jedem Laut, den er vernahm, fuhr er erschreckt zusammen. Zum erstenmal fiel ihm jetzt auch die entsetzliche Unordnung und Unsauberkeit in dem Raum auf, wo er allein schaltete. Es kam ihm unbegreiflich vor, daß er bisher in einem Winkel gewohnt hatte, wo Bett und Ofen standen und alle Küchengeräte umherlagen. Sofort begann er die scheunenartige Stube aufzuräumen und alles in eine bestimmte Form und Ordnung zu bringen, wie er es als Sträfling gewohnt gewesen. Aus der Bettdecke machte er eine harte Rolle am Kopfende des Lagers; die Pfannen und Tiegel kratzte er aus und scheuerte sogar den Fußboden, worauf er die noch halb nassen Dielen mit reinem trockenen Sand bestreute, der von der Mittagssonne durchwärmt war. Bei diesen häuslichen Verrichtungen mußte er auch den kleinen Spiegel umhängen; da warf er zum erstenmal seit langer Zeit einen Blick hinein und sein wirrer, zottiger Bart mißfiel ihm. Während der Fahrt von Australien hatte er ihn wachsen lassen und ihn seitdem nicht abgenommen, um sich unkenntlich zu machen. Doch jetzt rasierte er sich mit Sorgfalt und ließ nur den Schnurrbart stehen. Aus dem Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war bei dem monatelangen gesunden Leben im Freien jede Spur seiner früheren Ausschweifungen und Laster verschwunden. Den ganzen folgenden Tag dachte Jarman an seine schöne Besucherin und wiederholte sich im stillen oft mit bedeutungsvollem Lächeln ihre sonderbare Aeußerung, daß sie Wasser-Prawda | Oktober 2015 nicht ›solche Sorte Mädchen‹ sei. Sie mochte wohl gelernt haben, für sich selbst zu sorgen, denn bei ihrer wunderhübschen Erscheinung war sie ohne Zweifel häufig lästigen Aufmerksamkeiten seitens der Fischer oder der rohen Menge auf der Werft von San Francisco ausgesetzt. Vielleicht hatte ihr Vater sie aus diesem Grunde hergebracht. Als der Tag verfloß ohne daß sie wiederkam, ging es ihm im Kopf herum, ob er ihr am Ende unhöflich begegnet wäre. Er hatte ihre unschuldige Aeußerung doch wohl zu ernsthaft genommen, statt wie sie erwartete, darüber zu lachen; sie mußte ihn für dumm und schwerfällig halten, daß er die günstige Gelegenheit so verscherzte. – Aber nein, nein – das alte Leben und Treiben wollte er um keinen Preis wieder anfangen. Die Schrecken seiner Gefangenschaft und seiner Flucht waren ihm allzufrisch in der Erinnerung; er fühlte sich noch durchaus nicht sicher. Möglich, daß er in seiner Einsamkeit und Verlassenheit ein einfältiger Hasenfuß geworden war! – Tags darauf spähte er durch das Fernglas nach ihr aus und sah sie mit den Kindern am Strande spielen; sie kam ihm wie eine Nymphe, wie das Bild kindlicher Unschuld vor. Vielleicht hatte sie gerade deshalb besondern Reiz für ihn, weil sie nicht ›solche Sorte Mädchen‹ war. Er lachte bitter. Es war ja auch komisch, daß er, ein entflohener Sträfling, sich zu der ehrlichen Einfalt und Unschuld hingezogen fühlte. Doch wußte er ganz bestimmt, daß er nichts Böses im Sinn gehabt hatte, als er sie anredete. Das sagte er sich immer wieder; es erfüllte ihn mit seltsamem Stolz und er machte sich ein ganz lächerliches Verdienst daraus. Woran hatte sie denn aber Anstoß genommen? – Etwa an seiner Person? – Zum Henker! Stand ihm denn seine Vergangenheit im Gesicht geschrieben? Würde man sie immer aus seinem Benehmen, seinen Worten herauslesen können? – Der Gedanke verdroß ihn sehr und er nahm sich vor, den ganzen folgenden Tag keinen einzigen Blick nach dem Ufer zu werfen. Es war merkwürdig, wie ihn diese Selbstüberwindung zugleich aufregte und befriedigte; die Stunden, die ihm so leer erschienen waren, erhielten auf einmal eine besondere Bedeutung, ohne daß er wußte wieso oder wodurch. Er fühlte sich gekränkt, doch empfand er das nicht unangenehm. In der Nacht kam er plötzlich auf den Einfall, sie könne nach San Francisco zurückgekehrt sein, und er lag schlaflos da und sehnte sich nach dem Frühlicht, um Gewißheit zu erlangen. Doch als sich dann der Nebel verzog und er von einem näheren Punkt hinter der Düne aus mit Hilfe des Fernglases sah, daß sie auf dem warmen Sande saß und wie eine Seejungfrau ihr langes Haar kämmte, ging er gleich wieder in seine Hütte zurück und schaute den ganzen Morgen nicht mehr nach jener Richtung hin. Am Nachmittag waren keine Segel in Sicht; er wandte daher der Bai den Rücken und machte einen Gang nach Westen, dem SPRACHRAUM Meere zu, bis wo sich die weiße Schaumlinie meilenweit hinzieht und die Brandung der Sturzwellen verkündet. Zu seiner Ueberraschung sah er vor sich ein kleines halbnacktes Kind, das barfuß hinter den Silberwellchen herlief oder die Schaumflocken zu fangen suchte, die bald hier bald da über den nassen Sand huschten. Nicht weit davon erblickte er Cara selbst. Mit den Ellenbogen auf den Knieen, das runde Kinn in die Hand geschmiegt, saß sie da und schaute hinaus auf die weite Wasserfläche. Auf einmal befiel ihn eine unerklärliche Schüchternheit; er zauderte noch eine Weile und trat dann in eine Vertiefung zwischen den Sanddünen, die ihn halb verbargen. Bis jetzt war er noch unbemerkt geblieben. Das junge Mädchen rief das Kind zu sich, stand plötzlich auf, warf ihre rote Kappe und den Shawl fort und fing langsam an sich zu entkleiden. Jarman begriff sofort, daß sie mit der Kleinen baden wollte. In dieser Einsamkeit glaubte sie natürlich das ganz ungestört thun zu können, denn weder von dem Ufer der Bai her, noch auf dem verödeten Pfad, welcher landeinwärts führte, konnte irgend jemand in ihre Nähe gelangen, ohne daß sie es gewahrte. An seine Nachbarschaft hatte sie offenbar nicht gedacht, da sie ihn in seiner Hütte bei dem Telegraphen sicher untergebracht wußte. Jetzt hob sie die Hände empor, schüttelte ihr Haar, daß es ihr wie ein Mantel über den Rücken fiel und ließ zugleich die lose Bluse von den Schultern gleiten. Da wandte sich Jarman rasch ab und eilte geräuschlos davon, bis ein kleiner Hügel den Strand vor seinen Blicken verbarg. Wie er ganz zufällig dorthin geraten war, so bewerkstelligte er auch seinen schnellen Rückzug ohne Vorbedacht und Ueberlegung. Er erkannte sich selbst kaum wieder, und doch war sein Thun so natürlich und instinktmäßig gewesen, als sei die Badende seine Schwester. In der Südsee hatte er oft eingeborene Mädchen neben den Schiffen untertauchen sehen, um Münzen heraufzuholen, doch hatten sie nie das Gefühl in ihm erweckt, das ihn jetzt beherrschte. Er musterte sogar den Horizont nach beiden Seiten hin mit grimmigen Blicken; dann bestieg er eine entfernte Anhöhe, von wo aus das Ufer ebenso wenig sichtbar war, um dort Wache zu halten. Von Zeit zu Zeit trug der starke Seewind allerlei Laute zu ihm herüber, des Kindes Geschrei oder des Mädchens helles Lachen; aber er wandte den Kopf nicht und spähte nur um so schärfer und argwöhnischer, ob nicht irgend ein unbefugter Wanderer des Weges käme. Wohl eine halbe Stunde lag er dort oben, und erst als der Lärm verstummte stand er auf und schritt langsam seiner Hütte zu. Er war noch nicht weit gegangen, da hörte er hinter sich Stimmengemurmel und unterdrücktes Lachen. Als er sich umkehrte, sah er Cara mit einem etwa sechsjährigen Kinde daherkommen. Caras Gesicht war rosig angehaucht, vielleicht von dem Bade oder 65 auch von mädchenhafter Scham. Er stand still und als sie in seiner Nähe waren wünschte er ihnen ›Guten Morgen.‹ Cara hielt nur mühsam ihr Lachen zurück. »Ihr seid es! Ach wir wußten ja gar nicht, daß Ihr hier herumspaziert; wir dachten, Ihr hättet immer bei dem Telegraphen zu thun, nicht wahr, Lucy?« Die Kleine kicherte vor Vergnügen und Blödigkeit. »Wir haben nämlich im Meer gebadet,« fuhr Cara fort und nahm ihr langes Haar zusammen, das offen über ihre Schultern hing, damit die Sonne es trocknen sollte. Sie machte sogar einen schwachen Versuch die nassen Handtücher zu verbergen, welche sie trugen. Jarman lachte nicht. »Wenn Ihr es mir gesagt hättet, würde ich unterdessen mit meinem Glas aufgepaßt haben,« sagte er ernsthaft. »Ich könnte weiter sehen als ihr.« »Konntet Ihr uns sehen?« fragte das Kind mit lebhafter Neugierde. »Nein,« war Jarmans entschiedene Antwort. »Die kleinen Sandhügel lagen dazwischen.« »Dann hätten uns doch auch die andern Leute nicht gesehen,« beharrte die Kleine. Jarman merkte dem älteren Mädchen die Verlegenheit an und gab ihrem Gespräch eine andere Wendung. »Ich gehe manchmal etwas spazieren,« sagte er, »wenn keine Schiffe in Sicht sind und nehme das Fernglas mit. Um die Signale zu machen kann ich immer noch rechtzeitig zurück sein. Vielleicht,« fügte er hinzu als er sah wie Caras Gesicht sich erhellte, »komme ich am Ufer entlang sogar einmal bis zu Euerm Hause.« Sie erwiderte nichts darauf und ihre Befangenheit wuchs, wie er zu seiner Ueberraschung bemerkte. Gleich darauf fragte sie plötzlich: »Habt Ihr schon einmal die Seelöwen gesehen?« »Nein,« entgegnete Jarman zu Caras höchlicher Verwunderung. »Ich meine die großen auf dem Seehundsfelsen jenseits der Klippen.« »Nein, nach der Richtung gehe ich nie.« Ihm fiel jetzt ein, daß das eine Sehenswürdigkeit war, die von allen Fremden regelmäßig besichtigt wurde, und daß er deshalb den Ort vermieden habe. »Ich bin schon einmal in Vaters Barke um den ganzen Felsen herumgesegelt,« fuhr Cara mit wichtiger Miene fort. »Vom Meer aus sieht man es am allerbesten, deshalb machen die Leute von Frisco auch oft eine Bootfahrt dahin; zu Wagen oder zu Fuß kommt man nicht durch den tiefen Sand. Aber von hier aus sind es nur ein paar Schritte. Wißt Ihr was,« rief sie und sah ihm mit ihren schönen Augen offen ins Gesicht, »morgen will ich es Lucy zeigen, wollt Ihr mitkommen?« Jarman fühlte, daß er vor Vergnügen rot wurde und das setzte ihn in Verlegenheit. »Wir halten uns nicht lange auf,« sagte Cara, die sein Zögern mißdeutete. »Ihr Wasser-Prawda | Oktober 2015 66 SPRACHRAUM könnt den Telegraphen unterdessen ruhig allein lassen. Es wird kein Mensch da sein und so sieht und erfährt niemand etwas davon.« Er wäre unter allen Umständen mitgegangen, das wußte er wohl; doch war es ihm bei seiner lächerlichen Befangenheit lieb, daß sie ihm durch ihre letzten Worte die Sache erleichtert hatte. So willigte er denn mit Freuden ein. Nun nahm sie ebenso plötzlich Abschied wie das erstemal. Sie winkte ihm rasch ein Lebewohl zu, ihre weißen Zähne blitzten, und Lucy bei der Hand fassend lief sie mit ihr heimwärts voll ausgelassener Lustigkeit. Jarman folgte ihr nachdenklich. Ihm lag gar nicht besonders viel daran das Haus ihres Vaters aufzusuchen, aber was konnte sie wohl dagegen einzuwenden haben? Es freute ihn, daß sie gleicher Meinung waren, aber trotzdem regte sich ein leiser Argwohn in ihm. Jedes Mißtrauen wich jedoch aus seiner Seele, als er sie mit Lucy am anderen Morgen strahlend wie die Sonne vor seiner Thür fand. Ihre frühere Befangenheit war plötzlich auf geheimnisvolle Weise verschwunden und unter fröhlichem Plaudern schlugen sie den Weg nach den Klippen ein. Cara fragte ihn ganz offenherzig allerlei, warum er hergekommen wäre und ob er sich nicht sehr einsam fühle; sie antwortete ihm auch freimütig – wahrscheinlich weit freimütiger als er ihr – auf die vielen Fragen über sie selbst und ihre Familie, die er an sie stellte. Bei den Klippen angelangt, stiegen sie zum Strand hinunter, den sie ganz einsam fanden. Vor ihnen, anscheinend kaum in Schußweite vom Ufer, erhob sich ein hoher, breiter Felsen, an dem die Wellen des stillen Ozeans brandeten. Unförmliche Tiere tummelten sich dort in großer Zahl oder lagen bequem in der Sonne. Es war der Seehundsfelsen, das Ziel ihrer Wanderung. Nach wenigen Minuten warfen sie jedoch keinen Blick mehr dorthin, sondern setzten sich auf den Sand, während Lucy am Ufer Muscheln sammelte, und fuhren in ihrem Gespräch fort. Die Mitteilungen nahmen einen immer vertraulicheren Charakter an – von Zeit zu Zeit entstanden auch lange und gefährliche Pausen, die beide durch allerlei Zurufe an die kleine Lucy auszufüllen trachteten. Nachdem sie wieder einmal eine Weile geschwiegen hatten, sagte Jarman: »Gestern schien es mir, als wünschtet Ihr nicht, daß ich nach Eures Vaters Hause käme. Weshalb denn nicht?« »Weil Marco da war,« versetzte das Mädchen offenherzig. »Was geht denn ihn das an?« »Er will mich heiraten.« »Und wollt Ihr ihn zum Mann nehmen?« »Nein,« entgegnete sie leidenschaftlich. »Warum schickt Ihr ihn dann nicht seiner Wege?« »Das darf ich nicht – er muß sich verbergen – Vater ist sein Freund.« »Warum verbirgt er sich? Was hat er gethan?« Wasser-Prawda | Oktober 2015 »Er hat den Bergleuten Goldstaub gestohlen. Ich habe mir sowieso nie etwas aus ihm gemacht. Und ein Dieb ist mir verhaßt!« Sie blickte rasch in die Höhe. Jarman war plötzlich aufgesprungen – er schaute ins Meer hinaus. »Seht Ihr dort etwas?« fragte sie verwundert. »Ein Schiff,« erwiderte er mit seltsam heiserer Stimme. »Ich muß rasch zurück und das Zeichen geben. Wenn ich mit Euch ginge, würde es zu spät werden, fürchte ich. Lebt wohl, ich werde laufen müssen.« Er kehrte sich ab ohne ihr die Hand zu reichen und lief spornstreichs in der Richtung des Semaphors davon. Bestürzt wandte Cara ihre dunkeln Augen dem Meere zu; aber sie sah weder Masten noch Segel auf der weiten Fläche, auch der Horizont schien leer. Nur aus dem Goldenen Thor kam langsam ein kleiner Schoner gefahren. Was half‘s! Es war ohne Zweifel irgendwo, jenes Schiff – wenn sie es auch nicht sehen konnte. Wie klar und scharf seine hübschen ehrlichen Augen doch waren! Sie seufzte ein wenig, rief die kleine Lucy und machte sich auf den Heimweg. Dabei schaute sie aber immer wieder nach dem Semaphor hin, das war doch wenigstens etwas, das zu dem Manne gehörte, für den sich in ihrem Herzen die Liebe zu regen begann. Sie wartete, daß die schwarzen Arme das Schiff signalisieren sollten, welches er gesehen hatte, aber merkwürdigerweise bewegten sie sich nicht. Er mußte sich wohl geirrt haben. Doch das alles war bald vergessen, als sie zu Hause angekommen, ihre Familie in der größten Aufregung traf. Sie hatten inzwischen Nachricht erhalten, daß Häscher in einem Polizeiboot von San Francisco nach der Bucht abgeschickt worden seien. Zum Glück war es noch gelungen, den flüchtigen Franti an Bord eines Küstenfahrers zu schaffen, so daß er sich jetzt außer Gefahr befand. Cara fiel der Schoner wieder ein, den sie hatte aus der Bai fahren sehen; sie atmete erleichtert auf und als sie merkte, welche Herzensfreude sie empfand, stieg ihr alles Blut in die Wangen. Nicht an den geretteten Marco dachte sie, sondern an Jarman. Später, als das Polizeiboot ankam, begnügten sich die Häscher, die vielleicht schon von Marcos Flucht unterrichtet waren, mit einer oberflächlichen Durchsuchung der kleinen Fischerhütte, worauf sie wieder abfuhren. Doch blieb ihr Boot in der Nähe des Ufers liegen. In jener Nacht wälzte sich Cara schlaflos auf dem Lager umher. Es reute sie, daß sie mit Jarman überhaupt von Marco gesprochen hatte. Das wäre nun gar nicht nötig gewesen, und er mißtraute ihr vielleicht und glaubte, daß sie Marco dennoch liebe. Am Ende war er aus diesem Grunde am Nachmittag so urplötzlich von ihr gegangen! Wenn nur erst der Morgen käme – jetzt konnte sie ihm ja alles sagen. Zuletzt fiel sie in einen unruhigen Schlummer, aus dem SPRACHRAUM sie der Laut mehrerer Stimmen weckte, die sich auf der Düne, draußen vor der Hütte vernehmen ließen. Durch die Ritzen und Spalten der dünnen Bretterwände, welche die Sonnenglut tagüber ausdörrte, konnte sie nicht nur die Stimmen der Polizisten erkennen, sondern auch jedes ihrer Worte deutlich verstehen. Plötzlich traf Jarmans Name ihr Ohr. Sie richtete sich im Bett in die Höhe und lauschte atemlos. »Sind Sie sicher, daß es derselbe Mensch ist?« fragte einer der Sprecher. »Versteht sich,« lautete die Antwort. »Bis Frisco hat man seine Spur verfolgt und sie erst bei der Landung verloren. Doch wissen wir durch unsere Agenten, daß er die Bai nicht verlassen haben kann. Sobald wir nun erfuhren, daß ein Mann auf den die Beschreibung paßt, als Wächter bei dem optischen Telegraphen hier draußen angestellt ist, unterlag es keinem Zweifel mehr, daß wir unsern Flüchtling entdeckt hatten und die zweihundert fünfzig Pfund Belohnung uns gehörten, die auf seinen Kopf gesetzt sind.« »Aber das ist ja schon fünf Monate her. Weshalb habt ihr euch seiner nicht gleich bemächtigt?« »Wir konnten nicht. Erst mußten wir die zu seiner Auslieferung erforderlichen Papiere aus Australien haben. Geschrieben ist längst danach, und heute früh sollen sie mit dem Postdampfer eintreffen.« »Er hätte doch aber jeden Augenblick auf und davon gehen können.« »Nicht ohne unser Wissen. So oft sein Signal erschien galt das uns in San Francisco als Beweis, daß wir ihn sicher auf seinem Posten hatten. Dort draußen zwischen den Sandhügeln war er so gut aufgehoben, als hätten wir ihn in Frisco in festem Gewahrsam gehalten. Er war sein eigener Gefangenenwärter und meldete sich täglich selbst.« »Da ihr nun einmal hier seid und die Papiere diesen Morgen erwartet, so könntet ihr ihn doch gleich jetzt mitnehmen.« »Das geht nicht. Kein Richter in San Francisco würde ihn in Haft behalten, wenn man ihm nicht zugleich die Auslieferungspapiere vorlegt. Er würde entlassen werden und entkommen.« »Wie wollt ihr‘s denn aber anfangen?« »Sobald der Postdampfer in Frisco signalisiert ist, gehen wir hier in der Bai an Bord, holen uns die Papiere und fallen dann über ihn her.« »Ja so – und da er das Signal aufhißt – so giebt der einfältige Narr –« »Selber das Zeichen! Hahaha!« Dem Mädchen schauderte, als sie das grausame Gelächter hörte. Aber schon im nächsten Augenblick sprang sie vom Lager und stand hochaufgerichtet, bleich und entschlossen da. 67 Die Stimmen schienen sich allmählich zu entfernen. Sie kleidete sich hastig an, glitt geräuschlos durch das Zimmer ihres noch schlafenden Vaters und trat ins Freie. Langsam hob sich der graue Nebel von den Sanddünen und dem Meere – das Polizeiboot war fort. Nun zögerte sie nicht mehr, sondern eilte flüchtigen Fußes auf Jarmans Hütte zu. Während sie lief, entschwanden ihr alle täuschenden Phantasiegebilde; was geschehen war stand klar und deutlich vor ihrer Seele. Sie begriff das Rätsel, weshalb Jarman sich hier aufhielt – das Geheimnis seines Lebens – und wie furchtbar verletzend die Worte gewesen waren, welche sie dem Manne gesagt hatte, von dem sie jetzt wußte, daß sie ihn liebte. Die Sonne vergoldete schon die schwarzen Arme des Semaphors, als Cara sich mühsam durch die letzte Strecke des tiefen Sandes hindurchgearbeitet hatte und laut an die Thür klopfte. Es kam keine Antwort. Sie klopfte wieder, aber in der Hütte blieb alles still. Sollte er schon geflohen sein – ohne sie noch einmal wiederzusehen und alles zu erfahren? Rasch drückte sie auf die Klinke, die Thür ging auf; sie trat kühn ins Zimmer, seinen Namen rufend. Jarman lag völlig angekleidet auf dem Bett; hastig lief sie zu ihm hin und blieb plötzlich stehen. Ein einziger Blick in sein aufgedunsenes Gesicht hatte genügt sie zu überzeugen, daß der Mann, der dort mit offenem Munde schwer atmend dalag, ohne alle Frage sinnlos betrunken war. Doch selbst in diesem Augenblick dachte sie einzig und allein an die Gefahr und seine Hilflosigkeit; es kam ihr auch nicht in den Sinn, daß es ihre grausame Aeußerung war, die ihn getrieben hatte, Gram und Reue auf so thörichte Art zu betäuben. Vergebens versuchte sie ihn zu wecken; er murmelte nur einige unzusammenhängende Wörter und sank wieder auf das Lager zurück. Verzweiflungsvoll sah sie sich in dem Raume um; etwas mußte geschehen – der Dampfer konnte jeden Augenblick in Sicht kommen. Ach – da war ja das Fernrohr! Sie griff danach und durchforschte den Horizont. Ein schwacher Dunststreifen erschien dem Goldenen Thor gegenüber auf der Linie, wo Meer und Himmel in einander fließen. Jarman hatte ihr damals gesagt, was das bedeutete. Es war das Dampfschiff. – Da fuhr ihr plötzlich ein Gedanke durch den klaren, lebhaft erregten Sinn: Wenn man vom Polizeiboot aus zufällig auch den Dunst sah und das Semaphor kein Zeichen gab, würde man Argwohn schöpfen. Ein Signal mußte gemacht werden, aber nicht das richtige. Rasch rief sie sich ins Gedächtnis zurück, wie Jarman ihr den Unterschied der Zeichen erklärt hatte. Um den Postdampfer zu signalisieren mußten sich beide Arme des Semaphors im rechten Winkel ausstrecken, für den Küstendampfer dagegen der linke Arm sich etwas abwärts neigen. Sie lief zur Winde hinaus und griff nach der Kurbel. Zuerst hatte sie nicht Kraft genug, dieselbe zu drehen, doch als sie ihre Anstrengung Wasser-Prawda | Oktober 2015 68 SPRACHRAUM verdoppelte, begann ein Kreischen und Stöhnen, die großen Arme fuhren langsam in die Höhe und das Signal war fertig. Durch das ihm wohlbekannte Geräusch der in Bewegung gesetzten Maschine wurde Jarman aus seiner dumpfen Bewußtlosigkeit aufgeschreckt; kein anderer Laut, weder im Himmel noch auf Erden hätte das gekonnt. Doch die Macht der Gewohnheit ist allgewaltig, sie weckte ihn zur Erfüllung der Pflicht. Cara hörte wie er sich mit einem Fluch vom Bett herabrollte und zur Thür hin schwankte; sie sah ihn mit entsetztem Gesicht herausstürzen und den Kopf in einen Eimer voll kalten Wassers tauchen. Triefend zog er ihn wieder heraus, aber in sein bleiches Antlitz war das Bewußtsein zurückgekehrt und klare Besonnenheit sprach aus seinen Blicken. Er fuhr zusammen als er ihrer ansichtig wurde, doch da sie zu fliehen versuchte, hielt er sie am Handgelenk fest. Hastig und mit bebender Stimme sagte sie ihm nun alles und jedes. Er hörte ihr schweigend zu; nur als sie geendet, drückte er seine Lippen feierlich auf ihre Hand. »Und nun müßt Ihr fliehen,« rief sie voll Angst und Zittern, »auf der Stelle, so rasch Ihr könnt, sonst ist es zu spät!« Allein Richard Jarman schritt langsam auf die Thür seiner Hütte zu; er hatte ihre Hand nicht losgelassen und sagte jetzt auf seinen einzigen Stuhl deutend: »Setzt Euch – wir müssen erst mit einander reden.« Was zwischen ihnen gesprochen wurde, hat niemand je erfahren; als sie jedoch nach einigen Minuten die Hütte verließen, trug Jarman all sein Hab und Gut in einem kleinen Bündel und Cara stützte sich auf seinen Arm. Eine Stunde später erging an den Priester in der Dolores-Mission die Aufforderung, er solle einen Seemann mit ehrlichem, offenem Gesicht und ein Mädchen, das wie eine italienische Zigeunerin aussah, ehelich verbinden. In jenen Tagen wurde manches übereilte Bündnis auch ohne den Segen der Kirche geschlossen und diese war deshalb gern bereit einer Ehe die gesetzliche Weihe zu geben. Dem guten Pater that jedoch der treuherzige Seemann ein wenig leid und so versäumte er nicht dem Mädchen eine ernstliche Ermahnung mit auf den Weg zu geben. Am nächsten Morgen warfen die Zeitungen von San Francisco ein etwas zweifelhaftes Licht auf die Angelegenheit. Denn da stand zu lesen: Abermals ein Fiasko der Polizei. »Wie wir hören, hatte ›die unermüdliche Polizei‹ von San Francisco in Erfahrung gebracht, daß sich der berüchtigte Golddieb Marco Franti nicht weit vom Presidio am Strande verborgen hielt. Als sie sich mit großer Feierlichkeit dorthin begab, kam sie wie gewöhnlich erst an, nachdem der Verbrecher schon seit einigen Stunden in Sicherheit war. Aber ihre ganze Unfähigkeit offenbarten die Herren Polizisten erst Wasser-Prawda | Oktober 2015 als, wie berichtet wird, die Geliebte des flüchtigen Franti, eine hiesige Fischerstochter, später unter den Augen der Polizei entfloh und jedenfalls vereint mit ihrem Liebhaber das Weite suchte. Um ihren Mißgriff zu erklären, entschuldigten sich die klugen Sicherheitswächter im Hauptquartier damit, daß sie gleichzeitig auf der Fährte eines aus Sydney entsprungenen Sträflings gewesen wären. Doch ernteten sie nur den verdienten Spott und Hohn, als sich herausstellte, daß die helläugigen Biedermänner das Postschiff, welches die Auslieferungspapiere, die sie bedurften, an Bord hatte, vorbeifahren ließen, weil sie es für einen Küstendampfer gehalten hatten.« Erst vier Jahre später hatte der Fischer Murano die Freude, den Gatten seiner lange verloren geglaubten Tochter, einen reichen Herdenbesitzer in Süd-Kalifornien, Namens Jarman, kennen zu lernen. Er erfuhr jedoch nie, daß sein Schwiegersohn ein entflohener Sträfling aus Sydney war, der erst kürzlich auf Verwendung mehrerer hochangesehener Leute in Australien, die volle Begnadigung erhalten hatte. SPRACHRAUM 69 DIE VESTALINNEN Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Erzählt nach eigenen Erlebnissen. Band 1. Von Robert KraŌ 31. EIN MISSGLÜCKTER PLAN Georg, die Briefordonnanz des Kapitäns Hoffmann, fuhr mit der ihm vom Steuermann gegebenen Depesche ans Land und schlug den Weg nach dem nächsten Postgebäude ein. Zuerst mußte er an Kapitän Green und dessen Matrosen vorbei, welche auf dem Hafendamm bei ihren Kleidersäcken standen und die Erlaubnis abwarteten, an Bord der ›Vesta‹ sich einschiffen zu dürfen. Georg war auf der See groß geworden; er hatte schon unter allen Flaggen der Welt gefahren und sich also auch mit verschiedenen Nationen an Bord eines Schiffes zusammenbefunden, aber er mißtraute von vornherein einer Schiffsbesatzung, welche sich aus Matrosen verschiedener Länder zusammensetzte. Denn entweder bekam der Kapitän keine tüchtigen Seeleute, das heißt, Deutsche, Engländer, Holländer oder Skandinavier, weil er als grausamer Tyrann bekannt war, der die Besatzung schikanierte, und er mußte sich mit solchen südländischen Matrosen behelfen, welche Georg mit dem Ausdruck ›Gesindel‹ bezeichnete; oder der Kapitän war selbst ein dunkler Ehrenmann, der sich unter anständigen Menschen nicht wohl fühlte und sich daher extra Italiener, Griechen, Spanier, Amerikaner und Engländer mit wüsten Physiognomien aussuchte. Und aus solchen Gestalten setzte sich auch die Mannschaft des Kapitäns Green zusammen. Die Hände in den Hosentaschen, die abgebrochene Thonpfeife zwischen den Zähnen, wanderten die südländisch aussehenden Matrosen umher und unterhielten sich in einem Kauderwelsch, welches ebensowohl als Englisch, wie als Spanisch hätte gelten können, andere wieder mit schwarzen Bärten, um den Leib eine bunte Schärpe, hockten phlegmatisch auf ihren Kleidersäcken und paff ten eine Cigarette nach der anderen in die Luft, wahrscheinlich Spanier, und wieder andere mit schwarzen Vollbärten, in enganschließende, schwarze Anzüge gekleidet, schwatzten zusammen mit einer Lebhaftigkeit und mit Armbewegungen, daß man immer glaubte, sie wollten sich gegenseitig ermorden, während sie nur ein harmloses Gespräch führten. Das waren Griechen, als Seeleute von Georg gründlich verachtet. Der einzige, der ein einigermaßen vertrauenerweckendes Gesicht aufweisen konnte, war der Kapitän. Georg selbst befand sich zwar auf einem Schiff, dessen Mannschaft sich nicht nur aus allen Nationen Europas, sondern aus allen denen der Welt zusammensetzte; aber bei dem ›Blitz‹ war dies etwas anderes. Georg wußte, welche Mühe Kapitän Hoffmann gehabt hatte, diese Leute um sich zu sammeln. Stieß er auf seinen früheren Reisen auf Seeleute, die ihm imponierten, so scheute er keine Kosten, sie von ihrem jeweiligen Schiff abmustern zu lasten, es galt ihm gleich, ob ihre Farbe weiß, gelb oder schwarz war. Dann schickte er den betreffenden Mann nach einer deutschen Hafenstadt, ließ ihn dort verpflegen und so lange warten, bis eines Tages Wasser-Prawda | Oktober 2015 70 SPRACHRAUM der neugebaute ›Blitz‹ gesegelt kam, die erste Besatzung entließ und die nach und nach gesammelte an Bord nahm. Mit diesen Gedanken beschäftigte sich Georg, als er mit beschleunigten Schritten die Richtung nach der Post einschlug, er bemerkte nicht, daß zwei Männer sich immer in einiger Entfernung hinter ihm hielten und ihn scharf beobachteten. Jetzt führte der Weg durch den Tempelgarten, welcher in seiner Mitte von Fußpfaden für die Spaziergänger durchkreuzt wird, während rings um ihn herum ein Fuhrweg läuft, auf dem abends Equipagen und Reiter sich bewegen. Am Tage aber, wenn die Sonne mit ihren glühenden Strahlen den Aufenthalt im Freien unangenehm macht, ist dieser Garten völlig verödet. Georg eilte quer durch die Anlagen nach dem gegenüberliegenden Fahrweg, auf dem eben ein geschlossener Wagen gefahren kam. »Guter Freund,« sagte da auf englisch eine Stimme hinter Georg, »wo ist der Weg nach dem Hafen?« Georg wandte sich um und sah zwei elegant gekleidete Herren vor sich stehen, deren Annäherung er gar nicht bemerkt hatte. »Da sind Sie gerade in der falschen Richtung,« antwortete er höflich, »Gehen Sie diesen Weg zurück und fragen Sie am Ausgang des Gartens nach –« Er kam nicht weiter. Der Begleiter des Fragers war wie zufällig etwas hinter Georg getreten, hatte eine Kappe aus der Tasche gezogen und sie dem Ahnungslosen über den Kopf geworfen. Georg kam gar nicht dazu, an Gegenwehr zu denken, sein erster und letzter Gedanke war nur, daß ihm ein furchtbar betäubender Geruch in die Nase stieg, dann hatte ihn schon das Bewußtsein verlassen. Ohne aufgefordert zu werden, lenkte der Kutscher die Pferde etwas nach der Seite, die Herren trugen den Besinnungslosen nach dem Wagen, öffneten die Thür und stiegen mit ihm ein. Sofort ließ der Rosselenker seine Tiere anziehen, und der Wagen rollte davon. »Erst die Depesche,« sagte einer der Herren und untersuchte die Brusttasche Georgs. »Es ist so, wie wir dachten,« lachte er, als er das Papier gefunden und gelesen hatte, »dieser Tölpel fragt Kapitän Hoffmann, ob die ›Vesta‹ unter Kapitän Green Wasser-Prawda | Oktober 2015 nach Madras segeln soll. Es ist gut, daß wir schon alle Vorbereitungen dazu getroffen haben.« »Habt Ihr schon eine Antwort ausgefertigt?« fragte der andere. »Ja, sie ist bereits unterwegs und wird zur rechten Zeit in den Sack des Postbeamten gespielt werden. Darüber seid unbesorgt, es wird nichts fehlschlagen, den einzigen Kummer macht mir nur, wohin wir jetzt diesen Burschen bringen sollen.« »Wir müssen ihn verschwinden lassen.« »Natürlich, aber wie, daß es nicht auffällt?« Beide schwiegen längere Zeit. Dann zog der erste Sprecher dem Bewußtlosen die Kappe vom Gesicht und sagte: »Das Einfachste ist, wir geben ihm noch eine kleine Dosis Chloroform einzuatmen und fahren ihn irgendwo in eine menschenleere Gegend, wo wir ihn aus dem Wagen werfen und liegen lassen. Kommt er dann zu sich und schlägt Lärm, so ist unterdes die ›Vesta‹ schon längst SPRACHRAUM verschwunden und hat ein neues Kleid angelegt. Und dann sollen sie hier in Bombay einmal suchen. Hoho!« »Der Bursche hatte kaum Zeit genug, uns zu sehen, da war ihm schon die Kappe über die Augen gezogen. Deshalb also brauchten wir nicht ängstlich zu sein, selbst wenn wir keine Schlupfwinkel hätten,« meinte der andere. Er öffnete das Fensterchen an der Vorderseite, welches zu dem Kutscher führte, und rief diesem den Namen eines kleinen Vorortes von Bombay zu, nach welchem der Weg durch ein Gehölz führte. Dann zog er aus der Tasche ein Fläschchen, entkorkte es und wollte den im Innern der Kappe befindlichen Schwamm anfeuchten, als er plötzlich in seinen Bewegungen innehielt und das Fläschchen schnell wieder verbarg. Die beiden Männer sahen sich mit ängstlicher Miene an. Der Wagen hatte gehalten, und sie hörten, wie der Kutscher mit einem Manne auf englisch sprach. »So geben Sie den Weg frei!« rief der Kutscher ärgerlich, »oder ich überfahre Sie, wenn Sie auch meinetwegen ein Maharadjah wären. Ich sage Ihnen, der Wagen ist besetzt!« »Werden wir visitiert,« flüsterte der eine der Insassen dem anderen zu, »so sagen wir, den Mann hätten wir bewußtlos, wahrscheinlich infolge Sonnenstichs, im Tempelgarten gefunden. Wir brächten ihn nach unserem Hotel. Verstanden?« Sein Gegenüber nickte und schob dem Bewußtlosen das entwendete Papier wieder in die Brusttasche. »Fahren Sie ruhig weiter,« hörten sie die Stimme des Fremden wieder, »ich fahre mit den Herren.« »Das erlaube ich nicht, wenn meine Fahrgäste damit nicht einverstanden sind,« schrie der Kutscher wütend. Da aber wurde schon die Thür aufgerissen, und ein vornehmer Indier stieg ohne weiteres in den Wagen. »Mein Herr,« sagte der eine der Insassen in möglichst ruhigem Tone, »Sie sehen doch, daß der Wagen besetzt ist. Was verschaff t uns die Ehre, Sie mit uns fahren zu sehen?« »Still,« sagte der Indier und winkte mit der Hand, »ich bin einer der Ihrigen. Wohin fahren Sie?« Die beiden waren über diese Anrede gar nicht so 71 erstaunt, denn es war ihnen schon oft passiert, daß sich ihnen ein Fremder als ihr stiller Helfer vorgestellt hatte. Aber noch fehlte das Zeichen. »Wir verstehen Sie nicht,« sagte der Herr, der überhaupt die Hauptrolle zu spielen schien, »wir haben einen Bewußtlosen –« »Schon gut,« unterbrach ihn der Indier und streckte ihm die Hand entgegen, »seien Sie versichert, daß ich Ihr Freund bin.« Der Herr ergriff die dargebotene Hand und fühlte, wie sich die Finger des Indiers in eigentümlicher Weise um die seinen schlossen. Jetzt war er beruhigt, er hatte das Zeichen erhalten – dieser Mann gehörte in der That zu derselben Vereinigung, wie er, sein Kollege und auch der Kutscher. Als letzterer bemerkte, daß seine Fahrgäste gegen die Mitnahme des fremden Indiers keinen Einspruch erhoben, ließ er die Pferde wieder ausgreifen und schlug den Weg ein, der nach dem angegebenen Gehölz führte. »Wohin fahren Sie?« war des Indiers erste Frage, nachdem er Platz genommen hatte. Er erfuhr, nach welchem Ziel der Wagen sie führte. »Gut! Mein Wagen folgt mir, Sie können mir den Burschen überlassen, der für Sie doch keinen Zweck weiter hat.« »Was wollen Sie mit ihm beginnen?« »Ich gehe schon lange mit der Absicht um, einen der Matrosen vom ›Blitz‹ wegzufangen,« erklärte der Indier, »weil ich etwas über dessen Kapitän erfahren muß. Als diese Ordonnanz vorhin das Schiff verließ, paßte ich auf und folgte ihr, um mich ihrer zu bemächtigen, weil sie gerade das wissen wird, was ich erfahren will. Sie werden in Verlegenheit sein, wie Sie ihn beseitigen sollen, also ist Ihnen mein Anerbieten, mich seiner anzunehmen, jedenfalls angenehm.« Die beiden wußten, daß auch dieser Indier einen Auftrag auszuführen hatte, aber ebensowenig wie sie über ihr Vorhaben, sprach auch er über das seinige. Daher fragten sie ihn nicht weiter aus, denn die Wahrheit erfuhren sie doch nicht. Der Wagen verließ die Häuserreihen und bog in einen mit Bäumen bepflanzten Weg ein. Da klopfte der Kutscher an das Fenster und sagte: »Es folgt uns ein anderer Wagen.« Wasser-Prawda | Oktober 2015 72 SPRACHRAUM »Es ist richtig! Halte jetzt!« Die Herren stiegen aus und sahen sich um. Niemand war zu sehen. Unterdes war der zweite Wagen herangekommen. Er mußte dicht an den ersten heranfahren, und der noch immer bewußtlose Georg wurde, nachdem ihm die Depesche wieder aus der Tasche genommen worden war, hinübergeschafft, ohne daß ein etwaiger Beobachter den Wechsel wahrgenommen hätte. »Ich fahre jetzt zurück,« sagte der Indier, »und Sie?« »Auch wir begeben uns nach Bombay zurück, aber auf Umwegen.« »Gut! Wie lange wird die Betäubung noch vorhalten?« »Sie war für eine halbe Stunde berechnet, in zehn Minuten wird er wieder erwachen.« »Haben Sie noch Chloroform bei sich, um ihn für länger besinnungslos zu machen? Sonst müssen wir ihn erst binden und knebeln.« Georg erhielt abermals den mit Chloroform getränkten Schwamm vor die Nase gedrückt, und die Kappe wurde ihm über den Kopf gestülpt. »Können wir uns darauf verlassen, daß er Ihnen nicht entschlüpfen und plaudern wird?« »So sicher, als wenn er jetzt schon tot wäre,« entgegnete der Indier, sprang in den Wagen und nahm neben dem bewußtlosen Körper Platz. »Gute Geschäfte, meine Herren! Fort, Kutscher!« Der Indier schlug die Richtung nach Bombay ein, während die Herren vorläufig den eingeschlagenen Weg weiterfuhren. – – – Als Georg aus seiner Betäubung erwachte, fand er sich auf einem Diwan liegend. Es dauerte nicht lange, so entsann er sich, warum er sich nicht im Zwischendeck seines Schiffes befand. »Mein Gott,« rief er und griff in die Brusttasche. Die Depesche war fort – jetzt war ihm alles klar. Er entsann sich, wie ihn zwei Herren im Tempelgarten nach dem Weg gefragt hatten, wie ihm etwas über die Augen gelegt und ihm plötzlich die Besinnung geschwunden war. Was weiter mit ihm vorgegangen, wußte er nicht. Alles war ein wohl überlegter Plan gewesen; der angebliche Kapitän Green hatte also von Miß Petersen gar nicht den Auftrag erhalten, die ›Vesta‹ nach Madras Wasser-Prawda | Oktober 2015 zu bringen, sondern wollte sich der befreiten Mädchen oder vielleicht auch nur des Schiffes bemächtigen und nahm die Mädchen als Zugabe mit. Adam Nagel war schändlich getäuscht worden, seine Anfrage an Kapitän Hoffmann war in die Hände dieser Piraten gefallen und würde ihn nie erreichen. Wie die Spitzbuben den Steuermann, der nun nach der Meinung Georgs keine Antwort vom Kapitän erhielt, weiter täuschen würden, um sich in Besitz der ›Vesta‹ zu bringen, wußte er nicht; aber wenn diese Schurken solche Mittel anwendeten, um bloß die Depesche abzufangen, so konnten sie jedenfalls auch Wege finden, dem Steuermann eine erlogene Antwort zu geben. Georg hatte ganz richtig gerechnet. Als ein treuer Mensch hatte er zuerst an den Schaden gedacht, den sein Herr durch seine Gefangennahme erlitt. Aber er selbst? Daß sie ihn aus der Welt verschwinden lassen würden, glaubte er nicht. War die ›Vesta‹ erst fort, so wurde er sicher frei gelassen, aber so, daß er nicht merkte, wo er sich befunden hatte, und er konnte sein Schiff wieder aufsuchen. Georg kratzte sich hinter den Ohren, wenn er sich ausmalte, was geschehen würde, wenn er, der sonst so schlaue und zuverlässige Bote, wieder an Bord des ›Blitz‹ erschien. Aber er fühlte sich unschuldig, er hatte nichts getrunken und sich nirgends aufgehalten, und so konnte er dem Steuermann, wie dem Kapitän ruhig in‘s Auge blicken. Die Thüren des Gefängnisses waren natürlich verschlossen, das Fenster lag im zweiten Stock und war vergittert. Es führte nach einem parkähnlichen Garten hinaus, der aber vollständig verwildert war, Georg konnte keinen Menschen darin erblicken. An Flucht war demnach nicht zu denken. Er legte sich also ruhig auf den Divan und wartete der kommenden Dinge. Entweder mußte er einmal freigelassen werden, oder auch, daran zweifelte er nicht, Kapitän Hoffmann würde bald Himmel und Hölle in Bewegung setzen, seine Ordonnanz tot oder lebendig wiederzubekommen. Unter Georgs Kameraden gab es auch welche, die mehr als Brot essen konnten. Georg hatte durch Einatmen des Chloroforms Kopfschmerzen bekommen, er fühlte sich noch sehr SPRACHRAUM schläfrig und war bald wieder sorglos entschlummert. Da wurde er am Arm gefaßt und geschüttelt. Als er emporfuhr und sich die Augen rieb, bemerkte er, daß es bereits Nacht geworden war. Auf einem Tischchen brannte eine Lampe, und vor ihm stand ein reich gekleideter Indier. »Steh‘ auf,« sagte derselbe in kurzem, aber nicht unfreundlichen Tone eines Menschen, der das Befehlen gewohnt ist. Georg stand auf. »Fühlt Ihr Euch wohl?« Georg bejahte; er wußte zwar nicht, was man mit ihm vorhatte, jedenfalls aber sollte er jetzt entlassen werden. »Hört, was ich Euch jetzt sagen werde!« begann der Indier. »Beantwortet Ihr die Fragen, die ich an Euch stellen werde, so gut Ihr könnt, so soll Euch kein Leids geschehen. Ihr werdet noch heute nacht dieses Haus verlassen und zwar reich beschenkt – Ihr braucht nicht mehr zu arbeiten – weigert Ihr Euch aber, so werde ich die Antworten mit Gewalt von Euch erpressen, und Ihr verlaßt dieses Haus nicht lebendig. Habt Ihr mich verstanden?« Georg war verblüff t. Was konnte dieser Indier von ihm erfahren wollen? Er hatte keine Ahnung, was der Mann im Sinne hatte. »Dann ziehe ich das Erstere vor. Fragt los!« sagte er. »Es freut mich, daß Ihr vernünftig seid,« entgegnete der Indier, »so werden wir als gute Freunde von einander scheiden. Also erstens: Wo ist der ›Blitz‹ gebaut worden?« Georg riß vor Staunen Mund und Nase auf. Wie kam dieser Indier zu einer solchen Frage? »Oho,« dachte er, »da kennst du Georg schlecht, wenn du von ihm etwas über den ›Blitz‹ erfahren willst.« Er schwieg. »Bist du nicht die Ordonnanz vom ›Blitz‹?« fragte der Indier. »Ich bin‘s.« »Nun also nochmals: Wo ist der ›Blitz‹ erbaut worden?« Georg blieb wieder die Antwort schuldig. »Vielleicht auf einer Insel an der Ostküste Schottlands?« Keine Antwort. »Willst du mir nicht antworten, Bursche?« fuhr der Indier jetzt heftig auf. »Mein Herr,« sagte Georg ruhig, »fragen Sie mich, 73 über was Sie wollen, und ich werde Ihnen antworten, nur nicht über den ›Blitz‹ und alles, was diesen betriff t. Da werden Sie nie eine Antwort von mir erhalten.« Fest sah er den vor ihm Stehenden an. Der Indier machte eine drohende Bewegung, aber er bezwang sich sofort, als er in den blauen Augen des Mannes ein seltsames Aufleuchten bemerkte. Er hatte keinen eingeborenen Diener vor sich, den er nach Belieben schlagen durfte. Dieser Mann war jetzt noch frei und würde ihm jeden Schlag mit seinen kräftigen Fäusten zurückgegeben haben. Er ging zur Thür hinaus und schloß hinter sich ab. »Also das ist es,« seufzte Georg und ließ sich auf das Polster fallen, »dann steht es allerdings schlimm mit mir. Und ich weiß gar nicht viel vom ›Blitz‹, was ich verraten könnte. Aber nein!« Er sprang heftig auf. »Ich habe versprochen, das Geheimnis des Schiffes zu wahren, und auch das Wenige, was mir bewußt ist, soll mir keine Macht der Erde entreißen können. Mag man mich quälen, foltern oder verhungern lassen, mein Mund wird schweigen.« Ein Diener brachte einige Teller mit kalten Speisen herein und setzte sie auf den Tisch. Gleichzeitig betrat wieder der Indier das Zimmer. »Na,« dachte Georg, »mit dem Verhungern sieht es ja noch nicht so schlimm aus.« »Ihr seht,« begann der Indier, »ich will Euch mehr als Gast, denn als Gefangenen behandeln. Beantwortet mir die wenigen Fragen, und Ihr könnt sofort in meinem Wagen dieses Haus verlassen! Ich weiß wohl, daß Ihr selbst nicht viel vom ›Blitz‹ erzählen könnt, und deshalb will ich Euch möglichst freundlich behandeln. Antwortet mir, dann könnt Ihr ruhig essen, wenn Ihr wollt, und werdet entweder fortgebracht, oder Ihr verbringt diese Nacht in einem Kellerraum. Vielleicht seid Ihr morgen gefügiger, sonst giebt es noch andere Mittelchen, Euch mitteilsam zu machen.« Georg blieb stumm. »Ihr wollt nicht antworten?« »Zum Teufel, nein!« schrie Georg. »Merkst du dies nun endlich?« »Oho,« sagte der Indier und rief einige Namen. Sofort kamen vier Hindus in das Zimmer und wollten Georg fassen, um ihn hinauszubringen. Sie hatten sich Wasser-Prawda | Oktober 2015 74 SPRACHRAUM aber verrechnet. Als sie ihn ergreifen wollten, fuhr dem einen die Faust des jungen Deutschen in die Augen, dem anderen an den Magen, und die übrigen bekamen ein paar Fußtritte, daß sie ächzend an die Wand flogen. »Nur immer her!« schrie Georg. »Solche Ware habe ich noch mehr auf Lager.« Auf das Geschrei der Diener stürzten noch mehr Hindus in‘s Zimmer, und schließlich gelang es ihnen, den wütend um sich Schlagenden zu bändigen. »Ihr seid selbst schuld daran,« sagte der Indier, noch immer ruhig, »daß mit Euch so verfahren wird. Gebt mir Antwort, und sofort seid Ihr frei!« Er stand dicht vor Georg. »Selber schuld daran?« lachte dieser bitter, »Hund verdammter, da, nimm das als Gutenachtgruß.« Dabei stieß er dem Indier den Fuß in den Leib, daß dieser mit einem Schmerzensschrei zu Boden fiel. Schäumend vor Zorn sprang er auf den Gefangenen zu, erhielt aber sofort abermals einen Fußtritt, daß er wieder niederstürzte. »In den Stock mit ihm, in den Stock,« brüllte er. »Dort wird er das Treten vergessen lernen.« Er wagte es nicht, sich zum dritten Male dem schlagfertigen Deutschen zu nähern. Georg wurde aus dem Zimmer in einen Kellerraum geschleppt, in dem sich ein sogenannter Stock befand, in welchen widerspenstige und ungehorsame Diener für einige Stunden eingesperrt wurden. Der junge Mann wurde gezwungen, sich niederzulassen, und die Hindus spannten seine Beine und Hände in einen Block, so daß Georg in gekrümmter Lage saß, ohne sich rühren zu können. Es machte den Hindus ein ungeheures Vergnügen, Georg zu quälen, war es doch das erste Mal, daß anstatt eines Eingeborenen ein Faringi diesen Platz einnahm. Glücklicherweise verstand der junge Deutsche kein Indisch, sodaß ihn die höhnischen Bemerkungen nicht ärgerten. Er befand sich in einer verzweifelten Lage. Den Rücken krumm gebogen, die Beine so emporgezogen, daß die Kniee die ausgestreckten Arme berührten, und Hände und Füße in die Löcher des Balkens gespannt, so saß er da und grübelte über sein ferneres Schicksal nach. Wasser-Prawda | Oktober 2015 Das war eine trostlose Aussicht, denn der gereizte Indier würde jetzt nicht zögern, seine Drohungen zu erfüllen, das heißt, den Gefangenen solange zu foltern, bis derselbe das, was er über den ›Blitz‹ und dessen Kapitän wußte, gesagt hätte. Georg hatte einst in seiner Jugend auf einem Jahrmarkt eine Folterkammer mit allen jenen schrecklichen Instrumenten gesehen, wie sie im Mittelalter bei Hexenprozessen gebraucht wurden, und große Bilder zeigten überdies recht anschaulich, wie jene angewendet wurden. Frauen mußten auf glühenden Kohlen stehen, ihre Körper wurden auf Bänken gereckt, bis die Knochen auseinanderrissen, sie wurden an den Händen aufgehängt, an den Füßen Centnerlasten befestigt, mit glühenden Eisen gezwickt und gestochen, aufs Rad geflochten und anderes mehr. Georg schauderte es, wenn er daran dachte, daß ihm Aehnliches bevorstand. Aber dennoch, sie mochten ihn schinden, plagen und quälen, er nahm sich fest vor, sich lieber die Zunge abzubeißen, ehe er ein ihm anvertrautes SPRACHRAUM Geheimnis verriet. Er hätte sich deshalb ja vor sich selbst schämen müssen, daran gar nicht zu denken, daß er sich auf dem ›Blitz‹ jemals wieder hätte sehen lassen dürfen. Unterdes vergingen noch einige Stunden, ehe der Tag anbrach, und Georg hoff te, daß bis dahin seine Kameraden alles aufbieten würden, seinen Aufenthalt zu erfahren. Der Morgen kam, und Georg saß noch immer im Stock. Er wußte nicht mehr, ob er noch Arme und Beine habe. Jede Empfindung war aus denselben verschwunden. Gegen Mittag öffnete sich die Thür, und der Indier trat ein. Mit finsteren Blicken blieb er vor dem Gefangenen stehen. »Hat sich nun Euer hitziges Blut beruhigt?« fragte er, ohne zu verraten, daß er noch an die gestern empfangenen Fußtritte dachte. Georg wunderte sich darüber. Er hatte geglaubt, der Indier würde seine Wut an ihm auslassen, aber wunderbarerweise war derselbe vollkommen ruhig. Er schloß daraus, daß es dem Indier lieber war, wenn er erst die Fragen beantwortet bekäme, als wenn er den Gefangenen wieder reizen müßte. Aber daß er später noch seine Rache befriedigen würde, davon war Georg vollkommen überzeugt. »Seid Ihr nun geneigt, mir zu antworten? Es ist noch dasselbe: entweder Ihr antwortet und seid frei, oder Ihr werdet gefoltert, und wenn Ihr dabei sterben müßt.« Der Gefangene lachte höhnisch auf. »Macht das einem anderen weiß, daß Ihr mich laufen lassen werdet,« entgegnete er. »Euer Wort gilt mir ebensoviel, wie das Bellen eines Hundes. Nein, nein und abermals nein. Ihr sollt nichts erfahren.« »Verfluchter Faringi,« schrie der Indier, der seine Wut nicht mehr bezähmen konnte, »Dein Trotz soll bald gebrochen werden. In einer Viertelstunde wirst Du Dein Wehgeschrei vergebens zu Deinem Gott aussenden.« Er trat Georg mit den Füßen. In diesem Augenblicke ging die Thür auf, und im Rahmen derselben erschien ein eingeborener Diener, der seinem Herrn auf Indisch etwas sagte. Dieser stellte mehrere Fragen und ging dann hinaus, sich vorher noch 75 einmal umwendend. »Mache Dich bereit,« sagte er, »noch heute wird Dir Deine Zunge geschmeidig gemacht werden.« Hinter ihm fiel die Thür in‘s Schloß, und Georg hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Er war wieder allein und beschäftigte sich mit traurigen Gedanken. Jedenfalls hatte der Indier von dem Diener eine Mitteilung erhalten, welche ihn abrief, also war die Folter nur aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Manchmal eilte jemand an der Gefängnisthür vorüber, und jedesmal glaubte Georg, der Unbekannte würde seinen Lauf hemmen, den Schlüssel in‘s Schloß stecken, und zu ihm kommen, um ihn nach der Folterkammer zu führen, aber immer ging der Betreffende vorbei. Es waren Stunden der entsetzlichsten Qualen. Der Tag verging; die Sonne warf bereits ihre letzten Strahlen durch das kleine, starkvergitterte Fenster in den Kellerraum, und Georg hockte noch immer mit gekrümmtem Rücken da. Er begann jetzt zu hoffen, daß irgendetwas seine Folterung unmöglich gemacht habe, dann aber ward er wieder ängstlich. Bereits vierundzwanzig Stunden saß er hier, ohne Essen, ohne Wasser; Hunger und Durst begannen sich fühlbar zu machen. Wie aber, wenn er vergessen würde? Wenn der Indier abgerufen ward und nicht mehr an sein Opfer dachte? Entsetzlich! Schon jetzt versuchte Georg, ob er mit den Zähnen den Arm erreichen könnte, um sein eigenes Blut zu trinken, er machte den Versuch erst nur aus Scherz, aber das Blut gerann ihm in den Adern; die Haare sträubten sich, wenn er sich die Qualen der nächsten Tage ausmalte. Die Nacht brach an, und Georg saß im Block und wartete. Es waren Menschen im Haus, er hörte Schritte über dem Kellergewölbe, aber zu ihm kam niemand. Der Gefangene schien vergessen. Mehr noch als der Hunger, fing der Durst an, ihn zu quälen. Es war den ganzen Tag schwül gewesen, es war heiß in dem Keller. Die Kehle war ihm vertrocknet, der junge Mann war dem Verzweifeln nahe. Er schrie, so laut er konnte: Wasser! Es war das Einzige, was er jetzt herbeisehnte; mochten sie ihn dann foltern, aber nur erst eine Linderung! Seine Kehle wurde durch das Schreien nur noch Wasser-Prawda | Oktober 2015 76 SPRACHRAUM trockener, er gab es als nutzlos auf, denn die Menschen, die bereit waren, jemanden bis aufs Blut zu quälen, hätten ihn auch verdursten sehen können. Stunde auf Stunde verrann, vollständige Dunkelheit umgab Georg, sein Mut war gebrochen. Stumpfsinnig saß er da und stierte vor sich hin. Wasser, das war sein einziger Gedanke. Er bekam schon Halluzinationen; er glaubte sich an einer Quelle, er hörte sie rauschen; er trank und trank, und sein Durst wurde doch nicht gelöscht. Ein lauter Schritt weckte ihn einmal aus seinem Brüten. »Wasser!« murmelte der Unglückliche mit brennenden Lippen. »O Gott, erbarme Dich meiner, sende Deinen Engel!« Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er konnte zwar niemanden sehen, aber er erschrak nicht. Er hörte nur das eine Wort: »Trinke!« In langen Zügen sog der Unglückliche aus der vorgehaltenen Flasche das erquickende Naß, bis sie keinen Tropfen mehr enthielt. »In dem Wasser war ein Viertelliter Wisky,« flüsterte eine Stimme vor ihm, »das Geld dafür giebst Du mir ein ander Mal wieder, vergiß es aber nicht! Jetzt mach‘, daß du aus dem Block kommst!« »Sharp,« rief Georg; er hatte ihn weder gesehen, noch an seiner Stimme erkannt, aber die Sprechweise verriet ihm den Namen des Helfers. »Schrei nicht so! Wie lange bist Du schon hier?« »Ich weiß nicht; ich glaube zwei Tage,« flüsterte Georg zurück. »Ein bißchen lange.« Georg hörte, wie der Detektiv – denn der war es wirklich – am Schloß des Stockes hantierte. Dann wurde der doppelte Balken anseinander genommen, und Georg war frei. Wie ein Stück Holz rollte er zur Seite. »Jetzt mach‘, daß deine Knochen beweglich werden, während ich das Fenstergitter durchsäge.« Kaum vernahm Georg das Geräusch, welche die haarscharfe Säge verursachte, so geschickt wußte der Detektiv damit umzugehen. »Wie kommen Sie hier herein?« fragte er leise, während Wasser-Prawda | Oktober 2015 er, noch immer am Boden liegend, Arme und Beine bewegte. »Immer durch die Thür.« »Ich habe Sie aber nicht gehört.« »Entschuldige nur, daß ich nicht vorher angeklopft habe. Bist du bald im stande, gehen zu können? Ich habe nur noch zwei Stäbe zu durchfeilen.« »Gleich.« Georg war überglücklich. Er war, den Kapitän und die beiden Steuerleute ausgenommen, der Einzige von der Besatzung des ›Blitz‹, der Sharps eigentlichen Beruf kannte; die anderen hielten denselben für einen Freund des Kapitäns, der die Reisen mitmachte, oft tagelang sich in seiner Kabine einschloß und dann wieder für Wochen wegblieb. Aber mit Georg hatte er Freundschaft geschlossen und verkehrte viel mit ihm, weil er manchmal dessen Aussehen annahm. Dieser fühlte sich in der Nähe des Detektiven so sicher, als wäre er in seiner Koje an Bord des ›Blitz‹. Von diesem Manne, der über alles in scherzhaftem und wegwerfenden Tone sprach, ging eine Sicherheit und Ruhe aus, die selbst gebildeten Personen imponierte, geschweige denn Georg, dem einfachen Matrosen, der den Detektiven wie einen Gott verehrte. »Fertig?« fragte derselbe. »Es geht.« »So ziehe schnell deine Sachen aus, ich habe das schon gethan.« »Wozu denn?« fragte Georg verwundert. »Frage nicht lange, sondern beeile Dich! Ich werde dir schon alles erzählen.« Georg gehorchte, und der Detektiv, der im Dunklen ebensogut wie am Tage zu sehen schien, tauschte seine Kleider mit ihm. »So,« sagte Sharp, nachdem er selbst die Sachen Georgs angezogen hatte, »weißt du, wohin du gehen mußt?« »Nein.« Der Detektiv beschrieb ganz genau den Weg, den Georg einzuschlagen hatte, um nach dem Hafen zu kommen. »Der ›Blitz‹ ist nicht mehr da, weiß nicht, wo er sich herumtreibt, aber dafür liegt der ›Amor‹ auf der Rhede, und auf den gehst du vorläufig. Die Herren werden dein Verschwinden schon erfahren haben, denn SPRACHRAUM Hoff mann hat einen Brief für sie hinterlassen, und jedenfalls werden sie nach dir suchen, natürlich vergeblich, kalkuliere ich.« »Und Sie?« fragte Georg. »Ich setze mich als Georg in den Stock.« »Sie werden gefoltert werden.« »Werde wohl nicht stille halten.« »Aber wozu wollen Sie denn nur hier bleiben?« fragte Georg wieder, der das Benehmen des Detektiven oft nicht begreifen konnte, und jetzt am allerwenigsten. »Will mich einmal etwas mit dem Indier unterhalten, der sich so für dich interessiert,« entgegnete Sharp. »Was habt ihr bis jetzt miteinander verhandelt?« Georg teilte ihm so kurz wie möglich das Geschehene mit. »So, jetzt kriech‘ leise durch das Fenster und komme gut an Bord,« sagte Sharp. »Soll ich Ihnen nicht erst helfen, in den Stock zu kriechen?« fragte Georg. »Glaube gar! Das mache ich allein.« »Aber Sie können dann nicht zuschließen.« »Ich schließe eben erst zu und stecke dann die Hände und Füße durch,« lachte der Detektiv, »die gehen durch alles, was Hand- oder Fußgelenk auch noch so knapp umspannt.« »Dann viel Vergnügen, und geben Sie es dem Schurken ordentlich, er hat es verdient!« »Well, Georg, wird besorgt! Gute Nacht, mein Junge!« Georg kroch durch das Fenster und war bald in der Finsternis verschwunden. Als sein leiser Schritt selbst dem scharfen Ohr des Detektiven nicht mehr vernehmbar war, setzte derselbe vorsichtig seine Pfeife in Brand und rauchte Stunde um Stunde, bis der Morgen zu dämmern begann. Da setzte er die zersägten Stäbe wieder derart ein, daß von dem Zerstörungswerk nichts mehr zu sehen war, und schloß mit einem Draht den Stock. Dann entledigte er sich seiner Schuhe, schob die Füße ohne Anstrengung durch die engen Löcher und zog die Schuhe wieder an. Bevor er die Hände in die Öffnung schob, biß er sich ein Stück Kautabak ab, um bei diesem langweiligen Warten wenigstens eine angenehme Unterhaltung zu haben. Wer von dem vollzogenen Tausch nichts wußte, hätte schwören können, immer noch Georg vor sich zu haben, 77 denn der Detektiv hatte ganz das Aussehen desselben angenommen. Sharp mußte lange warten, ehe das Leben in dem Hause erwachte, dann aber kam es auch mit einem Male. Schritte eilten hin und her, überall erscholl Pochen und Lärmen. Stimmen schrieen so laut, daß man sie selbst im Keller hören konnte. »Was mag das sein?« dachte Sharp. »Das klingt ja sonderbar, gerade wie ein Überfall.« Er sollte nicht lange im Zweifel sein. Jetzt näherten sich seiner Zelle hastige Schritte – der Detektiv zog ein klägliches Gesicht – die Thür wurde aufgeschlossen, aufgerissen, und herein traten – Lord Harrlington, Williams und noch mehrere Herren vom ›Amor‹. »Sind Sie die Ordonnanz vom ›Blitz‹?« rief Harrlington. »Freuen Sie sich, Mann, Sie sind frei!« Der Detektiv war anfangs starr, aber im nächsten Augenblick war die Reihe des Erstaunens an den Herren. Plötzlich zog der Gefangene die Hände und Füße aus dem Stock, sprang auf und schrie mit donnernder Stimme: »Nun schlage aber doch Gott den Teufel tot! Jetzt sitze ich hier die ganze Nacht im Stock, damit Sie mich befreien können! Stecken Sie doch Ihre Nase in Ihre stinkigen Theerfässer und nicht in meine Angelegenheiten. Adjös, meine Herren, mich sehen Sie nicht wieder.« Schmetternd fiel die Thür hinter ihm ins Schloß. Die Herren fanden lange keine Worte, sprachlos schauten sie sich an. Dann griff sich Williams langsam an die Stirn und sagte: »Ich glaube, ich bin ein großer Esel gewesen, kann aber nichts dafür. Kommen Sie mit, vielleicht finden wir den Beweis dieser Behauptung schon auf dem ›Amor‹, und Sie stimmen mir dann bei.« Sie gingen an den Hafen zurück. Kapitän Hoffmann hatte allerdings für die Engländer einen Brief hinterlassen, worin er ihnen mitteilte, daß er sofort in See gehen müsse und daß seine Ordonnanz, Georg, verschwunden sei. Vielleicht würden die Herren bis zu seiner Rückkehr nach Bombay sich bemühen, nach dem Verschwundenen zu forschen. Hoffmann selbst hatte keine Ahnung, daß Nick Sharp auch nach Bombay gefahren war, er glaubte, derselbe Wasser-Prawda | Oktober 2015 78 SPRACHRAUM Wasser-Prawda | Oktober 2015 SPRACHRAUM 79 wollte sich an der Seite von Ellen halten. Der Detektiv hören wollen. aber kam auf den Einfall, sich nach Bombay zu begeben, Von dem Detektiven vernahm man seitdem nichts weil natürlich, wie er gleich schloß, die Entführung der wieder. ›Vesta‹ und der Mädchen wieder vom ›Meister‹ ausging, dem er nachspürte. Ehe er Ellen verließ, mußte er jedoch für sich einen Ersatz haben, und da er in jeder Stadt seine Helfer hatte, so ließ er in Madras einen solchen als Matrosen auf die ›Medusa‹ anmustern. Als er sah, daß der betreffende Mann wirklich an Bord kam, verließ er das Schiff wieder, eben in der letzten Minute, und reiste mit dem nächsten Zuge nach Bombay. Es war ihm bald gelungen, sich über alles Vorgefallene zu orientieren, er erfuhr die seltsamen Umstände, unter welchen die Gefangennahme Georgs vor sich gegangen, befreite diesen und nahm dessen Stelle ein, um, wie er sagte, mit dem Indier näher bekannt zu werden. Aber auch Lord Harrlington war es geglückt, den Aufenthaltsort Georgs zu erfahren. Ein Diener des Indiers hatte gehört, daß der Lord eine hohe Summe demjenigen zusagte, der ihm etwas über den Verschwundenen mitteilte, daher war der Eingeborene einfach seinem Herrn weggelaufen und hatte alles verraten. Ohne zu ahnen, weshalb Georg eigentlich gefangen gehalten wurde, eilten Harrlington und etwa zehn Herren sofort nach dem bezeichneten Haus, nahmen unterwegs noch Polizei mit, fanden aber den Indier selbst nicht mehr vor – er hatte von dem Verrat erfahren und war, ebenso wie seine Diener, welche sich schuldig fühlten, bei Zeiten geflohen. Einige der Eingeborenen sagten aus, sie hätten wohl gemerkt, daß ihr Herr jemanden im Keller festhielt, aber sie wüßten nicht wen und dürften sich überhaupt nicht um das Thun und Treiben ihres Herrn kümmern. In dem bezeichneten Kellerraum fand man denn auch Georg, der sich so heftig über seine Befreiung beschwerte. Als die Engländer auf dem ›Amor‹ anlangten, fanden sie zu ihrem nicht geringen Erstaunen Georg schon vor, diesmal den echten, der zwar die Sache aufklären wollte, so weit er durfte, aber vor Lachen nicht sprechen konnte. Endlich erfuhren Harrlington und Williams, beide mit Sharps Wesen vertraut, den ganzen Sachverhalt, und Georg sagte betreffs seiner Gefangennahme nur noch, daß der Indier etwas Wissenswertes über den ›Blitz‹ habe Wasser-Prawda | Oktober 2015 80 ENGLISH T HE QU I C K & TH E D E A D A NEW LETTER FROM THE UK BY DARREN WEALE performers experienced racism and segregation in their homeland, Europe was a better experience for them, and several of them settled here. Vereinigten Königreich Apologies to the readers of Wasser-Prawda for the What has been going on in the UK, I hear you ask? absence of a Letter from the UK recently. Letters are Or I imagine that you do. Well, this being a musichard to write at very busy times, and much has been based letter, a lot of music has been going on. The Lead going on. Indeed, Germany is much in the news here Belly Fest earlier this year was about as good a tribute to with what is called the migrant crisis and the welcome anything as you will hear, and took place at the Royal given to many migrants. More than we have managed Albert Hall. The evening closed with Van Morrison ourselves, of course. However, there is a musical link. singing beside Eric Burdon, with Jools Holland on It is good to reflect that when black American Blues piano, Chris Barber (left, in picture) on trombone, and Paul Jones on harmonica. You don‘t need a music Willkommen zum Brief aus dem Wasser-Prawda | Oktober 2015 ENGLISH encyclopaedia to realise how great those names are. The event goes to New York in December and, rumour has it, Germany can expect an appearance. That festival in honour of the late American Folk-Blues musician Lead Belly and sad events like the passing away of BB King and Cream‘s Jack Bruce and the ill health of other figures in Blues music explain the title of this Letter. There is a lot going on about the Quick (the living) and The Dead (who are, well, deceased). Links Alistair Cooke - www.bbc.co.uk/programmes/ b00f6hbp Lead Belly Fest: www.leadbellyfest.com British Blues Exhibition: www.britishbluesexhibition.co.uk 81 The phrase is also the name of a rather good album by Geoff Everett. Then there is the beginning of a British Blues music history Exhibition which seeks to venerate performers both alive and passed away, and UK Blues, a new Federation for British Blues. Both celebrate the quick and the dead. It is ironic that with a public vote on the membership of the European Union ahead of us in the UK, that in music the Blues has created a Federation of its own that is happily associated with the European Blues Union. Close ties with Europe and indeed Germany are to be desired. Certainly, there is a general recognition here that in Germany musicians are much better respected and treated than they are in the UK. So expect more (temporarily) migrant British musicians, and please extend them your welcome too. Seid glücklich und erfreut Euch an Eurer Live-Musik und allem was Deutsch ist! Wasser-Prawda | Oktober 2015 82 ENGLISH R UT HI E F OS TE R : M O R E T HAN JUS T A N O TH E R BLUES L A DY BY IAIN PATIENCE. FOTOS BY KARSTEN SPEHR Ruthie Foster is way more than just another blueslady. She‘s a true gospel diva with an astonishingly powerful voice that sounds like it must have literally raised more than a few rooves and rafters over the years. Her stage-presence is always dynamic; clutching her trusty Gibson guitar, she launches herself into each number with immediacy and clear intent. Audiences look on in awe as she storms from one Wasser-Prawda | Oktober 2015 song to the next, pulling tracks from her beeded, braided head and an impressive award-winning back catalogue of sultry, soulful music with confident ease and purpose. And surprisingly, perhaps, guitar is not her first instrument. Ruthie‘s a piano-player but, as she quips: ‚The guitar‘s a lot more portable.‘ And unlike most musicians of the blues world and stage, she can read ENGLISH music, having graduated in that subject before signing up with Uncle Sam and joining the Navy to see the world as an engineer. It was while with the navy she turned her attention to fretwork developing a hard-hitting percussive style that has certainly served her well over the years since her demob. ‚My voice is my first instrument, though,‘ she says. A positively barn-storming quality developed and honed as a kid growing up in rural Central Texas where her grandmother ensured she attended the local Baptist church and weekly song sessions. The same grandmother who introduced Foster to piano and a love of music in a more general way as she grew-up. Foster is quick to thank both her mother and grandmother for introducing her to music and performance, initially as a purely family thing, followed by church outings and a college course where she majored, as might be expected given her tremendous voice, in vocal-work, and that eventually led her to the world stage. ‚I started out singing in our local Baptist church. It was really a sort of family situation. It was important to my mother and grandmother. Not singing at church was never an option,‘ she says with a rueful but clearly grateful smile. As for inspiration, she simply plucks themes from everyday life and love. Songs that mirror her own interests and observations as she hits the road on tour, spending substantial chunks of time away from home, missing her young daughter. It‘s difficult to avoid comparisons with Mavis Staples. Both are award-winning singers with huge voices and a grasp of gospel music few, if any, can equal. Foster is quick to pay her respect to the veteran singer, citing the near-legendary Staples as an obvious gospel-influence and a true survivor. „I love Mavis Staples. She still has such an amazing voice and energy. Despite her age, she gives it her all every time.‘ In the studio she tries to capture the spirit of live performance as much as possible, eschewing overmuch technology and overdubs. ‚I‘ve always pre- 83 ferred acoustic sound and instruments wherever possible,‘ she confirms. ‚I have to plug my guitar in, of course, with a pick-up, but that‘s because I need to be heard when I play in front of a crowd, on a stage where that whole sound projection thing is real important.‘ It‘s a formula that clearly works. Foster has pickedup awards galore. Best Female Vocalist; Best Contemporary Blues Female Vocalist; Living Blues Writers‘ Poll Winner; Koko Taylor Award for Best Traditional Blues Female Vocalist - 2012, 2013, and again this year, 2015. In addition, Grammy nominations and plaudits rain down on her from all quarters. Foster seems to take it all in her stride without appearing complacent or smug in any way: ‚Yea, I‘ve sure been real lucky with the awards,‘ she smiles. ‚It‘s all been great.‘ With almost a dozen albums now behind her mostly since she turned professional in ‚…..around 1995-96‘ - she nods, as she thinks back over the years - she still loves doing what she does, despite the travelling and the hassle that invariably goes with it. ‚I love singing, it‘s what I do best. And I have freedom to change my set whenever I want. I might start-off a set with one number then just turn it around with another, with something different, like ‚Ring Of Fire‘, for example. It all depends on the gig and the audience. Picking up the mood out front and going for it.‘ With her latest release, ‚Promise Of A Brand New Day‘, already gathering critical acclaim, Foster says she enjoys and looks forward to gigging in Europe where she has played Italy, France and Spain in the recent past. ‚Audiences are real cool over here. They know the music. They love it. They always make me feel welcome.‘ Wasser-Prawda | Oktober 2015 84 ENGLISH Reviews wit and wisdom, sure-fired soul and super sounds. Religion also comes into the firing line with a marvellous number, „Westboro Baptist Blues,“ that should carry a health warning along the lines of ‚Do Not Listen While Eating or Drinking‘ - for fear of spraying your near neighbors with half-chomped, slurped debris. A wonderful fun album with a backing band that includes the likes BAD NEWS BARNES & THE of the late, Lew Soloff on trumpet BRETHERN OF BLUES BAND and around half of the surviving 90 Proof Truth members of Blood, Sweat & Tears, A dozen tracks of complete hokum, among others. And as a bonus - if as it clearly says on the album cover, such was needed - this is a double from one of the USA‘s finest hoaxers CD/DVD release, so you can also and hoary frontmen. Th is guy is watch the mayhem as it unfolds. not just a comic with a challen- (Flaming Saddles Records) ging sense of humor, he‘s also one Iain Patience helluva singer/songwriter with an at times decidedly jaundiced eye on the skewed social and political world of modern America. I have to declare an interest from the very off with this offering: I absolutely love it. It makes me laugh out loud and the sheer inescapable mastery of the fulltilt, Stax-like horny (pun intended, as Barnes would expect) musical backing makes for totally irresistible stuff. Fiona Boyes – Box and Dice Barnes crosses genres as easily as Fiona Boyes is that rare thing, a he reaches out to cross-dressers, female blues guitarist/singer/songstraights and gays with a full-hand writer and an Australian. ‚Box and of delicious songs. From the opening Dice‘ is her first release under the US track, „America Needs A Queen“, Bay-area Reference Recordings label with its sublimely comic lyrics where she‘s in good company alongdemanding a gay leader on top, you side the likes of Doug MacLeod, know where this collection is likely Lloyd Jones and others. And, like to take you - a rolling ride of excelmost Reference recordings, the lent music packed to bursting with Wasser-Prawda | Oktober 2015 studio quality is high with a splendid warm, empathic sound and glow. Almost all of the eleven tracks featured here are written by Boyes who clearly knows her stuff and pitches well in the traditional blues field. There‘s no doubt, and no missing, the inspired cigar-box and resonator input in this mix and Boyes‘s picking is strong and full of purpose and power while her growling vocals deliver a steady punch and display a real depth, strength and direction. No purist, Boyes mixes and matches blues styles, moving smoothly from slide to swampy down South sounds, Piedmont to Texas shuffle, and rockinfluenced riffs to Chicago licks with complete ease. Pace is varied and Boyes has a confident, calm control over the material that shows a remarkable maturity and highlights her guitar-work to full effect. So much so, that she has in the past been referred to as ‚Bonnie Raitt‘s Evil Twin‘, a strikingly original accolade that she appears to relish. Anyone unsure about her blues credentials should take note that Boyes was the first non-American lady to pick up an award at the annual International Blues Challenge in Memphis. A truly excellent release from a guitar master of pure class. (Reference Recordings/ Fresh: FR-717) Iain Patience ENGLISH taking to the European road some time soon. This is a guy well worth catching and this release is a rewarding bit of traditional acoustic blues picking of absolutely the highest order. Highly recommended, for sure. (Snappy Turtle Records) Iain Patience Frank Fotusky – Meet Me In The Bo om ‚Meet Me In The Bottom‘ is the first release for some years from New Jersey acoustic picker Fotusky. With echoes of his first album, ‚Teasin‘ The Frets‘, Fotusky positively rips along here with simply stunning guitar mastery and an eclectic mix of material opening with Bo Carter‘s ‚Who‘s Been Here‘, moving through Jelly Roll‘s classic ‚Windin‘ Boy Blues‘, some Robert Johnson, Leroy Carr, Willie McTell, Gary Davis, among others, and the album title track from Bumble Bee Slim. Fotusky also includes a handful of self-written originals to good effect. This is without doubt a top-dollar album, bursting at the 13-track seams with superb old-style acoustic ragtime-blues fretwork on both six and twelve-string guitars, and fine vocal accompaniment. Make no mistake, this guy is one Helluva guitar picker and this is an album that works really well in every way and at every level. Fotusky, sadly, seldom if ever appears to range outside of the USA. Hopefully, this offering will bring him and his music to a wider audience and maybe push him into Half Deaf Clatch – The Life & Death of AJ Rail First thing to say about this release is it‘s a truly remarkable overall package, full to bursting with spare, slippery acoustic fretwork on both guitar and banjo. The dozen tracks are all self-written with an evident understanding of the old-time, blues tradition and a touch of modernity that never swamps the originality. Back in the day, of course, banjo was often the only instrument of choice available to share-cropping, blistered and bruised old bluesmen in the Deep South. Nowadays it tends to be overplayed, full of sparkling notes without a heartbeat or, seemingly on occasion, any real subtlety, feeling or passion. Clatch to his credit avoids this perilous pitfall with a notably spare, deceptively basic picking style reminiscent of the old claw-hammer pioneers from the turn of the twentieth century. The result is an album 85 that has an unusually effective added ingredient mostly lacking in blues releases these days. The songs themselves chart the story of a life lived with more than a touch of sin and scandal, debauchery, and defiance of the only certainty in life - old man Death itself. If anything, this really is the Devil‘s Music, writ large. The Grim Reaper seems to be more than welcome here. In addition, Clatch is always surefooted with his fretwork and slide mastery. Pace and tempo both vary alongside lyrics that grab the attention to produce a near-effortless triumph. In many ways, ‚The Life & Death of AJ Rail‘ could well prove to be the most original blues release of the year. Iain Patience The Reverend Shawn Amos – The Reverend Shawn Amos Loves You This is a guy who sure knows how to rock; a blues-sailor riding the storm, switching from gospel through R&B rocky-torrents to pretty straight, full-on modern blues, with both eyes wide open and anchored in tradition. His gospel creds are clear given his moniker, and the opener in this twelve-track release, „Days of Wasser-Prawda | Oktober 2015 86 ENGLISH Depression“, features pure-gold support from one of the best - the Blind Boys of Alabama, a flavour that hints at what‘s packaged and lying in store. Amos positively rips along at times with some barrelling boogie-woogie, here coupled with the scorching, soul voice of Missy Andersen on one track and doubleGrammy nominee saxman Mindi Abair on yet another, Jimmy Reed‘s „Bright Lights, Big City“, a number that rocks and rushes along with confident ease. Amos either wrote or co-wrote almost everything in this fine mix and his harp playing is subtle and poised, a welcome feature successfully avoiding the often prevalent, commanding, demanding wail of many bluesmen. Modern Americana - R&B - cum - country is also represented with a fine, drum-driven take on Minnie Lawler‘s Illinois prison bangle „Joliet Bound“, here slipped in to soulful effect with delicious fretwork from guitarist Chris ‚Doctor‘ Roberts around the halfway mark. Th is is simply a strikingly strong blues album full of quality flourishes and touches. It should easily please most modern-blues lovers, keeping their interest and attention alive and warm, with variety of material, style - electric, soul, R&B, and acoustic and pace all guaranteed. Iain Patience Wily Bo Walker – Moon Over Indigo This ten-track wonder marks the finale of a trio of top-quality, rockyblues releases from London-based Scot, Wily Bo Walker. And it‘s an absolute beauty, full of pace, variety, gritty blues and bountiful, explosive material. Walker is a guy who not only can produce the goods, but who consistently does produce the goods and more. ‚Moon Over Indigo‘ positively roars along from start to finish, featuring Walker‘s mostly self-penned songs, rasping vocal delivery and strong fretwork. In truth, Walker‘s voice is an essential ingredient in the mix, a roaring, rattling load of grit and guts that propel the entire package along. Walker is well-known for his gripping stage presence and live performance. With this latest album, he clearly demonstrates his ability to take listeners on a roiling blues ride that simply never slows, slips or falters. Walker includes a great take on Willie Dixon‘s old number ‚Same Th ing‘ here, and a cover of ‚Who Do You Love‘ from Elias McDaniel. Apart from these intruders, all of the Wasser-Prawda | Oktober 2015 tracks featured were written by the guy himself. Walker is to be congratulated for this work. He‘s a guy that deserves a greater following and general recognition internationally in the blues world. ‚Moon Over Indigo‘ is an album that really is worth catching and showcases his evident talent to great effect. Wily Bo is that rare thing - a true original. Get your hands on a copy of this if you can. (Mescal Canyon Records: MCREX021) Iain Patience