zusammen leben - Europäische Literatur

Transcription

zusammen leben - Europäische Literatur
eljub E-Book-Woche 2016
zusammen
leben
B5.117
Hrsg. von Walter
Grond, Veronika
Trubel, Gabriele Kögl
und Beat Mazenauer
zusammen
leben
Die Europäischen Jugendbegegnungen werden von p&s melk in
Kooperation mit dem NÖ
Landesjugendreferat und ELiT
Literaturhaus Europa organisiert.
p&s melk wird dafür 2016 im EU
Programm Erasmus + gefördert.
Alle Rechte bei den Autorinnen
und Autoren
Edition Rokfor
Zürich/Berlin
B5.117/18-07-2016
Redaktion durch die Herausgeber
Konzeption: Rokfor
Produktion: Gina Bucher
Grafische Gestaltung: Rafael Koch
Programmierung: Urs Hofer
Gesamtherstellung: epubli, Berlin
VORWORT
Dieses E-Book ist das Resultat eines europäischen
Austausches und dokumentiert in dieser Form bereits
zum vierten Mal, was Jugendliche bewegt, was sie
sich wünschen, was sie befürchten, und wie sich
ein gemeinsames Europa vorstellen. 50 Jugendliche
aus 10 europäischen Ländern haben es in der abgelaufenen Projektwoche vom 2. bis 9. Juli 2016
miteinander geschrieben.
Die Themen beziehungsweise die Annäherung an
die Themen kamen von den Jugendlichen selbst.
Dieses E-Book entstand in einer gemeinschaftsstiftenden Woche aus Workshops, Diskussionen, gegenseitigen Interviews und Reflexionen. Wertvolle Inputs
holten sich die Jugendlichen im kulturellen Rahmenprogramm: Einer Begegnung mit international
tätigen Fernsehjournalistinnen im Kunstraum Niederösterreich in Wien, einer Filmvorführung im Kino im
Kesselhaus Krems bzw. einem Workshop im Karikaturmuseum Krems. Erstmals bildete sich in diesem
Jahr eine JournalistInnengruppe, in der TeilnehmerInnen Einblicke ins Handwerk dieses Berufes erhielten
und Reportagen im Zusammenhang der E-Book Woche schrieben.
Die Texte sind drei Hauptthemen zugeordnet:: «Wie
unterschiedlich werden heute Jugendliche erwachsen» (betreut von Walter Grond), «Zusammenleben
in Europa» (betreut von Veronika Trubel), und «Was
verändert sich heute in unserer Welt», betreut von
Beat Mazenauer. Eine vierte Schreibgruppe näherte
sich, betreut von Gabriele Kögl, diesen Themen auf
eine ambitioniert literarische Weise.
Die Jugendlichen erarbeiteten ihre Gedanken, Analysen und Ideen zu ihren Themen gemeinsam – in
VORWORT
Kleingruppen – und schrieben sie schließlich nieder,
alleine, zu zweit und oft auch in Gruppen. Das Team
von eljub bot hierbei nach Bedarf Unterstützung,
Anregungen sowie auch die Gelegenheit, sich zu
vernetzen. Sie haben eine immense große und im
Resultat wertvolle Arbeit geliefert. Deshalb gilt unser
Dank zuallererst all den mitwirkenden Jugendlichen,
die bunte, kluge, überraschende, spannende Texte
verfasst haben.
Die Herausgeber
Walter Grond, Veronika Trubel, Gabriele Kögl und
Beat Mazenauer
INHALT
1. Erwachsen werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Geschichtsunterricht und Jugendschutzgesetz im
Ländervergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Scheißjugend oder Scheißpolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Wie wird man trendy? Was macht cool? . . . . . . . . . . . 24
Der Weg der Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Aufwachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Die Geschichte meiner Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2. Changes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Schritte in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Wo ist Europa? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Der Spiegel ist unser größter Feind . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Zukunftshoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Es gibt immer was zu tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Schule und Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Eine Utopie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Die „Tiere ohne Grenzen“-Show . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Kurze Anleitung zum Umgang mit der Natur . . . . . 69
3. zusammen leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Das Hochhaus Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Matrosen, Kommunisten, Diebe, Nazis . . . . . . . . . . . . . 75
Das Parfüm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Die Kommunikation als Brücke zwischen den
Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Reisen bildet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Wie es ist, anders zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Armut in der Nachbarschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Unsere Geheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Die Fabel vom brüllenden Löwen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
4. Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Das zerrissene Plakat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Ambitiös, muskulös, bitterbös . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Kriegerin Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Königreich Hass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Die Schwester des Terroristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Gebet an einen Terroristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Die Geschichte einer unsichtbaren Familie . . . . . . . . 136
Unbezahlbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Wie könnte unsere Welt in 40 Jahren aussehen? . 148
5. Reportagen - Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Ich bin ich, mit und ohne rasierte Beine. Oder
nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Heißt das jetzt Kultur-Exit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
Reportage eljub E-Book-Woche: von E-Books und
Essbarem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
(Fiktiver) Leserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Bunt gemischte Europateams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
Die Präsenz der NATO in Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . 166
Eindrücke eines Peer-Betreuers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
6. Rezepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
Vorspeise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
Hauptspeise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Nachspeise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
9
1. ERWACHSEN WERDEN
GESCHICHTSUNTERRICHT UND
JUGENDSCHUTZGESETZ IM LÄNDERVERGLEICH
Lena Haiden, Anna Herzog, Alexander Ney, Alexandra Nesici,
Klaudia Orbán und Viktor Škopan
EINLEITUNG
Wie unterschiedlich werden Jugendliche in Europa erwachsen? Wir, das sind sechs Jugendliche aus sechs verschiedenen Ländern (Rumänien, Ungarn, Polen, Tschechien, Österreich,
Australien/Polen) haben versucht diese Frage zu beantworten.
Dabei haben wir uns zwei Faktoren, die dieses Aufwachsen
beeinflussen, ausgewählt: den Geschichtsunterricht und die
Jugendschutzgesetze. Diese haben wir erfasst und verglichen.
Um einen möglichst großen Teil von Europa zu erfassen, haben wir auch Teilnehmer und Teilnehmerinnen von eljub aus
anderen Ländern (Deutschland, Slowakei, Slowenien, Frankreich, Bulgarien) interviewt.
Nun könnte sich ein jeder fragen: Warum ausgerechnet
Geschichtsunterricht? Warum ist das wichtig für das Aufwachsen von Jugendlichen?
Der Geschichtsunterricht beeinflusst stark das nationale Bewusstsein einer Generation und demzufolge die Verbundenheit der Bürger und Bürgerinnen mit ihrem Heimatland. Diese
Verbundenheit wird auch von der Art und Weise geprägt, wie
sich das jeweilige Land in seinem Geschichtsunterricht selbst
darstellt. Vielsagend kann auch das Verhältnis zwischen der
nationalen und internationalen Geschichte im Lehrplan sein.
GESCHICHTSUNTERRICHT
Ungarn – Polen: Unsere Generationsregeln
Ich besuche das Lóczy Lajos Gymnasium am Plattensee.
Generell ist in meiner Schule der Geschichtsunterricht ein
Hauptfach; wie viel man lernt, hängt aber davon ab, welchen
Zweig man wählt. Wer darüber hinaus mehr über Geschichte wissen will, kann eine spezielle Klasse besuchen oder
Geschichte als Schwerpunktfach wählen. Wenn ein Schüler
10
Geschichte als Hauptfach wählt, muss er auch Deutsch lernen. Die ungarische Geschichte lernen wir auf Ungarisch.
In meinem Klassentyp legt man ein zweisprachiges Abitur
ab. Ich denke, dass es bei uns ein ausgewogenes Verhältnis
zwischen ungarischer und internationaler Geschichte gibt. In
Ungarn beschäftigen wir uns hauptsächlich mit dem Ersten
und Zweiten Weltkrieg. Den Bezug zur aktuellen politischen
Ordnung vermisse ich, darüber wird nur an den Universitäten
gelehrt.
Auch in Polen ist Geschichte ein Hauptfach. Vier Jahren
lang wird internationale Geschichte unterrichtet, die in den
höheren Klassen mit der polnischen verknüpft wird, z.B. was
Kriege betrifft. Polen und Ungarn haben eine gemeinsame
Vergangenheit. Zwei Kriege im 20. Jahrhundert, die große
Auswirkungen auf die heutige Gesellschaft haben.
(Klaudia Orbán)
Geschichtsunterricht in Ungarn
Zur Identitätsfindung der ungarischen Jugend trägt das in der
Schule vermittelte Geschichtswissen maßgeblich bei. Meiner
Einschätzung nach werden alle Etappen der ungarischen
Geschichte ausgewogen behandelt, genauso wie auch das
Verhältnis der internationalen zur nationalen Geschichte im
Gleichgewicht stehen – was dadurch möglich ist, dass es
als Hauptfach unterrichtet wird. Da aber der jüngsten Vergangenheit, im Bezug zur aktuellen Situation des Landes,
unterproportionale Bedeutung beigemessen wird, erhöht sich
die Gefahr, den Bezug zur Gegenwart zu verlieren und in
einem politisch instrumentalisierten Vergangenheitsbild zu
leben.
Die heute herrschende Meinung in Ungarn hält meines
Erachtens die Entstehungsgeschichte und die ruhmreiche
Königszeit des Mittelalters hoch, in der das Land als ein unabhängiger, seine Souveränität erfolgreich verteidigender Staat
dargestellt wird. Mit dem sogenannten Unheil bei Mohács
beginnt die lange Ära der nationalen Unterdrückung und des
Leides durch und unter Fremdherrschaft – welche laut der
zweiten Orbán-Regierung vollständig erst mit der Ratifizierung des neuen Grundgesetzes im Jahre 2012 endet, wie es
in der Präambel des Grundgesetzes verankert ist. (1) Der nationale Stolz wird dabei durch die Wertung der verschiedenen
11
Widerstände geschürt. Als eine besonders schwere Demütigung wird der Trianoner Friedensvertrag aus dem Jahre 1920
gesehen, durch den Ungarn 2/3 seines Territoriums (ohne
Kroatien) verlor. Dies wird noch heute als nationales Trauma
der jüngeren Generation weitergegeben und weitergelebt. Es
wird ein Bild vermittelt, welches meiner Meinung nach die
Schuld Ungarns in verschiedenen historischen Geschehnissen nahezu völlig ablehnt, zumindest aber zu thematisieren
vermeidet. Es entsteht eher ein Bild über das Heimatland,
das sehr oft durch unglückliche Umstände als Opfer gefallen
ist – meist so passiv, wie auch diese Konstruktion.
Nach dem Gesagten ist es vielleicht leichter nachvollziehbar, wieso ein immer größer werdender Teil der ungarischen
Gesellschaft die ruhmreiche Zeit im Königtum sowie die späteren, autoritären Nationalführer als Vorbild zur Wiederherstellung des nationalen Stolzes sieht. Durch die beschriebene
Geschichtsdarstellung wird also eine Wendung zur Vergangenheit gefördert, anstatt den Fokus auf die Möglichkeiten
der Zukunft zu setzen.
Ein anderer wichtiger Faktor in Bezug auf den Geschichtsunterricht ist die starke Betonung des lexikalischen Wissens,
und dadurch das in den Hintergrund gedrängte selbstständige,
kritische Denken. Das ermöglicht die Erziehung einer jungen
Generation zum Nicht-Hinterfragen von Behauptungen und
Regeln.
Letzteres wird inzwischen von vielen Menschen in Ungarn
verantwortungsvoll als Problem wahrgenommen, was die laufend stattfindenden Streiks für eine radikale Umgestaltung
des Schulsystems demonstrieren. Die Hoffnung auf eine Veränderung bestehen noch.
(Anna Herzog)
(1) «Wir erkennen die kommunistische Verfassung aus dem
Jahre 1949, die die Grundlage einer Willkürherrschaft bildete,
nicht an. Daher erklären wir ihre Ungültigkeit. » Das Verfassungsgesetz aus 1949 war bis 2011 gültig.
Gleichzeitig steht: «Für uns gilt die Wiederherstellung der
am neunzehnten März 1944 verloren gegangenen staatlichen
Selbstbestimmung unserer Heimat ab dem zweiten Mai 1990,
von der Bildung der ersten frei gewählten Volksvertretung an.
Diesen Tag betrachten wir als Beginn der neuen Demokratie
und verfassungsmäßigen Ordnung unserer Heimat. »
12
Geschichtsunterricht in Slowenien
In Slowenien wird besonders auf die Ära vom siebten bis
zum zehnten Jahrhundert Wert gelegt. Die Zeit um 1990 wird
auch besonders behandelt, das kann sich darin begründen,
dass Slowenien ein vergleichsweise junger Staat ist, und es
sich hierbei um die Jahre der Staatsbildung handelt. Slowenische Schüler lernen zu gleichen Teilen über die Geschichte
ihres eigenen Landes wie über die Weltgeschichte im Allgemeinen, allerdings wird hauptsächlich aus der Perspektive
Sloweniens unterrichtet. Geschichte ist in Slowenien in den
ersten drei Jahren der Mittelschule ein Hauptfach, danach
können die Schüler es frei wählen. Dinge, die das slowenische nationale Bewusstsein, sowie die persönliche Identität
prägen, sind die historische Diversität des Staates sowie die
Entstehungsgeschichte des Wappens.
(Lena Haiden)
Geschichtsunterricht in Tschechien und der Slowakei
Bei uns in Tschechien lernt man Geschichte, Heimatkunde, ab
der 2. Klasse Grundschule. Am Anfang ist Geschichte kein
eigenes Fach, nur Teil eines Faches, das Přírodopis heißt. Erst
ab der 4. Klasse wird Geschichte ein eigenes Schulfach. In
der Grundschule lernt man fast nur die nationale Geschichte.
Nur ab und zu wird auch etwas Internationales erwähnt.
Das alles ändert sich mit der weiteren Schulausbildung. Entweder geht man in eine Lehre, dort wird Geschichte im
Allgemeinen überhaupt nicht unterrichtet. In den Mittelschulen Schulen hängt es davon ab, im welchem Bereich sich
die Schule bewegt. Manche Schulen unterrichten Geschichte
überhaupt nicht, manche haben es als Nebenfach, und in
manchen ist es sogar ein Hauptfach. Anders ist es im Gymnasium. Da hat man zwar viel Geschichtsunterricht, Geschichte
ist aber ein Nebenfach. Vergleicht man die Lehrpläne in
den einzelnen Mittelschulen, sieht man, dass man Geschichte
überall fast gleich unterrichtet. Man beginnt mit der Urzeit in
unserem Land und lehrt viel über die nationale Geschichte.
Parallel dazu wird die internationale Geschichte unterrichtet.
Und nun etwas zum nationalen Bewusstsein. Das nationale Bewusstsein ist zwar nicht so stark ausgeprägt wie in
anderen Länder Osteuropas, es ist aber vorhanden. Unser
13
kleines Land war immer von großen Ländern umgeben, daher
verwundert es nicht, dass diese großen Länder und Kulturen
einen großen Einfluss hinterlassen haben. Den größten Einfluss hatten sicher die Deutsch sprechenden Einwohner. Am
Anfang des 19. Jahrhunderts war die Situation so drastisch,
dass die Tschechische Sprache fast ausstarb. In den großen
Städten wurde fast nur Deutsch gesprochen, die tschechische
Sprache nur in den Dörfern benutzt. Nur durch große Anstrengungen gelang es, unsere Sprache zu retten. Darauf sind
die Tschechen ziemlich stolz.
Noch ein Volk hat uns ziemlich beeinflusst, und zwar das
der Slowaken. Der Einfluss war aber gegenseitig. Die beiden
Länder sind sich sehr ähnlich, nicht nur wegen der Sprache.
Auf den ersten Blick kann man keine großen Unterschiede
zwischen Tschechien und der Slowakei entdecken. Man lernt
auch in der Slowakei Geschichte ab der 2. Klasse, das Schulsystem ist ganz ähnlich, und doch betrachtet man Einiges
anders.
Vor allem sehen die Tschechen die Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 als eine gute Sache an, die für beide
Länder von Vorteil war. Die Slowaken sehen das nicht so.
Am Beginn stimmten sie zwar auch für die Gründung der
Tschechoslowakei, waren aber später von diesem Staatenbund
nicht mehr so begeistert. Sie klagten über die Dominanz der
tschechischen Seite. Das meiste wurde von der tschechischen Seite geleitet, auf die Slowaken hat man nicht geachtet.
Sie hatten fast keinen Einfluss auf die Regierung. Seit 1992
haben die Slowaken einen eigenen Staat.
In der Zwischenzeit ist die Beziehung der Tschechen und
Slowaken zueinander wieder ganz gut. Eine fast brüderliche
Beziehung, könnte man sagen. Diese gute Beziehung zueinander wird eigentlich nur schaden, wenn beide Länder im
Eishockey gegeneinander spielen, dann werden Tschechen
und Slowaken zu den größten Feinden. Im Eishockey steigt
das nationale Bewusstsein auf beiden Seiten.
Noch eine Sache ist unterschiedlich, und zwar die Beziehung
zu den Ungarn. Die Tschechen haben nichts gegen die Ungarn, die Slowaken aber sehr wohl. Diese schlechte Beziehung
hat ihre Wurzeln tief in der Vergangenheit.
( Viktor Škopan)
14
Geschichtsunterricht in Rumänien und Bulgarien
Das nationale Bewusstsein in Rumänien ist gering. Dazu
trägt die Schule viel bei. Im rumänischen Schulsystem sind
nur wenige Unterrichtseinheiten der Geschichte Rumäniens
gewidmet.
Nur in der achten und zwölften Klasse lernen die Jugendlichen in der Schule über die Geschichte ihres Mutterlandes.
Insofern wachsen Schüler in Rumänien mit wenigen Informationen über die Vergangenheit auf, was demzufolge das
geringe nationale Bewusstsein mit beeinflusst. Es wird im
Unterricht viel Wert auf die Zeitspanne zwischen den Jahren
1400 bis 1600 gelegt, doch diese erweckt in den Schülern
selten das Gefühl der Heimatlandliebe.
Rumänien wird im Geschichtsunterricht als Nachzügler der
europäischen Ideen dargestellt. Das v ein bewirkt ein gewisses Schamgefühl der Rumänen. Die internationale, besonders
die europäische Geschichte steht im Vordergrund.
Ähnlich verläuft es auch in den bulgarischen Schulen. Die
internationale Geschichte steht hier aber in einer engeren
Verbindung mit dem Land Bulgarien. Entlang dieses Fadens
werden die Einflüsse verschiedener Länder auf Bulgarien
verdeutlicht, und die Veränderung der bulgarischen Kultur
durch die geschichtlichen Ereignisse betont.
Die Vergangenheit und Geschichte des Mutterlandes werden
auch in Bulgarien wenig behandelt.
Rumänen und Bulgaren entwickeln sich unter anderem auch
deswegen anders, weil sie mit verschiedenen Kenntnissen
aufwachsen, doch etwas ist bei beiden gleich: Nämlich
der Wunsch, die Geschichte seines Landes kennenzulernen.
Dieses Wissen eine große Bedeutung zur Entwicklung der
Persönlichkeit beitragen.
(Alexandra Nesici)
Geschichtsunterricht in Österreich
Es gibt einen Zeitabschnitt in der Geschichte, der in Österreich besonders genau unterrichtet wird, und zwar die Zeit
der Habsburgermonarchie, insbesondere Maria Theresia, Kaiser
Franz Josef der Erste. Ebenfalls wird der Zweite Weltkrieg
besonders behandelt. In Österreich lernt man auch über
internationale Geschichte, hauptsächlich aus der Perspektive
15
Österreichs, mit der Ausnahme der Geschichte, in der es das
Land Österreich noch nicht gab. Geschichte ist in Österreich
ein eigenes Nebenfach. Auch darf man nicht vergessen, dass
der Geschichtsunterricht in Österreich von Lehrer zu Lehrer
und von Schultyp zu Schultyp anders ist, da die Geschichtslehrer einige Freiheiten genießen. Der Fokus auf die zwei
oben erwähnten Zeitabschnitte (durch die signifikante Bedeutung in der Geschichte Österreichs) wird zum einen oft als
Hochblüte betrachtet (Habsburger Monarchie), zum anderen
der als nationales Trauma (Zweiter Weltkrieg).
Geschichtsunterricht in Deutschland
Ein Zeitabschnitt, auf den in Deutschland besonderen Wert
gelegt wird, ist der Zweite Weltkrieg.
Man lernt internationale Geschichte aus einer neutralen Perspektive, erfährt allerdings genügend darüber. In Deutschland
ist Geschichte ein eigenes Nebenfach. Die Geschichtsdarstellung ist sehr wichtig für das nationale Bewusstsein, allerdings
wird oft stark zwischen negativer Geschichte und persönlicher
Identität unterschieden.
Geschichtsunterricht in Österreich und Deutschland
– ein Vergleich
Der Geschichtsunterricht in Österreich und Deutschland zeigt
einige Gemeinsamkeiten auf. Allerdings unterscheidet sich
in beiden Ländern der Unterricht von Lehrer zu Lehrer, das
Format ist aber immer das Gleiche: in beiden Ländern ist
Geschichte ein eigenes Nebenfach.
Ein thematischer Schwerpunkt beider Geschichtsunterrichte
ist der Zweite Weltkrieg. Dies ist damit zu begründen, dass
die Gräuel der Zeit des Nationalismus beide Länder maßgeblich geprägt hat. Es scheint so, als ob Deutschland mehr
Fokus auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs legt, möglicherweise, weil sich Deutschland früher und intensiver mit seiner
Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Die österreichischen
Geschichtslehrenden haben in ihrem Lehrplan nämlich noch
Platz für einen weiteren Schwerpunkt: die Habsburgermonarchie. Der Grund dafür ist, dass das österreichische Nationalbewusstsein lange und teilweise immer noch bis zu einem
gewissen Grad auf diesen Monarchen beruht. Den Satz Bella
gerant alii, tu felix Austria nube hat beinahe jeder Österreicher
16
in irgendeiner Version gehört. Ein Unterschied ist auch, dass
in Österreich oft internationale Geschichte aus der Perspektive Österreich unterrichtet wird, während in Deutschland die
Perspektive meist neutral gehalten wird. Zusammenfassend
kann wohl gesagt werden, dass sich die Geschichtsunterrichte in Deutschland und Österreich ähneln, weil beide Länder
vom zweiten Weltkrieg ein nationales Trauma erlitten haben.
Diese Traumata gilt es aufzuarbeiten.
(Lena Haiden)
Geschichtsunterricht in Frankreich und Australien
Gibt es einen Zeitabschnitt in der Geschichte, auf den in deinem Land besonderer Wert gelegt wird? Welcher Zeitabschnitt
ist das? Wieso?
Frankreich: Schüler in Frankreich lernen nicht über einen speziellen Zeitabschnitt, sondern über die allgemeine Geschichte
der Fränkischen Region. Das ist so, weil Kontinentaleuropa
eine sehr lang geschriebene Geschichte zu erzählen hat.
Frankreich hat auch viele Persönlichkeiten in der Geschichte,
die wichtig für die Entwicklung Europas wie auch Frankreichs waren. Das bedeutet, dass ein Schüler in Frankreich
die ganze Geschichte lernen muss, denn alles ist miteinander
verknüpft, und jeder Fakt resultiert aus vielen anderen.
Australien: In Australien lernen wir meistens die Geschichte
der letzten 200 Jahre. Das ist so, da die Aborigines-Kultur, die
seit 50 000 Jahre existiert, fast keine Artefakte hinterlassen
hat. Das bedeutet, dass die europäische Kolonisation der
älteste dokumentierte Zeitabschnitt in Australien ist.
Wie viel lernst du in deinem Land über internationale Geschichte? Warum?
Frankreich: Da Geschichte in Frankreich oft mit der Geschichte
anderer Ländern verknüpft ist, beinhaltet der Geschichtsunterricht viele Informationen über andere Länder.
Australien: Da die meisten Australier vor 200 Jahren aus
England gekommen waren, und Australien eine Kolonie von
England war, behandelt der Geschichtsunterricht Vieles der
europäischen Historie.
Ist Geschichte ein eigenes Fach – Hauptfach oder Nebenfach? Wie beeinflusst der Geschichtsunterricht das nationale
Bewusstsein?
17
Frankreich: In Frankreich gehört Geschichte zur Fächergruppe,
die vorgeschrieben, also Hauptfächer sind. In jedem Schuljahr
muss man das Fach Geschichte belegen.
Australien: Leider ist in meinem Land Geschichte nicht obligatorisch in den letzten zwei oder drei Jahren der Schule
(abhängig von der Schule), denn man kann sich seine Fächer
selbst aussuchen.
In beiden Ländern beeinflusst Geschichte das nationale Bewusstsein aber nicht so sehr wie in früheren Zeiten. In
Australien lernte man Großteils über England, und was England so groß macht, denn England war unser Kolonialherr;
heute ist das nicht mehr so, weil wir unabhängiger sind, was
zur Verstärkung der nationalen Identität geführt hat.
Vor dem Ersten Weltkrieg lernten die Franzosen in der Schule
über die «Goldenen Zeiten» (18. – 19. Jahrhundert), eine
Epoche, in der sich das nationale Bewusstsein durch den
deutsch-französischen Krieg 1870/71 verstärkte. Das ist ein
Beispiel dafür, wie die aktuellen internationalen Beziehungen
und Geschehnisse die Heimatliebe beeinflussen.
(Alexander Ney)
JUGENDSCHUTZGESETZ
Jugendschutzgesetze sind ein Ergebnis der Wechselwirkung
zwischen den gestellten Erwartungen der Erwachsenen und
den Bedürfnissen der Jugendlichen. Wie unterschiedlich die
bestimmten/gesetzten Regeln das Erwachsenwerden der
Jugend in Europa und Australien beeinflusst, wollen wir
anhand unserer Recherchetätigkeit verdeutlichen.
Im Laufe unserer Untersuchungen wurde schnell sichtbar,
dass Österreich den Jugendlichen die Verantwortung ihrer
eigenen Entscheidungen früher überlässt. Dies unterstützt,
dass in Österreich das Rauchen und der Alkoholkonsum schon
ab sechszehn Jahren legal sind. Bier- und Weinkonsum sind
auch in einigen Bundesländern Deutschlands ab 16 erlaubt.
In den anderen Ländern wird mehr Wert auf den Schutz
der Gesundheit der Minderjährigen gelegt. In Slowenien
ist es ab 18 Jahren erlaubt Alkohol zu konsumieren und
Zigaretten zu rauchen. Kontrolliert und eingehalten wird es
am striktesten in Ungarn und Deutschland, wobei sich in
Ungarn der Schwarzhandel verstärkt hat.
18
Bezogen auf die Schulpflicht gibt es einen Unterschied zwischen Ländern, die die Schulpflicht an einer bestimmten
Klassenstufe oder an einem bestimmten Alter binden. In
Ungarn, Frankreich und Slowenien ist das altersbedingt (16
Jahre). Dies hat zur Folge, dass nicht ein bestimmtes Bildungsniveau erreicht, sondern nur eine bestimmte Zeit in
der Schule verbracht werden muss, was keine schulische
Entwicklung fordert. Im Gegenteil dazu fordern die meisten
von uns untersuchten europäischen Länder und Australien,
neun beziehungsweise zehn Klassen zu absolvieren. Eine
Ausnahme ist Bulgarien mit acht Klassen, dadurch wird ein
allgemein geringeres Bildungsniveau erzielt. Diese Tatsache
kann besonders bei Wahlen problematisch werden, obwohl
das Wahlalter in den meisten Ländern auf 18 Jahren festgelegt ist. Ausnahmen sind Österreich und einige Bundesländer
Deutschlands. In diesen zwei Staaten sind die selbstgestellten Erwartungen der Jugend dem Vertrauen der Erwachsenen
gerecht zu werden hoch, wodurch sie im Vergleich mit den
anderen Ländern früher lernen, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.
Interessant ist, dass gerade in Deutschland und Österreich
das Autofahren erst ab 17 bzw. 18 erlaubt ist. Unter speziellen Bedingungen darf man in Polen, Slowenien, Frankreich,
Rumänien und Australien aber schon mit 16 Jahren Auto
fahren. Autofahren darf man in Slowenien in Begleitung ab
16 Jahren, alleine allerdings erst ab 18.
Die meisten Länder erlauben den Jugendlichen, ab 15 oder 16
Jahren zu arbeiten. Die große Ausnahme ist hier Deutschland,
wo Jugendliche bereits ab 13 Jahren in Ferienjobs tätig sein
dürfen. Alle Länder verfügen über eine Art von Gesetz, das
die Jugendlichen vor Ausbeutung schützt.
Als Zusammenfassung der Analyse der Jugendschutzgesetze
in 11 Ländern, können wir feststellen, dass Österreich den
Jugendlichen am meisten zumutet.
KONKLUSION
Abschließend kann gesagt werden, dass schon anhand der Jugendschutzgesetze und des Geschichtsunterrichts ersichtlich
wird; dass Jugendliche in Europa unterschiedlich erwachsen
werden, allerdings existieren selten gravierende Unterschiede.
Natürlich sind Geschichtsunterricht und Jugendschutzgesetze
19
nur zwei kleine Faktoren, die das Aufwachsen eines Jugendlichen beeinflussen. Jedoch reguliert das Jugendschutzgesetz
gewissermaßen in welcher Geschwindigkeit sie aufwachsen.
Ein Führerschein mit 16 Jahren bedeutet auch Unabhängigkeit in puncto Mobilität; eine längere Schulpflicht, die an eine
Schulstufe gebunden ist, garantiert den Jugendlichen gesetzlich eine längere Ausbildung; und je früher das Wahlalter ist,
desto eher sind Jugendliche dazu motiviert, am politischen
Leben teilzunehmen.
Ob alle Jugendlichen in Europa von gleichen Gesetzen betroffen sein sollten, egal wo sie leben, sei dahingestellt, aber
es wäre vielleicht logischer.
Die Spitze dieses Eisbergs bildet hier Österreich, wo sich die
Jugendschutzgesetze von Bundesland zu Bundesland unterscheiden, sprich ein Niederösterreicher darf mit 16 bereits
harten Alkohol kaufen, während der Rest der Jugendlichen
in Österreich damit bis zum achtzehnten Geburtstag warten
muss.
Der Geschichtsunterricht, der sich logischerweise mehr von
Land zu Land unterscheidet als die Jugendschutzgesetze,
hängt selbst von vielen Faktoren ab, wie dem Lehrplan,
der Präferenz der Lehrer, die Stellung des Unterrichts als
Haupt- oder Nebenfach und die Zeit, dir im Stundenplan dafür
vorgesehen ist. Es kann nun abschließend gesagt werden,
dass es Länder gibt, die einen großen Wert auf die Geschichte ihres eigenen Landes legen, während sich andere
eher der internationalen Geschichte widmen. Wir finden, dass
es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen nationaler und
Weltgeschichte geben soll. Ein Jugendlicher sollte über die
Geschichte seines eigenen Landes bescheid wissen, da es
einen maßgeblichen Beitrag zur Identifizierung mit seinem
Heimatland und damit zur Bildung eines gesunden Nationalbewusstsein leistet. Genauso wichtig sollte es für ein Land sein,
in seinem Geschichtsunterricht die Traumata der Vergangenheit mit der neuen Generation aufzuarbeiten. Weltgeschichte
sollte eine genauso große Rolle in der Ausbildung der Schüler
besitzen, damit sie nicht nur über eine ausreichende Allgemeinbildung verfügen, sondern auch aktuelle Ereignisse in
den Verlauf der Geschichte einfügen können.
20
SCHEIßJUGEND ODER SCHEIßPOLITIK?
Die Meinung einer Jugendlichen
von Lena Haiden
Die Jugend schimpft über die Politik. Weil sie nicht gefragt
wurde, weil alles stillzustehen scheint, weil alles anders ist,
als sie sich das vorstellt. Und die Politik schimpft über
die Jugend, die unberechenbar ist, nur Probleme macht, und
überhaupt sei die Jugend nur politikverdrossen.
Stimmen werden laut mit Fragen wie: Hat ein Wahlalter ab
16 überhaupt einen Sinn? Ja, lautet meine Antwort. Jugendliche sollten stimmberechtigt sein und die Möglichkeit haben,
ihre Gesellschaft mitzugestalten.
In den Medien wundert man sich dann oft, warum die Wahlbeteiligung der sogenannten «unberechenbaren Erstwähler»
so gering ist. Meiner Meinung nach ist dies kein Wunder, da
es sich ja hier teilweise um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung handelt. Die Gesellschaft beäugt die wählende Jugend
mit misstrauischen Blicken, und der gesamte Wahlkampf ist
meist auf eine ältere Zielgruppe ausgerichtet. Während einer
Diskussion ignoriert man doch auch nicht die ganze Zeit
jemanden, und fragt am Ende unschuldig, warum er nicht
seine Meinung abgegeben habe. Viele Jugendliche haben
auch das Gefühl, ihre Stimme würde nichts ausrichten, oder
sie sind frustriert von der Politik und wählen deshalb nicht.
Dies sind allerdings meiner Meinung nach persönliche Einstellungen, die nichts mit dem Alter zu tun haben, aber vielleicht
in der Generation der Jugendlichen vermehrt auftreten, weil
es in der Natur der Jugendlichen meist liegt, Ideale anzustreben, was solche Gefühle meist noch verstärkt. Allerdings ist
die Wahlbeteiligung allgemein niedrig, unter anderem wegen
dieser Gründe.
Ein weiterer Vorwurf in diesem Zusammenhang lautet, dass
die Jugend so leicht manipulierbar sei. Ob durch Wahlwerbung oder andere Faktoren sei dahingestellt. Um diese
Frage zu beantworten, müssen wir uns fragen:
Was macht einen Menschen manipulierbar?
21
Unwissenheit ist es, was einen Menschen manipulierbar macht.
Falschinformationen machen einen Menschen manipulierbar.
Desinteresse und dadurch nur oberflächliche Beschäftigung
mit einem Thema macht einen Menschen manipulierbar.
All diese Faktoren sind altersunabhängig. In jeder Generation
gibt es ausnahmslos Menschen, die manipulierbar sind. Die
Jugendlichen haben nur einen Faktor, der sie leichter manipulierbar macht: ihre Unerfahrenheit. Jugendliche können
aufgrund ihrer bis dahin kurzen Lebenserfahrung nicht auf
einen langjährig zusammengesammelten Erfahrungsschatz
zurückblicken und lassen sich dadurch vielleicht leicht von
manchen Dingen beeinflussen oder können sie nicht aus
einer anderen Perspektive als der Gegenwart beleuchten.
Unerfahrenheit kann man allerdings auch als positive Eigenschaft betrachten, denn Unerfahrenheit führt dazu, dass
Dinge aus neuen Blickwinkeln gesehen werden, welche nie
zwingend falsch sind. Außerdem sagt das Alter nichts über
die politische Erfahrung oder Beteiligung eines Menschen
aus. Kurzum es gibt in jeder Generation politische und unpolitische Menschen, und die unpolitischen Menschen werden
immer leichter manipulierbar sein als die politischen.
Die Politik redet, meinem Gefühl nach, ungern mit der Jugend,
sie redet viel mehr ÜBER die Jugend. Die Jugend sitzt kaum
mit am Tisch, sie ist das zu sezierende Objekt darauf. Oder
das zu lösende Problem. Egal ob es sich dann dies betreffend
um schlechte PISA-Ergebnisse, Bildungspolitik oder Jugendarbeitslosigkeit handelt. Das geht so weit, dass der Ausdruck
«die Jugend heutzutage» schon fast ein Schimpfwort ist. Das
geht so weit, dass eine Freundin die selbst 17 Jahre alt ist
zu mir sagte: «Eigentlich finde ich, alles was die Jugend
heutzutage macht, total scheiße ist.» Ich habe mir daraufhin
nur gedacht: «Du BIST die Jugend von heutzutage.» Aber das
stimmt nicht, denn sie ist eine Jugendliche. Die Jugend von
heutzutage kann sie nicht sein. Denn die Jugend von heutzutage säuft und feiert nur, wenn sie nicht gerade ständig
vor dem Smartphone und oder vor dem Computer gleichzeitig
hängt. Die Jugend von heutzutage ist schon scheiße, oder?
Nein das Klischee der Jugendlichen ist scheiße heutzutage
und war es wahrscheinlich immer schon. Außerdem sagen
Erwachsene immer gerne, früher war alles besser, und Jugendliche mittlerweile auch, weil sie mit der Zeit zu kämpfen
haben. Die Generation Internet oder die Digital Natives, wie
22
auch immer sie man nennen mag, kämpfen mit dem Internet beziehungsweise mit der Informationsflut, die die neuen
Medien mit sich bringen. Aber das ist eine Last, die alle
Generationen miteinander stemmen müssen. Es hilft nichts,
den Jugendlichen Vorwürfe zu machen, nur weil an ihnen
unser neues schnelllebiges Zeitalter am meisten sichtbar ist,
genauso wenig hilft es in bester Merkel-Manier das Internet
für Neuland zu erklären, denn wir bewohnen es schon lange.
So wie manchmal über «die Jugend» geredet wird, hat man
das Gefühl, mit der Volljährigkeit werden alle dummen, unmündigen Jugendlichen, die nur vor dem Handy Internet
konsumieren, zu klugen mündigen Erwachsen, die Zeitung
lesen. Aber so funktioniert die Welt nicht. Die Jugendlichen
von heute sind die Erwachsen von morgen, auch wenn niemand so handelt.
Ich wünsche mir, dass die Kinder der heutigen Jugend an
einem Tisch mit den Erwachsenen sitzen dürfen und vollständig gehört werden. Dass sie nicht ignoriert werden. Damit
dies erreicht werden kann, muss ein Umdenken stattfinden.
Die Jugend darf sich nicht kleinkriegen lassen, muss versuchen, nicht frustriert zu sein und gleich die Flinte ins Korn
zu werfen. Auch darf sie sich nicht verschließen und muss
lernen, von den Anderen zu lernen und nicht gegen den
Strom wichtiger Erfahrungswerte zu schwimmen. Während
die anderen Generationen aufgefordert sind die Jugend nicht
zu verteufeln, sie ernst zu nehmen und ihre Erfahrungen und
Werte an die Jugend weiterzugeben.
Im Zuge dessen fordere ich im Namen der Jugendlichen eine
Zukunftsperspektive. Eine Zukunftsperspektive mit einem
Schulsystem in dem es sich ohne Leistungsdruck zu lernen
lohnt. Eine Zukunftsperspektive in der die Arbeitswelt nicht
ausschaut wie ein Trümmerhaufen voller arbeitsloser Akademiker. Eine Zukunftsperspektive in der jede Art von Medien
als Informationsquelle und Orientierungspunkt in der Welt
dient, statt Verwirrung und Chaos zu stiften. Eine Zukunftsperspektive in der jeder frei von der Last unserer riesigen
Bürokratie ist und sich frei entfalten kann.
Und wenn die Kinder der heutigen Jugendlichen dann «die
Jugend von heutzutage» sagen, meinen sie die jungen, klugen,
(politisch) engagierten Menschen, die sie auch sind.
23
WIE WIRD MAN TRENDY? WAS MACHT COOL?
von Marie de Lavergne de Cerval, Joanna Maczkowska, Réka Orbán
und Ewa Wyganowska
Witamy mamy na imie˛ Asia i Ewa i pochodzimy z polski,
jesteśmy cze˛ ścia˛ tego projektu, gdyż jesteśmy zainteresowane
poszerzanie swoich zdolności jezykowych
˛
i chcemy nawiaza
˛ ć
nowe znajomości.
Az én nevem Réka, az ELJUB projektbe azért csatlakoztam,
hogy új barátokat szerezzek és javítsak a nyelvtudásomon.
Magyarországbol származom és tizennyolc éves vagyok.
Je m’appelle Marie et j’habite en France. Je suis venue pour
rencontrer de nouvelles personnes, et decouvrir la richesse
des langues d’autres pays tout en travaillant sur un projet
interressant qui me permet aussi d’ameliorer mon allemand.
Hallo, wir sind Asia (Kosename von Joanna), Ewa, Réka und
Marie. Wir kommen aus Polen, Ungarn und Frankreich und
nehmen an diesem Projekt teil, um unsere Sprachkenntnisse
zu verbessern und neue Freunde kennenzulernen.
In den letzten Tagen fiel uns auf, dass in den verschiedenen
Ländern, die hier teilnehmen, verschiedene Partys stattfinden,
auch die Kleidung, Geschenke und anderes unterschiedlich
sind. Wir haben daher auch zwei Jungs aus der E-Book
Woche befragt, was für sie trendy und cool ist, Jungs aus
Australien und Bulgarien, Alex und Ivan. Wir waren neugierig
darauf, was für Jugendliche in den verschiedenen Ländern
trendy und modisch ist. Welche Trends weltweit bestehen
und welche in den einzelnen Ländern spezifisch sind. Asia
übernahm die Rolle der Erzählerin.
In der EU lebt man heute unter vielen Nachbarn. In jedem
Land bleiben aber verschiedene Lebenshintergründe bestehen.
Es gibt überall reichere und ärmere Schichten. Wir haben
also versucht herauszufinden, was überall gleich ist, und was
verschieden.
Unsere Fragen an uns selbst lauteten: Was macht einen
trendy? Wie bin ich cool?
***
– Als ich dich zum ersten Mal sah, Réka, war mir sofort
klar, dass du sehr gut aussiehst. Das war natürlich nicht der
24
einzige Grund dafür, dass ich dich mag, sagte ich (Asia), als
die fünf Leute im Zimmer zusammenkamen, um über das
Trendy-Sein zu reden. Die anderen nahmen Platz auf dem
Boden, auch auf den Betten. Sie lächelten schüchtern und
waren noch ein bisschen unsicher.
– Der erste Augenblick spielt die größte Rolle für die Beurteilung eines Menschen. Natürlich, kann sich das Bild später
verändern, aber in den meisten Fällen passiert das nicht. Im
Allgemeinen urteilen die meisten Leute über andere Menschen und verurteilen sie auch auf den ersten Blick. Das
Aussehen und Auftreten hat mit Geld, mit den finanziellen
Möglichkeiten zu tun, die jemand hat. Nicht jeder kann sich
die besten Klamotten leisten. Dazu muss man sehr viel
verdienen. Die soziale Stellung bestimmt das Aussehen der
Leute, sagte Réka, das ungarische Mädel.
– Natürlich, führte Ewa den Gedanken weiter, da gibt’s Pros
und Kontras. Man kann auch gut aussehende Klamotten mit
wenig Geld kaufen, in Second-Hand Stores bekommt man
Markenklamotten um niedrige Preise.
– Na, um diesen Gedanke aufzunehmen, sagte Ivan aus Bulgarien, sollte man darüber reden, wie sich Menschen in den
einzelnen Ländern kleiden. Früher, also vor der europäischen
Integration, waren die Unterschiede größer, wie man sich
in einer bestimmten Region anzog. Heute gibt es überall
Internet, jeder hat ein Handy, so ist die Welt kleiner geworden.
– Genau, stimmte ihm Alex aus Australien zu. Man kann
heute in wenigen Stunden von einer Ecke der Welt in eine
andere fliegen, oder sich Rat und Tat aus dem Internet holen.
Da gibt’s keine Hindernisse mehr, und deshalb sind die Mode
und das Aussehen der Leute fast gleich geworden in allen
Ländern. Das ist auch der Grund dafür, dass jedes Gespräch
zuerst um Klamotten und Outfits geht.
– Glaubt mir, begann Marie aus Frankreich, als ich hier ankam,
glaubte ich nicht, dass ich mit euch zusammen arbeiten kann.
Da gibt’s so viele unterschiedliche Dinge, aber wir leben nicht
so weit voneinander. Australien, Frankreich, Ungarn, Polen
und Bulgarien, nickte sie den anderen in der Runde zu, die im
Zimmer beieinander waren. Unsere Länder sind alle Mitglied
der EU, und wir alle leben in der Welt des Internets. Die
Welt, in der wir leben, ist anders als die unserer Eltern. Drei
unserer Länder lagen im Herrschaftsbereich der Sowjetunion.
25
– Ich finde, sagte Alex, wir sollten über unsere verschiedenen
Schulordnungen reden. Es interessiert mich, wie man bei
euch cool wird. Dafür spielt die Schulordnung eine große
Rolle. Ich weiß, ausgenommen Australien und Frankreich
beginnt man die Schule mit sechs Jahren.
– Die polnische, bulgarische und ungarische Schulordnung
ähneln sich sehr, antwortete Réka. Daher haben wir gemeinsame Gewohnheiten. Außerhalb der Schule gibt es aber
Unterschiede.
– In allen Ländern, lächelte Ivan, ist es trendy, sich im
Einkaufszentrum zu treffen, glaube ich. Für Mädels ist es
charakteristisch, den Nachmittag mit Shoppen zu verbringen.
Da gibt’s auch andere Möglichkeiten sich zu begegnen, etwa
in Parks. Sie hören gern weltberühmte Musikgruppen, zum
Beispiel Skrillex, Eminem, Alan Walker, Avicci, Sia, Maroon5
und Coldplay. Unter den Jungs – freilich auch unter den
Mädels – ist es sehr modisch, sich eine Zigarette anzuzünden.
Rauchen gehört zum Free Lebensfeeling.
– Und das Schulsystem in Bulgarien, wie sieht das aus? fragte
ich (Asia).
– Es ist zu kompliziert, glaube ich. Es ist unterschiedlich in
den verschiedenen Regionen. Man beginnt im Kindergarten,
dann kommt die echte Schule, aber die ist überall anders.
– Ok, nickte Ewa.
– Also abgesehen vom Schulsystem, das uns prägt, was macht
eine SchülerIn cooler als andere, so Alex.
– Zum Beispiel, was für eine Klamotte ist modisch? – fragte
ich (Asia).
– In Ungarn Klamotten von H&M, Bershka, Pull&Bear, New
Yorker und Stradivarius, sagte Réka. Aber ich möchte betonen,
dass es diese Geschäfte nur in größeren Städten gibt. In
kleineren Städten und auf dem Land ist das nicht typisch.
Die Leute dort leben langsamer, sind auch ärmer als in der
Hauptstadt.
– In Frankreich, sagte Marie, außer in Paris, sind die normalen
Leute nicht modesüchtig. Allgemein, man geht zu Mango,
Promod oder H&M, auch Zara.
– In Polen sieht es ähnlich aus. Da gibt es diese Geschäfte
auch.
– David Jones und Mayer sind typisch in Australien.
26
– Und wo verbringen die Jugendlichen ihre Freizeit? – wollte ich wissen (Asia).
– Am Wochenende gehen wir in die Kneipe, trinken Alkohol
und rauchen. Die Ungarn leben auf den Straßen. Wir sind
gerne zusammen, nicht nur mit unseren Bekannten, wir fühlen
uns wohl in der Gemeinschaft. Kollektivität spielt eine wichtige Rolle. Es macht einen cool, wenn man nicht individuell ist,
sondern auch mit anderen umgehen, sogar mit Unbekannten
zusammenarbeiten kann.
– In Frankreich gehen wir ins Kino, gehen gerne aus oder
ins Konzert. Wir treiben auch gerne Sport, z.B. Tennis oder
Schwimmen.
– In Polen gehen wir gerne in ein Pub, trinken Alkohol, treffen
uns im Einkaufszentrum.
– In Australien gehen wir zum Strand, Surfen oder Camping
sind cool.
– Oh, das ist sehr interessant und welches sind die populären
Fernsehen-Serien? – wollte ich wissen (Asia).
– Game of Thrones.
– Auch Game of Thrones.
– Auch Game of Thrones.
– Auch Game of Thrones. Und in Frankreich, Marie?
– The Walking dead und Game of Thrones.
– Und welcher Alkohol ist populär?
– In Polen natürlich Vodka Zobrowka oder Wyborowa.
– In Frankreich auch Wodka!
– In Ungaren ist Wein cool.
– In Australien ist das anders. Wir trinken Bier, und wenn du
cool sein willst, nennst du das Bier goon oder rog.
– Ist es modisch, Tiere zu halten?
– Nein, nicht so typisch, sagte Ewa aus Polen.
– Bei uns in Ungarn, sagte Réka, gibt es bestimmte Hunderassen, die beliebt sind, Pulis, auch Sennenhunde. Wir lieben
alle Tiere. In der Vergangenheit war Ungarn berühmt für die
Pferdehaltung. Heute ist es trendy, Chihuahua zu halten, auch
Bichon Havanais, sie in kleinen Taschen mit sich herum zu
tragen. Populär macht es einen in meiner Heimat, wenn man
viele von denen hat.
– Also, in Frankreich, sagte Marie, gibt’s keine typisch coolen Tiere, aber viele Franzosen haben Hunde oder Katzen.
27
Bei uns ist z. B nicht cool, Fische in Aquarien zu halten.
Schlangen sind cool, aber es hängt nicht davon ab, dass du
ein cooles Tier hast, ob du trendy bist. Es hängt von deinen
Eigenschaften ab, ob du als cool giltst.
– Was für Beziehungen, welche Lebensumstände machen
einen cool? wollte ich wissen (Asia).
– Ich glaube, dass ist überall gleich. Wer als cool gelten will,
braucht eine Stange Geld, um modernste Kleidungsstücke
kaufen zu können. Wenn du Geld hast, kannst du alles
haben. Freunde, Alkohol, Image, Drogen. Damit wird man
auch berühmt, meinte Réka aus Ungarn.
– Ich komme von Bulgarien, mischte sich Ivan ein, da auf dem
Balkan gibt’s sehr viele Nationen, türkische, bulgarische und
russische Volksgruppen. Deshalb gibt’s auch viele Konflikte,
wir sind an Zusammenstöße gewöhnt. Zur türkischen Kultur
gehört Marihuana kiffen. Also man ist nicht süchtig, aber alle
machen das.
So gingen wir wieder auseinander. Wir haben etwas erfahren
über Modetrends und über Manches, das uns prägt.
28
DER WEG DER VERÄNDERUNG
von Gabriela Kostadinova
Jeder von uns hat sich einmal eine Liste mit Zielen erstellt,
von deren Verwirklichung geträumt wurde. Manche schaffen
es ganz einfach, manche aber verlieren sich auf dem Weg bis
zum Glücklichsein. Es ist so, dass es viele Schwierigkeiten
gibt, Momente, in denen man kurz vor dem Ziel aufgeben
möchte und Selbstzweifel auftauchen. Mit einigen Schritten
zur Selbstvervollkommnung könnten aber die Geduldigen ihre
Pläne zu Erfüllung bringen.
Wenn man «genug» sagen soll
4:30 Uhr. Ingeborg wacht auf, dieses Mal war sie aber nicht
positiv eingestellt. Sie war rastlos, darum abgespannt. Sie
wurde von der Arbeit eingenommen, vergaß, dass sie ein
Bedürfnis hat, nach draußen zu gehen und mit jemandem,
außer sich selbst, zu kommunizieren. Dinge gingen schief und
Ingeborg bemerkte es. Sie überforderte sich, sodass sie ihre
Grenzen übertrat, versunken in dem Gefühl der Not, immer
mehr Geld zu verdienen, um selbstständig zu sein, um sich
stolz zu fühlen. Ingeborgs Geldbeutel war voll, aber ihre Seele
war leer. Lust auf Nichts.
Es ist so, dass man auf Erfolg und Geld erwartend, alle Hebel
in Bewegung setzt, produktiv zu sein. Falls das passiert,
fühlt man sich aber unbefriedigt. Dieses Mädchen verkörpert
manchen unserer Zeitgenossen.
Was täte dieser, der um seine Mentalgesundheit besorgt ist?
Die Antwort auf die Frage könnte erschreckend klingen, doch
das Bedeutende ist, wie man sich in diesem Moment fühlt.
Falls die Erwiderung negativ belastet ist, ist es höchst nötig,
etwas zur Veränderung beizubringen.
Freiheit! Setze dich frei. Finde etwas, was dich mit Energie
erfüllt – egal ob es Tanzen, Singen oder Schreiben ist.
Schuld, Schuld, Schuld
Die «Energiequelle» von Ingeborg war das Singen, endlich
fühlte sie sich glücklich. ABER... in diesem Moment erfasste
sie ein ganz anderes Gefühl. Es hieß Schuld – weil sie als
29
Egoistin betrachtet wurde.
Beklommenheit. Dinge sind zu schnell passiert. Für uns ist
es wichtig, dass wir uns daran erinnern: Niemand zwingt
uns, nur von derselben Speise, die auf den Tisch gestellt
wurde, zu essen und deshalb wäre es besser, etwas Neues
auszuprobieren.
Was für Hindernisse stehen vor uns? Die Verantwortungen? Die Meinung unserer Familie/Freunde und Kollegen/der
Gesellschaft, also die Normen sozialer Kontrolle?
Unsere selbstgetroffene Entscheidung ist kein Irrtum. Wenn
ein Mensch, der sich liebt, sich um sich selbst kümmert, ist
das auf keinen Fall egoistisch.
Geld – nicht mehr das schmutzige Wort
Es wurde darüber viel gesprochen und Leute leben mit
diesem Gedanken, dass Geld schmutzig ist. «Nicht alles ist
zu kaufen» sagen sie sich. Bis sie die Realität erleben und
die Welt durch neue Augen sehen, bis das Geld nicht als
Ziel, sondern als ein Mittel betrachtet wird. Dieses macht
unser Leben dynamisch, ist ein Teil von uns, das kommt und
verschwindet. Es ist ein Mittel, das uns die Gelegenheit
bietet, schöne Momente mit den von uns geliebten Leuten
gemeinsam zu schaffen – Reisen durch das Gelände mit
dem Zug, an unterschiedlichen Veranstaltungen teilzunehmen,
Produkte zu kaufen, mit denen wir etwas Gesundes oder sogar
Ungesundes zusammen kochen, und die Liste kann weiter
geschrieben werden. Manche verfügen über mehr, manche
über weniger, das Wichtigste ist, wozu es ausgegeben wird.
Geldfrönen wirkt negativ auf unsere Seele und es kommt zu
einem Kreislauf, wie er anfangs bei Ingeborg war.
Die Wirklichkeit einmal anders betrachten: Probleme als
Gelegenheiten sehen
Jeder von uns träumt von der Zeit, in der alle Probleme gelöst
worden sind. Manche beklagen sich mehr als andere. Es ist
aber kein Zufall, dass bestimmte Schwierigkeiten auftauchen
– das ist die gewöhnliche Form von Signal, die wir bekommen,
falls etwas nicht gut geht und wir etwas verändern müssen.
Das heißt, mithilfe dieser Überzeugung betrachten die Menschen jedes Problem als eine Gelegenheit. Und wenn einmal
30
das Geheimnis hinter dem Signal enträtselt wird, kommt unser
Leben wieder in Schwung. Der Aufbau einer neuen Welt liegt
an uns und wir sollten ihn unternehmen.
Wir sind auf die Erde gekommen, um das Leben zu genießen
und unser Potential in die Tat zu setzen.
AUFWACHSEN
von Anna Herzog
Wir leben in einer Welt, in der Wachstum bis zum Himmel
hoch verehrt wird. Kapitalanhäufung, Akkumulation von Gütern, mehr Arbeit und Wettbewerbe, in denen man immer
mehr leisten muss: schneller, größer, weiter – doch das Heranwachsen einer neuen Generation, ihren Kampf in Raum und
Zeit, sieht man nur selten als Teil dieses heilig betrachteten
Prozesses des Wachstums an. Der Faktor des immateriellen
Wachstums gerät heutzutage leider leicht ins Vergessen. So
auch die Tatsache, dass mit dem Aufwachsen der Jugend
auch die Gesellschaft mitwächst – denn das ist nicht messbar
und es ist auch nicht zu garantieren, dass die Entwicklungen,
die die junge Generation nimmt, auf jeden Fall eine positive
ist.
Man sollte aber nicht aus den Augen verlieren, dass nicht
nur die Jugendlichen aufwachsen, sondern diejenigen, die sie
erwachsen werden lassen, ebenso an ihrer Aufgabe wachsen.
Ich denke an den Menschen nicht nur als ein biologisches
Wesen, sondern auch an die aus ihm entsprungene Intellektualität, an die Kultur, die dann die Basis der geistigen
Entwicklung jeder neuen Generation bildet. Diese Wechselwirkung sieht man ganz deutlich am Beispiel der heute
herrschenden politisch-philosophischen Idee der Demokratie:
Nach dem zweiten Weltkrieg versuchten viele Staaten in
Westeuropa eine demokratische Regierungsform zu praktizieren, und von dieser Idee geprägt erzogen schließlich die Eltern
ihre Kinder. Diese, schon historisch gewordene Idee bekam
die neue Generation gewissermaßen schon im Mutterleib
mit. So kann sie heute weiterentwickelt, können auch neue
Modelle erdacht werden, wie z.B. das einer Wirtschaftsdemokratie oder überhaupt eine neue Form der Demokratie, die
durch Los gewählte Volksvertreter vorsieht.(1)
31
Ein weiterer Faktor, der die Entwicklung der Jugend maßgeblich beeinflusst, ist die aktuelle Schul- bzw. Unterrichtspolitik:
Inwiefern haben SchülerInnen nicht nur ein Recht, sondern
auch die Möglichkeit und Unterstützung zur Mitgestaltung
des Schulalltags? Inwiefern wird durch die Geschichtsdarstellung das nationale Bewusstsein beeinflusst und damit auch
die Bildung einer persönlichen Identität?
Die Suche nach der eigenen Identität ist ein natürlicher,
menschlicher Prozess, der das Erwachsenwerden begleitet. In
diesem Prozess stellt man sich selbst Erwartungen, denen
man gerecht werden will, das braucht es ein Selbstbild, das
nach und nach genauer wird. Fragen wie: Wer bin ich? Was
kann ich? Was will ich? könnten letztendlich zur Mündigkeit
einer Person und dadurch zum Erwachsenwerden führen – so
diese Gewissheiten je erreicht werden könnten. Ich sehe das
Aufwachsen als einen Prozess, der nie beendet wird, denn
ein Ende hat nur das Leben eines biologischen Wesens.
Eine Entwicklung, sei sie positiv oder negativ, kann aber nur
stattfinden, wenn es Diversität unter den Menschen gibt: Verschiedenheit macht die Kraft der menschlichen Gemeinschaft
aus, ganz gleich wie bei der Biodiversität als Kraftquelle der
Energie der Natur.
Durch Mobilität entstandene Beziehungen über die enge eigene Gruppen hinaus, und durch den Austausch über Grenzen
des Ortes und der Generationen hinweg wächst die menschliche Erkenntnis und das Wissen, in diesem Austausch nähern
sich verschiedene Menschengruppen und später Nationen
einander an. Durch die Beschäftigung der älteren sowie auch
der jungen Generationen mit Jugendlichen aus anderen Weltgegenden werden sie selbst Teil einer größeren Gemeinschaft.
Die neuen Gedanken und Ideen, die die Jugend beschäftigt
und verwirklicht, beeinflussen die ganze Gesellschaft, egal
welchen Alters die Menschen sind. Einzig allein die Tatsache, dass heute durch einen Menschen der jungen Generation
etwas Nicht-Normiertes und Ungewöhnliches – oder anders
gesagtes – Neues entsteht, verändert die ganze Gesellschaft.
Eine geistige Bereicherung entstand in den letzten Jahrzehnten – und nicht nur im Präteritum: so geschieht es heute,
jetzt, in jedem Moment, indem wir Menschen oder sogar
andere Lebewesen, wie Tiere oder Pflanzen, wachsen lassen,
oder genauer gesagt: Mit ihnen MITWACHSEN.
Die Betonung liegt also nicht auf dem Einzelnen, sondern
32
auf der Gemeinschaft, nicht auf der materiellen Anhäufung,
sondern auf der geistigen Bereicherung; und letztendlich nicht
auf Erwartungen anderer, sondern auf der freien Entfaltung
der jeweiligen Person, denn nur dadurch kann nachhaltiges
Wachstum und gegenseitige Bereicherung stattfinden.
(1) Im Film Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen von Mélanie Laurent und Cyril Dion, der für die Jugendlichen der
eljub E-Book-Woche im Kino im Kesselhaus Krems gezeigt
wurde, plädiert der belgische Autor und Journalist David van
Reybrouck für neue Formen der Demokratie.
DIE GESCHICHTE MEINER KRANKHEIT
von Pamela Witkowska, Adrienn Klausz und Tímea Kovács
07. Juni 2016
Liebes Tagebuch,
mein Name ist Maria, ich bin 18 Jahre alt, eine Gymnasiastin. Ich bin gerade vom Arzt nach Hause gekommen. Die
Untersuchungen haben gute Ergebnisse gezeigt, ich bin endlich gesund und darüber natürlich sehr froh. Ich möchte dir
erzählen, was mit mir vor zwei Jahren passiert ist, also die
Geschichte meiner Krankheit...
Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sechs Jahre
alt war. Ich bin mit meiner Mutter aufgewachsen, meinen
Vater habe ich nur selten gesehen. Meine Mutti war immer
sehr modisch und hübsch, hatte eine gute Figur, sie war, als
sie geboren wurde, auch Model, aber sie hat sich um mich
nicht viel gekümmert, weil sie keine Zeit für mich hatte.
Ich war immer mit den Mädchen aus meinem Freundeskreis
zusammen. Unser gemeinsame Lieblingsbeschäftigung war
das Shoppen, im Mittelpunkt standen immer die Schönheit
und die Mode. Dieselben Interessen haben uns zuerst sehr
geholfen, weil wir mit der Zeit gar nicht wussten, warum
wir Freundinnen sind. Oft ist es uns vorgekommen, als
alle schon Smartphones und Facebook hatten, dass wir
stundenlang nebeneinander gesessen haben, auf den Geräten
spielten, ohne ein Wort zu sprechen. Wir haben sehr viel
Zeit zusammen verbracht, aber jetzt sehe ich schon, dass
33
sie falsche Freundinnen waren und wir miteinander vertraut
waren. Ich habe bemerkt, dass unsere Generation nur Handys
zur Kommunikation benutzt. So verlieren wir langsam die
Fähigkeit, miteinander zu sprechen.
Manchmal war auch mein Freund mit dabei. Eines Tages
habe ich mit ihm Schluss gemacht. Er war sehr wütend auf
mich und hat zu meinem neuen Facebookfoto einen bösen
Kommentar abgegeben. Er schrieb, dass ich eine fette Sau
sei und er nicht mehr wisse, warum er mit mir eine Beziehung gehabt habe. Es war schockierend. Deshalb habe ich
begonnen, mich mit meinem Körper zu beschäftigen. Ich habe
meine Mutter gefragt, wie viele Kilos sie gehabt habe, als sie
Model war, wie viel Sport sie getrieben habe, was, und wie
viel sie damals ass. Mein Wunsch wurde, wie meine Mutter,
dünn und hübsch zu sein. Meine Freundinnen haben auch
wie sie früher ausgesehen. Hier hat alles begonnen.
Mein früherer Freund hat mir gesagt, dass er in sozialen Netzwerken andere Bilder über schöne, dünne Mädchen gesehen
hat, und ich ihnen nicht einmal ähnlich sei. Ich habe Tag
und Nacht darüber nachgedacht, warum ich schlechter bin als
sie? Aber eine Antwort habe ich von niemandem bekommen.
Ich habe begonnen, nur noch auf die dünnen Menschen zu
achten, ich habe nur sie bemerkt, vor mir gesehen. Immer
mehr wollte ich ihnen ähnlich werden, und für dieses Ziel war
ich bereit, alles zu tun. Dafür musste ich die Hälfte meines
Gewichtes loswerden.
Wie man das erreichen konnte, war keine Frage. Die Werbung in den Medien war voll von solchen Methoden. Früher
habe ich das gar nicht bemerkt, erst dann wurde ich darauf
aufmerksam. Alle Seiten im Internet haben gezeigt, dass die
berühmten Menschen, die diese Pillen benutzen, schöner als
die anderen sind. Sie wurden mein Ideal, und ich habe mich
dumm gefühlt, weil ich bisher nicht so gehandelt habe, und
weil ich auf diese Idee nicht gekommen bin. Ich hatte ein
bisschen Angst, weil diese Medikamente auch Nebenwirkungen haben konnten, aber für Schönheit muss man sich quälen,
sagt man, und jetzt war das für mich das Wichtigste.
Aber mit allen diesen Methoden habe ich nicht viel erreicht,
ich habe mich einfach nur schlecht gefühlt, deshalb habe ich
begonnen, daneben auch Sport zu treiben. Die sportlichen
Mädchen waren eben in der Mode, in den Zeitungen konnte
34
man viele von ihnen sehen. Mit Sport kann man für sich
selbst sowieso keinen Schaden verursachen – habe ich gedacht. Die Mädchen neben mir haben gesagt, dass ich immer
dünner und hübscher werde. So was Schönes hat bisher
niemand zu mir gesagt, auch mein früherer Freund nicht. Ich
war überglücklich. Nach einer Zeit habe ich bemerkt, dass die
Trainings sehr anstrengend sind, aber nicht so erfolgreich, wie
ich es gehofft habe.
Dann habe ich die schlecht möglichste Sache gemacht, ich
habe angefangen, immer weniger und weniger zu essen. Zuerst habe ich sehr gelitten, ich konnte meinen Hunger nur
sehr schwer besiegen. Mit der Zeit wurde das besser, von
Tag zu Tag habe ich immer weniger Essen gewünscht, es gab
schon Tage, an denen ich fast nichts zu mir genommen habe.
Inzwischen war ich sehr froh, weil ich bedeutend an Gewicht
verloren habe. Was mir interessant schien, dass die anderen
Leute mir nicht mehr gesagt haben, wie hübsch und dünn ich
sei, sondern dass ich sehr abgenommen habe, ich wäre zu
dünn, manche haben sich schon Sorgen wegen mir gemacht:
Ist alles ok? Hast du Probleme? Warum bist du so dünn? Ich
habe diese Meinungen eigentlich nicht verstanden, vor dem
Spiegel stehend und die Fotos im Internet betrachtend habe
ich mich noch immer dick gesehen. Das dauerte ein paar
Monate lang.
Eines Tages hat die Schulärztin meine Mutti angerufen, dass
ich sofort Hilfe brauche. Meine Mutti hat sich große Sorgen
gemacht, sie hat sich einfach nicht vorstellen können, was mit
mir los ist. Zu Hause hat sie mich als eine verständnisvolle
Mutter darum gebeten, ihr alles zu erzählen. Da konnte ich
mich nicht mehr beherrschen, alles ist aus mir herausgebrochen. Ich habe ihr alles genau erzählt. Am Ende hat meine
Mutter zu meiner größten Überraschung gesagt, dass sie in
meinem Alter auch mit diesen Problemen gekämpft hat, und
dass es eine Krankheit ist, nämlich Anorexie. Sie hat mir
gesagt, dass ich wirklich Hilfe brauche, weil diese Krankheit
sehr gefährlich ist. Dann habe ich mich mit Psychologen und
Ärzten getroffen.
Ich habe von dieser Krankheit sehr viel gelernt. Der Weg war
nicht leicht, wieder gesund zu werden, aber ich konnte das mit
Hilfe schaffen. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich weiß es auch,
dass sehr viele ähnliche Mädchen mit solchen Krankheiten
kämpfen. Ich habe daraus viel gelernt. Bleib individuell
35
und realistisch! Finde deinen eigenen Weg! Versuch deine
eigenen Einstellungen zu erkennen und bewahren! Versuch
die Manipulation der sozialen Medien nicht zu hören, nicht zu
beachten! Du darfst dich nicht manipulieren lassen! Es ist
nicht unbedingt ein Vorbild, was deine Freundinnen tun!
Jetzt habe ich wieder mein Gewicht und fühle mich wohl
dabei.
36
37
2. CHANGES
«I’d love to change the world,
but I don’t know what to do,
so I’ll leave it up to you.»
(Alvin Lee)
SCHRITTE IN DIE ZUKUNFT
Was sich zur Zeit ändert und wie wir in Zukunft leben wollen, liegt
uns sehr am Herzen. Doch das ist ein enorm großes, weites Feld,
das viele Antworten und noch mehr Fragen beinhaltet. Wir haben
diskutiert, uns gegenseitig inspiriert, gestritten und und in
tiefgründigen Diskussionen verloren. Eine Beschränkung auf eine
einheitliche Thematik geriet dabei mehr und mehr aus dem
Blickfeld. So haben wir uns entschlossen, unseren Texte freien
Auslauf zu lassen. Doch im Geist gehören sie alle zusammen.
(Jakob Pugel, Sarah Ouředníčková, Katharina Franz, Rosa
Degenhardt, Ylva Hagmair)
WO IST EUROPA?
von Jakob Pugel
Es war einmal ein Kaiser, der hieß Europa. Er wohnte in einem
prächtigen Schlosse voller Reichtümer und voller Wissen,
obgleich Kaiser Europa schon einigen Jahren regierte.
Heute stand Kaiser Europa auf seinem Balkon, ließ seinen
Blick über das Land schweifen und dachte nach.
Er fragte sich nämlich schon seit einiger Zeit, wer er eigentlich
war. Sein Name lautete Europa, natürlich, aber wer war er?
Was machte ihn aus?
So überlegte er, wälzte Gedanken hin und her, bis ihn ein
nasales Hüsteln aus seinen Träumereien riss. Als er sich
umwandte, erblickte er den Herold.
«Oh», sprach Europa, «Herold – was hat er zu vermelden?»
«Nun, es gälte, einige Aspekte von höchster politischer Brisanz zu diskutieren, Euer Majestät!», erwiderte Herold mit
überspitzter Stimme.
«Ach so», sprach Kaiser Europa da, «Verstehe. Nun denn, hole
er Unsere Berater!»
38
Herold klatschte zweimal vernehmlich in die Hände und da
trotteten sie auch bereits heran, die Berater – in etwa zwei
Dutzend an der Zahl – unter ihnen Gesichter wie Herr JeanClaude, Frau Angela, Herr Francois, Herr Nigel und zahlreiche
andere.
«Man ist präsent», wisperte Herold.
«Oh», sprach Europa, «Nun gut, beginne er!»
«Sehr wohl», lächelte Herold und hüstelte aristokratisch.
«Die Agenda des heutigen Tages», proklamierte er, «umfasst
folgende Punkte: Erstens: Der Treueschwur – auf die Knie,
meine ehrenwerten Damen und Herren!»
Einige wenige wie Frau Angela und Herr Francois begaben sich umgehend und mit beneidenswertem Eifer auf die
marmornen Fliesen des Balkons, während andere zögerten,
murrten, ein Liedchen summten oder fluchten, doch nach und
nach folgten auch sie dem Ruf.
Nur einer blieb stehen – Herr Nigel. Kaiser Europa, der die
ganze Zeremonie hindurch jedem feierlich zugenickt hatte,
zog die Augenbrauen zusammen, ohne jedoch die Bewegung
seines Hauptes zu unterbrechen.
«Ich bin mein eigener König!», rief Herr Nigel. «Ihr könnt mich
alle mal!»
Hierauf herrschte Schweigen, niemand rührte sich, bis auf Europa, der seinen Beratern weiterhin der Reihe nach gewichtig
zunickte. Mit Bedacht wandte Herr Jean-Claude seinen Kopf
empor, sodass er Herrn Nigel direkt ins Angesicht blicken
konnte.
«Wir könnten doch», setzte er an, «Wir könnten dem Reich Engelonde doch eine Art Sonderstatus einräumen; wir gewähren
den Engelondern das außerordentliche Recht, geringere Abgaben leisten zu müssen, sie behalten ihre eigene Währung
und bleiben NATÜRLICH ihr eigenes Königreich, mit einem
eigenen König. Das könnten wir doch.»
Herr Jean-Claude verdrehte die Augen Richtung Frau Angela
und Herrn Francois
‚Was¿, dachte Europa bei sich und unterbrach sein Nicken für
einen Augenblick, bevor er damit fortfuhr. Wer waren denn
jetzt diese Engelonder? Und er hatte immer gedacht, es gäbe,
nun ja, dieses ominöse uns eben – Europäer oder so. Doch
gerade, als Europa Herold eine Frage diesbezüglich stellen
wollte, ging Herr Nigel ebenfalls auf die Knie, unablässig
«Hehehe mein eigener König hehehehe», kichernd.
39
«Also ist es beschlossen», tönte Herolds nasale Stimme über
die Mauern. Er warf die Arme gen Himmel.
«Wir sind Europäer!»
Ein Sturm von Jubel und Applaus brach los, Abgeordnete johlten und skandierten, sprangen in die Luft und applaudierten
noch etwas mehr.
«Seine Exzellenz mögen indes mit dem Nicken aufhören,
es hat seinen Zweck getan, Euer Majestät!», raunte Herold
gutmütig.
«Ach so», sprach Kaiser Europa, «Natürlich.» Und er stellte
das Nicken ein.
Auf ein Winken Herolds wurden nunmehr einige Stühle
herbeigeschafft und voller Begeisterung und immer noch aufgeregt flüsternd nahmen die Abgeordneten Platz.
Herold hob die Hand und alles verstummte schlagartig. Er
spreizte zwei Finger.
«Der zweite Punkt», hob er an, «Umfasst ein Ansuchen direkt
aus unserer Mitte. Frau Athena, bitte aufzustehen!»
Applaus, während sich Frau Athena errötend von ihrem Sitz
erhob.
«Frau Athena», donnerte Herolds Stimme durch sein Riechorgan, den Lärm erstickend, «Sie hat kein Geld.»
Betroffenes Schweigen.
«Sie hat hmhmhm verspekuliert hmhm wurde beraubt», murmelte er. «Von bösen Mächten», setzte er noch hinzu. Hände
wurden vor Münder geschlagen, Luft scharf durch Nasen
eingesogen und Köpfe betrübt geschüttelt.
«Wir wollen ihr helfen!», verkündete Herold jovial.
Begeisterung, Jubel, und noch mehr Tatendrang waren in den
Augen der Abgeordneten abzulesen, Rufe wie «Ja, ja!» oder
«Ausgezeichnet!» und füllten die Luft.
«Indem wir ihr Geld geben.»
Stille. Totenstille.
Jemand räusperte sich.
Nach einigen Augenblicken höchster Anspannung, begannen
Frau Angela und Herr Francois miteinander zu tuscheln,
während rings um die kurz vor der Ohnmacht zu stehen
scheinende Frau Athena ein ungemeiner Tumult ausbrach.
«Den verdammten Südländern habe ich noch nie getraut!»
«Wer sind die überhaupt? Wollen unser Geld, unser!»
«Sischer nischt», zischte Herr Francois Frau Angela zu.
«Mein Geld!», kreischte Herr Nigel.
40
«Unser!», widersprach Herr Jean-Claude. «Unser gemeinschaftliches Geld!»
«Die Griechen, was gehen die uns an?»
«Genau, wir haben eine andere Sprache, eine andere Kultur –
wir sind andere Menschen!»
«Haber vielleischt...», erwog Herr Francois auf ein Wispern
von Frau Angela.
«Und eben deswegen müssen wir ihnen helfen», warf Herr
Jean-Claude ein. «Was würden Sie denn tun, wenn ihnen
plötzlich das Geld ausginge? Sie würden auf Unterstützung
durch uns hoffen, durch die Deutschen, die Briten, die Franzosen und alle anderen von uns!»
Im darauf folgenden Moment des Schweigens hatte Kaiser
Europa kurz Zeit, das Chaos in seinem royalen Haupte zu
ordnen. Also, da es gab Briten, Griechen, Franzosen, Deutsche
und... und...
«Sie ist doch eine emanzipierte Frau! Sie schafft das allein!»,
rief jemand von ganz hinten
Aber sie waren doch alle Europäer, oder nicht? Offiziell und
rechtlich. Oder war das etwas Anderes? Sein Kopf begann zu
rauchen.
«Ich habe auch meinen Stolz», krähte Herr Nigel. «Ich bin
mein eigener König!» Zustimmendes Gemurmel.
Aber wer war er nun, dachte Europa. Denn wenn er der
Regent dieses Landes war, seine Untertanen aber keine Europäer, sondern lauter Griechen und Engelonder und Franzosen,
dann bestand er ja aus ihnen allen, wie ein Flickenteppich,
der nicht recht zusammengehörte.
Aber wenn sie nun Europäer waren und sich trotzdem noch
nach ihrer Nationalität nannten, dann war da ein Fehler passiert... Er dachte angestrengt nach, und da hatte er einen
Geistesblitz! Ja, er würde diese Worte einfach abschaffen,
genau! Er war schließlich der Kaiser, oder? Dann gäbe es
keine Differenzen, keine Unterschiede mehr nur, weil man
auf dieser oder jener Seite des Flusses geboren war, ein
exzellenter Einfall!
An diesem Punkt war der Kaiser sehr stolz auf sich.
«Ähm, Herold, ich hätte da eine...»
«Ruhe bitte!», presste Herold hervor. «Ruheee!»
«Oh», sprach Kaiser Europa und alles wurde still.
«Mein Kollege Francois und ich haben auch einen konstruktiven Lösungs vor...» begann Frau Angela dreieckig, doch sie
41
wurde von Herold unterbrochen.
«ICH schlage vor, wir verlegen das Traktandum auf nächste
Woche, dann sind wir alle gut ausgeschlafen und es ist ein
neuer Tag!» Affirmierendes Raunen war die Folge und Herold
lächelte selbstzufrieden – gerade noch hatte er eine Katastrophe abwenden können, puh, war das knapp gewesen!
Er wischte sich den imaginären Schweiß von der Stirn.
«Nunmehr zum dritten Punkt der heutigen Agenda», trompetete er. «Da!»
Sein Finger wies über die Balkonbrüstung direkt ins Land.
Die Gesamtheit der Abgeordneten stürmte zur Brüstung und
spähte über die Ebene.
Konzentriertes Schweigen setzte ein.
Nachdem ein wenig Zeit verstrichen war, erklärte JeanClaude: «Ich, ähm, sehe nichts...»
«Natürlich nicht!», giftete Herold unwirsch. «Da gibt es auch
nichts zu sehen!»
Er machte eine Kunstpause.
«Noch nicht.»
Herold aalte sich in der Anspannung, die diesen Worten
folgte. Dann fuhr er fort.
«Die Kundschafter Seiner Majestät haben mir die Nachricht
von einem unfassbaren Menschenstrom zuteil werden lassen, der sich in kurzer Zeit über unser ganzes» Herold gab
ein diskretes Zeichen und die Hofkapelle spielte zum Walkürenritt von Wagner auf, «Der sich über unser gesamtes Land
ergießen wird!»
Es wurde kollektiv nach Luft geschnappt und gekeucht.
«Oh», sprach Kaiser Europa da. «Verstehe», setzte er noch
hinzu.
«Und wer», fragte er Herold nach einer kurzen Pause tiefen
Nachsinnens, «Und wer sind diese Menschen? Gehören die
auch zu uns so wie diese Briten?»
Herold war verblüfft – eine solche Reaktion hätte er gemäß
der intellektuellen Kapazität Seiner Majestät nie und nimmer
für möglich gehalten.
«Nun, ähm», setzte er an und die Musik im Hintergrund
begann zweifelnd zu zittern, «Nun, diese Menschen, also
‚Menschen‘, die...» Und mit einem Schlag fiel es ihm wieder
ein. «Da!», rief er, wie schon zuvor und die Musik schwoll
wieder, «Da! Sehet ihr dies Ding?»
Und sie reckten sich und neigten die Köpfe in verschiedene
42
Himmelsrichtungen, und tatsächlich, ganz am Horizont erblickten sie eine dünne Linie über der Ebene von Europa.
«Da!», gellte Herolds Ruf, «Da ist – ein Zaun!»
Es folgten Ausrufe wie «Oh!» und «Ah!» und sogar vereinzelter Applaus, der nicht ganz zu wissen schien, wem er nun
genau huldigen sollte.
«Oh», sprach Kaiser Europa. «Ach so.»
«Und da wir den Zaun schließlich alle von dieser Seite aus
sehen können», bemerkte Herold, «wissen wir, dass wir alle
auf derselben Seite des Zaunes stehen! Wir sind doch alle
Europäer!», deduzierte Herold in einem beinahe beiläufigen
Ton und wurde mit sofortigem Jubel und Klatschen belohnt,
während sich der Kaiser erneut über das Verhältnis zwischen
Franzosen, Briten und Europäern nur wunder konnte. «Also,
da wir alle auf derselben Seite des Zaunes stehen, sind wir
Europäer und...»
Da ging Europa ein Licht auf, das Licht seines Lebens und er
unterbrach Herold in einem Sturm der Begeisterung.
«Oh, und das bedeutet, der Zaun bestimmt, wer wir sind,
richtig? Der Zaun schenkt uns das Leben, das wir haben!
Er ist die Fackel, die uns den rechten Weg zum Ort unserer
Bestimmung weist!»
Kurzes, konzentriertes Schweigen. Das Orchester erhob die
Instrumente zum Finale.
«Ja!», posaunte Herold schließlich, «Ja, Euer Hochwohlgeboren,
absolut exakt artikuliert!»
Doch bevor die Abgeordneten wieder in stürmischen Beifall
verfallen konnten, erhob Frau Angela die Stimme: «Wir müssen den Zaun einreißen», deklarierte sie.
«WAS?!», entrüstete sich Herold in einem bestürzt pneumatischen Pfeifen, «WAS?!»
«Aber... aber...», meldete sich Herr Victor, der bisher stumm
geblieben war, «Aber wer sind wir denn dann? Wenn da kein
Zaun mehr ist, woher wissen wir dann, wo unsere Land ist?»
«Wenn es keine Zäune gibt, dann sind wir doch wie die,
oder?»
«Oh mein Gott, niemals!»
«Ihr versteht das alle nicht», rief Mutter Angela, «Sie sind wie
wir – wir sind doch alle Menschen, nur die einen eben Niederländer oder Deutsche und die anderen Syrer oder Afghanen
oder...» Ihre Stimme ging im reißenden Tumult unter.
«Was ist, wenn sie mich in ihrer fremden Sprache beleidigen,
43
diese Fremden? Was tue ich dann nur? Was?» Der Sprecher
dieses Satzes brach zusammen. Und Herold begann seltsam
zu lächeln.
«Es sind doch Ausländer», rief Herr Victor, «Aus-Länder! Und
sie sind Aus-Länder, da sie sich außerhalb des Zaunes aufhalten, aber wenn die Aus-Länder zu uns kommen – und
wir sind ja die In-Länder, also innerhalb des Zaunes – was
geschieht dann nur?» Er brach ab, von Emotion überkommen.
«Oh», murmelte Kaiser Europa und wurde daraufhin sehr still.
«Ja, was geschieht denn dann nur?», warf Herold in gespielter
Verzweiflung ein. «Sind wir dann überhaupt noch Europäer?
Wenn die Aus-Länder zu den In-Ländern kommen, dann muss
einer von beiden Platz machen, denn In-Land kann nicht
gleichzeitig Aus-Land sein, versteht ihr, meine Freunde?» Alle
nickten angsterfüllt. Herr Victor schüttelte nur den Kopf,
den Tränen nahe, und verließ Schloss Europa, um sich einen
eigenen Zaun zu besorgen und ihn zu Hause aufzustellen.
Er war er selbst und niemand anders, niemand! Vielleicht
sollte er sich einen Anzug aus Zaun nähen lassen...
«Ich bin mein eigener König!», schrillte Herrn Nigels Stimme durch die Versammlung. «Die sind auch sicher alle ihre
eigenen Könige, die sollen sich um ihre Seite des Zaunes
kümmern, jawohl!»
Herold lächelte in sich hinein. «Genau», schnurrte er. «Wir
gehören zusammen und müssen uns gegen die Eindringlinge zur Wehr setzen! Wir sind eine Festung!»
«Festung! Festung! Festung!», skandierten die zugleich verschreckten sowie begeisterten Abgeordneten.
«Wo ist denn nur», schallte Frau Angelas Organ plötzlich
über den herrschaftlichen Balkon und brachte jede andere
Lautquelle zum Verstummen.
«Wo ist denn nur Europa?»
Und sie sahen sich um.
«Isch weiß nischt.», entgegnete Francois unsicher.
«Puh»
«Nun ja, gewiss irgendwo bei...»
«Vielleicht»
Und als sie endlich realisiert hatten, dass niemand über den
Aufenthaltsort Seiner Majestät Bescheid wusste, wurde es
sehr schnell sehr still.
«Herr Francois», wandte sich Frau Angela an ihren Kollegen
und fasste ihn am Ellbogen. «Kommen Sie! Wir suchen Euro-
44
pa!»
«Ja», wisperte Herr Francois, fast wie zu sich selbst. «Ja, ja,
das maschen wir.» Und sie verließen den Balkon.
In die neuerliche Stille rief Herold mit einem Male so unheilvoll wie er es sich nur vorzustellen vermochte «Oh nein!» und
da brach die Hölle erst richtig los. Der Bann Europas war
gebrochen und die gesamte Anspannung entlud sich in einer
gewaltigen Eruption.
Angstschreie gellten, Fragen wie «Sind wir ohne Europa
überhaupt noch Europäer?», «Wo ist mein Zaun?» «Wer bin
ich?» oder «Wo ist Europa?» schallten durch die Flure und
Säle als die Abgeordneten begannen, wild umherzulaufen und
sich über die gesamte Schlossanlage zu verteilen.
«Ich bin mein eigener König!»
Doch als auch Herr Nigel bemerken musste, dass ihm niemand
mehr Gehör schenkte, da sagte er sich: «Na gut, dann eben
nicht! Ich bin mein eigener König, ich gehe! Ja, ich gehe,
jawohl!» Und Nigel der König ging.
«Oh nein!» rief Herold erneut und lachte.
Er drückte auf «Stopp».
In einer chaotischen Windböe lief Herr Jean-Claude noch an
ihm vorüber und mit einem apokalyptischen Schnauben fragte
Herold: «Ist dies nun unser Ende? Das Ende Europas?»
Da sprach Herr Jean-Claude jenes magische Wort, diese geradezu Legendenpotenzial bergende und nach heroischen
Liedern verlangende Phrase, diese nämlich:
«Nein», erwiderte Herr Jean-Claude unwirsch und begab sich
ebenfalls auf die Suche nach Europa.
Und sie suchten und suchten, doch so sehr sie sich auch
anstrengten, all ihre Mühen blieben letztlich vergebens.
Denn niemand hatte begriffen, dass nicht Europa aus den einzelnen Abgeordneten oder Fürstentümern bestand, sondern
vielmehr Europa in jedem von ihnen lag, ohne dass sie dazu
noch Slowenen und Esten, Griechen, Spanier, Deutsche oder
Franzosen sein mussten, denn Europäer, das waren wahrlich
nur die wenigsten von ihnen.
Nur einer hatte es verstanden: Herold. Nun saß er einsam,
aber zufrieden in seiner Studierstube und holte ein kleines
metallenes Kästchen aus der Tasche seines Umhanges. Er
drückte auf den grünen Pfeil.
«Oh, Herold – was hat er zu vermelden?» – «Nun, es gälte,
45
einige Aspekte von höchster politischer Brisanz zu diskutieren,
Euer Majestät!» – «Oh. Ach so. Nun denn, hole er Unsere
Berater!»
Ein leises Lächeln zierte Herolds Lippen. Das würde eine
gute Geschichte geben.
Und er begann, zu tippen.
DER SPIEGEL IST UNSER GRÖßTER FEIND
oder Frieden ist eben, wenn Bomben woanders fallen
Sarah Ouředníčková
Es ist Zeit. Heute. Nicht morgen, nicht in einem Monat. Wir
brauchen keine Revolution in den Straßen. Wir brauchen
eine Revolution im Kopf. Und das ist viel anspruchsvoller.
Krieg in Asien, Krieg in Afrika. Naja, man lebt weiter. Die
Nachrichten kommen und gehen. Der Diktator ist zur ück, zweitausend Tote, das Gartenfestival beginnt schon am Samstag.
Alles klar. Ein Terroranschlag in Spanien ! Hunderte ahnungslose Menschen ums Leben gekommen ! Was? Terroristen in
London: unschuldige Opfer wurden kaltblütig ermordet. In
Paris! Oh, nein, nicht im Herz der Kultur!In Belgien, in... in Europa? Warum eigentlich in Europa? Ich finde es ein bisschen
traurig, dass wir Terrorismus brauchen, um uns selbst auf
unsere eigene Geschichte aufmerksam zu machen.
Es ist nicht leicht. Man wächst mit dieser Vision eines goldenen Europas auf: eine freie, friedliche, reiche Region. Ja, es ist
ein goldenes Europa, aber auch ein sehr verrottetes. Es sind
die dunklen Momente unserer Geschichte, die vieles erklären.
Besonders bemerkenswert: man muss sich ziemlich heftig
damit auseinandersetzen, bis man den Kern der heutigen Konflikte findet. Europa kennt viele Lieder über seine großartigen
Revolutionen, über seine enorme millitärische Kraft. Aber über
die Zerstörung des Nahen Ostens? Über das Ausrauben der
Welt? Na, da gibt es nicht so viele.
Der Spiegel ist unser größter Feind. Was eigentlich auch
schade ist. Es gibt viel Schönes in Europa, sogar auch in
unserer Geschichte. Die humanistische Tradition, die Idee der
Menschenrechte, der Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft.
46
Die Revolutionen, die den Absolutismus zu Ende brachten.
Aber es gibt eine Rückseite. Und die sollte man auch beachten.
Wer macht sich zum Beispiel Gedanken darüber, dass Australien zu den Top-Ländern in food waste (dem Verschwenden
von Essen) gehört, obwohl es keine riesige Bevölkerung hat?
Wer überlegt sich, dass das mit dem Lebenstil, den wir unsinnig verbreiten, zu tun hat? Statt sich den geographischen
und natürlichen Bedingungen (wie z. B. Klima) anzupassen
(wie es die früheren Völker getan haben), exportieren wir
die europäische Kultur in die ganze Welt. Damit kommt auch
das Essen. Das bedeutet, dass die australische Küche nicht
dem australischen Klima angepasst ist, wodurch viel Essen
kaputtgeht. Es wird aber noch bizarrer. Das Essen wird zu
lange im Kühlschrank oder der Tiefkühltruhe behalten; das
ist echt ein bedeutender Grund für food waste in Australien.
Danke, Europa!
Oder die Konflikte in Nahen Osten? Haben wir damit wirklich
nichts zu tun? Woher nehmen wir die Frechheit zu sagen,
dass «Muslime in keiner Demokratie leben können»? Weil
ihnen unser Typ von aufgezwungener Demokratie nicht passt?
Ich finde es lustig. Wir fühlen uns berechtigt zu entscheiden,
wer eine Demokratie verdient. Wir sind uns selbst aber nicht
sicher, was eine Demokratie bedeutet. Wir wissen nicht, was
Freiheit ist oder wie eine bürgerliche Gesellschaft aussehen
soll. Wer trägt die Verantwortung in einer Demokratie? Der
demokratische Staat, der Garant der Demokratie und eine
Autorität sein soll? Kann das Volk überhaupt der einzige
Entscheidungsträger sein?
Wir sägen den Ast ab, auf dem wir sitzen. Wir lassen unsere
Kinder von kommerziellen Massenmedien erziehen. Wir lassen
sie in einer vulgarisierten und sexualisierten Welt aufwachsen.
Wir werfen sie ohne Vorbereitung in den Mediendschungel
und unterschätzen die Folgen. Wir lassen große Konzerne
und mächtige Politiker die Pressefreiheit zerstören. Wir stehen
an der Grenze der «digitalen Demenz» – der Begriff wird
sogar schon von Ärzten benutzt!
Wir sprechen laut über unsere Tradition der Menschenrechte.
Wer aber erwähnt, dass die Hautfarbe und die Religion immer
noch einen entscheidenden Wert haben? Wo ist Luthers
Traum-Welt? Wir brauchen eine Revolution im Denken. Unseres europazentrierte Denken muss sich verändern. Leider
47
kann sich erst dann die Welt verändern. Und hoffentlich
verbessern.
Wer wird diese Revolution führen? Die neue Generation. Die
jungen Menschen, die in einer freien Welt aufgewachsen
sind. Jede Generation muss für sich selbst kämpfen. Jede
Generation muss ihre Freiheit verdienen. Doch die ältere
Generation ist auch mit angesprochen. Sie hat bereits für sich
gekämpft. Ihre Erfahrungen und ihre Lebensweisheit sind
deshalb für uns nachfolgende Generation wichtig, auch wenn
wir vieles ganz anders machen werden. Wir können daraus
lernen und darauf aufbauen. Das ist der Humus, aus dem
– dank unserer Energie und unserer Ideale – neue Bäume
wachsen können.
ZUKUNFTSHOFFNUNG
von Katharina Franz
Wie wird die Zukunft sein? Nicht die Science-Fiction-typische,
In-Tausend-Jahren-leben-wir-alle-auf-dem-Mond-Zukunft, sondern die unmittelbare Zukunft in fünfzig oder hundert Jahren?
Was wird unseren Alltag dominieren? Die Angst vor Krieg,
Bomben über unseren Köpfen und die Sorge, dass wir oder
die, die wir lieben jede Sekunde sterben könnten und wir
nichts tun können, um das zu verhindern? Oder werden
wir in einer utopischen Gesellschaft leben, in der es keinen
Krieg, Armut oder Umweltprobleme mehr gibt? Das klingt
natürlich besser. Aber ist es auch realistisch? Wir müssten
so viel in unserem Verhalten rapide ändern. Der Mensch als
Gewohnheitstier wird da einige Probleme haben
Die Fleisch-, Fisch- und Milchindustrie müsste sich grundlegend wandeln. Alle Tiere sollten zu Freilandtieren werden:
Gesund, an der frischen Luft, mit ihrem natürlichen Futter,
nicht das Chemie-Fressen, von dem sie nur groß und möglichst schnell möglichst fett werden sollen. Hühner könnten
mithilfe eines Eglu -Stalles, der von ehemaligen Studenten des
Royal College of Art entwickelt wurde, der einfach aufklappbar
ist. Dabei hätten die Hühner immer noch mehr Auslauf als in
den zur Zeit typischen Hühnerställen im Garten. Durch einige
48
dieser Hühnerställe könnte sich ein komplettes Apartmenthaus selbst mit Eiern versorgen. Bei den Fischen geht es so
natürlich nicht.
Die Meere dürfen nicht überfischt werden. Man müsste viel
mehr darauf achten, dass alle Fischarten gleich stark gefischt
werden, damit nicht eine Art völlig verschwindet und so, weil
die Nahrungskette durchbrochen wird, alle anderen ebenfalls
bedroht sind. Da so viele Fischarten fast ganz verschwunden
sind, könnte man die fehlenden Arten in Fischzuchtbecken
nachzüchten und dann ins Meer entlassen, damit sie sich
wieder neu ansiedeln. Die Fischzuchtbecken, die nur für den
Konsum bestimmt sind, sollten aber entweder verschwinden
oder so gestaltet sein, dass darin jeder Fisch genug Platz hat.
Weiterhin sollte es nicht nur ein Betonbecken sein, sondern so
gestaltet, dass die Wände und der Boden aus Felsen gehauen
sind und mit Korallen, Algen und anderen Wasserpflanzen
bewachsen sind. Tiere sollten nicht mit Medikamenten vollgepumpt werden, was gesünder für Tiere, Menschen und die
Umwelt ist. Alternativ könnte man auch, wie in Aldous Huxleys Brave New World, das Fleisch im Reagenzglas züchten,
ohne dass es je zu richtigen Tieren wird, sondern von Anfang
an als Schnitzel wächst. Allerdings wird es vermutlich noch
sehr lange dauern, bis die Wissenschaft in der Lage ist, so
etwas im globalen Maßstab zu bewältigen.
Entgegen dem bisherigen Fortschritt der Wissenschaft sollte
man genmanipulierte und überzüchtete Tiere und Pflanzen
allgemein verbieten, da die Tiere oft durch ihr unnatürliches
Aussehen viel schneller krank werden oder allgemein leichter
anfällig für Krankheiten und Verschleißerscheinungen sind als
normal gezüchtete. Die genmanipulierten Pflanzen verbreiten sich oft so, dass neben ihnen keine anderen Pflanzen
mehr wachsen können oder sie entziehen dem Boden alle
Nährstoffe, so dass er unfruchtbar wird. Aber auch Genmanipulationen können in die Nahrungsketten eingreifen, wie
im Falle der Moskitos, die kein Blut mehr saugen können,
dadurch zwar keine Krankheiten wie Malaria übertragen,
aber auch keine Nachkommen mehr bekommen und wenn
man nicht aufpasst, irgendwann aussterben können. Dadurch
wären viele Tiere und Pflanzen betroffen, da man einen Teil
der Nahrungskette einfach ausgelöscht hat.
Menschen denken oft zu egoistisch und eindimensional, um
zu erahnen, welche Folgen kleine Veränderungen in der
49
Natur haben können. Wahrscheinlich werden die Menschen
in der Zukunft genauso wenig verstehen, wie wir auf die
Idee gekommen sind, irgendwelche Tiere so zu verändern,
dass sie entweder völlig verschwinden oder sich ihr Verhalten
entscheidend verändert; so wie wir heute nicht verstehen,
warum Menschen vor hundert Jahren Tierarten bis zum
Aussterben jagten.
Aber man muss nicht nur im Bereich Tierschutz einiges
ändern. Allen voran muss sich die Chemie stark wandeln.
Fabriken sollten giftige Abfälle nicht einfach irgendwohin
stellen oder verseuchtes Wasser ins Meer kippen dürfen.
Alles sollte umweltfreundlich und sauber sein. Dazu gehört
auch, keine schädlichen Abgase mehr zu erzeugen bzw. nicht
einfach den anfallenden Müll zu verbrennen, sondern ihn
umweltfreundlich zu entsorgen.
Allgemein müssen wir viel weniger Müll erzeugen und mit
unseren Ressourcen verantwortungsbewusster umgehen. Da
die Weltbevölkerung stetig wächst, gibt es immer weniger
Ressourcen für jeden, also sollten wir aufpassen, dass wir
nicht in fünfzig Jahren das verbrauchen, was die Menschheit
noch die nächsten 300 Jahre braucht. Die Entsorgung des
Mülls muss besser klappen, wir können nicht einfach jedes
Mal, wenn wir zu viel produzieren, das Meer als riesige Mülldeponie, die frei zu unserer Verfügung steht, betrachten und
Inseln aus Müll bauen. Wir können auch nicht Plastik einfach
ins Wasser kippen, bis es sich unter Wasser zu riesigen Tornados aus kleinen Plastikpartikeln formt, die dann von Tieren
mit Plankton verwechselt und gefressen werden, woran sie
oft sterben, oder das Plastik in ihren Kreislauf aufnehmen, von
wo aus es in den Körper der Menschen gelangt, sobald sie
eines dieser Tiere essen.
Aber auch Müll verbrennen hat keine Zukunft, da dadurch nur
das Ozonloch wächst. Man müsste auf allen Deponien Mülltrennung einführen, damit der kompostierbare Müll anständig
verrottet und der Rest auf möglichst umweltschonende Art
und Weise gelagert werden kann. Die Wissenschaft müsste
eine gute Methode finden, um möglichst viele Stoffe zu recyceln. Nicht zu kompostierendes Plastik wird verschwinden
müssen, damit wir nicht irgendwann auf einem Riesenhaufen
aus Plastik sitzen, den wir nicht loswerden. Vor allem aber
müssen wir uns selbst in unserem Konsum umgewöhnen.
Wir sollten nur so viel produzieren, wie wir wirklich brauchen,
50
seien es Nahrungsmittel, Klamotten oder Möbel. Nicht mal
eben ein T-Shirt kaufen, das man eigentlich gar nicht braucht.
Fast neue Schuhe nicht wegwerfen, wenn man sie nicht oft
anzieht, sondern lieber an jemanden weitergeben, der sie
benutzt. Wenn die Schuhe ein Loch haben, sollte man zum
Schuster gehen und sie flicken lassen anstatt sie wegzuwerfen und neue zu kaufen. Allgemein sollten wir weniger
horten und lieber verantwortungsvoller mit dem umgehen,
was wir haben, damit es möglichst lange hält. Weiterhin
müssten wir komplett auf Atomstrom verzichten, damit nicht
noch mehr strahlender Müll anfällt, der Menschen und Umwelt
belastet, krank macht und zerstört.
Alle Gebäude und Fortbewegungsmittel werden sich komplett
selbst mit Strom versorgen, teilweise wie in einem Hamburger Neubaugebiet, in dem alles, was das Klo hinuntergespült
wird, zur Gewinnung von Bioenergie verwendet wird. Das
Dusch- bzw. Spülwasser wird gemeinsam mit dem Regenwasser gereinigt und braucht dadurch ein weniger intensives
Säuberungsprogramm als in einer normalen Kläranlage. Der
benötigte Strom könnte grün produziert werden, durch Solaranlagen sowie Photovoltaikanlagen, die ihr Potential zu 100%
ausschöpfen und auf jeden Hausdach zu finden sein sollten,
so dass riesige Solarparks nur noch vereinzelt vorkommen, da
jedes Haus seinen Strom selbst erzeugt. So bräuchten wir
keine fossilen Energiequellen oder Windräder, die den Vogelflug beeinträchtigen, durch den Lärm Menschen und Tiere
dauerbelästigen und dringend gebrauchten Platz wegnehmen.
Idealerweise haben die Menschen bis dahin ihre Vorurteile
überwunden und arbeiten daran, eine vereinte Welt aufzubauen, in der es keine Kriege mehr gibt. Natürlich darf deshalb
jeder Staat nicht mehr so egoistisch handeln wie heute, und
nicht nur an sein eigenes Wohl, sondern an das Wohl aller
denken. Hilfreich wäre es, wenn es auf jedem Kontinent eine
Organisation wie die EU gäbe, in der alle auf dem Kontinent
vorhandenen Länder vertreten sind, um so gemeinsam Politik
zu machen. Von jeder dieser Unionen sollten dann einige
Ländervertreter gewählt werden, die an einer Art Welttreffen,
ebenfalls ein wenig wie die EU aufgebaut, gemeinsam Projekte planen und international gültige Gesetze verfassen. Da
so jedes Land eine Chance hat, die Weltpolitik mit zu formen
und an die gemeinsamen Projekte und Ziele zu denken,
wird es einfacher sein, Kompromisse zu schließen, da man
51
einander braucht und zu einem gewissen Grad voneinander
abhängt. Dabei sollte das komplette System demokratisch
aufgebaut sein, und es wäre natürlich ideal, wenn alle Länder eine Demokratie wären, oder eine noch bessere Art der
Volksherrschaft hätten (also weder Diktatur noch Monarchie
sind). Da man so mehr Druck auf einzelne Länder ausüben
kann, haben gemeinsam beschlossene Richtlinien mehr Erfolg
als z.B. die Klimakonferenzen, in denen zwar Richtlinien
und Grenzen beschlossen, anschließend aber oft nicht weiter
beachtet werden.
Da alle zusammenarbeiten, wird es immer weniger Kriege
geben, bis die Menschen eingesehen haben, dass Diplomatie
und Kompromisse mehr bringen als Krieg. Das Geld, das der
Staat sonst für Berufsheer, Ausrüstung und Instandhaltung
der Kasernen und Ausrüstung ausgeben würde, kann er für
soziale Leistungen und zur Beschaffung von Arbeitsplätzen
verwenden, um Armut zu bekämpfen und irgendwann auszulöschen. So wächst die Weltbevölkerung allerdings rapide
an. Deshalb sindneue Lösungen wichtig, die ökologisch vielleicht immer optimal sind. Um die Menschen zu ernähren,
wird viel mehr Essen notwendig sein, als wir bisher produzieren, weshalb mehr Treibhäuser notwendig sein werden,
die möglicherweise mehrstöckig sind, da sie so weniger Platz
wegnehmen als die gewöhnlichen. Durch verglaste Wände
und Wärmelampen in den unteren Stockwerken, sowie tiefe
Böden, die mit nährstoffreicher Erde gefüllt sind, könnte man
alles regional anbauen und würden sich weite Wege und
somit hohe Emissionsraten sparen. Alternativ könnte man
auch die Dächer der Häuser als Treibhäuser verwenden, indem
man ein Treibhaus auf das Flachdach baut und die Seite des
Daches, die nach Süden zeigt, mit Solaranlagen ausstattet.
Um mehr Platz für die benötigten Wohnhäuser, öffentlichen
Gebäude, Treibhäuser und Viehweiden zu haben, könnte man
alle Fabriken, Einkaufszentren, Zuggleise etc. unter die Erde
verlegen, da vor allem Fabriken und Einkaufszentren meist
sowieso keine Fenster besitzen und durch Klimaanlagen belüftet werden. Zuggleise und vielleicht sogar Straßen könnte
man zumindest bei weiten Strecken unter die Erde legen.
Allein in Deutschland betrug die Länge der Autobahnen im
Jahr 2015 12’949 km. Alle sind mindestens zweispurig, meist
jedoch sechsspurig plus zwei Seitenstreifen. Wäre das alles
unterirdisch, würde man enorm viel Platz sparen. Vielleicht
52
gibt es bis dahin ohnehin keine Autos mehr, weil man in
Städten alles schnell und einfach erreichen kann. Auf dem
Land sind Autos vermutlich noch lange sinnvoll, deshalb
müsste man den öffentliche Personennahverkehr ausbauen.
In Städten müsste man überlegen, ob es sinnvoll wäre, die
Straßen unter die Erde zu verlegen, da man einerseits eine
Möglichkeit braucht, unterirdisch von A nach B zu kommen.
Andererseits braucht man über der Erde auch Wege, aber
wenn alle Straßenbahnen und Buslinien unterirdisch verlaufen
würden, könnte man überirdisch leicht laufen oder Fahrrad
fahren und zwar viel schneller als heute, da keine Autos,
Busse oder Ampeln den Verkehr aufhalten würden. Wären
alle Straßen unterirdisch, könnte man in den so gewonnenen
Räumen zwischen den Häusern Gärten, Parks, Schwimmbäder
oder sonstiges errichten. Weiterhin gäbe es vermutlich viel
weniger Verkehrsunfälle, da Busse und Autos nie wirklich
Fußgängern begegnen würden.
Man sieht, dass wir durch große und kleine Dinge unsere Zukunft maßgebend verändern können, wenn wir nur anfangen,
die ersten Schritte in die richtige Richtung zu gehen.
ES GIBT IMMER WAS ZU TUN
von Rosa Degenhardt
Es gibt immer etwas, das getan werden muss, um sich danach
Schönerem zuwenden zu können. Das ist die Arbeit. Was
im eigenen Hauhalt gerne auf andere abgeschoben wird, ist
in den meisten Volkswirtschaften heiß umkämpft. Arbeit ist
knapp und kostbar. Der technische Fortschritt, dazu gedacht,
uns Arbeit zu erleichtern, scheint sie uns nun zu entreißen.
Immer mehr Aufgaben werden von Robotern übernommen,
sodass es möglich ist, die Menge menschlicher Arbeit zu verringern, ohne dabei an Lebensstandard einbüßen zu müssen.
Der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin sagte eine 20:80Gesellschaft voraus, in der die Arbeit von 20% der Menschen
ausreicht, um die Produktion aller Waren und aller Dienstleistungen zu bewältigen. Jedem arbeitenden Menschen
ständen also vier gegenüber, deren Einsatz dank der Tätigkeit
des ersten und der Effizienz der Technik nicht von Nöten ist.
Die Frage, die dabei fast vergessen geht, ist die nach dem
53
für mich besseren Teil der Gesellschaft. Wer würde schon in
Abhängigkeit von einer kleinen Gruppe, in deren Händen die
Steuerung und Entwicklung der Automatisierung liegt, leben
wollen. Dass diese Konstellation enorme Spannungen und
Gefahren birgt, ist so nachvollziehbar, wie die Demütigung,
die mit dieser Deklassifizierung einhergeht.
Es mag an den gesellschaftlichen Vorstellungen liegen,
die dereinst überholt sein werden, dass ein Leben ohne
Beitrag zur Gemeinschaft, ohne Arbeit kaum als ein erfülltes
angesehen wird. Vielleicht ist das Bedürfnis danach, das
eigene Dasein durch Arbeit zu rechtfertigen, anerzogen und
bald ein sinnloses Relikt. Die Verdacht jedoch, dass ein
Tag, ein Leben in einem solchen System aussehen könnte,
wie von Ray Bradbury in Fahrenheit 451 entworfen, voll von
Ablenkung und Betäubung, ist nicht abzuwenden.
Ob sich die Gesellschaft so weit oder überhaupt in diese
Richtung entwickeln wird, ist nicht sicher, wohingegen der
Verlust von Arbeitsplätzen im Zuge der Modernisierung für
viele schon zur traurigen Gewissheit geworden ist. Es schaut
aus der Sicht dieser Menschen vielleicht wie natürlich aus,
aus einigem Abstand jedoch wirkt es völlig absurd, dass
jeder erhaltene und erschaffene Arbeitsplatz bejubelt wird,
als sehnten wir uns nach nichts mehr, als nach mehr Arbeit.
Das Paradox löst sich auf, wenn man sich klarmacht, dass es
nicht um die Arbeit an sich geht, sondern um Arbeitsplätze,
die Möglichkeit also, für Arbeit bezahlt zu werden.
Es ist nicht nur aus Sicht eines Unternehmers richtig, eine
menschliche Arbeitskraft durch eine effizientere Maschine
zu ersetzen. Die Kosten werden somit gesenkt, der Gewinn
maximiert. Mit letzterem können wiederum Menschen für
ihre Arbeit bezahlt werden, indem man sie anstellt oder
ihre Waren oder Dienstleistungen in Anspruch nimmt. Die
Automatisierung hat uns Arbeit abgenommen und damit die
Möglichkeit geschaffen, uns anderer Arbeit zu widmen, die
möglicherweise wiederum Neuerungen mit sich bringt. Es
ist der pure Fortschritt.
Warum schwinden dann aber Arbeitsplätze, warum geht
mit der Technologisierung Armut einher?Gier ist es, die im
beschriebenen Kreislauf den Rückfluss der Gewinne in Arbeit verhindert. Die Einkommensquote, also der Anteil aller
Arbeitseinkommen (aus der Selbständigkeit wie als Arbeit-
54
nehmerlohn) am Volkseinkommen, ist seit den 70er-Jahren
weltweit gesunken. Im Gegenzug wird ein immer größerer
Teil der Einnahmen aus Kapitaleinkünften erzielt. Für den
einzelnen ist es zwar schön, wenn das angelegte Geld sich
einfach so vermehrt, aber mit einem distanzierteren Blick ist
nicht zu übersehen, dass es natürlich nicht das Geld ist, das
uns leben lässt, sondern Nahrung, Behausung, Infrastruktur
etc. und diese Dinge nicht durch Geld entstehen, sondern
durch Arbeit. Geld, das nicht dazu verwendet wird, Arbeit zu
ermöglichen, verhindert all dies. Nicht die Technik gefährdet
die Arbeitsplätze, sondern die Gier, Gewinn zu machen, aber
diese Gewinne nicht wieder in die Arbeitswelt zurückzugeben. Vor dieser Gier sind Bedenken tatsächlich berechtigt. Sie
blockiert einen tatsächlichen Fortschritt, der nicht wie viele
jetzige Produktionsprozesse Produktivität auf Kosten der Natur vortäuschen. Ressourcendebatten und Umweltzerstörung
zeigen, dass die heutigen Produktionsweisen nicht nachhaltig
funktionieren. Besonders in diesem Bereich wird noch viel
Aufwand nötig sein, um Möglichkeiten zu entwickeln, die
geringen Aufwand mit Nachhaltigkeit vereinbaren.
Auch ohne den Misstand der Umweltzerstörung ist die Notwendigkeit menschlicher Arbeit nicht zu übersehen. Solange
noch Armutsbekämpfung zuoberst auf der Liste der «Sustainable Development Goals» steht, wie sie von der UN formuliert
wurde, weil 836 Millionen Menschen in extremer Armut leben,
sollten nicht Millionen von potentiellen Arbeitskräften daran
gehindert werden, dem Abhilfe zu schaffen. Und wenn niemand mehr Hunger leidet, alle gesundheitlich versorgt sind,
jedes Kind zur Schule geht und dies alles wunderbar im
Einklang mit unserer Umwelt von statten geht, auch dann
wird es dank des Ideenreichtums nicht an Arbeit fehlen.
«Es gibt immer was zu tun», nicht nur für jene, die, wie es
dieser Spruch aus der Werbung eines deutschen Baumarkts
versucht, zu passionierten Heimwerkern und treuen Kunden
gemacht werden sollen.
Bisher jedoch bekommen nicht alle etwas ab vom Segen des
Fortschritts. Um zu erreichen, das Technik nicht nur Einzelne
bereichert, sondern umfassende Verbesserungen ermöglicht,
ist sicher auch der Staat gefragt, aber zugleich sind wir alle
selbst gefordert.
Wir als junge Generation, die sich hierzulande fragt, warum
ausgerechnet ihr im Gegensatz zu unseren Eltern und Großel-
55
tern, keine leichtere Zukunft vorhergesagt wird, können unsere
Vernunft und Humanität einsetzen, um uns selbst aus dieser
verqueren Situation zu befreien. Jetzt sind wir die Generation
Praktikum, die nicht mehr darauf vertrauen darf, für ihre braven, stetigen Bemühungen mit einem sicheren Arbeitsplatz
belohnt zu werden. Aber wir können auch diejenigen sein,
deren Kinder nicht mehr angstvoll auf die moderne Technik
und ratlos auf den Klimawandel blicken. Es ist machbar, wenn
unser Egoismus nicht die modernen Errungenschaften der
Technik und Wissenschaft zunichte macht.
Für mich persönlich gilt, ganz abgesehen von allen Überlegungen, die ich zur Notwendigkeit, die Arbeitsfähigkeit der
Menschen zu nutzen, angestellt habe: Ich möchte schon
deshalb nicht zu den 80 untätigen Prozent einer Gesellschaft
gehören, einfach weil es mir Freude macht, zu sehen, was
ich tun kann, wenn ich mich anstrenge und weil eine Welt,
die ich mitgestalten kann, mir mehr bedeutet, als eine, die
mich bloß füttert und unterhält. Für mich ist es eine schöne
Vorstellung, dass wir die Welt alle zusammen am Laufen halten. Darauf, dass wirtschaftliche Entscheidungen in Zukunft
mit der Weitsicht und Rücksicht getroffen werden, die auf
solchen komplexen Gebieten angebracht sind, hoffe ich mit
den Worten Stefan Zweigs (die zugegebenermaßen in einem
anderen Zusammenhang standen, was ihrer Gültigkeit aber in
meinen Augen keinen Abbruch tut):
Seien wir also entschlossen und geduldig zugleich: Lassen wir uns
nicht beirren durch alle Unvernunft und Unhumanität der Zeit,
bleiben wir dem zeitlosen Gedanken der Humanität treu – es ist
nicht so schwer! Überall können einige Menschen, die guten Willens
sind, das Wunder vollbringen, sich zu verstehen.
56
SCHULE UND RITTER
von Ylva Hagmair
4. September 2083
Nur mehr wenige Tage bis zum Schulstart. Endlich werde ich
wieder lernen können. Während den Ferien half ich meist den
Robotern beim Kaffee kochen und bringen, was eigentlich
ziemlich altmodisch ist. Rund um mich waren hunderte von
Robotern, die einen halben Meter über den Boden schwebten.
Ich durfte sogar die wichtigste Person überhaupt bedienen:
den Bürgermeister. Ich werde die restlichen Tage Vater
etwas bei seiner Arbeit als Gentechniker über die Schulter
schauen.
Bis zum nächsten Mal liebes Tagebuch,
Liya
* * *
4. September 2083
Ein weiterer Tag voller Wäsche waschen, kochen und meiner
Mutter bei Kaffeekränzchen zu begleiten geht wieder einmal
zu Ende. Nun liege ich in meinem Bett und schreibe in dieses
Buch, das ich beim Bringen von Kuchen und Obst für die
lieben Herrn Ritter geschenkt bekommen habe. Sie erzählten,
dass ich unbedingt zur Parade am Montag kommen sollte,
da es diesmal besonders prachtvoll sein solle. Ich besuchte
meine Freunde, die anders als ich als Bäcker, Hufschmied und
Schreiber arbeiten. Es war sehr amüsant zu sehen wie der
Bäckerknabe über meine Zeit als verheiratete Frau spekulierte,
die gar nicht so weit entfernt war. Nun muss ich einen Schluss
finden. Gute Nacht liebes Buch!
Deine
Addolororata
* * *
7. September 2083
57
Heute hat die Schule begonnen! Ich freue mich schon sehr,
da wir viele Eignungstests machen werden und unsere
Bestimmung bekommen. Ich hoffe, wie mein Vater auch
Gentechnologin werden zu können. Wir hatten heute den
ersten Test für dieses Jahr. Es ging darum, was wir in den
Ferien gemacht hatten. Meine Arbeit als Lieferantin hat mir
sicher einige Pluspunkte gebracht.
Wünsch mir Glück liebes Tagebuch,
Liya
* * *
7. September 2083
Heute war es soweit. Die Parade hatte zu Mittag begonnen.
Alle versammelten sich am großen Marktplatz. Trompeten
ertönten und unser König erschien mit seinem großen, prachtvollen Festwagen und dem Ritterorden. Alle jubelten ihnen
zu. Es war ein tolles Gefühl. Anschließend verkündete er,
dass es eine Erneuerung geben würde. Ich verstand zwar
nicht, was es bedeuten sollte, aber es hörte sich gefährlich an,
also beschloss ich wegzulaufen, aber wohin? Es gab ja nur
diese Stadt, das hatte man uns schon von klein auf erzählt.
Außerhalb wäre ja ein Abgrund, hinter dieser Stadtmauer.
Doch heute ist keine Zeit mehr... Gute Nacht liebes Tagebuch
und pass auf, dass du nicht in die falschen Hände gerätst.
Deine
Addolororata
* * *
8. September 2083
Heute bekamen wir die Tests zurück und uns wurde gesagt,
was jeder dieses Jahr für Sachen ausprobieren durfte, nicht
etwas, was wir normalerweise machen würden, sondern was
uns interessieren könnte, wir aber trotzdem nicht machen
würden. Übermorgen beginnen wir damit. Rye wurde Schreiber, Newt Arzthelfer und ich Fährtenleserin... Zuallererst war
ich geschockt, jedoch später fand ich es ganz cool, den ältesten Beruf, den es gab, zu bekommen. Am Abend wurde
58
beschlossen, dass wir noch ein weiteres Familienmitglied
bekommen würden. Wir müssen nur noch ein Bestellformular
ausfüllen und abschicken.
Gute Nacht,
Liya
* * *
8. September 2083
Ich plane meinen Ausbruch. Ich werde über die Mauer klettern.
Weit weg von dieser Erneuerung, diesem Teufelszeug! Falls
wirklich nichts dort ist... dann gehe ich wieder zurück.
Deine
Addolororalata
* * *
9. September 2083
Heute wird der beste Tag aller Zeiten. Ich werde zur Fährtenleserin und bekomme ein Geschwisterchen! Ich werde jetzt
ans Ende der Stadt fahren, dort wo der Nebel den Horizont
verschwinden lässt. Man muss aufpassen, um dort nicht von
der Platte zu fallen.
Wünsch mir Glück,
Liya
* * *
9. September 2083
Heute war ein komischer Tag. Ich begegnete einer eigenartigen
Person, nachdem ich von der Mauer geklettert war. Sie sah
aus wie ich, hatte leicht gewellte blonde Haare und grüne
Augen. Es war, als käme sie aus einer Parallelwelt. Wir lernten
uns kennen. Sie erzählte mir, wie ihr Tagesablauf aussah, und
ich schilderte ihr meinen. Sie erklärte mir, was das bedeutete
und schlug vor mitzukommen in ihre Stadt. Ich willigte ein.
Zurzeit liege ich in einem fremden Bett in einem fremden
Haus, das wiederum in einer fremden Stadt steht.
59
Deine
Addolororalata
* * *
10. September 2083
Gestern passierte etwas Merkwürdiges. Als ich allein war,
ging ich durch den Nebel und sah ein merkwürdiges Mädchen,
das wie aus dem letzten Jahrtausend aussah. Ich lud es ein
und, nun ja, jetzt ist sie da. Ich erzählte ihr vom Bürgermeister,
sie mir vom König. Wir entdeckten viele Gemeinsamkeiten
zwischen diesen beiden, und als wir zu dem Punkt Aussehen
kamen, zogen wir den Schluss, dass es sich dabei um ein
und dieselbe Person handelt. Wir wollten das jemandem
erzählen und suchten uns dafür den Ort aus, in dem meine
Freundin Alyssia arbeitet: den Radioturm. Wir kaperten
die Radiosendung «Radio Rasend», die alle Bewohner hören
mussten, und wir erzählten unsere Geschichte.
Drück uns die Daumen,
Liya
* * *
11. September
Nach dem gestrigen Vorfall wurden wir in eine Jugendbesserungsanstalt gebracht. Am Weg dorthin verlor Addoirgendwas ihr Buch. Angekommen bei der Anstalt hörten
wir davon, dass der Bürgermeister/König gestürzt wurde, und
wir wurden wieder freigelassen. Momentan planen wir in
die andere Stadt zu gehen und dort die Nachricht von uns
Zwillingen zu verkünden. Also doch noch ein Happy End?
Deine Liya
60
EINE UTOPIE?
Aus einem Tagebuch
von Aurora-Doris Frăt, ilă, David Seuferlein, Ricky Stoll und Sándor
Benkó
12. Dezember 1980
Liebes Tagebuch,
Meine Mutter hat sich die Brüste vergrössern lassen. Ich
bin schockiert. Ich frage mich, warum sie das gemacht hat,
und wie sowas gemacht wird. Ich habe noch nie was davon
gehört. Ich denke, dass sie sich unwohl gefühlt hat.
3. Juni 2015
Meine Freundin macht seit einem Monat eine Diät mit
Schwangerschaftshormonen und hat schon 10 kg abgenommen. Ich bin wirklich beeindruckt, dass sie das geschafft
hat und wie man heutzutage mit den neuen medizinischen
Technologien so leicht abnehmen kann. In der letzten Zeit
wurde die Gesellschaft von ständigen Innovationen radikal
verändert. Was soll denn bitte als Nächstes kommen? Sich
die Augenfarbe ändern lassen, sowie man sich die Haare
färbt?
21. November 2020
Es ist soweit. Ich kann es nicht glauben. Einer meine
Freunde war schon seit langer Zeit auf der Warteliste für
eine Herztransplantation wegen eines Gendefektes, an dem
schon seine Großmutter verstarb. Sein Herz war schon
so geschwächt, dass er an einen LVAD (Linksventrikuläres
Unterstützungssystem) angeschlossen sein musste. Jetzt
wird er von den Ärzten vor die Wahl gestellt, ob er sein
Problem mit den herkömmlichen Methoden (Transplantation
eines Schweineherzens oder eines mechanischen Herzens)
oder mit einer neuen experimentellen Technologie lösen
möchte. Die Ärzte haben vor, meinem Freund ein komplett
aus Stammzellen gezüchtetes Herz einzusetzen. Da über
mögliche Risiken dieses Verfahrens nichts bekannt ist, hoffe
ich, dass die Methode anschlagen wird und mein Freund
gesund wird.
61
16. Juli 2025
Die Operation, die vor fast fünf Jahren an meinem Freund
durchgeführt wurde verlief so erfolgreich, dass die Methode
nun bei ähnlichen Verletzungen üblicherweise verwendet
wird. Zu dem Zeitpunkt erschien mir dieser Eingriff noch sehr
riskant. Es ist erstaunlich wie effektiv und weit verbreitet
diese Methode nun ist. Da ich in letzter Zeit immer vergesslicher werde, denke ich darüber nach, mir einen Biodatenchip
einpflanzen zu lassen.
3. April 2031
Heute ist mein Biodatenchip kaputt gegangen. Ich muss
nun wieder zu Schlüssel und Kreditkarte greifen. Mir ist klar
geworden, wie schnell ich von ihm abhängig geworden bin.
Ich bin nicht mehr in der Lage, mehrere Dinge gleichzeitig
zu erledigen und merke auch, dass ich in vielen alltäglichen
Dingen mehr Zeit benötige. Von meiner Vergesslichkeit will
ich gar nicht anfangen... Ich mache mich wohl trotzdem daran, mir einen neuen Biodatenchip anzuschaffen. Ich habe
gehört dass es mit dieser neuen Generation von Biodatenchips sogar möglich sein soll, komplizierte Bewegungsabläufe
abzuspeichern, was meine Motorik verbessert und präzisere Bewegungen ermöglicht. Es ist bemerkenswert, wie es
uns moderne Technologie ermöglicht, unser Leben so viel
komfortabler und einfacher zu gestalten.
8. Mai 2034
Die neumodischen Schönheitstrends sind mir mittlerweile
selbst unheimlich. Meine Freundin hat sich ihre Augenfarbe
durch einen Prozess, der sich genetic engineering nennt, ändern lassen. Nun beklagt die sich über leichte Kopfschmerzen
und starke Lichtempfindlichkeit. Vielleicht sind es ja nur die
Nachwirkungen der OP und der Eingriff an sich ist komplett
ungefährlich, wie von den Medien proklamiert wird.
Wie dem auch sei, der neue Biodatenchip, den ich nun seit
geraumer Zeit in mir trage, verbessert meine Reaktionen und
Fähigkeiten ungemein. Ich kann mir komplizierte Sachlagen
besser merken und bin alles in Allem sportlicher geworden,
ohne dass ich trainiert hätte. Wenn man genauer darüber
nachdenkt, bemerkt man, dass der Chip langsam meinen Körper übernimmt. Auch wenn heutzutage eigentlich jeder einen
62
solchen Chip besitzt, fürchte ich mich doch immer wieder vor
den Risiken dieser Technologie. Vor kurzem kam sogar in
den Nachrichten, dass Unbekannte Zugang zu Bankkonten
und persönlichen Daten von über 100 Biodatenchip-Trägern
entwendet haben. Wäre es so nicht auch möglich, meine
individuellen Bewegungen fernzusteuern oder gar zu lähmen?
Wäre ich für so eine Person denn überhaupt mehr als ein
ferngesteuertes Spielzeug? Wie viel Mensch steckt noch in
mir? Wie viel von mir bin noch ich?
19. Dezember 2036
Gestern ist das passiert, was ich schon vorausgesagt habe. Mithilfe eines modernen Virus hat es ein terroristisches
Hackerkollektiv geschafft, über die Schnittstelle des Biodatenchips alle Träger des Chips in einem Vorort von Ankara
vollständig lahmzulegen. Über ihre Motive wird noch spekuliert, es wird aber angenommen, dass es den Gegnern
der technologischen Modifizierung des menschlichen Körpers
angehört. Das Kollektiv hat angekündigt, ähnliche Anschläge überall auf der Welt durchzuführen. Sollte dem wirklich
so sein, werden sicher viele Menschen Bedenken gegen
die sogenannte Augmentierung äußern und sich der Widerstandsbewegung anschließen. Ich für meinen Teil finde die
Beweggründe dieser Gruppierung durchaus nachvollziehbar
und habe ja auch selbst schon früh Bedenken gegen diese
Technologie gehabt. Da ich an meiner Arbeitsstelle aber
vollständig auf den Chip angewiesen bin, hoffe ich, dass
dieser Konflikt nicht weiter eskaliert. Außerdem wäre es peinlich, immer wieder Schlüssel und Geldbeutel dabei haben zu
müssen. Zudem habe ich Angst davor, so zu enden wie ein
ehemaliger Freund von mir, der sich von Anfang an geweigert
hat, sich zu augmentieren und es so für ihn nicht möglich
war, den meisten Freizeitbeschäftigungen nachzugehen, wie
wir es konnten. Er ist ja nicht einmal dauerhaft erreichbar. Ist
so ein Leben überhaupt noch lebenswert?
4.August 2042 35. Juli 2042
Liebes Tagebuch,
so leid es mir auch tut, wird dies mein letzter Tagebucheintrag sein. Da ich mir alles selbst merken kann, sehe ich
traurigerweise keinen sinnvollen Nutzen, weitere Einträge zu
63
schreiben. Außerdem gibt es kaum mehr Hefte und Papier zu
kaufen.
Es ist schon erstaunlich, wie sich der Versuch die Menschheit
perfekt zu machen, auch zur Selbstzerstörung entwickeln kann.
Unsere Eigenschaften variieren von Mensch zu Mensch und
keiner von ihnen ist sich seiner Eigenarten bewusst. Die
heutige Gesellschaft grenzt die aus, die das Ideal nicht verkörpern. Wie konnte sich die Welt, in der ich mich so wohl
gefühlt habe, so drastisch verändern? Wie viel Mensch steckt
noch in uns?
Apropos, heute habe ich mir präventiv Stammzellen entnehmen lassen. Die Weiterentwicklung in der Klontechnologie
ist erstaunlich. Die heutige Medizin ist schon dazu im
Stande, sowohl Glieder als auch vollständig funktionierende
Organe zu züchten. Das Klonen von Menschen ist bereits
möglich, jedoch wird es ausschließlich für militärische Zwecke praktiziert. Keinem ist bewusst, wann es für Jedermann
ermöglicht wird, sich selbst zu duplizieren. Konkurrieren wir
damit nicht bereits mit Gott? Wir erschaffen Leben verändern
und verbessern es. Vielleicht auch nicht, denn Gott gibt es
ja nur einmal. Wie du schon gesehen hast, habe ich mich immer noch nicht an die verlängerten Monate gewöhnt. Durch
unsere verbesserte Leistungsfähigkeit wurde das Zeitmodul
dementsprechend angepasst. Wie sich das Ganze wohl noch
für die nächsten Generationen verändern wird, will und kann
ich mir gar nicht vorstellen. Laut Wissenschaftlern ist die
Unsterblichkeit nicht mehr weit entfernt, aber was tun wir
damit unserer jetzt schon geschädigten Erde an?
64
DIE „TIERE OHNE GRENZEN“-SHOW
von Eva Mlčochová
Der Moderator: Liebe Zuschauer, liebe Zuschauerinnen, herzlich willkommen zur «Tiere ohne Grenzen»-Show! Heute
haben wir eine außergewöhnliche Möglichkeit, Herr Michael
zu treffen und ihm ein paar Fragen zu stellen.
Herr Michael wohnt in einem Wald in Europa, in der Nähe
von einer Stadt, die wir nicht nennen. Wie jeder richtige Igel
hat er viele Stacheln, eine empfindliche Schnauze, vier Beine,
aber noch dazu ist er sehr intelligent und will uns berichten,
wie sich das Leben in der Natur in den letzten zehn Jahren
verändert hat.
Applaus, bitte.
— Applaus —
— ein dicklicher Igel, der sich aber überraschend schnell bewegt,
kommt ins Studio —
Der Moderator: Herr Michael, wir sind sehr froh, dass Sie
heute in unserer Show sind.
Michael, der Igel: Freut mich auch hier zu sein.
Der Moderator: Ich habe Sie vorher schon sehr kurz unseren
Zuschauern vorgestellt und ich möchte Ihnen einige Fragen
stellen. Sind sie bereit?
Michael, der Igel: Natürlich, deshalb bin ich doch hier.
Der Moderator: Die erste Frage ist sehr einfach. Könnten sie
uns erzählen, wie das Leben im Wald läuft, was sich vielleicht
verändert hat und welche Beziehung Sie mit den Menschen
haben.
Michael, der Igel: Mein Wald war immer ein wirklich ruhiger
Platz. Zum Glück ist er bis heutzutage so geblieben. Leider
ist das Verhältnis zu den Menschen völlig anders. Erstens
mögen sie unseren Wald nicht mehr, weil sie alles Mögliche
machen, um ihn abzuholzen oder sogar ganz zu zerstören.
Zweitens gibt es offensichtlich zu wenig Platz für ihren
Müll, weil man oft Plastikpackungen, Metalldosen und sogar
Möbel hinter einem Baumstumpf findet. Manchmal ist es zwar
65
sehr angenehm, wenn es dort noch leckere Essensreste gibt,
dennoch verletzen sich ab und zu meine Freunde deswegen.
Der Moderator: Ach so, essen sie wirklich manchmal die Reste
von den Menschen?
Michael, der Igel: Ja, manchmal kann man sogar etwas
Interessantes finden, zum Beispiel diese Chips, die habe ich...
— der Moderator schaut sehr erschrocken, lässt den Igel seinen Satz
nicht fertig sagen und fragt teilnahmsvoll —
Der Moderator: Wissen Sie überhaupt, was alles die Menschen ins Essen hineinmischen?!
Michael, der Igel: Nein, nicht wirklich. Mir ist bewusst, dass
dort viele chemische Stoffe sind, über diese «E» habe ich vor
einiger Zeit gehört...
Der Moderator: Naja, nicht nur «E». Mit einer Packung Chips
kaufen sie auch Acrylamid, das sehr schädlich ist. Dazu gibt
es darin noch irgendwelche Weichmacher, die auf Hormone
und Leber negativ wirken.
Michael, der Igel: Oh nein, wirklich ist es so? Kann ich mir
dann sicher sein, dass ich mir von einem Landwirtschaftsfeld besser ernähre? In der Nähe befindet sich nämlich ein
Bauernhof.
Der Moderator: Es hängt davon ab, welche Bauer es besitzt.
Entweder sind es Biobauern und dann ist es kein Problem,
wenn sie ihre Nahrung essen. Oder es sind Bauern, die
eine maximale Ernte wollen und nur an Geld denken. Die
benutzen wahrscheinlich Pestizide, die Krebs verursachen.
Michael, der Igel: Das ist echt seltsam. Was essen die
Menschen? Wissen Sie, ich esse sogar kein Fleisch, das von
ihnen bearbeitet wurde, weil ich gehört habe, dass sie die
Tiere mit Antibiotika und Hormonalmedikamenten füttern.
Der Moderator: Und dann wundern sie sich, dass jedes Jahr
etwa 14 Millionen von ihnen an Krebs erkranken.
Michael, der Igel: Einfach schrecklich...
66
— beide sehen sich traurig an und nicken mit dem Kopf —
Der Moderator: Jetzt zurück zu dem Thema Wald. Man
behauptet, dass es in der Natur eine gesunde Luft gibt. Sie
leben im Wald, wo viele Bäume wachsen. Wie sieht es dort
mit der Luftqualität aus?
Michael, der Igel: Die hat sich deutlich verschlechtert. Es
ist selbstverständlich, dass es die Luft beeinflusst, wenn so
viel mit dem Auto gefahren wird. Schädliche Stoffe werden
auch von einem Kraftwerk, beim Rauchen oder sogar beim
Grillen gelöst. Ein Freund von mir hat mir erzählt, dass
Schwermetalle normalerweise in der Luft schweben, leider
sind sie in einer höheren Konzentration sehr gefährlich und
beschädigen fast jedes Organ.
Der Moderator: Ich sage Ihnen eine kurze Bemerkung zu den
Rauchern: Sie bezahlen dafür.
Michael, der Igel: Wirklich? Sie kaufen sich freiwillig einen
Krebstumor? Und sie bezahlen dafür, dass die heutigen
naturklimatischen Bedingungen sinken. Witzig.
Der Moderator: Eine weitere Frage. Welche Einstellung
haben Sie zu den lokalen Einwohnern?
Michael, der Igel: Keine positive. Ich verstehe nicht, warum
sie uns immer stören müssen. Wir haben Angst vor ihnen,
sie sind einfach zu unvorsichtig und tun uns leicht weh. Die
furchtbarste Erfahrung waren Kinder, die mich anfassen und
mit mir spielen wollten. Damals war ich wirklich dankbar,
dass ich ein Igel bin und die Stachel meinen Körper bedecken,
damit sie mich nicht verletzen konnten.
Der Moderator: Aber das ist doch gut, dass sie Sie Tiere
mögen, oder?
Michael, der Igel: Manchmal denke ich es mir auch. Aber
dann sehe ich, wie rücksichtslos sie mit den Autos fahren.
Ganz viele von uns sind schon deswegen gestorben, weil
irgendwelcher Mensch auf einer Konferenz unbedingt um 20
Sekunden früher da sein musste. Das ist doch lächerlich.
Ich weiß, dass es schwer ist, wenn wir schnell auf die Straße
laufen, trotzdem könnten sie vorher nachdenken und, wenn
67
die Straße durch den Wald geht, auch langsamer fahren. Der
Blick auf einen überfahrenen Marder oder Fuchs ist nichts
Schönes oder Angenehmes für uns, ich wette für Sie auch
nicht.
Der Moderator: Darauf möchte ich auch die Antwort wissen.
Wie sehen sie allgemein ihr Verhalten zur Natur?
Michael, der Igel: Ich habe das Gefühl, dass die Menschen
vergessen haben, welchen wichtigen Teil ihres Lebens die
Natur darstellt. Meiner Meinung nach überleben sie ohne sie
einfach nicht.
Der Moderator: Warum denken sie es?
Michael, der Igel: Wenn ein paar Pflanzen aussterben, sterben
bald auch einige Tierarten aus. Und so geht es weiter
und weiter, bis es nichts mehr gibt. Dann müssen sie nur
künstliche Nahrung essen, bis sie nur noch daraus bestehen.
Der Moderator: Wie stellen Sie sich dann ihre Zukunft vor?
Michael, der Igel: Vielleicht werden sie Robotern und verlieren
ihre Gefühle. Oder sie sterben zum Schluss sogar aus. Aber
falls sie sich zur Natur weiter so wie bisher verhalten, sehe
ich die Zukunft nur in den dunkelsten Farben.
Der Moderator: Oder wir werden optimistischer und hoffen auf
eine Generation, die nicht nur an sich selbst denkt, sondern
auch an Natur.
Michael, der Igel: Hoffentlich. Es wäre für die Menschen
einfacher, wenn sie Müll trennen würden, gesünder essen
würden, nicht so viel Auto fahren und sich mehr darum
kümmern würden, ob sie uns und dabei eigentlich auch ihnen
schaden. Wir leben doch im 21. Jahrhundert, wo alles möglich
ist!
Der Moderator: Das war ein schöner Gedanke zum Schluss.
Die Zeit ist nämlich aus. Wir bedanken uns herzlich, dass Sie
in unser Studio gekommen sind, Herr Michael. Applaus, bitte.
— Applaus —
68
Michael, der Igel: Danke für die Einladung, war ganz interessant
hier.
Der Moderator: Auf Wiedersehen und einen schönen Tag.
Michael, der Igel: Ihnen auch, auf Wiedersehen.
Der Moderator: Liebes Publikum, vielleicht hat Ihnen Herr
Michael die Augen geöffnet. Ich wünsche Ihnen auch einen
schönen Tag und zum nächsten Mal besprechen wir das
Thema freche Jungtiere.
Ich heiße Leonard und das war unsere «Tiere ohne Grenzen»Show!
— Applaus —
KURZE ANLEITUNG ZUM UMGANG MIT DER
NATUR
von Anna Koláčková
Man weiß ungefähr, wie alles begonnen hat, aber man spekuliert immer noch, wie alles einmal untergehen wird. Und das
wird es, wenn wir nicht etwas dagegen machen.
Die Wissenschaftler haben vor einiger Zeit erfahren, dass die
Sonne wächst. Einmal wird sie so groß sein, dass sie die
Erde verschluckt. Aber das liegt Millionen von Jahren in der
Zukunft.
Unterdessen können wir uns auf das, was uns Menschen
blüht, konzentrieren.
Naturschutz, Ökologie, Mülltrennung – wie hat das alles angefangen? Ich glaube, dass es wegen neuer Erkenntnisse in
der Wissenschaft dazu gekommen ist. Und ich glaube auch,
dass man die Probleme erst dann zu lösen anfängt, wenn sie
schon existieren, und dass keiner an Prävention denkt. Oder
nur in medizinischer Hinsicht. Aber warum hat man nicht
früher daran gedacht, dass uns unsere eigenen Erfindungen
zu Grunde richten? Ich glaube schon, irgendwer hat das
gewusst oder gedacht, aber nichts gesagt, oder man hat auf
nicht auf diesen Irgendwer gehört und ihn nicht beachtet.
69
Was kann man machen?
• Man kann die Natur schützen,
• oder man kann sie weiter zerstören.
Zerstören heißt:
— viele Plastik-Artikel benutzen und im Wald und überall
sonst wegwerfen,
— ganz viel und unnötig Auto fahren,
— billiges Fleisch und die billigsten Produkte kaufen die es
im Laden gibt,
— nicht Müll trennen,
— Müll am Waldrand absetzen.
Schützen aber heißt:
— Müll trennen,
— nicht Müll im Freiem fortwerfen
— mehr Rad fahren, Massenverkehr nutzen oder laufen, anstatt
Auto zu fahren,
— nicht so viele Plastiktaschen benutzen,
— erneuerbare Energiequellen benutzen,
— auch mal etwas teueres Fleisch kaufen und darauf achten,
woher es kommt,
— nicht immer das billigste Produkt im Regal kaufen.
Vor allem aber sollen wir:
• Mehr Phantasie einsetzen, um Lösungen zu finden,
• genau überlegen, was in diesem Bereich alles möglich.
70
71
3. ZUSAMMEN LEBEN
DAS HOCHHAUS EUROPA
von Viktor Klochko & Anže Mediževec
Wer in einem großen Haus wohnt, weiß ganz gut, wie ein
solches enges Zusammenleben mit Nachbarn aussieht. Wir
wissen von vielen Nachteilen, wie zum Beispiel von endlosen
Streitereien mit den Nachbarn um die Aufräumung oder von
unerträglichen Versammlungen. Dennoch ist das Wohnen in
einem gemeinsamen Haus nicht so schrecklich und hat auch
seine Vorteile. Schließlich sind die Wohnkosten für jeden
Haushalt niedriger und technische Unfälle sowie sonstige
Schwierigkeiten können von speziellen Diensten beseitigt
werden.
Natürlich, in einem eigenen Haus fühlt sich man bequemer
und begegnet seinen Nachbarn nur selten. «Mein Haus –
meine Burg,» sagt man in Tschechien. Hat man aber eine
Burg, muss man auch damit rechnen, dass die ganze Pflege
seiner Festung auf den eigenen Schultern liegt. Oder auf den
eigenen Kosten.
Jeder kann sich für seine Traumwohnung entscheiden. Jemand fühlt sich besser auf seinem unantastbaren Territorium,
andere ziehen ein praktisches Zusammenleben vor.
Am Ende des 20. Jahrhunderts ist von 12 Familien ein Haus
erbaut worden. Die ersten Einwohner nannten das Haus «Die
Europäische Union». Schon damals wussten sie, dass sie ein
großes Hochhaus bauen sollten, damit alle Menschen, die in
der Umgebung wohnen, da hinein umziehen können.
Ganz am Anfang war es nötig, eine Hausordnung einzuführen.
So haben die Bewohner den Hausrat, das Hausparlament, die
Hauskommission und sogar den Gerichts- und Rechnungshof
gegründet. Ihr Haus war das beste und das schönste in der
ganzen Umgebung und das Interesse für eine Wohnung dort
stieg rapid an. Viele Familien aus nahen Kleinhäusern zogen
um und waren mit ihrem neuen Wohnen sehr zufrieden. Als
letzte zogen die Familien ein, die früher in der Mehrheit
im Ostblockhaus wohnten, aber nach seinem Zerfall kurz
obdachlos wurden.
72
Schließlich wohnten im Haus 28 Familien. Laut Hausverfassung galt da kein Reziprozitätsprinzip. Jeder Haushalt
trug zum gemeinsamen Unterhalt genauso viel bei, wie er
konnte. Aus diesem Fonds wurde die gemeinsame Infrastruktur gewartet, aber auch finanziell schwächere Familien
wurden unterstützt. Jede Familie konnte ihre Wohnung nach
ihrem Wunsch einrichten, trotzdem wurden einige Dinge
standardisiert, wie zum Beispiel Wasserleitungsrohre oder
Elektrizitätssteuerung, damit sie einfacher bedient werden
können. Das gefiel nicht jedem, aber so wurde das Wohnen
im Hochhaus einfacher und allgemein wohnte man dort ganz
bequem.
Nun, kein Material ist ewig und nach einigen Jahren war
das Haus nicht mehr so perfekt wie früher. Die Fassade war
schon ein bisschen angegriffen und das Dach war ziemlich alt.
Als in einem Sommer starke Regen kamen, floß das Wasser
durch die Lücken hinein und überflutete die Dachwohnungen,
die ganz oben waren. So ging es nicht mehr weiter, deshalb
haben sich manche Bewohner darauf geeinigt, dass es nötig
ist, das Haus zu reparieren. Die Idee war ganz toll, aber die
Realisation war sehr schwer. Alle waren sich bewusst, dass
eine Reparatur notwendig ist, aber die Hausgemeinschaft war
gar nicht fähig, zu einer Übereinkunft zu kommen, wie genau
das Haus repariert werden sollte.
Eines Tags schaute es sich an, als ob eine Zustimmung schon
am Horizont ist. Dann passierte plötzlich etwas, was niemand
erwartet hat. Eine Familie hat sich entschieden wegzuziehen.
Weil in allen Haushalten schon lange die demokratischen
Prinzipien herrschten, stimmte die Familie, die einem der
mittleren Stockwerke wohnte, darüber ab, ob sie im Haus
bleiben oder das Haus verlassen sollen. Das ganze Haus
war total gespannt und am nächsten Tag total schockiert –
die Familie entschied ganz klar, dass sie das Haus verlassen...
Auf der Hausversammlung haben sie erklärt, dass sie mit den
Verhältnissen im Haus nicht mehr zufrieden sind. Sie regten
sich auf, dass sie immer mehr, als alle andere, in den Fonds
zahlen müssen, aber nichts zurück bekommen. Auch kamen
immer wieder Besucher aus anderen Wohnungen zu ihnen,
was störte. Und die Farbe der Fassade war ihrer Meinung
nach total schrecklich.
73
Das Haus wurde vor vielen Jahren freiwillig gegründet,
deshalb hatte niemand ihren Wegzug verhindert. Nur die
Kinder waren im Haus immer glücklich und wollten nicht
umziehen. Sie weinten, baten ihre Eltern, im Haus zu bleiben,
aber nichts half. Der ältere Sohn hat gesagt, dass wenn er
aufwächst, er ins Haus zurückkehren wird, aber das blieb
immer sein Kindertraum.
Eine Wohnung blieb leer. Die Nachbarn hörten keine Schritte und kein Lachen mehr daraus. 27 Familien wohnten immer
noch im Haus und alles funktionierte genauso wie früher.
Doch die Luft war dichter und jedem war klar, dass noch etwas passieren könnte. Niemand hat das einander laut gesagt,
aber fast jede Familie begann an einem Umzug zu denken.
Niemand wollte mehr gemeinsam leben. Alle träumten von
ihrem eigenen Haus und die Werte, die sie vor einigen Jahren
so geschätzt haben, bedeuteten für sie plötzlich nichts. Die
Jahre vergingen und fast alle Familien zogen nacheinander
weg. Manche kehrten in ihren Villas und Familienhäuser
um, andere in Bungalows, die, die noch kein Haus hatten,
stellten Zelte auf, aber niemand wollte im Haus bleiben. In
dem Haus, das ihre Eltern und Großeltern erbaut hatten,
das immer ein festes Fundament und gute Wände hatte und
nur kleine Reparaturen brauchte, damit seine Bewohner im
Frieden wohnen konnten.
*
Die Zeit verfloss, die Generationen wechselten sich ab und
neue europäische Familien dachten langsam daran, dass es
so gut wäre, zusammen in einem großen Haus zu wohnen.
Sie hatten einen Plan und eine Zeichnung des eventuellen
Hauses. Sie haben den Kostenvorschlag gerechnet, aber zu
jenem Moment konnten sie sich solch einen teuren Bau
nicht leisten. Und im Hintergrund stand die Ruine des alten
Hochhauses Europa...
74
MATROSEN, KOMMUNISTEN, DIEBE, NAZIS
Vorurteile in Europa
von Aimee Jeluk, Mateusz Durski, Dayana Yordanova, Eduard
Bausche, Mira Tara und Karla Greve
Wir können heutzutage so schnell von Europa nach Amerika
reisen, wie nie zuvor. Und in Europa sind die Grenzen für
fast alle Europäer offen. Dennoch wissen wir so wenig über
unsere unmittelbaren Nachbarn, dass wir uns immer noch
auf die alten Vorurteile berufen, um uns ein Bild von ihnen
zu machen. Sind wir einfach zu faul und wollen uns nicht
ändern? Oder ist es nicht einfach leichter, an einer Meinung
festzuhalten, als sich selber zu hinterfragen.
Vorurteile werden uns in die Wiege gelegt, unsere Eltern
geben sie uns schon früh mit auf den Weg. Wir bauen unsere
Welt nach diesen Vorstellungen auf, denn diese Meinungen,
die in der Kindheit entstehen, sind nur schwer wieder zu
zerstören. Einstein hat mal gesagt, dass es leichter sei,
einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil. Vorurteile
sind durch Ängste vor dem Fremden bestimmt und Ängste
geben Menschen bekanntlich nur widerwillig ab. Doch sie
schränken uns in unserer Bewegungsfreiheit ein, weil sie
einen Menschen immer davor zurückhalten etwas Neues zu
erleben. Wie entscheidet man sich zum Beispiel für einen
Urlaubsort, wenn man bei jedem Land voreingenommen
ist? Im folgenden Text versucht ein Ehepaar genau dieses
Problem zu lösen.
Die Frau steht in der Küche am Herd. Sie trägt ein rotes
Kleid, das schon von der Sonne ausgeblichen ist. über ihrem
Rock hat sie eine geblümte Schürze an, an der sie sich oft
beim Kochen die Hände abwischt. Sie füllt Wasser in einen
Topf, stellt ihn auf den Herd und entzündet die Gasflamme
der Herdplatte. Danach beginnt sie die Tomaten zu entkernen
und vierteln. Der Mann betritt die Küche, er lässt die Tür
hinter sich zufallen. Seine schwarze Aktentasche legt er auf
den ersten Stuhl, der seinen Weg kreuzt. Er zieht sein Jackett
aus und schmeißt es über die Armlehne des Stuhls. Während
er seine Hemdärmel hochkrempelt, küsst er die Frau auf die
rechte Wange.
75
M: Ist das Essen schon fertig?
F: ( holt einen Topf für die Tomaten aus dem Küchenschrank)
Nein, das dauert noch.
M: Gut, denn ich wollte sowieso noch mit dir reden. Ich
hab heute mit meinem Kollegen aus der Finanzabteilung
gesprochen. Weißt du, wen ich meine? Er war auch beim
Grillen dabei. Hat die ganzen Steaks aufgegessen. Er und
seine Familie waren im Urlaub in Bulgarien. Total billig sind
die dort hingeflogen. Das Hotel soll super gewesen sein und
die Strände traumhaft. Ich würde sagen, wir buchen da gleich
nachher unseren Sommerurlaub.
F: ( seufzt laut ) Ich will nie wieder nach Bulgarien fahren.
Schon als Kind fuhr ich mit meinen Eltern dorthin und bemerkte, dass die Bulgaren sehr unhöflich waren. Man geht in
ein Geschäft, sagt «Hallo» und bekommt dabei keine Antwort.
Auch beim Rausgehen verabschieden sie sich nicht. Nicht nur
unhöflich sind sie, sondern auch neidisch und faul. Sie wollen immer mehr haben. Moderner, berühmter oder überhaupt
besser als die anderen sein. Wäre das bloß auch ohne Arbeit
möglich! Dann wäre das Leben vollendet! Ihre Wünsche
sind auch sehr wechselhaft, in einem Moment wollen sie zum
Beispiel Geld für ein Auto sparen und morgen geben sie
das Geld, das sie gespart haben, für das neuste Hoverboard
aus. Deshalb kann man sich auf sie nie verlassen. In Bulgarien gibt es auch so viele Zigeuner. Leute, beschützt eure
Wertsachen. Diesen Menschen sind so unpünktlich und man
kann nie darauf hoffen, dass jemand rechtzeitig kommt. Hätte
man mit ihnen eine Verabredung um sieben Uhr, würden
sie sich mindestens um eine halbe Stunde verspäten. In
Bulgarien weiß man nicht, was Gesetz bedeutet. Deshalb
sind sie so nachlässig und die ausländischen Leute, die in
Bulgarien Urlaub machen, meinen, dass sie dort komplett
frei sind. Sie fahren nach Sunny Beach und machen, was
sie wollen. Alkohol, Drogen und Partys bis zum Morgen. Du
musst auf den Straßen besonders aufmerksam sein. Diese
Menschen können gar nicht Auto fahren. Ich kann nicht mal
verstehen, wie sie ihren Führerschein machen konnten. Frau
seufzt . Sie schüttet Nudeln in das kochende Salzwasser und
rührt die Tomaten im Topf um .)
M: Du hast bloß immer Angst, dass dich alle Menschen
beklauen. Selbst zuhause traust du dich nicht wirklich nachts
auf die Straßen. Sei doch nicht immer gleich so paranoid.
76
F: (heftig) Das ist doch gar nicht wahr. Ich möchte nur
nicht in so ein Dritte Welt Land fahren. Lass uns doch nach
Deutschland reisen. Da ist es sicher und sauber.
M: ( verdreht genervt die Augen ) In Deutschland kann man
gut arbeiten, aber doch keinen Urlaub machen. Die machen
ihr Leben lang doch nichts anderes. Arbeiten von morgens
bis abends. Deshalb ziehen die auch immer so ein Gesicht,
wie sieben Tage Regenwetter. Da würde ich mich nie trauen,
einen Menschen auf der Straße nach dem Weg zu fragen.
Bestenfalls ignorieren die dich dann nämlich nur. Wenn ich
im Urlaub bin, möchte ich netten, freundlichen Menschen
begegnen. Nicht diesen Deutschen, die dich nur abschätzig
angucken. Doch wenn du dich auch ein bisschen anpassen
möchtest, dann schätzen sie das gar nicht wirklich. Habe
ich dir von der Deutschlandreise meines Onkels erzählt? Er
hat sich extra vorbereitet und recherchiert, wie man sich in
diesem Nazireich grüsst. Dann begrüsst er an seinem ersten
Tag den Supermarktverkäufer. Weißt du, was der gemacht
hat? Dieser kleine Idiot hat einfach die Polizei gerufen. Zwei
Tage saß er in Hamburg im Gefängnis und was der dann
für Unsummen zahlen musste. Außerdem musste er Mengen
von Formularen ausfüllen. Diese Bürokratie in Deutschland
ist echt ein Übel. Deshalb arbeiten die auch so viel, weil
sich jemand um den ganzen unnötigen Papierkram kümmern
muss. Andere Länder bekommen ihr Land doch auch organisiert und ersticken dabei nicht in Bergen von Akten. Wenn
ich mich mein Leben lang auch nur damit beschäftigen würde,
würde ich auch so humorlos werden, wie die Deutschen. Ich
denke nicht, dass die je lachen in ihrem Leben. Im Urlaub
möchte ich Spaß haben und nicht von diesen grimmigen
Gesichtern umgeben sein.
F: Natürlich haben die Deutschen Spaß. Hast du noch nie
Bilder vom Oktoberfest gesehen? Die können wirklich gut
feiern.
M: Bloß saufen tun die und ihre Versessenheit auf diese
hässlichen Lederhosen und Dirndl ist wirklich lächerlich.
F: Dann lass doch nach Österreich fahren. Ich wollte schon
immer einmal in den Alpen wandern gehen.
M: Ich sagte doch, dass ich nicht nach Deutschland will. Nein,
Deutschland ist langweilig, da muss ich nicht hinfahren. Lass
uns lieber in ein interessantes, unbekanntes Land fahren. Wie
wäre es mit Rumänien. Dann könnten wir nach Sinaia fahren,
77
ich habe gehört, dass man dort vieles besuchen kann. Dort
ist der schönste Garten der Karpaten.
F: Sinaia? Davon habe ich noch nie gehört.
M: Na klar, du Ignorantin, das ist in Rumänien.
F: Nach Asien willst du jetzt fahren, das liegt doch am Ende
der Welt.
M: Seit wann liegt Südosteuropa in Asien?
F: Südosteuropa? Das ist noch schlimmer. Dort sind alle
ungewaschene Zigeuner, Sklaven des Kommunismus.
M: Es gibt dort keine Kommunisten mehr seit 1989, das habe
ich schon überprüft.
F: Dann bedeutet das, dass die Zigeuner jetzt die Macht
haben. Soll ich vielleicht entführt werden, in ein stinkendes
Zelt gebracht und Mutter von 17 Zigeunerkindern werden?
Sie sind doch unverschämte Diebe, ich will mit dem Auto
zurückfahren, nicht auf einem Esel dieser Höhlenmenschen.
M: Mit dem Auto kann man durch Rumänien sowieso nicht
fahren, sie haben keine Autobahnen.
F: Und dann willst du mich auf dem Rücken tragen, weil
sie zu faul und arm sind, ein richtiges Land zu sein? Bitte,
ich will nicht im Land dieser dreckigen, unzivilisierten, dicken
Raben Urlaub machen. ( Frau stellt energisch das Essen auf
den Tisch und beginn lustlos den Tisch zu decken .) Wieso
können wir nicht in ein ordentliches Land fahren, wie meine
Schwester? Die war mit ihrer Familie in Frankreich.
M: Nein, wir können nicht nach Frankreich, ich kann doch
kein Französisch. Mit Englisch kommst du da wirklich nicht
weiter. Fragst du sie auf Englisch etwa, wo der Bahnhof ist,
sehen sie dich nur beleidigt an und du musst schon froh
sein, wenn sie dich nicht mit ihrem Baguette verprügeln. Es
ist schon fast verletzend für sie, wenn man kein Französisch
spricht. Außerdem sehen die alle wie Matrosen aus mit
ihren albernen blau-weiß gesteiften Hemdchen. Und was
hat es mit diesen roten Halstüchern auf sich? Haben die dort
immer Halsschmerzen, oder was?
F: Die laufen dort doch nicht alle so rum. ( Frau und Mann
setzen sich an den Tisch. Mann beginnt Nudeln auf seinen
Teller zu schaufeln .)
M: Dafür stinken die Franzosen. Glauben nur weil sie so tolle
und teure Parfums haben, müssen sie sich nicht duschen.
F: Aber alle schwärmen doch immer so von der französischen
Küche.
78
M: Das Essen? Diese eingebildeten Franzosen essen Froschschenkel und Schnecken! Nein danke, darauf kann ich wirklich
verzichten. Weißt du, wer wirklich gutes Essen hat? Die Italiener. Pizza und Pasta könnte ich den ganzen Tag essen.
F: Auf diese Italiener, diese Spagettifresser, kann man sich
nicht verlassen. Wer weiß, sie könnten zu der italienischen
Mafia gehören. Anders gesagt: Erzähle keinem Italiener,
dass ich ihn Spagettifresser genannt habe. Was für ein lautes Volk die auch sind. Die ganze Nacht diese dröhnende
Musik kann ich nicht ertragen und sie schalten die nie aus.
Wer könnte bei diesen Geräuschen genug Schlaf bekommen?
Nicht nur die Musik, auch dieses unendliche Streiten und Gekeife. Das klingt für mich nur so: «Si! No! Spagetti! Finito!
Mammamia! Cabonara!» Ein guter Italiener, der wirklich Auto
fahren kann, ist selten zu treffen. Rote Ampeln werden immer ignoriert. Und dann diese italienischen Männer, die leben
mit dreißig immer noch bei ihren Eltern und machen trotzdem
auf dicke Hose. Von Mutti werden sie täglich verwöhnt und
umsorgt. Die können doch nicht eigenständig denken.
M: Du hast nun wirklich gegen jedes Land etwas einzuwenden. Nichts und Niemand ist gut genug für dich.
F: Und was ist mit Polen? Dagegen habe ich nichts einzuwenden.
M: Auf keinen Fall. Ich will nicht zu diesen kommunistischen,
zurückgebliebenen Bauerntrotteln. Alles was die den ganzen
Tag lang machen ist Wodka trinken. Anstatt einer Tasse Kaffee, trinken die Polen ein Glas puren Wodka zum Frühstück
und dann noch eins darauf, um überhaupt für ihren schlecht
bezahlten Job arbeiten zu können. Aber ich kann sie verstehen, denn sie müssen in einer Doppelschicht arbeiten, um die
Schönheitsoperationen für ihre hässlichen Frauen bezahlen
zu können. Wenn sie sich etwas nicht leisten können, dann
stehlen sie es einfach oder verkaufen gestohlene Sachen auf
dem Schwarzmarkt. Man erzählt doch diesen Witz nicht ohne
Grund.
F: Welchen Witz meinst du?
M: Kaum gestohlen, schon in Polen. Wenn ich Ferien habe,
möchte ich mich entspannen und nicht ständig nachschauen,
ob ich noch Alles in meinen Taschen habe.
F: Es gibt überall Diebe, egal wo du hingehst.
M: Ja, aber in Polen könnte dich sogar eine alte Frau beklauen. Das liegt einfach in ihrer Natur. Wo wir gerade über die
79
Natur reden, weist du wie kalt es dort ist?
F: So wie in fast jedem europäischen Land.
M: Nein! Dort könnten sogar Eisbären rumlaufen! Wenn du
deine Ferien damit verbringen willst, mit Pinguinen zu tanzen,
dann können wir gerne nach Polen fahren.
F: Ach du spinnst doch, es gibt keine Pinguine in Polen. Die
sind dort doch schon längst ausgestorben.
M: Sie machen überall Unordnung und hinterlassen Dreck.
F: So wie du.
M: Ja, aber dort muss es wie auf einer Müllhalde aussehen.
F: Aber möchtest du nicht eine andere Kultur kennenlernen
und neue Sachen sehen und ausprobieren? So wie das Essen
dort?
M: Das Essen dort ist so schwer und fettig, das ist nicht
gut für meinen Cholesterinspiegel. Ich bin immerhin schon
27 und muss auf meine Gesundheit achten. Der Mensch lebt
nicht so lange.
F: Jetzt übertreibe nicht so, du magst doch auch fettiges
Essen.
M: Ja, aber ich würde nie das Verdauungssystem einer Kuh
essen. Das ist widerlich. Sie sind verrückte Barbaren, denn
sie essen Suppe aus Blut wie die Vampire.
F: Na gut, mein letztes Argument ist, dass die Polen wissen,
wie man feiert und du liebst doch Partys.
M: Leider kann man nachts aber nicht ausgehen, weil es viel
zu gefährlich ist. Dort gibt es Hooligans wie Sand am Meer,
die nur darauf warten, dir eine reinzuhauen.
F: Weißt du was? Dann fahren wir überhaupt nicht in den
Urlaub und bleiben hier, wie jedes Jahr. ( Frau verdreht die
Augen. Sie fängt an den Tisch abzuräumen .)
M: Lass uns später darüber reden und erst die Nachrichten
gucken.
Sie schalten den Fernseher an und setzen sich nebeneinander.
Kurz vor den Nachrichten läuft noch das Ende einer Comedy
Show, in der der Komödiant sich über das Land, in dem die
Frau und der Mann leben, lustig macht. Er gibt sarkastische
Kommentare von sich und kritisiert die Menschen wegen
ihres Benehmens und ihrer Mentalität. Das Ehepaar findet die
Kommentare überhaupt nicht witzig und ist empört. Nachdem
die Show vorbei ist, gucken die beiden sich an und sagen
gleichzeitig: Das stimmt doch alles gar nicht!
80
Das Ehepaar lebt eingeschlossen in ihrem eigenen Land und
in ihren kleinlichen Vorurteilen. Sie glauben lieber all den
blind nacherzählten Wahrheiten, als sich von der Wirklichkeit
überraschen zu lassen. Der Mann und die Frau sind ein gutes
Beispiel für intolerante Menschen, die sich von ihrer Angst
vor dem Fremden beherrschen lassen.
Vorurteile sind alltäglich und bei jedem Menschen im Unterbewusstsein vorhanden. Wir treffen schon ein Urteil über
einen Menschen bevor wir das erste Wort mit ihm gewechselt haben, weil wir ein Bild in unserem Kopf haben, das
wir wie eine Schablone für jeden Menschen benutzen. Vorurteile können wir daher nie ganz ablegen. Doch Vorurteile
behindern uns und verhindern, dass wir jeden Menschen
unvoreingenommen betrachten. Daher müssen wir anfangen,
richtig mit Vorurteilen umzugehen und toleranter gegenüber
Unbekanntem zu sein. Vorurteile sollten man zudem nie zu
ernst nehmen, weil sie aus Unwissenheit entstehen und nicht
immer aus böser Absicht. Man muss auch über die Gerüchte
um die eigene Nation lachen können.
DAS PARFÜM
Ein Stück von Diana Dehelean, Johanna Schabik, Maria Gazarjan
und Gabriela Kostadinova
Spielort: 4-er Zimmer von deutscher, französischer, polnischer
und italienischer Teilnehmerin während einer Projektphase
Personen: 1 Deutsche, 1 Französin, 1 Polin, 1 Italienerin
Die Deutsche und die Französin im Zimmer. Beide sind mit
Eingewöhnen und Auspacken beschäftigt.
Deutsche irritiert und herumsuchend, zu sich sprechend: Mann,
wo ist denn mein Parfüm hingekommen? Ich habe es doch
dort in den Schrank gestellt. Das kann doch nicht sein...Mist,
Mist, Mist, wo kann ich es nur hingetan haben?
Hat es vielleicht F genommen? Schließlich war es ziemlich
teuer... Ich kenne sie ja gar nicht, warum soll ich ihr trauen...
Ich hätte es einschließen sollen... Ich frag am besten mal...
Sag mal, hast du mein Parfüm irgendwo gesehen? Und mein
Make-up fehlt auch irgendwie...
Französin: Dein Parfüm? Was hast du denn für eines? Schau
81
doch mal im Badezimmer nach. Vielleicht hast du es dort
vergessen...
D geht ins Badezimmmer und schaut hektisch nach
D: Nein, da ist es nicht. Ich weiß doch ganz genau, dass ich
es dort in den Schrank gestellt habe. Kann es vielleicht sein,
dass du es versehentlich genommen hast?
F: Nein, isch habe mein eigenes. Isch brauch kein deutschen
Krimskrams... Ihr habt sowieso kein Gespür für Stil und Mode...
In Frankreich wir haben Düfte exclusive und dort wird Parfüm
kreiert traditionale...
D: Pphh... Du spinnst doch! Wenn französicher Stil noch
schön sein soll...Das ist zu viel Exklusivität und Eleganz...Ihr
zieht doch ständig diese schweren Duftwolken hinter euch
her, und dann das ewige Küsschen, Küsschen, sobald ihr
jemanden seht...Das ist doch alles übertrieben!!!
Ihr lebt nur im Oh und ah und trallalalalalah...
F: Du bist doch nur neidisch, dass ihr in Deutschland nichts
zur Schau stellen könnt und euch der gout luxurieux fehlt...Und
wenn ihr einander auf der Straße ignoriert und nur sagt ’Allo’dann finde isch das traurig...
D: Aha, und du kommst immer zu spät, weil du ständig
im Mittelpunkt stehen musst. Reichen dir deine ach so
luxuriösen Klamotten nicht? Wir haben eben nicht so ein
Geltungsbedürfnis...Ich kann mich auch so mit Freunden verabreden, ohne es jeden auf der Straße wissen zu lassen..das
ist doch nervig...
F: Isch brauche keine Aufmerksamkeit...Wenn du disch minderwertig fühlst, brauchst du nicht so eine spectacle zu
spielen...
D: Das glaubst auch nur du! Ich soll mich weniger als du
fühlen?
Das ist doch nur eine Masche von dir, um dein schlechtes
Gefühl zu überspielen und zu vertuschen, mein Parfüm in
Wahrheit doch genommen zu haben!
F: Wie oft soll isch dir noch sagen, dass isch von deutscher
Mode nischts halte? Wenn du ein schlechtes Gewissen hast,
weil du meine Magazine Voque mit einem Croissant darauf
genommen hast, musst du disch nicht so verhalten... Bin dir
nischt böse, wenn du es gestehst. Kann verstehen, dass es
dir gefällt, wenn ihr so etwas nischt habt. Du kannst es ruhig
sagen...
D: Ich glaub es nicht!!! Das reicht!! Jetzt beschuldigst du
82
mich auch noch, französisches Schickimicki und Essen zu
stehlen!! Nicht zu fassen!!!!
Sie steht auf und rauft sich mit Fingern durch die Haare, dabei
erblickt sie Modemagazin und Croissant im Mülleimer
D verächtlich lachend: Ist das vielleicht das hier im Müll??
F herüberschauend: Wer schmeißt meine Sachen denn einfach
weg, als wäre es dechètes?
Polin schaltet sich ein und kommt dazu: Ich dachte vorhin,
ich schaffe etwas Ordnung in diesem Chaos, räume auf und
mache sauber. Ich bin davon ausgegangen, du brauchst es
nicht mehr, tut mir leid!
F etwas verwundert und baff
D: Hör zu, wir haben schon genug Putzfrauen aus dem Osten
und wo wir unsere Sachen hinlegen, das geht dich nichts an!
Du kannst doch nicht einfach nehmen und verschachern, von
dem du denkst, dass es nicht mehr gebraucht wird. Ihr Polen
reißt euch ja sowieso alles unter den Nagel!
Schmuggelt Autos aus Deutschland und verkauft sie teuer in
Polen! Hast du auch vor, dort mein Parfüm zu versteigern,
das dort so offen und unordentlich im Schrank stand? (zur
Schranknische zeigend)
P gekränkt und etwas irritiert: Das ist nicht wahr, du verallgemeinerst! Wir sind nicht alle so! Nur weil es manche Polen
tun, heißt es nicht, dass wir alle so sind!
D genervt: Aber die meisten! Irgendetwas muss an diesem
Ruf schließlich dran sein, sonst gäbe es ihn nicht!
P: Du bist wirklich gemein! Merkst du nicht, dass das verletzt? Seid ihr Deutschen immer so kaltherzig und wenig
einfühlsam? Geht ihr immer so grob und abweisend mit einem
um und richtet euch nach Vorurteilen? Ich habe nur guten
Willen gezeigt und aufgeräumt!
F: Das finde isch auch! Mit Deutschen kann man nicht
kommunizieren! Entweder schweigen sie, sind verschlossen,
in sich gekehrt und spreschen ihre Gefühle nicht aus oder
sie schmeißen mit Vorurteilen um sich und beschweren sisch
überall!! Lachen und lustisch sein mit Umor können sie nur
unter engen Freunden!
D wütend und aufgebracht: Denen kann ich wenigstens vertrauen, das sind wahre Freunde! Sie sind wenigstens ehrlich
zu mir und unterstützen mich!! Aber hier gibt ja niemand
zu, dass er mein Parfüm gestohlen hat!! Ihr seid alle nur so
83
oberflächlich und lebt so ganz unbeschwert, alles locker auf
die Schulter nehmend ohne Ernsthaftigkeit dahinter...
Italienerin stürmt herein, reißt die Türe mit Schwung auf und
rempelt die drei an.
F: Pass doch auf, wo du hinrennst! Hast du keine Augen in
Kopf?
I: Scusa, Scusa,...bin in Eile, aber ist doch nichts passiert!
Niente! Seid doch mal locker!!
D: Das sind gerade die richtigen Worte!!
I: Was ist denn hier los?? Habt ihr ein Problemo?
D übergenervt: Ich halte es nicht mehr aus!! Kleb dir doch
gleich ne Hupe an die Stirn, damit du überall tuten kannst
mit deinem Matchogehabe, und jeden anrempelst. Ich suche
immer noch mein Parfüm, das einer hier im Raum gestohlen
hat!!!! Wenn ihr Italiener euch schon nicht an Regeln halten
könnt und jedes Limit, egal ob Geschwindigkeit, Lärm oder
Temperament überschreitet, dann vergreifst du dich vielleicht
genauso an fremdem Eigentum!! Gibs doch zu!!
I: Was ist eigentlich mit dir los, was soll ich zugeben? Was
habe ich dir getan? Ich verstehe niente! Eigentum??
P: Genau! Wieso sollten wir etwas zugeben, das wir nicht
getan haben? Ehrlichkeit ist für uns sehr wichtig in Polen!
Die meisten von uns sind sehr gläubig. Wir pflegen auch
unseren Glauben und Kult und halten an Traditionen fest. Ich
habe gehört, in Deutschland gibt es nicht mehr viel Tradition
und richtige Familienfeiern spielen für euch auch keine Rolle.
Daher traust du wohl niemandem und bist keine Gemeinschaft gewohnt!
D: Klar haben wir Tradition! Wir tragen z.B. immer noch
Dirndl und Lederhosen und Fest- sowie Geburtstage werden
auch gefeiert! Ihr sauft euch doch sowieso nur mit eurem
Vodka voll!
P: Bei uns gibt es noch einen tieferen Wert; Respekt, Vertrauen und Glauben!
F: Klingt abergläubisch für misch! Aber was macht ihr Deutschen auf dem Oktoberfest? Es besteht doch ausch nur aus
Biertrinken mit Schweinshaxen und Brezeln in Festzelten
und komischer Musik! Rummel und Vergnügen! Wir haben
etwas eleganteres Leben! Exclusivere Mode...Genießen unseren Wein mit längeren Menüs und unterhalten uns sehr, sehr
viel!
P lacht: Die ewigen Gänge, nach denen man immer noch
84
Hunger hat?
I: Also bei uns ist jeder satt! Meine Mama macht die besten
Pizze und Spaghetti der Welt! Ich liebe sie dafür!!
F: Das ist für mich nischts, sich nur voll zu essen und Tarantella tanzen, den halben Tag bei Siesta zu verschlafen
und bis 30 im Hotel Mamma zu leben... Wir sind sehr schnell
selbstständig, meine beiden Eltern sind berufstätisch, und
obwohl wir den ganzen Tag in le collège gehen, haben wir
nosch Familienleben!
I: Willst du damit sagen, dass wir Italiener faul sind, nur weil
wir gutes Essen und dolce far niente haben?
Wir wissen wenigstens, wie man feiert mit guter Musik! Von
französischen Chansons bekomme ich Kopfschmerzen, und die
ganze Zeit euer Gelalle von le/la/les...singt ihr den ganzen
Tag?!
Das Handy von D klingelt...D kramt es aus der Tasche und
geht ran...
D: Ich muss mal kurz...Oh da ist ja mein Parfüm, da hab ich
es gestern wohl vergessen rauszunehmen...Okay, okay,...das
tut mir leid...Das war alles ein Missverständnis...ich habe zu
vorschnell reagiert...Sorry, dass ich euch alle beleidigt habe,
ich nehme das wieder zurück...war wohl wirklich nicht mein
Tag... Ich hoffe, ihr verzeiht mir...
I: Jetzt verstehe ich gar nichts mehr..!!
P: Siehst du, wir Polen sind eben nicht alle so...Ich verzeihe
dir, aber denke das nächste Mal erst nach, was du sagst, und
wirf nicht mit Vorurteilen um dich...
F: Genau, und was du zu französischem gout und Stil meintest, auch. Ihr anderen aber genauso.
La france, ma pays d’amour!!!
D: Ja, das ist mir wirklich unangenehm!!
I humorvoll: Si, si
P: Vergeben!
F: Kommt alle her, lasst uns aben ein Embrassement!!!
D verlegen: Typisch, aber okay!... schmunzelt
Alle vier umarmen sich
P: Ich schlage vor, wir machen einen gemeinsamen europäischen Abend mit Wein, Bier, Vodka, Pizza und allem, was für
unsere Länder typisch ist und tauschen uns aus, um unsere
Vorurteile abzubauen und uns besser kennenzulernen!
F: Eine gute Idee!
Alle: Ja!
85
DIE KOMMUNIKATION ALS BRÜCKE ZWISCHEN
DEN MENSCHEN
von Regina Rózsahegyi, Saner Sadak und Ivan Ivanov
Die Kommunikation ist ein sehr wichtiger und komplexer
Begriff in unserem Leben. Sie verändert sich ständig, weil
wir im digitalen Zeitalter leben. Die heutige Kommunikation
läuft öfter auf schriftlichem Weg. Es wird oft statt dem
persönlichen Kontakt eine virtuelle Kommunikation gewählt.
Ein einfaches Beispiel dafür ist, dass es viel gechattet wird.
Anstatt miteinander zu kommunizieren bevorzugen es die
Jugendlichen, am Handy sich zu unterhalten.
Sowohl die verbale als auch die nonverbale Kommunikation
ist entscheidend in unserem Leben. Paul Watzlawick hat
gesagt, dass man nicht nicht kommunizieren kann, weil unser
Gestik und Mimik schon etwas über uns verrät.
Mit den verschiedenen Mitteln der Kommunikation haben
wir die Möglichkeit, uns einander näher zu bringen und
Brücken zwischen Ländern zu bauen. Geht unsere Welt in
die richtige Richtung? Funktioniert die Kommunikation gut in
unserer Welt? Mit dem Lernen von Fremdsprachen können
wir uns in verschiedenen Ländern verständigen, aber wir
können auch damit die anderen Kulturen besser verständigen,
was auch das Zusammenleben von Menschen buntgemischter
Nationen erleichtert. Dabei sind Toleranz und Verständnis
wichtig.
So ist es auch bei den Gesprächen zwischen Kindern und
Eltern. Manchmal fehlen entweder die richtigen Kommunikationsweisen oder die Zeit, obwohl die für eine gute Erziehung
grundsätzlich wären.
Die Sozialnetzwerke haben unsere Welt komplett verändert.
Man soll im Internet aufpassen, dass man nicht alles glaubt,
weil einige Lügen im Netz zu finden sind. Man muss kritisch bleiben und zugleich offen. Die Kommunikation für
Menschen aus verschiedenen Ländern kann zu Schwierigkeiten führen. Diese Gespräche können Missverständnisse
hervorrufen. Es ist interessant, dass einige Wörter, obwohl sie
aus verschiedenen Sprachen kommen, ähnlich klingen, aber
eine komplett andere Bedeutung haben.
Wir möchten das an drei kurzen Beispielen zeigen.
86
Vater und Sohn
Der Mangel an Kommunikation kann zu großen Problemen führen.
Sohn: Vater, ich brauche deine Hilfe! Ich möchte etwas dich
fragen.
Vater: Nein, nicht jetzt, ich bin beschäftigt mit der Arbeit.
Lass mich in Ruhe!
Sohn: Könnten wir einmal reden?
Vater: Ja, vielleicht später.
Ein paar Jahre später ist der Sohn drogensüchtig geworden
Sohn: Können wir sprechen, ich habe Probleme?
Vater: Ich habe keine Zeit, mich mit dir zu beschäftigen! Geh
mit deinen Freunden aus! Ich gebe dir 50 Euro. Hau ab,
endlich!
Sohn: (stumm, enttäuscht, nimmt das Geld)
Im Laufe der Zeit wird der Vater krank.
Vater: Kannst du mir bitte Medikamente kaufen gehen?
Sohn: Nein, Vater, ich kann dir welche aus meinem Zimmer
holen. Damit wird es dir besser gehen.
Chat zwischen Freunden
- Hallo, Maria! Ich möchte dir sagen, was es gestern geschehen ist.
– Hallo, Ana! Ich höre auf dich zu.
– Ich habe in Facebook das Datum meines Geburtstags verändert, um zu prüfen, wer mich wirklich kennt.
– Na, und?
– Meine Schwester hat mir gratuliert...
– Vielleicht hat sie vergessen, wann du geboren bist.
– Ich bin enttäuscht... wir sind doch Zwillinge!
– Oh, das ist unerwartet!
Ein Bulgare und ein Ungar in Sunny Beach, Bulgarien
B: Hallo, aus welchem Land kommst du?
U: Hallo, ich komme aus Ungarn.
B: Aaa, Ungaria? Die ungarische Sprache gefällt mir sehr. Ich
möchte Ungarisch lernen.
U: Ich kann dir helfen. Welche Wörter möchtest du lernen?
87
B: Wie sagst du auf ungarisch kein Problem?
U: Semmi baj. Und wie sagst du das auf bulgarisch?
B: . (Njama problem)
U: Ich lerne russisch und eure Sprache klingt ähnlich.
B: Ja, ich kann ein bisschen die russische Sprache verstehen.
U: Unsere Muttersprachen sind schwer zu lernen.
B: Ja, Englisch ist viel einfacher.
U: Weiss du, dass es viele ähnliche Wörter in unseren Muttersprachen gibt?
B: Ja, zum Beispiel sapka bedeutet auf bulgarisch und ungarisch Hut oder Kappe.
U: Ich habe gehört, dass kerek bei euch Reifen bedeutet, bei
uns sagt man das für jemand, der Pech hat.
B: Dann bin ich ja ein kerek, wenn ich zum Meer gehe und
das Wetter wieder schlecht ist.
U: Ich mag Bulgarien und Sunny Beach. Wird das Wetter
morgen schön?
B: Ja, aber es gibt so viele... oblak.
U: Was? Ablak? Fenster?
B: Nein, nein. Ooooblak – Bei uns bedeutet es Wolke.
U: Ah, interessant.
B: Und was sind deine Lieblingstiere?
U: Beka und Kutya.
B: Bank und Schachtel – das sind doch keine Tiere!
U: Nein, auf ungarisch heißt das Frosch und Hund.
B: Jetzt habe ich begriffen, dass es solche Wörter gibt, die
einen leicht konfus machen können.
U: Ja, du hast Recht.
88
REISEN BILDET
oder Was einen nicht loslässt
von Gabriela-Simona Mateiu
Jemand meinte neulich, heute reise man frei, ungehindert und
unbeschwert durch Europa. Mag sein, aber das betrifft nicht
diejenigen, die von dem Schatten unangenehmer Erfahrungen
verfolgt werden.
Vor 1989 kamen für die Rumänen Auslandsreisen nur für
Begnadete des Schicksals in Frage. Und fast nur in die
Ostblockstaaten. Wer in den Westen durfte, der musste schon
wer sein.
Unmittelbar nach der Wende hat sich das geändert. Man
durfte reisen, aber um den Preis welcher Erniedrigungen!
Bei der Ausreise wurde einem an der rumänischen Grenze
das gesamte Gepäck durchwühlt. Warum? Weil uns selbst
im eigenen Land und nicht nur der Verdacht des Gesetzeswidrigen, des Illegalen, des Verbrechens und Schmuggels
anhaftete. Gewiss gab es Leute, auf die das zutraf. Und
es gibt sie auch heute noch überall. Aber deretwegen beim
rumänisch-ungarischen Zoll das gesamte Gepäck öffnen und
manchmal auch auspacken müssen, das nahm und nimmt
einem die Würde. Man ist mit 20 Minderjährigen für 14 Tage
unterwegs. Die Ausreisepapiere für die Gruppe sprechen
von einem Sokrates-Projekt. Gepäck aus dem Bus raus, etwa hundert Meter tragen, öffnen, durchwühlen lassen, Koffer
wieder schließen so gut es geht, zurücktragen. «Warum, Frau
Lehrerin? Wir sind doch Kinder!
Stimmt. Reisen bildet und prägt. Das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein, die Meinung, den Charakter.
Wenn wir ein paar gute Jahre nach der Wende mit dem
Wagen unterwegs waren, wurde uns, den Rumänen, im östlichen Ungarn aufgelauert. Wörtlich. Die heutige Autobahn
zur Grenze gab es noch nicht. Hinter Kurven und in Waldlichtungen warteten allerlei Kontrollen auf uns. Rumänische
Wagen wurden durch und durch kontrolliert, selbst die Arzneimittel im Erste-Hilfe-Täschchen wurden auf das Verfallsdatum
hin überprüft. Es war kein Vergnügen zuzusehen, wie die
ANDEREN ungestört vorbeifuhren. Auch solche Erfahrungen
prägen einen und hinterlassen eine gewisse Furcht.
Zollbeamte und Grenzpolizei – extrem gut situierte Mitbürger
89
in Rumänien. Früher und heute. Wieso? Eine indirekte Antwort aus den Medien der letzten Woche: An der rumänischen
Grenze zu Serbien wird derzeit ein europaweit einzigartiges
Experiment durchgeführt, das der Korruption in diesem Bereich Einhalt gebieten soll. Die Passkontrolle soll elektronisch
erfolgen, durch Auflegen des Passes oder Ausweises, ohne
unmittelbaren Kontakt zwischen dem Reisenden und den
Grenzangestellten.
Auch wenn man sich mit bestem Gewissen dem Grenzübergang näherte und das Land als unbeschwerter Tourist
verlassen wollte, konnte man sein blaues Wunder erleben
und nicht durchgelassen werden. Weil der Grenzbeamte das
so wollte in der Meinung, dass es demjenigen, der im Urlaub
ins Ausland fährt, zu gut geht und er ihm, dem Beamten,
doch auch was zustecken könnte. Auch diese Befürchtung
und Einschüchterung beim Passieren der Grenze hat Spuren
hinterlassen.
Will man auch heute noch mit einer x-beliebigen Reisegesellschaft das Land verlassen, wird man kurz vor der Grenze
darauf angesprochen, ob man Verbotenes oder unerlaubte
Mengen mit sich führe. Der nächste Schritt: Man möge je 2
Euro pro Person sammeln, um die Ausreise zu erleichtern,
im Klartext, um der Gepäckkontrolle zu entkommen, lautet
die Durchsage des Fahrers oder Reisebegleiters. Die meisten
leisten dieser Aufforderung Folge. Schon zweimal im letzten
Jahr habe ich das verweigert, als ich mit Schülern unterwegs
war. «Frau Lehrerin, die lehren und ermutigen uns, die Korruption zu unterstützen!»
Und damit meine ich gesagt zu haben, worin das Gefühl der
Unfreiheit weiterhin besteht: in dem Herzklopfen, wenn man
sich der Grenze nähert, in dem Unbehagen gegenüber den
Grenzangestellten. In dem Weiterwirken der Angst, dass die
Laster der Vergangenheit in Einzelfällen weiterleben. In der
Furcht vor den Schatten einer nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit. In den Beweisen, dass nicht alle das
Europa von heute verstanden haben. In den Vorurteilen von
Innen und von Außen den Rumänen gegenüber.
90
WIE ES IST, ANDERS ZU SEIN
von Bernadette Sarman
Heutzutage ist es normal geworden, mehrere Sprachen zu
können, in einer Familie mit Migrationshintergrund zu leben
und als Tourist ins Ausland zu reisen. Aber weshalb, um
Gottes willen, gibt es dann trotz allem solche Vorurteile
gegenüber Ausländer? Das frage ich mich schon seit klein auf
und bin bis zum heutigen Tag immer noch der Meinung, dass
alle einfach Angst vor Neuem und Unbekanntem haben. Und
dabei reden wir von Pionieren und Abenteuerlust. Wir sind
alle Menschen, ist das nicht das Wichtigste?
Alle, die hören, dass ich «Halbblut» bin, finden es cool, kulturelle Verschiedenheiten von einer Ebene aus zu betrachten,
vom Essen ganz zu schweigen, eine zweite Muttersprache zu
haben, andere Leute zu kennen und so weiter. Und ich liebe
es auch, ich liebe meine Wurzeln. Umso seltsamer ist es, in
beiden Ländern Ausländerin zu sein.
In Europa Ausländerin sein. In Asien Ausländerin sein.
Nirgendwo nicht mit seltsamen Blicken bedacht. Habe ich
etwas im Gesicht? Ständig mit der vorgehaltenen Hand
hinter tuschelnden Stimmen rechnen zu müssen. Blicke,
die einen eine Millisekunde zu lange anstarren. Ab und
zu von Klassenkameraden veräppelt zu werden für sein
zweites Land, sein Aussehen. Oh Gott, das Aussehen. Wie
mich unwissende Nichtasiaten einfach mit einem beliebig
dahergelaufenen Chinesen vergleichen und sagen «Oh hey,
schau mal, der sieht aus wie du!», wo ich erstens dem
weiblichen Geschlecht angehöre und zweitens meine Wurzeln
nicht aus China stammen. Und zur Information: ich bin
auch Europäerin. Also wäre es freundlich, mich nicht als
Schlitzauge abzustempeln und mich als eine von euch zu
sehen.
Das erste, was ich zu hören bekomme, nach dem ich auf
die Frage, aus welchem Land ich stamme, mit Österreich
und Japan antworte, ist in 90% der Fälle «Cool. (Schweigen)
Also kannst du Japanisch?». Meistens komme ich mit der
Person so ins Gespräch, weil sich im 21.Jahrhundert sehr
viele «oh-mein-Gott-Japan-ist-so-kawaii»-Mädchen für das
Land interessieren, beziehungsweise für Animes und Mangas, wofür ich nicht ganz die Obsession besitze, die man
mir als Halbjapanerin zutrauen könnte. Wenn ich auf ein
91
Manga-Mädchen (meistens sind es Mädchen, Jungs sind eher
selten) treffe und sie mir Löcher in den Bauch bohren will,
kann ich nur abwehrend die Arme heben und mich dafür
entschuldigen, dass ich nicht alle Animes/Mangas kenne.
Darauf bekomme ich eine Antwort, die ich schon sehr, sehr,
sehr oft gehört habe (wenn ich jedes Mal für diesen Satz Geld
bekommen würde, wäre ich schon reich) und es ist immer
dieselbe: «Was bist du für eine Japanerin?!» Wow, okay, sorry,
nobody is perfect. Und außerdem bin ich Halb.
Bei einigen wenigen Animes kann ich jedoch mitreden, aber
nur, weil ich mir vorgenommen habe, mein Japanisch aufzubessern und somit Serien in der Originalsprache ansehe. Aber
das war’s auch schon. Mein Japanisch ist nicht das Beste,
mir wurde vor kurzem sogar gesagt, ich hätte einen totalen
Akzent bekommen, weshalb seither nur wenige japanische
Wörter meinen Mund verlassen haben. In Japan merkt man
sowieso, dass ich in einem anderen Land aufgewachsen bin
und das liegt nicht nur an meiner Aussprache, sondern hauptsächlich an meinem Aussehen. Dort bin ich für mein Alter
größer, wo ich doch in Österreich als eine der Kleinsten in der
Klasse angesehen werde. Meine Augen werden in Japan für
ihre Größe bewundert, doch hier sind meine Augen klein und
werden –Gott sei Dank!- selten als Schlitze bezeichnet, was
ich trotzdem als eine Frechheit aufnehme. Die Person sollte
darauf vorbereitet sein, dass sie nicht mehr in meiner Gunst
steht und ich jeglichen Respekt für sie verloren habe. Oder
ist es normal geworden, dass man Beleidigungen einfach
akzeptiert? Bei mir auf jeden Fall nicht.
Es gibt natürlich auch noch andere Halbösterreicher/
Halbjapaner, die sich in einer ähnlichen Situation wie
ich befinden und im Moment, wo man denkt, das ist eine
Person, die mir sehr ähnlich ist, höre ich von ihr etwa Sätze
wie «Dein Japanisch ist wirklich, wirklich schlecht» und
meine Hoffnung, Bänder zwischen anderen «Halbblütern» zu
knüpfen, zerplatzt. Das ist nicht wirklich angenehm.
Meine beiden Nationalitäten bedeuten mir viel, sie sind ja
praktisch das, was mich ausmacht. Es gibt einige Vorteile
und Momente, wo man sich bewusst wird, dass es doch toll
ist, zwei Nationalitäten zu haben und stolz darauf ist. Dann
ist mir egal, was andere denken oder tuscheln, ich bin froh,
ein wenig anders zu sein. Aber das ist nicht sehr oft und ich
denke, dass es in einer Zeit, in der ich mich gerade befinde
92
(auch anders bekannt für Pubertät) sehr mit meiner Identität
zusammenhängt und auf die Frage, wer ich eigentlich bin.
Und im Endeffekt sind wir doch alle Menschen und nur das
sollte zählen.
ARMUT IN DER NACHBARSCHAFT
von Klaudia Bányai und Jacqueline Kohl
Jugendliche in Europa wachsen unterschiedlich auf. Die Armut stellt ein Problem für viele Menschen in der Gesellschaft
dar. Es ist bekannt, dass die wirtschaftliche und soziale
Situation in den Ländern der EU unterschiedlich ist. Auch die
Situation für Teenager ist unterschiedlich, daher haben nicht
alle dieselben Möglichkeiten zu studieren, obwohl manche ein
großes Potential besitzen. Wir beide haben keine absurden
Vorstellungen, wir wollen nicht dass alle Jugendlichen gleich
sind, aber dass alle dieselben Chancen in Bezug auf Bildung
haben.
Wir kommen aus Ungarn bzw. aus Rumänien. Vor allem
wollen wir im Folgenden die Nachteile, die ein Mensch aus
armen Verhältnissen hat (nur weil er so geboren wurde)
bewusst machen. Alles hängt von der finanziellen Situation
der Eltern ab. Wegen der geringen Anzahl der Arbeitsplätze
können viele Eltern nicht einmal das Nötigste für ihre Kinder
besorgen. Noch dazu sind leider die Schulbedingungen im
Dorf schlecht, und die Kinder werden daher wenig stimuliert.
Auch ihre Lehrer kümmern sich weniger, und so führt das mit
der Vernachlässigung durch die Eltern zu einer bestimmten
«Verdummung» der Kinder, und damit auch der Gesellschaft.
Warum das ein Problem ist? Fast die Hälfte der Bevölkerung
lebt auf dem Lande, das beeinflusst die Entwicklung des
Staates. Obwohl in unseren Ländern Schulpflicht herrscht,
schicken Eltern vom Land ihre Kinder wegen der beschriebenen Probleme nicht zur Schule. Die Politiker machen wenig
oder nichts dagegen, so bleiben Menschen leicht beeinflussbar. Das alles führt zur Zerstörung der Zukunft des Landes,
und dazu kommt noch, dass sehr arme Menschen zum Betteln
und Stehlen gezwungen sind.
Im Unterschied dazu gibt es in der Stadt mehr Möglichkeiten,
obwohl auch hier arme Menschen leben. Hier können gute
93
Schüler ein Studium beginnen. In der Stadt gibt es zwar mehr
Arbeitsplätze, unter denen die Jugendlichen wählen können.
Trotz der kritischen Situation und der globalen Krise gehen
aber fast alle guten Studenten ins Ausland. So stagniert der
intellektuelle und kulturelle Zustand des Staates oder sinkt
sogar.
Wir haben aus unserer Perspektive geschrieben, und weitere
Jugendliche nach ihrer Meinung gefragt. Und zwar Jugendliche aus Rumänen, Ungarn, Bulgarien, Frankreich, Deutschland,
Österreich, Tschechien und Polen. Wir stellten ihnen Fragen
zu den Problemen der Armut. Einige sagten, dass die politische Führung in ihrem Land die Armen zu unterstützen
versucht, und in einigen Ländern gibt es Organisationen, die
sich für die Armen einsetzen und ihnen helfen. Wir haben
dann auch bemerkt, dass einige Regionen Europas nicht so
von diesen Armutsproblemen betroffen sind.
Unserer Meinung nach sind wir mit den gleichen Rechten
geboren, aber beim Erwachsenwerden relativiert sich das.
Was wir damit meinen? Wir können nicht wählen, in welche
Familie wir hinein geboren werden, und damit auch unseren
Bildungsweg nicht. Darum haben einige bessere Möglichkeiten als andere, obwohl alle die gleichen Möglichkeiten haben
sollten. Wir sind mit dem Recht auf Lernen geboren, und
jeder Mensch sollte sich in einem Bereich nützlich machen
können, egal ob in der Landwirtschaft, Politik, Medizin oder
was immer. Jeder sollte Arbeit haben, jeder sollte die Chance
bekommen, Geld zu verdienen und das Recht zu besitzen,
seine eigene Zukunft und Lebensweise zu bestimmen.
Das Problem wird sich nicht von selbst lösen. Es ist schade,
dass die Armen ihr Potential nicht ausschöpfen können. Wir
müssen etwas bewegen und Initiative übernehmen. Es liegt
in der Natur des Menschen, sich gegenseitig zu unterstützen,
wir können nicht alleine leben. Schon seit der Urzeit hat sich
das gezeigt, als die Mitglieder von Stammesgesellschaften
zusammen jagten und sich halfen. Ein anderes Beispiel ist die
Kindheit. Die kleinen Kinder wissen nicht was Bosheit ist, das
lernen sie erst mit der Zeit. Kinder spielen und unterstützen
sich einfach, genau wie eine Familie.
Wir haben uns einige Lösungen ausgedacht:
→ Für neue Arbeitsplätze protestieren.
94
→ Notwendiges spenden.
→ Charity Concerts organisieren, um Schulen zu renovieren
und den Transport zu den Schulen sicherzustellen.
→ Transportfirmen um Unterstützung bitten (indem wir ihnen
Werbung in den Medien bieten).
→ Wir könnten gemeinsame Aktionen zwischen Dorf und
Stadt initiieren, damit die Armen auf dem Land lernen und
arbeiten können und damit Zugang zu einer besseren Zukunft
haben.
→ Über Medien den Menschen diese Probleme bewusst
machen.
Wenn wir die Frage der Armut auch in den betroffenen
Ländern lösen könnten, würde ganz Europa aufblühen (nicht
nur ein Teil davon wie jetzt). Heute wachsen Jugendliche in
Europa immer noch unterschiedlich auf.
UNSERE GEHEIMNISSE
von Klaudia Orbán und Réka Orbán
Ich hatte total Verspätung. Meine Mama rannte neben mir
her, unser Chauffeur stellte den Wagen am Liszt-FerencFlughafen ab, um 9 Uhr, Montag, im Juli. Der Flughafen war
überfüllt, ich hoffte, dass beim Einchecken die Situation besser
würde. Mama war nervös, sie arbeitet als Model bei einer
internationalen Agentur. Sie ist die Chefin da. Ich erbte ihre
äußere Beauté, aber innerlich ähnele ich völlig meinem Vater.
Er ist zuverlässig – und auch ich hüte zahllose Geheimnisse
–, geduldig und immer gut gelaunt. Obzwar ich mich nicht
beschweren kann. Ich habe alles, was sich ein Mädel mit
siebzehn Jahren wünscht. Ich lebe derzeit in Budapest, in
einer mächtigen Villa, am Budaer Hang. Unsere Umgebung
ist wunderschön, ich lebe gern hier. Meine Schule ist ein
Gymnasium auf der Pester Seite. Meine Position ist besonders,
ich habe andere Freunde, Ihr werdet das später sehen. Sie
stammen aus anderen Regionen in der EU und betrachten
die Welt sehr anders. Das ist nicht negativ, im Gegenteil.
Während ich und meine nervöse Mama bei der TicketKontrolle warteten, dachte ich an meinen Schulkameraden.
95
Diese Schule, die ich seit 3 Jahren besuche, ist eine sogenannte Stipendium-Schule. Das bedeutet, es können hier nur die
besten Schüler studieren. Nach einigen Monaten werden die
Noten kontrolliert, um auszufiltern, wer bleiben kann und wer
nicht bleiben kann, basierend auf den Leistungen.
Die Kontrolleurin gab mir meinen Personalausweis, oder meine
ID – wie man auf Englisch sagt. Nebenbei möchte ich
erwähnen, dass mein Vater Deutscher ist, deshalb spreche ich
Deutsch. Die englische Sprache habe ich in der Schule und
von meiner Mama gelernt.
Im nächsten Moment stand ich am Kontroll-Tor, wo ich
durchleuchtet wurde. Ich umarmte Mama.
– Bis bald, Mama. – wir sind nicht religiös oder so, aber als
Engländer geben wir nie kund, wie wir uns eigentlich fühlen.
Nie sagen wir anders als: ich liebe dich. Wenigstens lernte
ich es so. Ich habe zwei Hunde und ein Pferd – mit dem
Namen Rocky, Zeno, und Queen –, sie sind die einzigen, die
ich kose. Klingt das komisch? Es kann sein. Meine beste
Freundin kommt aus einer armen Region in Ungarn. Als wir
uns zum ersten Mal trafen, mochte sie meine Lebensform,
und als sie diese später besser kannte – zum Beispiel, weil
sie bei uns schlief, sagte sie: Manchmal wünsche ich mir dein
Leben. Meine Antwort ist im Allgemeinen: Siehst du, Zsófi,
wie anders die Lebensform der Reichen ist?
– Sei gut, Schatz, und rufe mich an, wenn du gelandet bist! –
sagte Mama.
– Es wird schon. Tschüss! – lächelte ich.
Und warum ich eigentlich fliegen werde? Und wohin? Ich und
meine fünf Freunde haben eine solche Tradition seit Jahren,
dass wir am Ende des Schuljahrs eine Woche zusammen
verbringen. Dieses Mal ist unser Ziel die ewige Stadt, Roma,
und die romantische Holiday-Siedlung, Ladispoli. Unter dem
Jahr kann ich meine Freunde gar nicht treffen, weil wir in
verschiedenen Ländern leben. Ich fliege sehr oft, mein Vater
ist Diplomat, deswegen kenne ich die oben genannten fünf
Freunde aus vielen Ländern Europas.
– Emese – schrie mir Mama nach. Sie konnte mir nicht folgen,
sie hatte kein Ticket.
– Ja? – überlegte ich neben meinem Kofferwagen.
– Begrüße alle im Namen der Familie, ok?
– In Ordnung, Mama. Ich küsse Opa und Oma. Und sag ihnen,
96
es tut mir leid, dass ich nicht Abschied von ihnen nahm.
– In einer Woche, tschüss! – winkte sie mit ihrer rechten
Hand.
Beim Terminal A checkte ich ein, winkte meiner Mama und
ging durch die Zoll-Freie-Zone. Nach einer halben Stunde
Warten flog mein Flugzeug ab. An Board zog ich mein
Lieblingsbuch von Imre Kertész hervor. Der Titel ist «Sorstalanság», auf Deutsch «Roman eines Schicksallosen». Es geht
um die Geschichte eines Jungen im Zweiten Weltkrieg, und
zwar im Holocaust. Eine erschütternde Lektüre, das ist sicher.
Ich bin einhundert Prozent ungarisch, und ich bin stolz, dass
ich das sein kann.
Heutzutage lebt man in schweren Zeiten, es ist egal, ob im
Wohlstand oder weniger behütet. Ich muss das jeden Tag
erfahren, wenn ich zur Schule gehe. In der Schule sollte nur
das Wissen zählen, aber natürlich gibt es da Streit, wenn eine
Schülerin aus besseren Verhältnissen mit dem modernsten
Alfa Romeo ankommt. Im Allgemeinen muss ich sagen, dass
ich und meine direkte Umgebung glücklich sind. In der
Hauptstadt befinden sich auch ärmere Bezirke, wie in jeder
Stadt und in jedem Land. Zsófi stammt von Miskolc, da
herrschen andere Zustände wie in Budapest.
Ich bin betrübt, dass talentierte junge Menschen wegen
des fehlenden Geldes nicht weiterlernen können. Und diese
meine Schule unterstützt eben solche jungen Menschen seit
Jahren. Mein Opa maturierte auch hier. Unglaublich, ja?
– Fräulein, kann ich Ihnen etwas holen? Etwas zum Trinken?
– riss mich eine Frau mit einem gelben Tuch um den Hals
aus meinen Gedanken.
– Oh, ja. Ich bitte um einen Apfelspritz, bitte.
– Sofort. – schmunzelte die Stewardess.
Noch eine Stunde dauerte der Flug, ich machte meine Augen
zu und fing mich zu entspannen an. Leider konnte ich diese
Mini-Pause nicht so richtig genießen, weil hinter mir ein
kleiner Knabe zu weinen begann. Bald kam seine Mama, und
die Stille kehrte zurück.
So konnte ich über mein letztes Schuljahr nachdenken. Ich
pflegte nach jedem Jahr eine kleine Zusammenfassung zu
97
machen. Hier gab es die beste Möglichkeit dazu. Als ich
im September wieder in meiner Klasse kam, fühlte ich die
besondere Stimmung, mit dem Duft der neuen Bücher. Meine
Mitschüler waren wieder andere. Die langen Sommerferien
(in Ungarn zweieinhalb Monate). Ich verbringe sehr viel Zeit
mit den Schulkameraden. Unsere Schultage sehen im Allgemeinen so aus: Die erste Stunde beginnt Viertel vor acht, der
Unterricht endet um zirka vier Uhr. Die Stunden dauern 45
Minuten. Ich besuche eine zweisprachige Schule, am meisten habe ich Englischstunden. Ich lerne nicht nur einfach
die Fremdsprache, sondern deren Kultur, die Gewohnheiten.
Außerdem lerne ich sogar Geschichte und Biologie in dieser
Sprache. Am Ende der Schule kriege ich das zweisprachige
Abi. Ich finde, dass ich in einer besonderen Position bin. Mein
Lieblingsfach ist Geschichte. In Ungarn ist am wichtigsten
die ungarische Geschichte. Also, ich lerne auch englische Traditionen, aber der Kern bleibt immer das Ungarische. Unsere
Lehrer sind talentierte Professoren in Geschichte und machen
das Lernen spannend. Trotzdem hasse ich dieses Fach auch.
Weswegen? Wir müssen zahllose Jahresziffern büffeln. Ich
sehe keinen Sinn darin. Da gibt’s den Atlas mit allen Informationen. Die anderen Fächer fallen mir schwer. Mathe und
Biologielernen sind meine Schwachpunkte. Die Lehrer haben
auch eine schreckliche Natur. Der Klassenvorstand ist schon
zu alt, und wir sind zu jung. Er passt nicht zu uns. Davon
abgesehen habe ich eine Vorliebe für ihn.
Nach der Landung hatte ich mehr als eine Stunde Zeit bis
zu Jacquelines und James’ Ankunft. So nahm ich Platz auf
meinen Koffern. Um mich rennende Leute, Frauen mit kleinen
Kindern, entweder im Kinderwagen oder zu Fuß. Sie waren
irr, und auch ihre Eltern.
In der Zwischenzeit zeigte mein Handy etwas an. Ich hatte
einen entgangenen Anruf von Jan. Er ist aus Polen und zwei
Jahre älter wir. Er beendete in diesem Jahr die Schule, ab
September wird er Medizin studieren.
– Hallo, Jan. Wie geht’s? Ich habe gesehen, dass du mich
angerufen hast.
– Ah, hi, Emese. Ich rief dich an, um dir zu sagen, dass ich
schon angekommen bin. Die Herberge ist toll!
– Ja, auch dieses Mal.
– Bist du schon am Flughafen? Robert und Patricia sind schon
bei mir.
98
– HALLO! – grölte die ins Telefon.
– Hi, Leute. Bald werden wir da sein. Noch eine Viertelstunde.
Soll ich was einkaufen? Oder gibt es schon alles für das
Lagerfeuer am Abend?
– Keep calm, alles. Wir erwarten euch. – sagte Patricia mit
ihrer besonderen Stimme. Sie ist eine echte Italienerin, glaub
mir! Mit einem Lächeln legte ich das Handy auf.
Plötzlich machte mich ein Knabe auf sich aufmerksam. Er
konnte nicht älter sein als zehn, und saß total allein nicht
weit von mir.
– Hey, Kumpel, was ist los? – wandte ich mich an ihn. Er
hörte sofort zu weinen auf.
– Meine Mutter sagte mir gerade, dass sie und Papa sich
scheiden lassen.
– Oh, das tut mir sehr leid.
– Was wird aus mir? Ich besuchte eine kleine, aber süße
Schule in Serbien, aber jetzt ist Schluss. Mein Vater ging weg,
Mama ging mit einem reichen Kerl, und sie werden mich in
einer Bordingschule in der Schweiz eintragen. – Seine Stimme
klang verzweifelt.
– Wohin fährst du jetzt? Allein?
– Ich bin hier mit meiner Mutti. Sie ist da. – Er zeigte auf
eine große Frau mit einem iPhone in der Hand.
– Gleich startet das Flugzeug und landet in zwei Stunden in
Zürich. – Er beugte sich über sein Knie. – Und du kannst
es dir nicht vorstellen. Ich stamme aus einem winzigen Dorf,
wo wir sehr arm lebten. Dann kam dieser Kerl und zerstörte
alles. Ich möchte nicht reich sein. – Am Ende dieses kurzen
Monologs war er ganz verzweifelt.
– Pass auf, was würdest du sagen, wenn du dich nur für
mich ein bisschen zu freuen versuchst, hm? Glaub mir, ich
weiß, was ich sage. Ich besuchte einen Bordingkindergarten.
Er war schrecklich. Ich sah meine Eltern fast nie. Du hast
wenigstens deine Mama.
– Du hast keine Ahnung, wie meine Mama wirklich ist.
– Hey, Aleksandar, habe ich dir nicht gesagt, dass du die
Pappe halten sollst, wenn ich telefoniere? – kreischte die
blonde Frau. Dann wandte sie sich mir zu, freundlicher und
friedlicher. – Verzeihen Sie ihm, bitte, sagte sie.
– Ah, kein Problem. Wir haben uns nur unterhalten.
Sie verhielt sich so, als hätte sie nicht einmal meine Sätze
99
mit angehört. Sie giftete ihren Sohn an: – Bitte sofort um
Entschuldigung, Aleksandar!
– Hhm... Verzeihen Sie mir bitte. – sagte er, aber er sah mich
nicht an.
– Haben Sie einen schönen Tag! – wünschte ich den beiden
mit einem bitteren Geschmack in meinem Mund. Was würde
meine Oma zu dieser Situation sagen? Ah, ich erinnere mich
schon. Das Leben ist gnadenlos.
Leider hatte ich keine Zeit mehr über diesen Spruch nachzugrübeln, weil James und Jacqueline mit großen Taschen auf
mich zu gelaufen kamen.
– Hi!
– Hey, Emese!
Ich schnellte hoch.
– Ah, hi, Leute! – breitete ich meine Arme nach ihnen aus.
James war ebenso unverändert, ganz wie letztes Jahr. Jacquelines Haare waren zurzeit rot, sie sah viel besser auf
den Fotos aus, als IRL – also im realen Leben. Dafür habe
ich auch ein Spruch: Photoshop verschönert eine Frau. Bei
Jacquelines Fall ist er auch korrekt.
Es ist viel geschehen im letzten Jahr, aber wir redeten nicht
darüber während der Busfahrt. Alle drei waren wir müde, und
brauchten diese halbe Stunde bis zur Ankunft in Ladispoli,
wo sich unser Appartement befand.
Vor dem Bungalow erwarteten Robert, Jan und Patricia aus
Deutschland, Polen und Italien. Nachdem wir uns begrüßt
hatten, gingen wir mit den Koffern ins Haus. Schon beim
Aussteigen aus dem Bus hatte ich in meiner Nase den Duft
der See gespürt. Es gibt keinen feineren Duft in der Welt als
den eines Meers.
Wir drei Mädel teilten uns ein gemeinsames Zimmer, direkt
neben der Terrasse. Die Jungs schliefen in einem Zimmer,
dessen Fenster zur Straße hinausgingen. Um drei Uhr kleideten wir uns um und gingen baden. Das Wetter was
ausgezeichnet, die Temperatur lag um 40 Grad. Mit Patricia
legte ich mich in den Schatten eines Palmbaumes, wir nahmen ein Sonnenbad, ehe wir ins Wasser wollten.
– Ich habe gehört, dass deine Eltern auseinander ziehen. –
sagte ich.
– Die Nachricht hat sich sehr schnell herum gesprochen. –
100
seufzte Patricia. – Weißt du, wie verzweifelt ich bin? Ich
glaubte, dass es in unserer Familie passt. Ich hoffte, dass
sie zusammenhalten wird. Natürlich, es hatte schon früher
Zeichen gegeben, und ich habe die auch bemerkt. Ich wollte
sie ignorieren. Als Jacqueline ihre Geschichte erzählte, lächelte ich innerlich. Pah schon wieder, es ist traurig, ja, aber ich
werde das nicht erleben.
– Und jetzt... ich habe so viele Schwierigkeiten, die ich nie
haben wollte. Ich habe vor, das Schuljahr im September zu
lassen. Ich fühle es, dass ich an meinen Brüdern arbeiten
müsste. Meine Nase ist aber voll von Armut. Eure Gemeinschaft ist so weit von meiner Welt entfernt, ich bin so anders
als ihr. Für diese Reise sparte ich ein ganzes Jahr. Und
ihr? Euch ist es – sie machte eine breite Armbewegung
– nur nach Holiday. – Was für ein Wert hat ein Abi, ha?
Ich glaube, dass ich ohne ein solches gut leben kann. Zum
Beispiel dauert das Schuljahr bei uns zweihundert Tage. Wir
haben wenig Ferien unter dem Jahr. Und es zählt fast nichts,
dass wir zwölf Wochen Sommerferien haben. Im Mai lag
die Temperatur über fünfunddreißig Grad. Und in der Schule
gibt’s keine Klimaanlage. Meine schwachen Lungen halten
es nicht aus. Insbesondere das Lernen nicht. Chancenlos.
Und nach der Schule muss ich arbeiten, um mir Kleidung
kaufen zu können. Für Jacqueline und dich ist es so leicht! –
langsam rollten Tränen über ihr Gesicht. – Als ich verstanden
habe, dass sich meine Eltern scheiden lassen, war ich desperat. Bis zu diesem Punkt war fast alles perfekt, oder es war
beinahe perfekt. Und jetzt, alles ist zerstört, meine Welt, sogar
meine Seele. – Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.
– Vergiss alles, was ich gesagt habe. Ich bin total OK, mach
dir keine Sorgen! – Sie schnellte hoch. – Hast du Lust, dich in
die Wellen zu werfen? – Sie lächelte.
OK, ich nickte. Während wir ins Wasser rannten, dachte ich
dran, was sich in ihrer Seele abspielt. Tief in meiner Seele
gab ich ihr Recht.
Alle hatte ihre Aufgabe, genauso wie in den letzten Jahren.
James und Jan waren verantwortlich für das Abendessen
und das Lagerfeuer. Ich und Jacqueline beschäftigen uns mit
Kochen und Backen und Marinieren. Wir ließen Patricia in
Ruhe.
101
Während Jacqueline Punsch kochte, stellte ich ihr eine Frage.
– Es ist so komisch, dass wir seit September nicht einmal
gechattet haben – Ich stellte einen voll beladenen Teller in
den Kühlschrank. Sie blickte mich rasch an, dann wandte sie
sich wieder der Eiscremetorte zu. – Du hast völlig Recht, aber
ich finde, dass wir so unterschiedliche Lebensweisen haben.
Während des Schuljahr bin ich so mit Lernen zugedeckt. – Ich
weiß es genau, dass wir uns jedes Jahr versprechen, Kontakt
zu halten. Wenn dann September beginnt, vergesse ich alles
und... – Sie blickte mich wieder an. –... du auch. In Toulouse,
wo ich lebe, und in ganz Frankreich, bald nach Halloween,
James könnte es wirklich erzählen, der 11. November ist
ein besonderer Tag. Der Tag gedenkt an den sogenannten
Waffenstillstand im Jahr 1918. An diesem Tag fühlen alle
den Korpsgeist. In meiner Familie, du weißt es, arbeiten
die Männer als Soldaten. Dieser Tag bedeutet mir und den
anderen Frauen sehr viel, weil wir an diesem Tag zusammen
sind. Leider kommt es oft vor, dass die Familie Weihnachten
wegen eines Kriegs nicht zusammen verbringt. Ich hasse
Kriege. – Sie zog gefülltes Gemüse aus dem Ofen. – Viele
denken, dass es nur eine Arbeit ist, aber es war nie nur
eine Arbeit und etwas, von dessen Lohn wir leicht leben
konnten. Sie irren. Sie glauben, dass die Kinder nichts von
dieser Situation verstehen, aber wir fühlen es. Ich fühle mich
desperat und bin verzweifelt. Seit 17 Jahren. Und jedes Jahr
im September, wenn die Schule beginnt, und die Soldaten zu
arbeiten beginnen, fühle ich mich gleich. Was wird, wenn ich
allein überbleibe?
Plötzlich rannte Robert hinein.
– Was ist los Mädels? Wir haben Bärenhunger. Los, los, ja!
Wir brachten Teller, Becher und die Platten raus. Noch ehe
ich die letzte Platte ergriff, kam Jacqueline mit einem Brief
herein.
– Er ist für Patricia, gib ihn ihr. – Warum ich?
Weil ich gehört habe, worüber ihr geredet habt.
Ich nickte.
Es war 9 Uhr, als wir mit dem Abendessen begannen. Ich ließ
mich neben Robert fallen, der schon seinen Teller bis dahin
vollgepackt hatte. – Dieser leckere Geschmack erinnerte mich
an Weihnachten, das ich bei meinen Großeltern als Kind
verbracht habe. – Da sagte Jan plötzlich: – Leider waren
102
meine Großmama und Papa schon damals nicht mehr am
Leben. Und trotzdem dachte ich immer mit großer Freude an
die dort verbrachte Zeit zurück. Wenn meine Winterferien
begannen, stieg ich den ersten Zug ein, der nach Colbitz
fuhr, in die Waldländer. Vor Weihnachten kauften ich und
Papa in der Nähe einen Tannenbaum, immer wählte ich den
Baum haben aus. Leider arbeiteten meine Eltern ständig
in unserer Landwirtschaft, bis zum Heiligabend. Bis dahin
bearbeitete ich mit Opa den Baum, bei leiser und feierlicher
Musik, zu der meine Oma beim Kochen sang. Jedes Jahr
war auf dem Tisch gebratene Gans und Ente mit Kraut.
Yumi. Vermisse ich es. Die letzten Weihnachten, bei dem sie
noch am Leben waren, musste ich ohne sie verbringen. Im
Januar hatte ich eine Sprachprüfung in Französisch und wollte
meine Zeit nicht mit drei Stunden im Zug verschwenden. Ein
großes Schuldgefühl habe ich deswegen. – Er wrang seine
Hände – Aber für mich war das Ergebnis der Prüfung sehr
wichtig, daran hing mein weiteres Studium ab, und meine
Großeltern konnten das nicht verstehen. Weil ich nicht mit
ihnen dieses große Familienfest gefeiert habe, enttäuschte ich
sie sehr. Ich wollte ihnen meine großen News erklären, aber
über die Liebe zu ihnen konnte ich nicht sprechen. Für sie
war jeder körperliche Kontakt ein Tabuthema. Sie heirateten
miteinander, weil ihre Eltern es so wollten. Ich kann es
eigentlich verstehen, wie kann man sein Leben mit einer
Person verbringen, die man nicht liebt.
Dann machten wir nach meiner erfolgreich bestandenen
Prüfung eine kleine Party, natürlich waren meine Großeltern
dahin eingeladen, und auf dem Weg zu uns passierte ihnen
ein schwerer Unfall.
Einen Monat später habe ich eine Mail bekommen, ich musste
zu einem Rechtsanwaltsbüro gehen. Dort gab mir ein Mann
einen dicken Brief meiner Großeltern an mich, ich sah die kursiven Buchstaben meines Opas. Im Testament vermachten
sie mir die ganze Landwirtschaft, sobald ich 25 Jahre würde,
könnte ich sie allein leiten.
– Du hast uns das noch nie erzählt, sagte James. – Ich
möchte euch auch meine Geschichte erzählen.
Jacqueline drehte sich interessiert ihm zu. James hat einen
reizvollen Charakter, Jacqueline ist aber aussichtslos roman-
103
tisch. Seit Jahren ist sie insgeheim verliebt in ihn.
– Sag nur, Kumpel. – Jan trank an seinem Bier. – Ich glaube,
dass du weißt, wie wichtig mir Halloween ist. Im Vereinigten
Königreich ist das System ganz anders. Also wir haben kleinere Perioden unter dem Schuljahr. Halloween ist am Ende
der ersten Periode. Man zieht sich eine komische Maske über,
und alle denken, dass dies eine der wichtigsten Ereignisse
im Jahr ist. Dieses Jahr aber war es total anders. Ich hütete
zu Hause das Bett, während meine Dudes... – oh, ja James
verwendet oft englische Ausdrücke in seinem Reden. Dudes
bedeutet Kumpels.
– Was war dein Problem? – sagte Jacqueline und hielt ihre
Hand vor ihren Mund. Alle wussten es, auch sie, was damals
mit James geschah. Sie sind die Personen, die während des
Jahres wirklich «keep in touch».
– Bei einem Football-Match wurden meine Beine verletzt.
Aber, the gist of the things... Oh, sorry. Also, der Kern der
Sache ist, dass ich endlich Zeit hatte, um über mein Leben
nachzudenken. Ich erfuhr so viele Sachen seit diesem Moment, und ich glaube, ich lerne noch immer, weil es meine
Verantwortung ist. Und seit diesem Moment bin ich nicht nur
für mich verantwortlich. Es ist ein Mädel, sie ist zweieinhalb
Jahre älter als ich. Wir, außer Jan, natürlich, ol‘ Dude – blickten mit herzigen Augen zu Jan. – Wir wurden richtig gute
Freunde im Lauf der Jahre. Diese Freundschaft füllte meine
Seele mit Zufriedenheit im grauen Alltag.
Jacquelines Geschichte war ein offenes Buch, alle verstanden
James, nur Jacqueline nicht. Sie fand dann heraus, was ich
schon wusste, als er mit der Neuigkeit herausrückte.
– Mach keine Zukost, bitte. – lächelte Robert. – Sag, du, Mr.
Perfektion!
Und warum ist James Mr. Perfektion? James ist eine der
klügsten und talentiertesten Leute, die ich kenne. Er hatte
nie B, oder nur C, er kriegte ausschließlich As. Er ist nicht
nur im Lernen ausgezeichnet, sondern auch im Sport. Er
spielt Fußball, seitdem er geboren ist. Der Ball wuchs seinem
Fuß zu. Alle hofften, dass er eines Tages weltberühmt wird.
Deshalb waren wir schockiert über die nächsten Sätze. –
Vor dem dreiundzwanzigsten Oktober, am Ende der ersten
Periode sagte mir die aktuelle Girl friend with benefits, also
Freundin mit... dafür gibt’s kein Wort auf Deutsch... egal,
ihr versteht, hoffe ich... also sagte mir, dass sie schwanger
104
ist. Nächste Woche wird sie unser Baby gebären. Ich zog
von meinen Eltern weg, und mit der Schule machte ich
Schluss. Sie besuchte eine Technikuniversität, sie ließ diese
auch sein. Ich miete eine kleine Wohnung in der Stadtmitte,
aber ich habe keine Ahnung, was der nächste Schritt sein
wird. Ich bin verzweifelt, aber ich weiß, dass wir eine gute
Entscheidung trafen. Ich liebe sie.
Jacqueline war weiß wie die Wand in der Küche, aber sie
bemühte sich um ein zartes Lächeln. Sie tut mir leid. Patricia
und Robert umarmten James und sagten sehr nette Worte.
– Und was wird mit deinen Stipendien? – fragte Jan.
– Wir werden eine Weile vom letzten gut leben.
– Pass auf, was wird, wenn du keine Arbeit findest?
– Ich werde.
– Aber, wenn es nicht gelingt, dann nimm das an! – Er gab
ihm eine Stange Geld aus seiner Tasche.
– Oh, Jan. Oh, Gott. Danke. Ich werde es zurückgeben.
Verspreche es. – Er schnellte hoch und umarmte ihn.
– Aber nächstes Mal, wirst du mit mir – plötzlich hielt er inne
– reden. Egal, für wie groß du dieses Ding hältst.
– OK. – Er weinte mit Lächeln.
– In Ordnung. – Ich schnellte auch hoch. – Passt auf! Jetzt
machen wir uns bitte ein Versprechen. Greift zu eurem
Becher, und sprecht mir nach!
Ich wartete ein bisschen, bis alle aufgestanden waren.
– Wir wissen – begann ich, und die fünf Freunde sagten es
nach – dass wir alle Geheimnisse haben. Diese Geheimnisse
machen uns zu den Personen – ich hielt inne – die wir
wirklich sind. Ich hoffe, dass diese vielfaltigen Charaktere
immer so bleiben werden und uns zu einer Gemeinschaft
zusammenfügen. – Ich hob meinen Becher. – Vergessen wir
das nie, dass wir zusammen am stärksten sind. Nicht nur
in dieser Woche, sondern im ganzen Jahr. – Ich sah mich
herzlich um. – Zum Wohl, meine Freunde!
105
DIE FABEL VOM BRÜLLENDEN LÖWEN
von Kristýna Sedláčková
Es scheint heute wieder die Sonne,
und irgendwo brüllt ein Löwe laut,
ich habe Angst, denn es geht nicht daohne.
Ein Löwe muss immer hinten brüllen,
er ist nicht zu stoppen,
ich kann nur hoffen,
dass wir schnell entkommen können,
egal, was wir uns auch immer wollen gönnen
und wünschen,
um das zu erreichen,
wonach wir uns sehnen.
Aber aus dem Fenster ist nicht hinauszulehnen.
Sonst kommt ein Ast,
er erschwert dir die Last,
weiterzumachen.
Dein Auge wird blind,
und du weißt nicht mehr,
wo wir sind.
Es lebe das Leben, es lebe die Freiheit,
in welcher Einheit?
In wessen Namen wird da gejubelt, gelacht?
Mein Herz sagt, gib acht,
vielleicht geht’s wieder
nur um Geld und Macht.
106
107
4. GESCHICHTEN
DAS ZERRISSENE PLAKAT
von Sophie Hochenauer
Wind und Regen
Lärm und Menschen
Hupen und Heulen
städtisches Leben
zerrissen dazwischen
Ein Plakat
Nichts zu erkennen
verschwommene Bilder
Farben ineinander
zerronnen, verkommen
zerrissen darunter
Ein Plakat
Früher war es was
Jetzt fast nichts
Früher waren es Sterne
Sind es jetzt Monde?
Zerrissen ist es
ein Plakat
Vergessen, vergeben
neue Worte, gleicher Sinn
zu verwirrend, doch alle fragen
alle reden, viele streben
Die Antwort
ein Plakat
108
AMBITIÖS, MUSKULÖS, BITTERBÖS
von Sophie Hochenauer, Bernadette Sarman und Susanne
Schmalwieser
Autobahn zum Flughafen in Canberra, 13:25, 31˚C
Flug: 14:15
Drei verschiedene Kulturen, drei verschiedene Familien, drei
verschiedene Väter.
Es staut.
In einem weißen Lexus mit getönten Scheiben sitzt Familie Satou
aus Japan.
Stau. Immer dieser Stau. Ungeduldig trommle ich mit dem
Finger auf das Lenkrad des gemieteten weißen Lexus, der uns
zum Flughafen bringen soll. Haben die in Australien keine
Ordnung im Verkehr? Okay, ja, in Tokio ist auch ab und zu
Stau, aber nie mit mehr als zehn Minuten Verspätung. Herr
Gott, wir haben es hier eilig. Um 14:15 Uhr geht der Flug
von Melbourne nach London. In Großbritannien steigen wir
um, um anschließend nach Wien, in die Stadt der Musik zu
fahren. Da sollte jeder einmal gewesen sein und außerdem
stärkt eine Auslandsreise das Allgemeinwissen.
Nicht weit entfernt kommen die Reifen eines vollgepackten
silbernen Chevrolet zum Stehen, in seinem inneren eine
amerikanische Familie mit zwei Teenagern und einem Baby.
God damn it, wieso stehen denn alle? Ich muss zum Flughafen, können die nicht weiterfahren? Auf Hupen reagiert hier
auch niemand.
«Darling, wahrscheinlich ist etwas passiert, die Leute vor dir
können nicht weiterfahren»
Jaja darling, danke darling, das hilft uns aber auch nicht,
unseren Flug zu erreichen. Bezahlt habe ich dafür, auch wenn
wir nicht in der Businessclass sitzen, die Plätze waren nicht
die billigsten. Ich wäre ja gar nicht hier, in diesem komischen
Land mit Wüsten und Städten und Haien, wären da nicht die
Kinder. ‚Kulturelle Bildung ist so wichtig¡ haben sie gesagt.
‚Auslandsaufenthalte lassen den Lebenslauf besser aussehen¡
haben sie gesagt. Aber ein Lebenslauf ohne Abschluss an
einem angesehenen College wird nicht einmal angesehen!
109
Und wer zahlt ihnen das College? Ich natürlich, mit meiner
Frau. Noch ganz versteh ich nicht, wieso sie so optimistisch
über diese Reise war. Wieso konnten wir nicht nach England
fliegen, das wäre ein gutes Angebot mit Direktflug gewesen.
Und hängen Australien und England nicht eh irgendwie zusammen? Das ist ja dann auch schon egal, billiger wäre es
auf jeden Fall gewesen. Bin ich in diesem Auto der einzige,
der sich über die Zukunft Sorgen macht? Jetzt, wo wir ja
das Baby haben, das so ungeplant alle Pläne durchkreuzt hat,
jetzt geht es ohne Stipendium nicht mehr. Robert Jr. ist ab
dem Herbst ein Sophomore. Zwar sind seine Noten nicht die
besten, aber die helfen einem sowieso nur, wenn sie perfekt
sind, und da stehlen uns immer die ambitiösen Asiaten das
Spiel. Aber das Spiel ist nicht so wichtig, besser gesagt, dieses
Spiel, denn das wichtigste Spiel ist Football. Mein Sohn und
ich, wir trainieren täglich. Abgeben, passen, laufen. Obwohl, in
den letzten zwei Wochen, in diesem gottverdammten Urlaub,
der mich jetzt hier so genervt im Stau stehen lässt, haben wir
ein wenig nachgelassen.
Etwas weiter hinten schmückt ein blauer Volkswagen die breite
Automasse, gesteuert von einem Österreicher, der mit Frau und
Kindern den Rückflug antreten will.
Einunddreißig, nicht ein Grad weniger, Einunddreißig, Einunddreißig, Maria Mutter Gottes, ist es heiß. Vor uns staut
es, hinter uns auch, Autos neben, Autos um und scheinbar
auch bald Autos auf uns, wo wollen die bitte alle hin? Einunddreißig, Einunddreißig, Einund – wie soll das bitte einer
aushalten? Ich habs ja gleich gesagt, Urlaub macht man nur
zuhause, Bergseen, Gipfel, Wanderrouten; Fernseher, Bier und
Liegestuhl. Aber nein doch, nein, nein, Ausland muss sein.
Roter Mazda, schwarzer Audi, unserer ist ein Volkswagen –
den müssen wir ja auch noch zurückbringen, in der Hitze, die
Arbeit hätten wir doch sparen können, und erklären werden
wir ihnen müssen, wieso wir so spät sind, mit «Excuse me,
ma‘am», und einem Knicks. Knicks und Knacks kommt jetzt
auch von der Rückbank – Nina – nein – Lena, was ist denn
jetzt los? Wie? Wo? Was zum Essen? Im Handschuhfach
sind Wurstsemmeln drin, im Kofferraum vier Äpfel. Wo? Wie?
Was Warmes, was Gutes? Wer hat dieses Fräulein erzogen?
Prinzesschen, Prinzesschen, heute bleiben wir nicht mehr
stehen. Zuhause, zuhause könnten wir zum Heurigen gehen,
110
aber nein doch, nein, nein, Ausland muss sein.
Wo hat der bitte Autofahren gelernt? Mangel an Hirn oder
Mangel an Hausverstand? Lena – nein – Nina, jetzt raunz
doch nicht so. Es gibt nicht einmal genug Zuspeisen in
den Take-Away-Beisln, was stört ihre Hoheit denn an Brot
mit Speck? Ihr seids alle nicht die hinterm Steuer, und die
anderen am Steuer kann ich nicht leiden, wieso müssen die
ausgerechnet dann stauen, wenn wir es eilig haben, Himmel
Herrgott noch einmal. Daheim, daheim könnten wir jetzt zu
Fuß gehen, und nach kürzestem Schlange-Stehen, ohne «Wait
to be seated» was schnabulieren. Nicht einmal nur zu Fuß
gehen, nein, auch das Fußballspiel sehen, keine Ahnung wer
spielt, Frau und Tochter sei Dank, das ist ja nicht wichtig,
und darf, nein doch, nein, nein, im Ausland nicht sein.
Der Stau ist lang, die Väter beginnen ihren Gedanken nachzujagen,
vorneweg der Herr im weißen Lexus.
Ich blicke durch den Rückspiegel nach hinten zu meiner
Tochter. Moemi, vor kurzem gerade sechzehn geworden, sitzt
auf der Rückbank und starrt aus dem Fenster, die Kopfhörer
im Ohr, maximal Tonstärke sieben, denn man hört nichts.
Ich seufze leise. Ich wünschte, sie gebe sich mehr Mühe
in der Schule. Auf den letzten Test hat Moemi nur 89%
gebracht... Es ist schade, was aus ihr geworden ist, ich war
definitiv ein ambitionierterer Schüler. Ich habe meiner Familie
Ehre gemacht.
Ein hoch angesehener Job, genügend Einkommen sowie eine
Berufskarriere, auf die jeder stolz sein könnte, plus eine
vorzeigbare Familie. Was will man mehr?
Mr America im Silver Car gelingt es nicht, seine Unruhe
abzustreifen.
«Junior, hast du gestern deine Sit-ups gemacht?»
Streng und selbstsicher, so ist es gut. Selbst in Stresssituation
so scheinen, als hätte man alles unter Kontrolle. Oh, come on,
er hat mich nicht gehört. Dröhnt seine Ohren die ganze Zeit
mit grauenhaftem Hip-Hop zu. Damals, als ich noch in seinem
Alter war, da hat man noch richtige Musik gehört. Da hat
man die lokale High-School-Rock-Band unterstützt und nicht
zu unverständlichen Worten genickt. Und hier in Australien,
ich denke das Leben der Teenager besteht sowieso nur aus
111
Surfen und Strandparties, im Wasser und Sand spielen.
My god, jetzt fängt das Baby auch noch an zu schreien.
Meine Nerven halten das nicht lange aus, ich hab das
schon zweimal durchgestanden, aber damals war ich noch
sorgenfreier. Natürlich liebe ich den kleinen Fratz, unseren
Brandon, dann wird mir nicht langweilig, wenn Robert Jr.
hoffentlich ein Stipendium bekommt.
Im blauen Volkswagen findet man sich missmutig mit der Situation
ab.
Einunddreißig, Einunddreißig, das Spiel gegen Deutschland
sicher schon in der einunddreißigsten Minute, Tobias, jetzt
raunz nicht, bist doch eh so umsorgt. Junger Mann, uns ist
allen heiß, und du hast es ja noch so leicht, dein ganzes
Leben noch vor dir, kein Bedürfnis nach Freibier, Perspektiven
größer als der Stephansdom, wenn auch der Ehrgeiz irgendwie
im Keller. Aber Ehrgeiz lass gerne Ehrgeiz sein, Geiz ist nicht
geil und die Ehrvollen allein. Auf die Uni kommst du soundso,
und das Gelbe vom Ei waren meine Noten nie, auch nie,
solange da noch ein Einser in Turnen steht, ist die Welt
schon in Ordnung. Wir müssen ja nicht alle Talente sein,
manche Superhelden mähen eben lieber den Rasen, als John
F. Kennedys Kugel zu fangen, nein doch, nein, nein, das muss
doch nicht sein.
Nina, ruf die Irmi an, die muss den Bello nochmal füttern,
heute kommen wir nicht mehr nach Haus, das arme Hundsvieh
ist schon so lange alleine, dass es mir ja nicht auf den
Trachtenanzug macht, ich leiste mir ja sonst keinen Luxus,
die Damen des Hauses sind die Shoppingqueens, während ich
mich bemüh, das Geld zu verdienen, die Firma zu schupfen
und von A nach Z zu hupfen, aber so gehört sichs, so soll es
halt sein. Nina und arbeiten? Nein doch, nein, nein.
Gedanken über die Zukunft seiner Tochter füllen das Auto von
Vater Japan.
Zu meiner Zeit gab es noch kein Internet. Die heutige Jugend
hängt aber nur mehr noch an Handys und so einem Kram,
deshalb darf Moemi nur eine halbe Stunde pro Tag im
Internet surfen, danach nimmt meine Ehefrau Haruka es ihr
ab.
Sonst würde Moemi nie zum Geigespielen kommen. Und das
112
ist für sie das allerwichtigste. Eine berühmte Geigenspielerin
wird sie wohl nicht werden können, das wäre mir zudem
auch sehr unsicher. Moemi soll später bei einem großen
Unternehmen, vielleicht Toyota, arbeiten, um so eine Grundlage
für ein erfolgreiches Familienleben zu schaffen. Wenn ihr
Zukünftiger ebenfalls einen gut bezahlten Job ausübt, hat
Moemis Familie die besten Chancen als angesehene Familie
geschätzt zu werden.
Langsam legt sich der Sturm im American-Dream, oder ist es nur
die Ruhe davor?
«Daddy, mir ist so unerträglich heiß, mein Make-Up verrinnt
gleich.»
Tiefe Atemzüge. Ach danke liebe Frau, für die kühle Hand
im Nacken. Tiffany weiß immer genau, was ich brauche.
Nicht viele haben das Glück, eine so treue, tiefsinnige und
feinfühlige Lebensbegleiterin zu finden. Ohne sie hätte ich
schon zu oft meinen Kopf verloren. Alle haben gesagt, die
College-Liebe würde erlöschen, aber sie brennt immer noch,
so heiß wie die Sonne auf uns herab, über die sich Aubrey beschwert. Unser silberner Chevrolet ist zwar gut ausgestattet,
aber gegen fünf schwitzende Menschen kommt er nicht an.
«Die Klimaanlage ist schon aufgedreht, honey. Sorge dich
nicht, du siehst fabelhaft aus!»
Ach, ich kann mich so glücklich schätzen, sie gefunden zu
haben. 88˚ Fahrenheit, so heiß ist meine
Liebe für sie.
Auch meine Aubrey wächst zu einem entzückenden Mädchen
heran, wunderschönes braunes Haar, welches sie zweifellos in
der High School blond färben wird, in der Meinung, dass nur
blonde Cheerleader scharf sind. Trotzdem ist sie ein vernünftiges Mädchen. Früher hat sie Klavierunterricht genommen,
aber jetzt hat sie eingesehen, dass Sport einfach wichtiger für
ihre Zukunft ist. Es heißt ja nicht, dass sie nicht mehr Klavier
spielen darf, aber Prioritäten muss man einfach setzen, that‘s
life, und leider kann man die Kinder davor nicht schützen.
Außer mein Junior und ich, wir hatten es gut. Football ist
unsere Leidenschaft, go bulldogs!, und es war auch mein
Ticket ins College. Wahr, ich verdiene als Coach nicht sehr
viel, hab als typischer Teenager der zum Mann wird, meine
Zeit im College mit Trinken und Spielen verbracht. Aber
Tiffany arbeitet bei der Bank. Sie bringt das Geld, und ich
113
sorge dafür, dass wir es so wenig wie möglich für Schule und
College ausgeben müssen. Eigentlich muss ich mir gar nicht
so viele Sorgen machen. Wie hat das angefangen? Ach ja,
Stau, 88˚ Fahrenheit und ein Flug der in, was, 20 Minuten
schon geht?
No no no, wir erwischen ihn noch, wir schaffen das!
Vorwurfsvolle ungläubige Fragen an Gott werden aus dem blauen
VW an den Himmel geschickt.
Wie in aller Welt hab ich das hier verdient? Nicht einmal Lena
ist zufrieden, dabei hat die sich so gefreut, und anscheinend
wars ja so gut für ihr Englisch, kann schon sein, aber Sprachen
waren nie so meins, und wie oft hätt ichs schon gebraucht
mit einer anderen Frau? Wär ich gläubig, würd ich jetzt mein
Karma betrachten, den Herrn in den Wolken fragen, wo das
Problem liegt, ob Ostern- und Weihnachtskirchen-Gänge nicht
reichen. Ist das bisschen Steuerhinterziehen jetzt wirklich so
ein Verbrechen, oder will sich das Schicksal aus Prinzip an
mir rächen, weil bis jetzt alles so glatt gelaufen ist? Nein
doch, nein, nein, das wäre gemein.
Der ambitiöse Asiat versucht, das beste aus dem Stau zu machen.
Die Sonne brennt heiß und erbarmungslos vom wolkenlosen
Himmel herunter, doch durch die getönten Scheiben unseres
weißen Lexus sondern wir – Gott sei Dank- die Hitze ab. Ich
verkneife mir ein Grinsen, als wir langsam an einem blauen
Volkswagen vorbeirollen. Die Kinder der Familie quengeln
nach Essen und etwas zu trinken, während der Vater versucht,
die Nörgeleien auszublenden. Anscheinend haben sie keine
Klimaanlage.
Ich wende mich wieder der Straße zu. Vor uns steht ein
großer silberner Chevrolet mit einem vollgestopften Kofferraum, der aufzuplatzen droht. Aus dem Auto dröhnt laute
Hip-Hop Musik, vermischt mit mehreren Wortfetzen.
«Amerikaner? “ frage ich meine Frau, die sich leicht mit ihrem
Fächer Luft zufächelt und deute auf den Chevrolet vor uns.
Haruka hat zwei Jahre in New York studiert, also muss sie
sich auskennen.
Sie nickt und schließt das Fenster, damit sich die kühle Luft
der Klimaanlage im Auto gleichmäßig verteilt. Gut, dass ich
114
durch meine Kontakte den Lexus mieten konnte, mit einem
Volkswagen hätte ich die Hitze nicht überlebt. Draußen ist ja
die ärgste Affenhitze.
Entnervt sinke ich in meinen Autositz zurück. Das kann
hier noch ewig dauern. Und wenn wir es schaffen sollten,
irgendwann am Flughafen anzukommen, dann brauchen wir
sicher noch mehrere Minuten, zum Check-in und durch die
Kontrollschranken zu laufen. Aja, und den Mietwagen muss
ich auch noch abgeben.
Die amerikanische Familie vor uns kommt mir durch die geschlossenen Fenster noch lauter vor als sie schon ist. Und
langsam wird mir das hier zu bunt.
Gerade in dem Moment wird eine Lücke neben uns frei, als
ich schon auf das Gaspedal trete und haarscharf die Amerikaner überhole. Der durchtrainierte Fahrer, der Vater nehme
ich an, schaut mich mit hochrotem Kopf böse an, während
ich einen Blick auf die Familie des Bodybuilders, oder was
dieser Typ auch sein mag, erhasche. Typisch American. Nichts
Besonderes. Sogar ein typisches High-School- Mädchen ist
dabei, mit tonnenweise Make-Up. Natürlich.
Ein triumphierendes Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen.
Irgendwann muss ja ein Japaner gegen einen Amerikaner
gewinnen.
Jetzt fühle ich mich noch besser, denn dort vorne sichte ich
schon die Abfahrt zum Flughafen. Wir sind endlich da.
Währenddessen fühlt sich Robert im Chevrolet in seiner Rolle etwas
eingeschränkt.
«Yo dad, listen to this sick beat!»
Ah, das ist viel zu laut! Was will mir Tiffany gerade sagen?
Ouch, da pochen meine Schläfen gleich wie verrückt. Oh,
der Stau lockert sich, schnell vorfahren — das gibt es jetzt
aber nicht, was will dieser weiße Lexus da? Etwa in meine
Lücke? Aha, Chinesen, oder Japaner? Egal, ich hatte recht
vorhin, die klauen einem jedes Spiel. Wie gern ich sie mit
meinem Junior fertig machen würde, mal sehen wie sie sich
in Football anstellen. Aber jetzt konzentrieren, da vorne ist
die Abfahrt.
«Schalt es aus, Mate!»
Endlich wieder Ruhe. Natürlich, auch der blaue Volkswagen
will mich überholen. Aber nicht mit mir, der Stau ist fast
aufgelöst, da kann man schon ein wenig aufs Gas drücken.
115
Na, wieso starrt mich diese Frau vom Volkswagen aus denn
so an? Haben die echt Snacks mitgenommen? Hier gibt es
doch gar keine gute Peanutbutter.
Auch Österreich nähert sich tapfer dem Ziel, weit ist es ja nicht
mehr.
Ha! Den silbernen holen wir ein, sind schneller als ihr,
mit der Menge an Gepäck auch gar nicht so schwierig,
so, gleich sind wir neben ihnen. Schaut die Nina da den
Typen da an? Schaut gut aus, sagt sie, das Auto, frag
ich, ja, doch, ja, ja, ganz wunderbar. Der Muskelmann in
Silber steigt aufs Gas, hat wohl herausgefunden, wozu das
Pedal gut sind, Himmel Hergott, ist der schnell, jetzt muss
die Nina woanders hinschauen. Was hat sie gesagt? Ein
Flughafenschild? Heureka, wir habens! Kinder, my lady, alles
wird gut! Morgen schlafen wir schon in unseren eigenen
Betten, ist euer Vater nicht grandios? Einmal links abbiegen,
Blinken, Schalten, und dann ins Parkhaus. Gibt es hier ein
Auto, dessen rechter, rechter Platz noch leer ist? Dort drüben,
dort drüben, Tobias ist brav. Und jetzt zackig, haben noch
zwanzig Minuten, das könnte noch gehen, online check-in sei
Dank. Raus mit den Koffern, küsst den Volkswagen Lebewohl,
Lebewohl, Lebewohl – ha! – ich werde jetzt wieder wohl
leben, denn ja doch, ja, ja, wir sind endlich da.
War im Stau das Stehen so irritierend, so müssen jetzt die Füße der
japanischen Familie bewegt werden.
«Schnell, gebt das Gepäck ab, ich parke das Auto», rufe ich
meiner Frau zu, die daraufhin nickt und vollbepackt mit den
Koffern und Moemi im Schlepptau los eilt.
Kaum habe ich den Lexus eingeparkt und den Schlüssel abgegeben, sprinte ich schon los. Okay, Flug 232, das bedeutet,
ich muss... erst mal zu meiner Familie. Ahh, da ist sie schon.
Gott sei Dank hat Haruka das Gepäck schon abgegeben,
wenigstens etwas. Meine Frau reicht mir das Ticket, als ich
sie außer Atem und mit plagenden Seitenstechen erreiche.
Ich bin auch nicht mehr der Jüngste.
Schnell gehe ich durch das Kontrollteil, das mir mit seinem
Piepsen immer gehörig auf die Nerven geht. Ich brauche
Ruhe. Und die bekomme ich nur im Flugzeug, frühestens.
Also weiter.
116
Durch den Sicherheitscheck. Der Kontrolleur sieht mich misstrauisch an, als ich durch den Schranken gehe und meine
Rolex wieder überstreife. Wahrscheinlich dachte er, ich sei
einer von der Yakuza und schmuggle Drogen. Ha, als ob. Die
Vorurteile sollten die Känguru-Menschen lieber lassen. Sie
haben schon mehr als genug.
Der Kontrolleur starrt mich noch einmal an, während ich ihn
kühl mustere, dann eile ich im Laufschritt mit meiner Familie in Richtung Gates. Ich sehe kurz von der Ferne die
Volkswagen-Familie rennen, (sind das Deutsche?) dann verschwindet sie aus meinem Blickfeld. Anscheinend haben sie
ihren Flieger verpasst.
Gleich haben wir es geschafft. Ein Blick auf mein Ticket
verrät mir, dass wir zu Gate 9 müssen. Gleich. Gleich...
Ebenso zeigen Muskelmann und Familie ihr sportliches Talent im
Rennen zum Flieger.
Okay, hier muss ich abfahren, gleich hinter dem weißen
Lexus mit den fancy getönten Scheiben, der, der mich vorher
geschnitten hat. Oh, der Volkswagen folgt uns? Kann man
hier in diesem Land angezeigt werden, wenn man jemanden
nicht überholen lässt? Wundern würde es mich nicht, manche
leben ja auch mitten im Outback, wo man nur mit Fliegern
weiterkommt und giftige Spinnen in der Badewanne findet.
Da ist mir mein sicheres Amerika lieber, da kann ich mir ein
Gewehr kaufen und meine Familie verteidigen. Ja, endlich
der Flughafen, wie spät ist es, nur mehr 10 Minuten, oh no.
Schnell alle raus, Koffer auspacken, puh ist der heavy.
«Aubrey, bist du sicher, dass du das Gewichtslimit nicht
überschritten hast?»
Unschuldiges Lächeln, great.
«Ich treff euch beim Gate, ich bring noch das Mietauto
zurück!»
Faster, faster, faster, gut, da ist das Parkhaus und auch gleich
eine Parklücke, diesmal nimmt sie mir keiner weg. Schlüssel
auf das Armaturenbrett, wie ausgemacht. Now, schnell zum
Gate, ich trau mich gar nicht, auf die Uhr zu blicken. Welches
Gate? Ach ja, neun, das ist rechts von hier, nein links, okay.
Jetzt zahlt sich das Training aus, um die Ecke, rauf die Stiegen,
da vorne ist ja meine Familie!
Obwohl wir so im Stress sind, reicht mir meine Frau die
Hand, beruhigt mich, wir schaffen das! Aha, vor uns, das
117
sind doch die Chinesen-Japaner, die uns geschnitten haben
und die Volkswagenleute, god knows wo die herkommen.
Europa ist ja der reinste Fleckenteppich. Manche Länder hab
ich ja noch nicht mal gehört, und Football spielen sie auch
nicht. Nur Soccer, pff, wir können uns doch alle einigen, dass
das mehr was für Mädchen ist, oder? Man muss sich nur
unser glorreiches Land ansehen! Oops, da wäre ich ja fast
gestolpert. Da vorne ist das Gate, nur noch wenige Meter...
Zu guter Letzt wollen auch die Österreicher so schnell wie möglich
ins Land der Berge zurückkehren
Wieso ist das Gepäck denn so schwer, schmuggeln wir etwa
heute Steine? Ist doch nur Gewand, meint Nina, fährt mir
nebenbei über die Zehen, au, ja, au, au, verflucht sei die Frau.
Achtzehn Minuten, Familie, Beeilung! Achtzehn Minuten, das
geht sich noch aus. Wie? Wo? Meine Uhr geht falsch? Ein
Einser zu viel, nur noch acht? Das wird knapp. Lauft Kinder,
lauft, Lena, ich trag dich, Nina, bring den VW zurück. Gott
sei gelobt, keine Schlange, Pässe da, Koffer jetzt nicht mehr
da, sondern flugzeugwärts am Fließband, Tickets gedruckt,
sicherheitsgecheckt, Kinder, alles wird gut. Laufen, laufen,
kommt, Beeilung, Gate Nummer neun, bald sind wir zuhause.
Hallo, hallo, ist hier jemand, ist das Boarding schon aus? Wir
müssen noch rein! Schaut nur, der Muskelprotz von vorher,
läuft hinter uns, geschieht im recht. Hab ich die Japaner da
nicht auch schon gesehen, oder schauen die wirklich alle
gleich aus? Wie auch immer, wie sind nicht die letzten, gut
ist das, gut, so gut wie der dort aussieht, meint Nina, das
Flugzeug, frag ich, ja doch, ja, ja. Ich ziehe sie weiter, aus der
Puste wäre untertrieben, Gate sieben und Gate acht ziehen
an uns vorbei wie die Wolken am Himmel – und endlich,
endlich, ja doch, hurra, wir haben’s geschafft, Gate neun, wir
sind da...
Ein Lautsprecher knackst.
«Next flight on Gate 9 to Amsterdam will start boarding at 17
o‘clock.»
118
KRIEGERIN GOTTES
von Yasmin Schubert
GERADE eben war es Mitternacht geworden, draußen läuteten die Glocken der Kirche am Dorfplatz. Im Wohnzimmer
nebenan legte meine Mutter ihr Buch zur Seite, in dem sie
gelesen hatte und drehte das Licht aus, das wusste ich.
Wach lag ich seit zwei Stunden, in meinem Bett und hatte
Musik gehört, die ich nun ausdrehte, die Kopfhörer nahm ich
ab und legte sie auf mein Nachtkästchen.
Aufmerksam und ein bisschen angestrengt horchte ich nach
draußen vor meine zugemachte Zimmertür. Da hörte ich den
schlurfenden Schritt meiner Mutter, wie sie ins Bad tappte
und wenig später genauso müden Schrittes zu meinem Zimmer kam.
Sie öffnete die Türe, warf einen flüchtigen Blick herein. Als
sie sah, dass ich im Bett lag und dachte ich würde schlafen,
schloss sie die Tür wieder und ging in ihr Schlafzimmer, um
sich hinzulegen.
Zeit für mich, um aufzustehen, so wie ich es jede Nacht tat.
Meine Mutter hatte mir verboten, meinem Wissensdurst in
dieser Hinsicht zu stillen. Sie hatte Angst um mich, dass ich
wurde wie meine Schwester. Ich wollte wissen, ich konnte
nicht anders, ich musste es wissen, alles, denn ich wollte
verstehen.
Ter-ro-ris-mus
Die Anwendung von Terror zur Einschüchterung von
Personengruppen und zur Durchsetzung bestimmter – politischer –
Ziele.
Die Medien berichten regelmäßig, in sehr engen Abständen,
von Terroranschlägen.
Selbstmordattentäter, Autobomben, Sprengsätze, Schießereien,
uvm.
Es zählt zur Tagesordnung, kaum eine Tageszeitung bringt
keinen Bericht über solche Themen, wie ein Muss wirkt es,
als würden die Journalisten nach einem weiteren Anschlag
Ausschau halten, über den sie berichten können.
Ter-ror
119
Ein über längere Zeit anhaltendes Verhalten gegenüber anderen
Menschen, bei dem man mit Drohungen, Zwang und Gewalt diese
einschüchtern und schließlich beherrschen will.
Der IS, Der Islamische Staat, steckt hinter all dem, sagt man.
Eine Bezeichnung die in aller Mund ist. Beinahe jeder
weiß, was der IS ist und fast genauso viele sprechen und
diskutieren darüber.
Das ist Terror. Das ist das Ziel der Terroristen.
Sie wollen in aller Munde sein, sie wollen besprochen und
beredet werden, denn man spricht nur über solche Dinge die
einen beschäftigen- in positiver sowie in negativer Hinsicht.
Terroristen wollen die negativen Folgen, sagt man.
Terror bedeutet im Lateinischen Angst, Schrecken.
Terroristen wollen Angst und Schrecken verbreiten, Regierungen erschüttern, Menschen in Panik versetzten um sie dann
kontrollieren zu können.
Meine Finger flogen über die Laptoptastatur, ich drückte die
Entertaste und öffnete mir eine Dose Energydrink, die ich aus
der Schreibtischschublade holte, wo ich sie vor meiner Mutter
versteckte, während das langsame Internet die Seiten lud.
Fun-da-men-ta-lis-mus
Eine politische Anschauung der Religion, die sich starr an die
ursprünglichen Inhalte ihrer Lehre hält.
Keine Veränderung, keine neue Entwicklung, kein Wachstum.
Rein das Festhalten an den alten Lehren.
Dschihadismus, auch Jihadismus
Eine militante, extremistische Strömung des Islam. Die Anhänger
propagieren den Aufbau und die Ausdehnung des Machtbereichs
eines Islamischen Staates mit Mitteln der Gewalt.
Mittel der Gewalt also.
Mittel wie Flugzeuge in ein Gebäude steuern, so wie sie es
am 11. September 2001 in den USA gemacht hatten.
Oder am 22. Mai dieses Jahres in Brüssel. Bombenanschläge
am Flughafen und in Metrostationen, daraus gingen 23 Tote
120
und zahlreiche Verletzte hervor.
Ebenfalls dieses Jahr, am 17. Februar in der türkischen Hauptstadt Ankara, wurde ein Militärkonvoi mit einer Autobombe
gestoppt, es gab 28 Tote.
Und gleich zu Beginn, am 12. Tag des Jahres 2016 starben
11 Menschen durch einen Bombenanschlag bei der Blauen
Moschee, einem Touristenzentrum.
Zum Ende 2015 gab es zwei große Attentate.
Das Erste am 31. Oktober. Ein russisches Passagierflugzeug
stürzte über Ägypten ab, eine Bombe der IS war an Bord laut
dem russischen FSB. Diesem Attentat fielen 224 Menschen
zum Opfer.
Das Zweite war am 13. November in Paris. Dabei handelte
es sich um mehrere Anschläge an verschiedenen Orten zur
selben Zeit. Acht Attentäter des IS wüteten. 132 Menschen
starben.
Ich sank in meinen Schreibtischsessel zurück und wischte mir
die Tränen von den Wangen. Mein Herz fühlte sich schwer
an und mein Kopf schwirrte. Ein paar Schluck von meinem
Energydrink tat ich und massierte mir die Schläfen. Dabei
starrte ich auf das Standbild von mir und meiner Schwester,
welches auf einem kleinen Regalbrett über dem Schreibtisch
stand. Schließlich streckte ich die Hand aus und legte das
Standbild mit dem Foto nach unten hin. Schmerzhafterweise
tat es gut, dieses Bild nicht mehr zu sehen.
Salafisten.
Der Salafismus ist eine fundamentalistische Strömung des Islam.
Die Salafisten wollen die Gründerzeit des Islams wieder aufbauen.
Etwas in der Art, wie die Steinzeit?
Salaf bedeutet in Arabisch «der Vorfahre», «der Ahne». Sie lehnen
die demokratische Grundordnung ab. Laut Studien sind fast alle
Muslime, die zu Gewalt neigen, Salafisten, doch sie stellen meist
keine Terrorgefahr dar.
Vor ihnen mussten wir Europäer uns also nicht fürchten,
wir kamen mit unseren eigenen Leuten mit Neigungen zu
Gewalttaten klar, das würden wir auch bei den Salafisten
121
schaffen.
Islamisten hingegen, mussten wir uns vor ihnen fürchten?
Islamisten.
Sind Muslime, die die Meinung vertreten, dass der Staat nach ihrer
Auffassung des Islams regiert werden sollte. Der Islam als
Grundlage für Politik.
Sie lehnen Menschenrechte, Individualismus und Pluralismus ab.
Mir stellte es die feinen Härchen auf meinen Armen und im
Nacken auf. Wollte das meine Schwester? Wollte sie eine
Politik, die auf bestimmten Auslegungen und Auffassungen
des Korans basierte?
Dschihadisten.
Sie wollen die Gesellschaft nach ihrer Vorstellung verändern und
scheuen dabei nicht, Mittel der Gewalt einzusetzen.
Dschihadistische Organisationen sind die Al.Quida und der IS. Ihre
Ansichten basieren auf fundamentalistischen Auslegungen des
Islam mit salafistischer Ideologie.
Da hatte ich sie, die, vor denen Europa sich fürchten durfte.
In meinem Innersten brach mit einem Mal eine seltsame,
undefinierbare Art von Fühlen aus, die sich breit machte,
schleichend, still und leise.
Von einem jungen Mann aus meinem Land las ich, der den
Dschihadisten beigetreten war. Er war gefangen genommen
worden und dieser Bericht erzählte seine Worte. Die Dschihadisten würden kommen und Europa unterwerfen und jeder,
der sich nicht zum Islam bekenne, würde getötet werden. Es
war ihnen egal, ob es eine Million oder fünf Millionen Opfer
fordern würde.
Ich hatte Angst.
Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr sicher in meinem kleinen
Zimmer, die Wände mit den Plakaten meiner Lieblingsbands
rückten näher und ich dachte einen Moment, vollkommen
irrational, dass in einer meiner Zimmerecken eine Kamera
befestigt sei, die mich ausspionierte. Bestimmt hatte meine
Schwester sie persönlich angebracht.
Ich schloss die Augen, versuchte wieder in die Realität zurück
122
zu kommen und den sich anbahnenden Verfolgungswahn zu
beenden.
Unvermittelt musste ich an sie denken. Lebte meine Schwester noch, oder war sie bereits zu einer Selbstmordattentäterin
geworden?
Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Gotteskrieger.
So werden Menschen bezeichnet, die Krieg, oder allgemein
Waffengewalt befürworten, um den Einfluss ihrer Religion
auszubauen und zu festigen.
550 Deutsche Sympathisanten zogen in den Dschihad. Man
denkt, etwa 180 kehrten wieder zurück.
Dshi-had
Der heiliger Krieg der Muslime zur Ausbreitung und Verteidigung
des Islam.
Durch Hasspredigten in Hinterhöfen oder Moscheen, durch
Verwandte, Freunde und vor allem durch das Internet werden
Jugendliche dazu gebracht, ihr friedliches Leben in einer
Demokratie gegen einen Märtyrer-Tod in einem Heiligen Krieg
und einem Land, das über 4000 Kilometer entfernt ist zu,
tauschen.
Sie streben nach dem Kalifat und der Scharia.
Kalifat ist das Amt, die Würde, die Herrschaft des Kalifen. Ein
Kalif ist der Nachfahre Mohammeds, oder jemand mit einer
hohen Stellung im IS.
Die Sharia ist das religiöse Gesetz des Islam.
Außerdem ist die Auswanderung zum IS eine Pflicht, die jeder
Dschihadist erfüllen muss.
Sicherheitsbehörden schätzen die Rückkehr vom Dschihad als
die größte Terrorgefahr in Deutschland ein.
123
Meine Schwester würde nicht wieder kommen, sie war fort.
Das sagte mir dieser eine Satz, ich wünschte, ich hätte ihn
nie gelesen.
Still und leise weinte ich.
Es war drei Uhr in der Nacht, auf die Minute genau.
Draußen läutete die Kirchenglocke, die Datei, an der ich
schrieb, speicherte ich sorgfältig und klappte den Laptop
zu. Müde, an Körper und Seele, erhob ich mich von meinem
Schreibtischsessel und schwankte zum Bett.
Es war Donnerstag, der einunddreißigste Donnerstag seit
meine Schwester gegangen war, um eine Gotteskriegerin zu
werden, welch hirnrissige Idee.
Ich tastete nach den Kopfhörern, setzte sie mir auf und
schaltete den MP3-Player an. Einer meiner Lieblingssongs
klang leise aus den Hörern in meine Ohren, und ich schloss
die Augen.
Weder konnte ich sie vergessen, noch wollte ich an sie denken.
Es war schmerzhaft und zu verwirrend, daran zu denken,
deshalb versuchte ich meinen verstörten Verstand mit Fakten
zuzuschütten.
Hatte sie gewusst, was sie tat? War ihr klar gewesen, als sie
ging, welche Taten sie für Gott, für Allah ausführen musste?
Ich konnte, und ich wollte nicht glauben, dass meine Schwester
im Wissen dieser grauenvollen und herzlosen Taten in diesen
Krieg für Gott gezogen war. Andererseits konnte ich mir nicht
denken, wie an ihr diese Flut an Informationen zu diesem
Thema, vor der wir uns alle nicht verstecken können, vorüber
gegangen sein sollte.
Sie musste es gewusst haben, das machte die ganze Sache
noch verwirrender.
Sie musste überzeugt davon sein.
Wie konnte man von Terrorismus überzeugt sein? und noch
schlimmer, wie konnte sie, meine Schwester, von Terrorismus
überzeugt sein?
Nun war ich verstört und schockiert. Ich hatte keine Angst,
das nicht mehr, nein.
Alleine Schock und Unglauben fühlte ich in mir.
Eine Menge wusste ich nun, Fakten. Doch immer noch konnte
ich den Beweggrund, sich den Dschihadisten anzuschließen,
nicht verstehen.
124
Ich konnte es nicht verstehen!
Um meiner Schwester Willen hatte ich es gewollt. Jedoch
in diesem Moment der Stille in der Nacht, wo in meinem
Kopf nichts als Chaos herrschte, war ich froh, es nicht zu
verstehen.
Ich hatte Angst zu werden wie sie, wenn ich verstehen
würde.
Hatte Angst auch eine Dschihadistin zu werden.
KÖNIGREICH HASS
von Michaela Čavargová
Vorher habe ich noch nie darüber nachgedacht, dass ich
eigentlich sterben werde. Es war nur so ein außenseitiger
Gedanke, eine schmerzhafte Sicherheit irgendwo im tiefsten
Inneren meines Gehirns, wo ich meistens überhaupt nicht
hinreichen wollte. Und trotzdem ist es jetzt da, so wahr und
greifbar wie nie zuvor.
Plötzlich habe ich Angst. Ich habe die ganze Reise im Flugzeug im Stillen verbracht. ‘Keinen Verdacht erwecken, nur
keinen Verdacht erwecken!’ habe ich mir immer wieder im
Kopf wiederholt. Ich hatte den Eindruck, dass mich alle anschauen und überprüfen wollten. Es war unangenehm, um
nicht zu sagen, gefährlich. Wir haben es doch so lange geplant. Wir können es uns nicht leisten, einfach so zu versagen.
Fehler werden nicht entschuldigt. Sehr viel ist im Spiel.
Wir haben schon den Boden erreicht. Die Passagiere stehen
auf. Sie sind wie ein Haufen von Bienen. Es macht mich
nervös. Ich warte, um dem Personal des Flugzeuges den
Eindruck zu geben, dass ich etwas dringend suche. Mein
zusätzliches Gepäck zum Beispiel.
Ich bin mir der prekären Situation bewusst, dass ich so schnell
wie möglich verschwinden muss. Aber wie? Alle Ausgänge
sind vollgestopft. Es gibt Kontrollen in jeder Ecke des Flughafens. Mein Pass ist gefälscht. Mein Ausweis ist gefälscht.
Normalerweise existiere ich nicht. Ich bin ein Niemand im
Auge der Welt.
Aber das wird sich bald ändern. Ich werde zur Legende, die
die Geschichte verändert und die die Flamme der Gerechtigkeit und des Glaubens wieder anzündet. Ich werde uns alle
125
retten.
Plötzlich bemerke ich eine Gruppe von türkischen Jugendlichen. Wenigstens glaube ich, dass sie Türken sind. Ich
kenne ihre Sprache nicht. Ohne zu zögern, mische ich mich
zwischen ihnen hinein.
Der Flughafen ist riesig groß. Leute bewegen sich wie Ameisen. Sie steigen die Treppe hinauf und hinunter, beeilen sich,
um ihren Flug nicht zu verpassen. ‘Hallo! Leute! Wozu die
Eile?! Genießt jede Minute, so lange ihr noch könnt. ‘ schreie
ich sie in meinen Gedanken an. Aber die hören nicht richtig
zu, jeder von ihnen ist mit seinen eigenen Lebensproblemen
beschäftigt.
In diesem Moment spricht mich jemand an.
Bonjour Monsieur!
Es ist eine junge Frau in kurzem blauen Rock. Ich befinde
mich beim Check Out. Ihr unbedecktes Gesicht lächelt mich
frech an. Mir wird übel davon.
Bienvenue en France. Nous vous souhaitons un bon temps
pendent que vous restiez ici.
***************
Asch-hadu an laa ilaaha ila-Allah was Asch-hadu anna
Muhammadan abd-ullahi abduhu wa rasouluh
***************
Es war meine Mutter, die mir über die sieben Himmel erzählt hatte. Wer denkt, dass es nur einen Himmel gibt, ist
entweder blöd, oder ein ungläubiger Hund. Eigentlich gibt
es sieben davon, jeder für unterschiedliche Arten der Kreaturen geeignet. Die ersten sechs gehören den zahlreichen
Lebewesen der Erde. Der siebte Himmel, das ist das Paradies.
Laut dem Koran sei es ein großer Garten, ohne stützende
Säulen gebaut. Von dort aus sende Allah den Regen herab
und bewege die Sonne und den Mond. In der Mitte befinde
sich ein Baum, und neben diesem Baum stehe Allahs Thron.
Dieses Paradies sei in hundert Stufen verteilt. Diese Stufen
sind so weit voneinander entfernt, wie die Erde und das
Firmament.
Um die Wahrheit zu sagen, interessierten mich die niedrigen
Stufen des Himmels nicht. Ich wollte mehr. Ich wollte die
Macht unseres Schöpfers deutlich an mir erspüren und das
126
konnte man nur in der höchsten Stufe, in Mujahidun, sagte
meine Mutter oft.
Sie war sehr klug, meine Mutter. Fast so klug, wie ein Mann,
was sehr ungewöhnlich war. Die Frauen waren nicht dazu geschaffen, zu denken. sie sollten Kinder gebären, sie erziehen
und ihre Männer zufrieden machen. So stehe es eigentlich
auch im Koran.
Aber mit meiner Mutter wollte es unser Schöpfer wahrscheinlich anders. Ihre schwarzen Augen, die durch die Öffnung
in ihrer Burka auf mich herabschauten, glänzten. Und dieser
Glanz, das war die Klugheit.
Mein Vater mochte es nicht. Er sagte oft, dass dieser Glanz
das verführerische Werk des Teufels sei. Deswegen hat er sie
manchmal auch geschlagen, was mir nicht gefallen hat, denn
nach dem Gesetz des allerhöchsten Propheten Muhammad,
Scharia, sind die Frauen und Männer im Auge Allahs gleich.
Erst als sie gestorben war, hat er zugegeben, dass seine Idee
eigentlich unlogisch war. Frauen waren zu schwach, um über
teuflische Kräfte zu verfügen. In dieser Sache waren wir uns
beide einig. Das war aber alles, was er nach ihrem Tod gesagt
hatte. Es gab doch die anderen zwei Frauen, um die er sich
kümmern musste.
Am Sterbebett hat mir meine Mutter ins Ohr zugeflüstert.
‘Hab Acht! Nichts ist, wie es scheint! Höre dem Gott zu.
Höre, was er sagt!’
Dann verschwand sowohl das Atmen aus ihren Lungen, als
auch der Glanz aus ihren Augen.
In der Moschee habe ich den Imam gefragt, ob sich meine
Mutter neben dem Thron Allahs befinde.
‘Nein’ antwortete er ‘ Dorthin gehen nur Männer, die Gotteskrieger sind.’
Und in diesem Moment habe ich mich fest entschlossen, ein
Gotteskrieger zu werden.
***************
Die Ungläubigen habe ich zum ersten Mal kennengelernt,
als ich zehn war. Wozu sie gekommen sind, das weiß ich
nicht. Niemand hat sie gerufen, oder um Hilfe gebeten. Sie
waren plötzlich da. Sie sind in unser Leben eingetreten, um
unseren Glauben zu gefährden. Das war es. Ihre Habgier
kannte keine Grenzen. Ihre Präsenz brachte nur Chaos und
Leid. Uns war es ohne sie besser gegangen. Aber die Wege
127
des Teufels sind verschieden, habe ich gehört. Um uns zu
schaden, verwandelt er sich in zahlreiche Formen, appelliert
an unser Mitgefühl, an unser Mitleid, und danach greift er mit
schrecklicher Kraft an.
Genauso ist es auch bei mir passiert. Als ich meinen Vater in
den Armen gehalten habe und Bäche von knallrotem Blut aus
seinen Adern flossen. Er hat mich mit so einer leeren Miene
betrachtet. Vielleicht wollte er auch etwas zum Abschied
sagen, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Da war so viel
Blut in seinem Mund. Und dazu der Lärm der Flugzeuge und
das Krachen der Bomben. Alle haben gekreischt. Ich nicht.
In meiner Seele herrschte unerträgliche Stille.
‘Allahu akbar!’ habe ich zum ersten Mal geflüstert, hoffend,
dass mich der da oben hören wurde.
***************
Die Rache ist ein Paradies auf der Erde. Wenn du dich
zürnest, zürnet sich auch Allah. Er erhört deine Stimme. Er
folgt dir. seine schützende Hand steht bei dir, wo auch du
hingehen möchtest. Er wartet auf dich in Mujahidun, wo er
dir tausend züchtig blickende Jungfrauen schenkt, die Huris
mit großen Augen und schwellenden Brüsten, die weder
Mensch noch Dschin zuvor berührte.
Danke ihn für seine Großherzigkeit! Diene ihm gut! Denn
Belohnung wartet auf dich, sowohl auf Erden, als auch im
Himmel. Du wirst herrliche Säfte aus goldenen und silbernen
Krügen trinken. Dein Körper wird weder krank noch kalt. Du
wirst die süßesten Früchte aus seinen Gärten kosten und
deine Seele wird seinen Namen feiern.
***************
Nach dem Einmarsch der Ungläubigen ist das Leben in
unserer Heimat schwer geworden. sie haben unseren Führer
getötet. Hätte es Allah erlaubt, hätten sie uns auch getötet.
Aber Allah wollte es nicht. Allah schützt seine treuen Diener.
Als die Ungläubigen endlich weggegangen waren, haben wir
unsere Freiheit nicht zurück bekommen. Männer kämpften
gegen Männer, Nachbarn gegen Nachbarn, obwohl sie alle im
Auge Allahs seine Diener waren.
Und in diesem Chaos ist er gekommen. Der Imam, der Kalif
128
unserer neuen Epoche. Wenn er sprach, glänzten seine Augen
wie die meiner Mutter. Und wie er sprach! Seine Stimme
war sowohl sanft als auch kräftig. Sie berührte mein Herz,
meine Seele, mein ganzes Ich. Ich hätte jedem geglaubt,
wenn er mir gesagt hätte, dass der Kalif die Verkörperung
von Muhammad gewesen sei. Ich wäre bis ans Ende der
Welt für ihn gegangen. Deshalb bin ich in die Reihen der
Krieger eingetreten. Für den Kalif und für Allah. Für unseren
Glauben.
Ich habe alles getan, um ein richtiger Krieger zu werden. Ich
machte mich stark. Sowohl im Leibe, als auch in der Seele.
Und jetzt zittere ich wie ein Hund. Vor Angst? Vor Zögern
oder vielleicht vor Kälte? Ich weiß es nicht.
Leute gehen an mir vorbei, ohne mir wenigstens einen kurzen
Blick zu schenken. Es regnet hier, in Paris, im Nest der
Ungläubigen. Die Engel und Cherubs weinen. Ich bin alleine.
In wenigen Stunden soll ich mich mit anderen Kriegern
treffen. Also, es geht endlich alles los. Die Rache, auf die ich
mich so lange gefreut habe, wird verwirklicht. Allahu Akbar!
***************
Eines Tages, als ich von einem Angriff nach Hause gekommen
bin, war sie da. Ihre Hände und Beine waren fest zusammengebunden, ihre langen schwarzen Haare völlig ungekämmt,
und sie betrachtete mich mit ihren riesigen blauen Augen.
Keine Ahnung, wie alt sie war. Dreizehn? Vierzehn? Unter
ihren zerrissenen und schmutzigen Kleidern konnte ich einen
wunderschönen, vielleicht noch etwas kindlichen Körper erahnen. Eine Welle von Wolllust strömte durch meine Adern. In
dem Raum ist es plötzlich heiß geworden.
Vorher hatte ich noch nie mit einer Frau geschlafen. Ich
war noch sehr jung. Also habe ich sie losgebunden, am
Handgelenk fest gepackt und in mein Zimmer gezogen. Dort
habe ich sie aufs Bett geworfen und ihre zerrissenen Kleider
ausgezogen. Ihr Körper war wirklich schön. Ihre Haut blass
wie Alabaster. Ihr Busen klein, ganz in meine Hand passend,
und fest. Sie hat nicht gekreischt, als ich sie genommen habe,
nur die Augen zugemacht und Tränen ausgelöst. Es gab Blut
zwischen ihren Beinen. Aber in dem Moment war es mir egal.
Ich wollte nur mein Verlangen sättigen.
In der Nacht habe ich es noch dreimal wiederholt. Sie kämpfte nicht. Eigentlich bewegte sie sich kaum. Sie war wie ein
129
Käfer, der versucht, dem Vogel zu entkommen, indem er einen
Toten spielt.
Ihr Name war Aische, wie ich später erfuhr. Sie sprach mich
weder an, noch sah sie mir in die Augen. Es machte mich
sehr wütend, dass ich nicht sagen konnte, dass es mir auch
leid tat. Irgendwie hatte ich ein Gefühl von Schuld.
Sie sah nicht aus, als wäre sie Einheimische gewesen. Sie
war sicher keine Muslimin. Woher sie gekommen ist, hat sie
mir nie erzählt. Sie hat mir nie etwas erzählt. Am Abend,
wenn sie dachte, dass ich sie nicht hören könne, hat sie
oft in der Ecke gesessen, eingerollt wie eine Kugel und hat
geweint. Ich wusste auch nicht, ob sie überhaupt unsere
Sprache verstand.
Die anderen Burschen haben mir gesagt, dass ihre Frauen
Geschlechtsverkehr mochten. Sie schnurrten wie Katzen und
seufzten dabei. Wenigsten in den meisten Fällen. Es gab
auch Zeiten, in denen sie sogar zitterten und kreischten vor
Wolllust. Als ich das hörte, dachte ich, dass es mir vielleicht
gefallen hätte, so ein Geräusch zu hören. Die Jungs fanden
meine Situation witzig, wofür ich mich sehr geschämt habe,
und es ärgerte mich.
Als ich nach Hause kam, habe ich sie wieder in der Ecke
weinen gesehen.
‘Was ist mit dir?’ fragte ich.
Sie verstummte, hob ihren Kopf, sah mich kurz ängstlich an
und wendete ihr Blick schnell anderswo hin.
‘Findest du mich ekelhaft?’ fragte ich wieder.
Stille.
‘Magst du nicht, wenn ich dich anfasse?’
Nichts.
Danach sah ich, dass es keinen Sinn hatte, sie dazu zu zwingen, mit mir zu sprechen. Wahrscheinlich verstand sie mich
nicht. Oder sie war taub. Das eine oder das andere, dumm
war sie sowieso. Alle Frauen sind dumm, deshalb können sie
nicht ins Mujahidun. Also erhob ich mich und ging einfach
davon. Als ich an die Türschwelle ankam, hörte ich eine leise
weibliche Stimme u sagen: ‘Es tut weh.’
Am nächsten Tag beschloss ich, ihr ein Geschenk zu bringen.
Es war eine Schachtel voll Süßigkeiten. Als sie nicht im
Zimmer war, habe ich die Schachtel sanft in die Ecke gestellt.
Ich habe sogar aufgehört, mit ihr zu schlafen, auch wenn es
mir schwer fiel. Sie war sehr schön, und ich habe die Tätigkeit
130
allgemein sehr gemocht. Es war entspannend.
Jeden Tag brachte ich ihr ein neues Geschenk. Ein schönes
Tuch, einen Ring, eine Halskette, eine duftende Creme, einen
Blumenstrauß, ein schönes Kleid. Mit jedem Geschenk hatte
ich das Gefühl, dass ihr Entsetzen und ihre Angst vor mir
langsam verschwanden.
Als ich ihr einmal goldene Ohrringe mit einem blauen Stein
gebracht habe – sie haben sehr viel gekostet, diese Ohrringe – hat sie mich plötzlich angeschaut. Es dauerte viel länger
als zuvor. Ihre Wangen wurde rosig und ihre blauen Augen
vergrößerten sich noch mehr. Ich sah, wie ihr Atem schneller
wurde.
‘Danke’ sagte sie sehr leise und rannte weg.
Am Abend ist sie wieder zu mir gekommen. Ihre schwarzen
Haare fielen auf ihre Schultern und reichten ihr bis zur Taille.
Sie trug ein weißes Nachthemd, das ich ihr gekauft hatte. Sie
war sehr schön.
‘Bitte, mach, dass es nicht wehtut!’ flüsterte sie.
Sie schnurrte nicht wie eine Katze, sondern am Ende hat sie
mir ein kleines Lächeln geschenkt.
***************
Ich werde zu einem Märtyrer. Ich werde derjenige sein, an
dessen Leib die Bombe festgeschnallt wird. Ich werde für
unseren Gott sterben. Das steht fest. Aber trotzdem gibt mir
dieser Gedanke keine Zufriedenheit.
Schon vorher habe ich darüber nachgedacht, dass wir vielleicht alle irre sind. Vielleicht gibt es keinen Gott. Vielleicht
sterben wir alle umsonst. Wäre es dann nicht schade? Die
Ungläubigen können sterben, aber wir? Wozu müssen wir
sterben?
Angeblich sei es natürlich, in den Sachen des Glaubens zu
zögern. Unser Kalif versteht es, und Allah versteht es auch.
Wir Menschen sind sündige und unverbesserliche Wesen.
Man kann sich selten auf uns verlassen.
Wie zum Beispiel auf Aische.
Wie sie mich gebeten hat! Wie sie gejammert hat! Geh nicht!
Geh nicht! Verlass mich und dein ungeborenes Kind nicht!
Ich habe sie angeschrien, sie solle mit dem Quatsch sofort
aufhören, sonst schlage ich sie. Aber sie hörte nicht auf. Ich
131
geriet total außer mir, schlug sie überall, wo ich eine freie
Stelle finden konnte...und sie heulte, dass sie mich liebe, dass
sie nicht wolle, dass ich sterben soll...
Das Kind ist in dieser Nacht in ihr gestorben.
Also bin ich jetzt hier, in Frankreich. Es regnet auf mein
Gesicht, und unter meiner Jacke befindet sich die Bombe.
Mein ganzer Körper ist mit verschiedenen Kabeln bedeckt.
Ich kann ein ganz schwaches Pulsieren spüren. Die Bombe
ist lebendig. Sie ist ein selbständiger Organismus, der auf
meiner Brust lebt. Genau wie eine Zecke saugt sie mein
Leben heraus aus in der Form der Zeit. Bald wird es keine
mehr für mich geben.
Die Ungläubigen wissen nichts. Sie sind sich der Tatsache
überhaupt nicht bewusst, dass ihr Leben zu Ende geht. Sie
plaudern miteinander und lachen dabei, trinken Kaffee und
essen leckeren Kuchen. Der Eiffelturm blickt auf sie herab
und die Seine fließt in ihrem ruhigen Tempo dahin. Jemand
spielt auf einem Akkordeon. Die Melodie ist exotisch und
störend für mich. Mit jedem Ton zeigt sie mir, dass ich nicht
hierher gehöre.
Ich will auch nicht hierher gehören, sage ich mir. Ich bin nicht
einer von euch! Ich sterbe! Und plötzlich will ich weglaufen
und die Bombe aus meiner Brust reißen. Ich kann es aber
nicht. Sie klebt fest. Die Leute haben mein seltsames
Benehmen schon bemerkt. Sie gucken mich neugierig an.
Ich sterbe! Ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe...
Ich ziehe mir die Jacke aus.
...Ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe, ich...
Und sie wissen schon. Ich sehe den Schock auf ihren
Gesichtern. Die Panik. Einige rennen weg, die anderen
bleiben stehen wie Statuen. Ich höre nichts, obwohl alle
heulen und brüllen, als wären sie einfach nur Tiere. In der
Luft kann man den Tod spüren.
...Ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe...
Ich sehe meine Mutter. ’Hab Acht! Nichts ist wie es scheint!
Höre dem Gott zu! Höre was er sagt!’
132
Und ich sage zu ihr: ‚Ich sterbe, Mutter, ich sterbe!’
Ich sehe Aische, nackt und blutig zwischen den Beinen. ’Ich
liebe dich! Verlass mich und dein ungeborenes Kind nicht!’
Und ich sage zu ihr: ‚Oh, mein Liebling, ich sterbe...’
Ich sehe meinen Vater. Er sagt nichts. Sein Atem rasselt. Er
liegt in meinen Armen, blass und blau. Und ich sage: ‚Vater,
ich sterbe.’
Ich sehe den Kalif. Seine Stimme ist tief und wohlklingend.
’Er erhört deine Stimme! Er folgt dir! Seine schützende Hand
steht bei dir, wo immer du auch hingehen möchtest!’
Und ich sterbe.
‘Er wartet auf dich in Mujahidun, wo er dir tausend züchtig
blickenden Jungfrauen schenkt...’
Aische!
Ach, ich...
BOOOOOOOOOOOM!
DIE SCHWESTER DES TERRORISTEN
von Plamena Kasurova
Wenn ich an meinen Bruder denke, tauchen zwei Personen in
mir auf. Die eine Person ist der ehemalige Charakter meines
Bruders und die andere Person ist der, der sich verändert hat.
Mein Bruder war früher ein lustiger Junge und hatte viele
Träume. Wir haben so viele gemeinsame Erinnerungen. Er
war immer positiv und gut gelaunt. Wir verstanden uns gut
und er beriet mich, als ich Probleme hatte.
Einmal kam ich zu spät nach Hause und unsere Eltern waren
wütend. Mein Bruder sagte zur Mutter: Sie ist nicht daran
schuld, ich bin für ihre Verspätung verantwortlich. Ich bat sie,
bei einem Freund vorbeizugehen, weil ich meine Sachen in
seinem Haus vergessen hatte.
Ich ging dann in mein Zimmer. Er kam zu mir, um mich nach
dem Grund für meine Verspätung zu fragen. Ich sagte ihm
alles, weil ich ihm immer alles mitteilte und wusste, dass er
mich unterstützt und mir hilft.
133
Leider veränderte sich mein Bruder im Laufe der Zeit. Ich
konnte ihn nicht mehr erkennen. Auf einmal hatte sich seine
Stimmung geändert und auch seine Wünsche waren andere
geworden. Früher träumte er von einer Familie mit vielen
Kindern, aber plötzlich bevorzugte er die Einsamkeit. Er konnte niemanden mehr ertragen, er konnte sich mit niemandem
mehr verständigen. Ihm fehlte die Lust, irgend etwas zu
reden oder unter Leuten zu sein. Wenn er zu Hause war,
blieb er einfach in seinem Zimmer. Einmal wollte ich mit ihm
sprechen, aber er war schlechtgelaunt und sagte mir: Ich will
jetzt niemanden sehen und allein bleiben!
Ich hatte aber Schwierigkeiten in meiner Arbeit. Ich bekam die Benachrichtigung über meine Entlassung. Das war
schlimm. Ich konnte es meinen Eltern nicht mitteilen.
Irgendwann kam mein Bruder aus seinem Zimmer und sah
mich zusammengekauert in meinem Zimmer. Meine Augen
waren voll Tränen und ich war verzweifelt. Er ging weg, ohne
sich für meinen Kummer zu interessieren.
Als er nach Hause kam, setzte er sich neben mich. Er erzählte
mir alles, was geschehen war. Er sagte, dass er Mitglied
einer Terroristengruppe geworden war und er müsste seinen
Grundsätzen folgen. Deshalb verhielte er sich auf diese ungewöhnliche Weise.
In diesem Moment verstand ich, dass meine Probleme winzig
klein waren im Vergleich. Zum ersten Mal beriet ich meinen
Bruder. Ich wollte ihm helfen und ihn unterstützen. Wir
sprachen stundenlang miteinander, und zum Glück gelang es
mir, ihn zu überzeugen, die terroristische Gruppe zu verlassen.
Er begann wieder, an Familie und Zukunft zu denken. Er
begann sein Leben neu zu gestalten.
Nun habe ich meinen Bruder wieder. Mein bester Freund,
meine Vertrauensperson, ist wieder bei mir.
Ich hoffe, dass es für immer so bleibt.
134
GEBET AN EINEN TERRORISTEN
von Anna Ganeva
Ich kenne den Grund deines Besuchs.
Ich weiß, warum du gekommen bist.
Dein Herz schlägt immer schneller.
Dein Wunsch wird immer größer.
Aber genug!
Hör endlich auf!
Schieb deine grausamen Gedanken
Auf die Seite.
Sie bestimmen deine
eigentliche Persönlichkeit nicht.
Du wurdest nicht
für so schreckliche Taten geschaffen.
Erinnere dich
an deine Kindheit.
Was für ein Bursche du warst.
Erinnere dich an deine Träume,
an deine Wünsche
und an deine inneren Werte.
Gibt es überhaupt etwas,
was dich stoppen könnte?
Gibt es jemanden,
für den du dich
verändern würdest?
Gibt es überhaupt eine Sache,
die deine Sichtweise beeinflussen kann?
Ich glaube,
ich glaube an Zauber
ich bete jede Nacht,
dich zu retten,
dir zu helfen,
ich hoffe stark darauf,
dass du zur Vernunft kommst,
dass du wieder der
frühere Mensch wirst.
135
DIE GESCHICHTE EINER UNSICHTBAREN FAMILIE
von Diana Dehelean
Motto: «Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen
und jetzt wird er gar noch Pöbel.» (Friedrich Nietzsche, Also sprach
Zarathustra)
Selbstverständlich, dass auch Gott manchmal übermütig wird
und sich einen Spaziergang in den Herzen der Vagabunden
zutraut, so dass er sich manchmal in die kleinen, mittelalterlichen Straßen, deren Schweiß und Tränen in perlenartigen
dünnen Fäden zwischen den Gehsteigen fließen, verirrt und
nur dort zu finden ist. Obdachlose Ideen überschwemmen
seine Gestalt und verändern die Richtung seiner Gedanken.
Ein Schatz besteht nicht nur aus teuren sichtbaren Gegenständen... Oft bilden die Ideen, die Gefühle, die unsichtbaren
Elemente des Lebens den Mittelpunkt und das Bindemittel
unserer ganzen Existenz. Obwohl sie dessen unbewusst
leben, würden die mittelmäßigen Materialisten ohne diese
unbeachteten unsichtbaren Dinge nicht weiterleben können.
* * *
Im überschwänglichen Applaus des Goldenen Saales erheben sich drei Kulturliebhaber. Die neue Inszenierung ist ein
wahrer Erfolg! In ihrer Stadt gibt es genügend Kulturveranstaltungen, jedoch muss man nicht außergewöhnlich angeberisch
sein, um ihre Anzahl mit mindestens einer Dezimalstelle zu
vermindern. Regisseure, die den Wert eines Kunstwerkes
hinter der schwarzen Tinte, zwischen den Noten und an der
Linie, die zwei verschiedene Farben trennt, erkennen, wählen
selten diese Stadt, weil sie auch möchten, dass ihr Honorar
nicht nur aus einer schönen Zeit, der Unterkunft im besten
Hotel der Stadt und einer Taschengeldsumme besteht.
An diesem Abend kann man aber nicht nur den Melodien
zuhören, sondern man spürt den künstlerischen Ausdruck
mit allen Nerven. Sie verbirgt Tausende von Jahren Geschichte mit ihren Geheimnissen und Mächten, mit einfachen
Menschen und großen Denkern, die Formen und Farben wiedergeben, die sanften Landschaften einer Welt aus anderen
Zeiten, die uns für immer fremd bleiben werden; eine antike
Zivilisation, die wir trotz unserer Forschungen nicht genau
136
kennen, sondern nur erahnen, widerspiegelt sich durch ihre
Symbole und Traditionen. Die Aufführung ist so magisch,
genial vorbereitet, dass man das Gefühl hat, man könne
dieses Universum betreten und ein wahrer Held des Märchens
werden.
Die glänzende Marmoroberfläche befreit verschlossene Stimmen der zerbrechlichen Becher und tausende Scherben verteilen sich wie Sandkörner im Foyer.
«Schaut, das ist der Simon! Gut, dass mindestens er die
Aufführung nicht verpasst hat.» Der Vater freut sich immer,
den Sohn seines Freundes und ehemaligen Kameraden zu
treffen.
«Wir sollten ihn nicht so alleine lassen», schlägt Hanna vor.
Doch bevor sie sich gegen ihn richten, steht der junge Mann
schon neben ihnen und verbreitet mit einem Lächeln Lichtstrahlen.
«Ich war mir absolut sicher, dass ihr diese Aufführung nicht
verpassen könnt und ich wünschte, dass wir diesen magischen Abend mit Champagner feiern, aber so ungeschickt ich
bin, müssen wir das jetzt auf trockenem Land machen. Meine
Eltern lassen euch herzlich grüßen und ihnen tut es wirklich
leid, dass sie gerade heute nicht kommen konnten.»
Die letzten Glasscherben, die auf dem Boden Himmelsbrüche
widerspiegelten, wurden schon aufgeräumt, und das Foyer
sieht so aus wie vor vier Minuten.
«Wie geht es noch mit deiner Doktorarbeit, Simon?», fragt die
Mutter.
«Es geht schwierig voran, weil mir zu wenige Quellen zur Verfügung stehen. Fast alle Kontakte meines Professors haben
uns keine Rückmeldung gegeben und sogar die Partner aus
Amerika haben uns ihre dunkle Seite gezeigt, als sie uns die
Tür vor der Nase zugeschlagen haben. Ich bearbeite jetzt verschiedene Bücher und Photos aus privaten Sammlungen und
Archiven und werde mit einer der größten Herausforderungen
meines Lebens konfrontiert: tolerant und geduldig zu sein.»
«Es wäre sicher höchste Zeit, dein Bild als leicht egoistischer
Bube ein bisschen zu raffinieren. Aber, dass ein paar rosinenartige, einmal stinkreiche Damen mit ihren Teetässchen das
erreichen werden, was deine Eltern schon immer versucht
hatten, daran verzweifle ich noch.» Der Vater hält seine undiplomatischen Reden nur für die besten Freunde, mit denen er
sich so bequem fühlt.
137
«In deiner Lage ist es wirklich schön, dass du uns gewählt
hast und nicht allein zu Hause hinter Bergen von Analysen,
Chroniken und Studien die Dämmerung dieses sonnigen Tages verbringen wolltest.» Da die Kinder der zwei Familien
fast gemeinsam großgeworden sind, werden sie von den
beiden Müttern wie die eigenen geliebt.
«Es scheint, als ob die Kunstgeschichte des 20. Jhds. mehr
gefährliche Geheimnisse verstecken würde, als die blutigsten
Berichte des zweiten Weltkrieges. Ich bin mir sicher, dass
unter der Matratze genügend Quellen verborgen liegen, die
aber nicht ans Licht gebracht werden dürfen.»
«Haben verborgen gelegen.» Drei Paar Augen schauen zu
Hanna hinüber, die bis jetzt nur zugehört hat.
«Wie meinst du das?»
«Die Quellen haben verborgen gelegen. Wahrscheinlich wurden sie schon vor langem vernichtet. Meiner Meinung nach
können die noch existierenden nicht bekannt gemacht werden, weil sie im Zusammenhang mit Kunstwerken stehen.
Kannst du dir vorstellen, was passieren würde, wenn morgen
Picassos «Guernica » nicht mehr zu finden wäre? Es würde
ein Riesenskandal entstehen: Museen, Ministerien, Kunstvereine, Medien, diplomatische Beziehungen, alles würde wie
in Hiroschima explodieren. Folgt ihr mir noch? Die Kunstwerke dürfen nicht zerstört werden; außerdem liegen viel
mehr Interessen hinter allen diesen teuren Gegenständen.
Wie wird etwas auf eine solche Art getötet, dass es weiter
aufrecht steht und lebendig scheint? Man vernichtet seine
Geschichte, man schneidet seine Wurzeln ab. Etwas, das keine Geschichte besitzt, hat auch keinen Wert, und das Leben
tropft heimlich heraus, so dass es eines Tages unverständlich
tot vor der ganzen Welt steht.»
«Wenn aber schon so vieles bekannt gemacht wurde, alle
monströsen Facetten des Krieges und der Geheimdienste,
warum bleibt gerade die Kunst hinter Schloss und Riegel?»
«Weil sie immer noch brauchbar ist. Alles, was schon in einem
Krieg verwendet wurde, ist allen Interessierten bekannt und
deshalb auch unnötig. Darum werden auch den einfachen
Leuten solche Einzelheiten präsentiert: nicht für Erziehung,
sondern für Ablenkung von den wirklich wichtigen Sachen.»
«Die klassische Kunst ist heutzutage so unwichtig und übersehbar, dass sie bald aussterben wird. Vielleicht werde ich bis
am Ende meiner Karriere keine Beschäftigung mehr haben.»
138
Sein Lachen ist so angestrengt, als ob er das Sterben eines
guten Freundes verheimlichen wollte.
«Für Kunsthändler wird nichts aussterben, mach dir keine Sorgen. Die werden darauf bedacht sein, dass ihr sicherstes
Mittel nicht verschwindet. Die einzige Frage, die mich beängstigt, ist, für wen du in 30 Jahren arbeiten wirst. Meiner
Meinung nach muss die ganze Gemeinschaft dazu bereit sein,
ihre Werte zu promovieren und zu schützen, aber dafür gibt
es zu selten die nötige Erziehung. Man kann doch gleich
gut mit oder ohne Kultur und Geschichte leben; ohne ist alles
sogar viel einfacher, oder?»
«Du hast bestimmt Recht. Leider fehlt das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Wir leben die individualistischste Epoche unserer ganzen Existenz. Ich bezweifle, dass
es noch einen weiteren Schritt gibt.»
«Darüber hinaus auch noch die Epoche der Entzivilisierung!»
«Das klingt wie ein Toast: Für unsere Epoche und für...!»
Das schrille Klirren unterbricht die Rede der vier Kunstliebhaber wie ein kalter Wind aus dem Osten den goldenen
Sandstrand an einem Sommertag aufwühlt.
«Simon. möchtest du dich neben uns setzen; da gibt es
reichlich freie Plätze?»
* * *
Aus dem Foyer führen zwei kaiserlich geschmückten Treppen
hinunter zum Parkett und weitere zwei steigen zu den Logen.
Hanna und ihre Mutter wählen die rechte Treppe. Das spielt
auch keine Rolle, weil sie beim Hinuntersteigen die linke sein
wird.
«Mama, glaubst du, dass es in 30 Jahren noch Familien geben
wird? Oder wird auch dieses Gefühl eines Tages verblassen?»
«Ich habe keine Ahnung, Hanna. Um ehrlich zu sein, bin
ich überfordert. Ich glaube nicht, dass jemand weiß, was
in einem halben Jahrhundert alles passieren wird und ob
die Welt noch so sein wird, wie sie uns bis jetzt bekannt
gewesen ist. In letzter Zeit wurden so viele mächtige Kräfte
in Bewegung gesetzt... Diese Kräfte brauchen Zeit und Mühe,
um eingeschaltet zu werden, aber in dem Augenblick, wo sie
unabhängig werden, ist ihre Trägheit schon so groß, dass sie
nicht mehr aufzuhalten sind. Wenn es aber die Möglichkeit
gibt, dass alles Gute für immer gerettet wird, wird dies nur
durch Liebe, Weisheit und Toleranz erfolgen.»
139
Der Vater hatte Simon am Arm genommen und ihn zur linken
Treppe geführt.
«Ich habe gestern einen so guten Witz gehört und selbstverständlich habe ich ihn mir gemerkt», sagt der Vater lachend.
«Ich bin doch auch neugierig. Ich bitte um eine Erweiterung
meiner Humor-Weisheiten-Sammlung.»
«Ein Asteroid wird in kurzer Zeit auf die Erde stürzen. Die
Medien haben sich bei einem Weissager erkundigt, ob diese
Kollision das Ende der Welt darstellen wird. Die Antwort
kam kurzfristig: Nein, sie wird nicht das Ende der Welt sein.
Sondern Wordlexit! »
«Ich wünsche mir, dass wir als vernünftige Wesen eines Tages
einen besseren Weg, als die heutigen holprigen Autobahnen
finden werden. Das einzig Gute, das ich an der künstlichen
Produktion der Babys finde, ist die Tatsache, dass man sie
theoretisch mit allen erwünschten Qualitäten beschenken
könnte. Ich würde solchen Wesen unbedingt Integrationsfähigkeit und Geduld geben, damit keine Frustrierte und
Gestresste mehr existieren!» Hanna lacht schon über ihren
komischen Plan.
«Du weißt doch, wie man sagt, Intelligenz ist die Fähigkeit,
sich an alle Bedingungen anpassen zu können. Dann würde
den künstlichen Menschen lebend in einer chaotischen Welt
auch nur die Anpassungsfähigkeit genügen, oder?»
«Weißt du, welches der größte Fehler unserer demokratischen
Gesellschaft ist?»
«Ich könnte mir mehrere Fehler überlegen, aber einen einzigen,
das ist zu schwer»
«Ich sage es dir gleich. Ich habe zu lange die Einzelheiten
verschiedener politischer Systeme studiert, habe mich mit geschichtlichen katastrophalen Fehlern durchgesetzt und habe
versucht, die Denkweise der Wahlperson zu verstehen. Ich
glaube, dass unsere Existenz von keinen Prinzipien mehr
geleitet ist; es gibt nichts, das uns durch innere Verbrennung auf eine höhere Ebene bringen kann. Politisch gesehen
widerspiegelt sich die Mentalität des modernen Menschen
durch die Tatsache, dass keine Ideen, keine Ideologien mehr
gewählt werden, sondern Menschen. Man wählt ein Aussehen,
eine Funktion, im besten Fall eine Biographie.»
«In Prinzip verlieren wir mit exponentieller Geschwindigkeit
alles, was unsere Vorfahren in Millionen von Jahren gesammelt haben. Nein, besser gesagt, wir synthetisieren unser
140
kulturelles Erbmaterial in einer solcher Weise, dass wir es
nicht mehr erkennen können, aber es bleibt noch immer da,
als Basis unserer weiteren Entwicklung.»
«Und eines Tages wird jemand erkennen, wie weit entfernt
von der Wirklichkeit wir unsere Existenz führen.» Hanna und
ihre Mutter sind schneller vor der Loge angekommen und
haben auf die Männer gewartet, so dass sie auch das Ende
ihres Gespräches überhören konnten.
* * *
Das Licht löscht sich aus und das Publikum tritt in das Sagenhafte ein. Ein tiefer Ton bringt unbekannte angestammte
Furcht in die Seelen und lässt sie wie vor dem Tod zittern.
Hanna schließt die Augen, um die Empfindung besser zu
spüren und als sie sie wieder öffnet, kann sie die Wirklichkeit
nicht mehr erkennen. Sie sitzt nicht mehr auf ihrem flauschigen Platz, sondern steht in der Mitte der Bühne, vor allen
Menschen, vor gierigen Augen, die sich wie schwarze Löcher
vor ihr öffnen und darauf warten, sie aufzuschlucken.
«Wenn sie mich hinunterschlucken wollen, dann bleiben ihnen
meine Ideen sowieso im Hals stehen», denkt Hanna mit
zynischem Vergnügen.
«Das ist doch unglaublich, dass wir hier sind!»
Sie hatte Simon noch gar nicht bemerkt. Der hat jetzt noch
gefehlt! Seit langem hat sie nicht mehr mit ihm geredet.
Oft wünscht sich Hanna, dass die Sachen wieder so sind
wie früher; das alles einfach und natürlich verläuft, dass sie
keinem etwas beweisen müssen, dass nur sie wichtig sind.
Doch sie ist sich ziemlich sicher, dass sie für eine Zeit nichts
Ernstes mit ihm reden wird.
«Seit immer habe ich mir gewünscht, die wahre Geschichte
hinter einem Kunstwerk zu erfahren.»
«Das hast du doch schon gemacht»
«Du hast mich nicht richtig verstanden: die Welt, die ein
Kunstwerk darstellt, möchte ich erforschen, die Geschichte im
Herzen der Erzählung oder des Bildes möchte ich erleben.»
«Das ist doch unmöglich! Dafür hast du Phantasie.» Empörung stieg in Hanna herauf.
«Es muss möglich sein: wir sind doch hier! Außerdem gibt
Kunst keine Antworten. Sie ist nur ein trübes Fenster zu
Fragen und Ideen, die keiner noch hatte.»
«Glaubst du, dass wir diese Stelle verlassen können werden?»
141
Die Stille breitet sich auf die ganze Bühne aus und dehnt
sich auch im Publikum aus. Ein leiser Triller der Flöten im
Hintergrund ist die Botschaft eines unbekannten Teiles des
Märchens.
«Ich weiß nicht. Ich glaube, wir sind da aus einem bestimmten Grund, aber ich wage es nicht, diesen zu suchen. Sicher
werden wir nachher von hier herauskommen können.»
Sie dreht sich herum und Simon glaubt, ein zartes «Schade»
zu hören
Der Triller verstummt. Der Kontrabass öffnet den Tubas den
tönernen Weg. Plötzlich wird die Luft heiß wie Blut, auf der
Zunge schmeckt Blut, am Hinterkopf spürt man den Sturz
der Gestalt. Eine Gruppe dunkel bekleideter Gestalten, mit
Hörnern und schwarz geschminkten Augen sperren Ana und
Simon in einem kleinen Zimmer ab.
«Ana, es tut mir leid... für alles, das nicht passieren sollte, tut
es mir leid. Ich hätte für dich da sein sollen, wenn du am
meisten jemanden gebraucht hast. Für mich war es auch eine
schwere Zeit gewesen, die ich allein durchqueren musste,
aber dann wollte ich nicht deine Hilfe bekommen. Ich kann
dich verstehen, wenn du mir nicht vergeben kannst.»
«Ich habe dir nichts zu vergeben.»
«Willst du mich erzählen lassen, was ich mit mir alles gemacht
habe?»
«Hat es ein trauriges Ende? Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob
ich eine tragische Geschichte hören kann.»
«Wenn es traurig ist, bedeutet es, dass das Märchen noch
nicht zu Ende ist.»
Als Antwort breitet sich ein kleines, altes Lächeln auf Hannas
Gesicht.
«Das Seltsame an dieser Geschichte ist mein Eindruck, dass
ich sie noch in einem anderen Leben gelebt habe.»
«Ich habe so oft dieses Gefühl, dass ich eine uralte Seele bin,
die schon in so vielen Leben die Augen geöffnet hat, dass
ich jetzt vorher wissen kann, was passieren wird.»
«Zur Geschichte also. Kurz nachdem ich die Recherche für
meine Doktorarbeit begonnen habe, wollte ich endlich sichtbar
werden; ich kann bis heute nicht verstehen, welches mein
damaliger Wunsch gewesen ist, aber ich wollte ein für alle
Mal anders sein als ich bin: sichtbar. Es ist nicht schwer
gewesen, eine Gruppe freundlicher Leute kennenzulernen
und kurz danach verbrachte ich schon ziemlich viel Zeit mit
142
ihnen. Sie waren hauptsächlich Studierende und Kollegen.
Ich erlebte komplett neue Sachen, von denen ich nie geträumte hatte. Wir hätten eines Tages sogar Freunde sein
können, aber ich hatte schon damals dieses fremde Gefühl,
angefangen mit den grundsätzlichen Charakterzügen meiner
Identität verändert zu werden.»
«Wie hast du es bemerkt, dass nicht alles zwischen euch
funktioniert hat?»
«Es sind drei Ereignisse, die für mich eine besondere Bedeutung haben.»
«Drei?»
«Ja, genau. Über das erste habe ich gelogen, es sei mindestens normal, wenn nicht selbstverständlich. Trotz meines
alten Wunsches, nie zu rauchen, habe ich darauf eines Nachts
verzichtet und glaubte, mit einer Kopfbewegung so zu sein,
wie sie.»
«Unglaublich, du hast dir vor Jahren versprochen, das nicht
zu machen. Wie leicht-vergesslich einer sein kann. Und was
waren die anderen zwei?»
«Am Anfang des Frühjahrs haben wir eine ganzen Nacht
auf den Dächern der Wohngemeinschaften aus dem Ostviertel verbracht. Es ist so magisch wie ein geheimes Ritual
gewesen. Der Himmel schien auf uns fallen zu wollen, und
man konnte die leuchtenden Sterne mit der Hand berühren.
Bildlich ist es wunderschön gewesen, die unendlich vielen
Farbvariationen mitzuerleben. Dorthin sind wir später nie
wieder zurückgekehrt, und obwohl ich es auch alleine machen
könnte, will ich auf die riesigen Gebäuden nicht ein zweites
Mal klettern, damit ich den Traum nicht zerstöre.»
Simon verstummte in seiner Ecke. In langen hellen Stoffen
als Bekleidung, verprügelt, verängstigt, sahen beide so jung
und zart wie zwei Schneeglöckchen auf einem Haufen fauler
Erde aus. Sie waren machtlos. Nutzlos. Sinnlos. Die Pause
verlängerte sich in höchster Ruhe und die Stimmung war so
angespannt, dass man nur den Zug der Zeit hören konnte.
«Weiterhin haben wir uns sehr gut und fast wortlos verstanden. Doch am Anfang des Sommers sind sie alle plötzlich
verschwunden und nie wieder erschienen. Wie ein guter
Freund habe ich sie aufgesucht. Ich fühlte mich verlassen,
ohne ihre Unterstützung war ich verloren, ich spürte physisch
ihre Abwesenheit.»
«Ich weiß nicht, warum du dich aufregst. Das kann jedem
143
passieren: du hast geglaubt, sie wären deine Kumpel, aber
nachdem sie genug von dir hatten, haben sie dich so verlassen, wie sie dich gefunden hatten.»
«Nein, Hanna. Es ist viel schlimmer, als du denkst. Ich habe den Plan meiner Dämonen, die mir die Seele auffressen,
vollendet. Am Ende habe ich den Sieg meines Körpers als
Preis bekommen, aber dieser stimmte mit dem Sturz meiner
Seele überein. Dafür muss ich jetzt sterben.»
«Nein, nein, dir wird nichts mehr passieren. Habe keine Angst,
ich bin jetzt bei dir. Suche nur das Gute; es muss irgendwo
sein, obwohl du es vielleicht nicht sehen kannst. Wo immer
Böses zu Hause ist, kann genauso viel Gutes gefunden werden.»
Kreise von dunklen Menschen umzingeln die beiden Kinder,
und im Hintergrund erblickt man eine mächtige Gestalt mit
reicher Krone auf dem Haupt. In diesem Augenblick wird
Simon von einer langen schwarzen Messerschneide gestochen, und er fällt schwer atmend zu Boden. Hanna, die neben
ihm gesessen hat, bleibt vor Schreck keine Bewegung. Dann
langsam, als ob sie die Luft nicht stören wollte, nimmt sie aus
einer innerer Schicht seiner Bekleidung ein kleines Holzstück.
«Simon, wach auf, einer neuer Tag fängt an!»
Hanna legt das Holzstück auf die Lippen und das schönste
Lied, das jemals gespielt wurde, erschallt um die zwei herum.
«Simon, wach auf, die alte Nacht verblasst!»
Die schwarzen Menschen können der Anziehungskraft nicht
widerstehen und legen sich auf den Boden hin, weiße Menschen treten herauf und die mächtige Gekrönte explodiert
in Tausende von Splittern, als sie vom ersten hellen Sonnenstrahl gestreichelt wird. Das Orchester erreicht einen letzten
harmonischen Höhepunkt und ihr letzter Klang lässt den
ganzen Goldenen Saal vibrieren.
«Simon,...»
Der schwere Goldene Vorhang fällt zum Boden und schließt
die Geschichte wie zwei Buchdeckel in einer Welt, die nie
dieselbe sein wird. Der Aufprall und der Applaus überdecken
Worte und Fragen, die vielleicht nie Antworten bekommen
werden.
* * *
Eine Familie. Die kühle Luft der Sommernacht streichelt die
Gesichter vierer unsichtbarer Menschen. Keiner kennt ihre
144
wahre Identität. Ihre Existenz ist ein harmonisches Gemisch
unendlich vieler Farben, das aber von keinem gesehen wird.
Weil sie unsichtbare Menschen sind.
UNBEZAHLBAR
von Susanne Schmalwieser
Ort: Kaffeehaus.
Kaffeehauskultur, Speisekartenliteratur, Konzerte aus Murmlern,
Sinfonien vom Gabel-Am-Teller-Kratzen. Herr Ober, Herr Ober, steht
im Libretto der Leute und der Koch ist Komponist.
Vor mir: Oma.
Sie trägt rot in rot, mit Lippenstift, nippt am Wasser, im
Oma-Stil, wie alte Leute eben nippen: Würdevoll berechnend,
mit einem Blick über den Glasrand hinweg. Was zählt ist
die Gestik, das Jetzt-Wird-Es-Ernst, das Trinken ist nur Nebensache, denn Getränke kann man kaufen. Alles andere an
dieser Geste nicht. Du bist ja noch ein Kind, beginnt sie, und
verstehst ja eigentlich nicht, aber die Sache ist die, macht
sie weiter, ich werde bald gehen. Fort von hier, fort von dir,
und dann wird es aus sein, vorbei mit aller Berechnung und
Würde, und was von mir bleibt, ist Besitz. Sie meine es nicht
pessimistisch, es sie ein Fakt, so wahr, wie das Kaffeehaus
klein ist, so ungelogen, wie die Torte gut.
Torte: schon fast weg.
Kratze, Sterne und Herzen aus Bröseln, Blumenwiesen aus
Schokoglasur. Glasiert ist auch der nette Kellner, unter der
Lackschicht würde er uns gerne von seiner Tochter erzählen,
seiner großen, die nächstes Semester Jura studiert. Über
der Lackschicht bringt er Kaffee, einen Espresso und eine
Melange, mandelbraun, wie der Tisch, auf dem Oma sich mit
ihren Fingern einen eigenen Trommelwirbel gibt. Trotz allem
gäbe es Dinge zu klären, sagt sie jetzt, Dinge im wahrsten
Sinne des Wortes. Dinge, die ich nicht verstehe, eine Schande
sei es, aber man könne nichts ändern, man brauche meine
Einverständnis. Im Blicke-Universum zwischen Augen und
145
Brille versuche ich mich zurechtzufinden, will lesen, was in
den Sternen ihrer Gedankenwelt steht, doch – wie heißt es
so schön – außerirdisches Leben wird uns besuchen, nicht
umgekehrt.
Im Blicke-Universum: Ein Zwinkern.
Nicht an mich, vielmehr an das würdevolle Spiegelbild, doch
das Zwinkern ist die Sternschuppe, die mich wünschen lässt,
mich mir die Frage wünschen lässt, die ich höher als jedes
Weihnachtsgeschenk dieser Welt geschätzt hätte. Ein Haus
wäre da, nahe bei der Hauptstadt, der Garten nicht groß,
die Nachbarn passabel, das Grundstück etwa eine Million.
Etwa eine Million glücklich habe sie das Haus gemacht, sie
nennt es Häuslein, ihr Häuslein des Glücks. Sie könne es
aus Prinzip nicht verkaufen, denn wer kauft sind die Jungen,
die Aufsteiger, die Umstürzler, und umstürzen, gar abreißen
würde ihr Häuslein niemand. Das stehe schon gut dort, wo
es steht. Und ich sei eben zu jung.
Ich: lege den Kopf schief.
Senke ihn auch leicht nach unten, kneife meine Augen
zusammen, manche Dinge lernt man eben mit der Zeit. WieBitte-Was zu sagen zeugt von Mangel an Verständnis, von
falscher Empörung, unberechtigter Wut – unkontrollierten
Hormonen des Eben-Zu-Jung. Ich wisse nicht, was ich wolle,
meint sie, bin doch nur ein Kind. Sie wolle mich ja auch nicht
belasten, aber ich wisse ja, wie Mama ist. Mit der brauche
man ja nicht zu diskutieren. Schreibe Mamas Namen am
Teller, verstehe nicht, was man von mir will, vielleicht bin ich
dafür zu jung, früher hätte ich gefragt, aber Fragen wirft dich
zurück ins Früher, macht dich noch jünger, als du bist.
Früher: war alles anders.
Hab mich so verändert, in letzter Zeit, hab die Veränderung
in die Arme geschlossen, sie hat mich huckepack mit auf
den Weg genommen, auf den Weg ins Kaffeehaus, auf den
Weg hierher. Habe Schoko- und nicht Obsttorte bestellt, hatte
der Routine genug, traue mich jetzt nicht nach der Frage zu
fragen, um das zu bitten, was ich wirklich will. Sie denke
nicht, dass ich gut für ihr Haus sei, meint Oma, ich sei ja
noch so jung. Wisse nicht, was aus mir werde, und ich selbst
146
wisse noch nichts von der Welt. Wahrscheinlich würde ich es
ja verkaufen, irgendwann, wenn ich einmal lieber Getränke
kaufe, als an Oma zu denken, und nicht einmal das könne ich
jetzt wissen, ich darf noch nicht trinken, und wer noch nie
betrunken war, kann keine echten Versprechungen machen.
Meint Oma.
Kaffee: Wird kalt.
Wollte schon immer über Gespräche die Bestellung vergessen,
das Essen stehen und die Getränke kalt werden lassen,
mich nur auf mein Gegenüber konzentrieren und mich im
Blicke-Universum verlieren. Aber nicht so. Überschlage meine Beine, trage das Blumenkleid, weil Oma es mag. Mädchen
müssen Kleider tragen, meint sie, denn Kleider machen Leute,
machen Freunde, machen Ehemänner, zeigen Ordnung, Etikette, und mir ist es eigentlich egal. Egal ob Jeans oder Kostüm,
gleich sehen wir ja sowieso aus, in der Schule, in der Oper,
auf den Straßen und die Dinge, in denen wir uns wirklich
unterscheiden, lassen sich sowieso nicht ändern. Könnte jetzt
diskutieren, ob das gut ist, aber zurück zu Oma. Sie schlägt
einen Block auf, dort steht, handgeschrieben, ein Entwurf für
ihr Testament. Faltet die Hände am weißen Tischtuch, ihr
Daumen ist noch fleckig von blauer Tinte, mit dem Zeigefinger
hat sie sich am Papier geschnitten. Ihr sei schon klar, dass ich
ja eigentlich nicht mitreden könne, aber uneigentlich könne
das sonst auch niemand, ach, und ich solle doch bitte mein
Knie mit dem Kleid bedecken. Ich frage, wieso. Ob ich sonst
noch eine Frau sähe, die ihre Beine so überschlägt, will sie
wissen. Nein, dann bin ich eben die erste.
Kellner: mischt sich ein.
Die Diskussion könne andere Leute stören, ich solle auf
meine Großmutter hören, so sitze man als Dame nicht. «Als
Dame?!» «Fräulein, ich ersuche um Mäßigung.» Oma meint,
das unbedeckte Knie sei irritierend. Dann solle sie doch
nicht hinschauen. Der Kellner entfernt sich langsam, rückt
seine Fliege zurecht, Oma meint immer, es sei schrecklich, dass
mittlerweile alle Kellner Schürzen tragen. Fragt mich, ob ich
der Meinung sei, dass sie da «auch einfach nicht hinschauen»
solle. Ich nicke. Sie murmelt etwas von Rebellion, von Phasen,
Hormonen, dass sie sich mit ihren Notizen so viel Mühe
147
gegeben habe und das Gespräch zu einem Ende bringen
wolle. Ein anderer Kellner nimmt Gabel und Teller, mit denen
ich die Schokoladenbilder gemalt habe – das macht man ja
auch nicht, aber ist das nicht der Punkt am Jung-sein? Genau
das zu tun, was bisher niemandem eingefallen ist? Der Preis
dafür sei zu groß, meint Oma. Respekt, Zuneigung, Vertrauen,
Liebe. Oder eben Rebellion. Ich müsse mich entscheiden.
Jede Generation muss sich aufs Neue entscheiden. So wie
Oma sich mit ihrem Haus entscheiden muss. Aber um
das zu verstehen, sei ich zu jung, sagt Oma, bevor sie
wieder nach ihren Oma-Notizen greift und mit einer eleganten
Oma-Handbewegung ihren Oma-Kaffee umstößt, der kalt und
mandelbraun, erst langsam und dann immer schneller das
weiße Tischtuch dunkel färbt, sich dann auf das noch weißere
Papier ausbreitet und eins wird mit der blauen Tinte auf Omas
Block, bis sich jedes einzelne Wort, von der Überschrift bis
zum letzten Punkt, im Vorzeigeprodukt der Kaffeehauskultur
auflöst, genau wie die Chance, dass mir heute die eine
unbezahlbare Frage gestellt wird, auf die ich seit dem ersten
Bissen Schokotorte warte: «Was ist denn deine Meinung?»
WIE KÖNNTE UNSERE WELT IN 40 JAHREN
AUSSEHEN?
Ein Experiment
von Maria Gazarjan
V1
Der schrille Ton meines Weckers durchdringt meinen Schlaf
und zieht mich zurück in die Wirklichkeit. Wie üblich will
ich nicht aufstehen, will stattdessen wieder in meinen Traum
eintauchen, doch der Wecker wird mich nicht in Ruhe lassen,
solange ich im Bett liegenbleibe.
Der Wandlautsprecher verstummt, nachdem die Sensoren mein
Aufstehen registriert haben.
Ich gähne, strecke mich. Trinke das Glas Wasser leer, das wie
jeden Morgen auf meinem Nachttisch wartet. In einer Stunde
wird es sich wieder gefüllt haben.
Ein Blick durch das Fenster verrät mir, dass das Wetter
148
angenehm zu sein scheint. Die Sonne sendet ihre sanften
Strahlen durch die Glasoberfläche.
Ich öffne meinen Kleiderschrank. Siv, unser Haushaltsroboter,
berechnet den heutigen Temperaturverlauf und stellt mir
darauf basierend ein paar Kombinationen zusammen. Ich
entscheide mich für eine bequeme, elastische Jeans und ein
kurzärmeliges Top aus lockerem Kunststoff. Die langen Haare binde ich mir zu einem Zopf.
Bevor ich nach unten gehe, streife ich mein Armband über.
Meine Eltern sitzen schon am Frühstückstisch und unterhalten sich. Mein kleiner Bruder ist nicht dabei; wahrscheinlich
ist er noch oben in seinem Zimmer. Durch ein verschlafenes
«Guten Morgen» kündige ich meine Anwesenheit an.
«Guten Morgen, Schatz. Gut geschlafen?», fragt meine Mutter.
«M-hm.» Ich nicke und setze mich auf einen der freien Stühle.
Die frischen Brote liegen auf dem Tisch bereit.
«Siv», sage ich. «Einen Kaffee, bitte. Nummer Drei.» Nummer
Drei, das bedeutet Standardmischung mit zwei Löffeln Milch
und einem Löffel Zucker. In der Küche ertönt die Kaffeemaschine.
Ich bin noch etwas müde, aber das wird sich gleich ändern.
Siv hat den Fernseher bereits aktiviert. Auf der Wand gegenüber dem Esstisch wechseln sich die Bilder ab: Eine
Nachrichtensendung. Ich hole meinen Kaffee und verfolge,
ihn trinkend, das Geschehen auf dem projizierten Bildschirm.
In Chile hat es wieder eine Überschwemmung gegeben. Die
Überlebenden sind verzweifelt auf der Suche nach einer neuen
Bleibe und nach ihren Angehörigen, die seit der Katastrophe
vermisst werden. So oft, denke ich bedauernd. Das passiert viel
zu oft.
Nächstes Bild: In Tokio droht zunehmend die Überbevölkerung.
«Kein Wunder», kommentiert mein Vater, während er sich ein
Brot belegt. «Bei 36 Millionen auf so engem Raum. Das sind
allein schon halb so viele wie in ganz Deutschland.»
Immerhin gibt es gute Nachrichten: Forscher haben einen
Planeten entdeckt, der der Erde ähnlicher sein soll als alle
anderen Funde dieser Art, die bisher gemacht worden sind.
Diesmal könnte es ein Erfolg sein – das klingt nach Hoffnung.
Lange werden unsere Ressourcen jedenfalls nicht mehr ausreichen. Das erzählen sie uns jedenfalls in der Schule.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, kommt mein Bru-
149
der Kai die Treppe hinuntergestürmt. Er hat seine Bettdecke
um die Schultern gehüllt und sieht ziemlich blass aus. «Ich
glaub‘, ich bin krank», nuschelt er und schnieft zur Bestätigung.
«Oje, du Armer. Komm mal her.» Meine Mutter steht auf,
um sich um ihren elfjährigen Sohn zu kümmern. Sie lässt
Siv seine Werte messen und die passenden Medikamente
bereitstellen. «Ist nur eine Grippe», sagt sie schließlich. «Heute bleibst du daheim. Nimm deine Medizin, dann kannst du
wieder hoch auf dein Zimmer.»
Nach dem Essen machen sich meine Eltern auf zur Arbeit.
Ich schalte mein Armband ein, um die Uhrzeit zu prüfen. Das
Hologramm zeigt 7:48. Um 8:00 beginnt der Unterricht.
Schnell rufe ich noch meinen Stundenplan auf und sehe nach,
welche Kurse mich heute erwarten: Wirtschaft, Computertechnik und Chinesisch. Die Hausarbeiten habe ich auf dem
Armband gespeichert. Alles klar, ich kann gehen.
Die Haltestelle ist gleich um die Ecke. Ich steige in die
Bahn. Wie immer bin ich umringt von älteren Menschen.
Jemanden in meinem Alter anzutreffen, ist heutzutage gar
nicht so einfach.
Meine Augen leuchten auf, als ich ein bekanntes Gesicht
in der Menge ausmache: Eine Klassenkameradin. Zusammen
fahren wir zur Schule.
Zu Fuß bräuchten wir eine halbe Stunde; so sind wir in drei
Minuten da.
V2
Ich erwache langsam. Das Erste, was ich spüre, ist die Kälte,
die hartnäckig versucht, sich einen Weg durch die Decke bis
zu meinem Körper zu bahnen. Geräusche dringen von draußen in mein Zimmer: Der Wind, der durch die Baumkronen
und über die Felder weht sowie dessen Pfeifen, während er
durch die Ritzen und Spalten des undichten Hauses schleicht;
Die tierischen Laute der Kühe und Hühner, die über den
Hof hallen; der ratternde Motor einer Erntemaschine – meine
Eltern sind anscheinend schon früh aufgestanden, um die
tägliche Arbeit zu erledigen, die nicht auf sich warten lässt.
Meine Sinne sträuben sich dagegen, das Bett zu verlassen, doch ich weiß, dass ich nicht liegenbleiben kann. Es
ist meine Pflicht, meiner Familie bei der Arbeit zu helfen.
Fröstelnd schlage ich die Decke zur Seite und erhebe mich,
150
mich duckend, da die Dachschräge meines Zimmers nicht viel
Freiraum nach oben zulässt.
Ich öffne meinen Kleiderschrank und überlege, welche Kleidung für den heutigen Tag am praktischsten ist. Das Wetter
scheint trotz des Windes ganz angenehm zu sein, was mir ein
Blick durch das Fenster verrät. Die Sonne sendet ihre sanften
Strahlen durch die Glasoberfläche.
Ich entscheide mich für eine grobe, robuste Jeans und eine
kurzärmelige Bluse aus Leinen. Die langen Haare binde ich
mir zu einem Zopf.
Der Frühstückstisch ist leer, als ich unten ankomme. Mein
kleiner Bruder ist ebenfalls nicht da; Entweder er hilft meinem
Vater mit der Maschine oder er schläft noch in seinem Zimmer.
Meine Mutter kommt gerade mit frisch gefüllten Obstkörben
durch die Haustür.
«Guten Morgen, Schatz. Gut geschlafen?», fragt sie und stellt
die Körbe auf dem Boden ab.
«M-hm.» Ich nicke und nehme mir ein Messer, um ein Stück
vom Brotlaib zu schneiden. Es ist nicht mehr viel übrig, aber
für das Frühstück wird es reichen. Dazu schenke ich mir ein
Glas Milch ein und nehme mir einen Apfel aus einem der
Körbe.
«Wenn du fertig bist, komm doch bitte zu mir, ja? Ich brauche
dich draußen auf dem Hof», sagt meine Mutter, bevor sie das
Haus wieder verlässt.
«Ja, ist in Ordnung», rufe ich ihr hinterher und setze mich auf
einen der freien Stühle.
Ich wüsste gern, was es Neues in der Welt gibt, aber einen
Fernseher können wir uns nicht leisten; Vermutlich hätten
wir hier ohnehin keinen Empfang. Ich hoffe, dass der Postbote
sich heute noch bei uns blicken lässt, um die Wochenzeitung
vorbeizubringen. Darauf freue ich mich immer am meisten,
denn es bedeutet eine Verbindung zur Gesellschaft.
Ich wäre gerne auf die weiterführende Schule gegangen,
jedoch sehen meine Eltern darin wenig Sinn. Alles, was ich
zu wissen bräuchte, hätte ich ihrer Überzeugung nach in den
ersten Schuljahren gelernt – außerdem ist der Schulweg zu
lang und aufwändig, um ihn zu bestreiten. Vor allem, da
mein Vater das Auto für den Handel braucht. Dass wir eines
besitzen, sei überhaupt schon ein Luxus, sagt er. Die Kosten
für den Antrieb sind so enorm in die Höhe gestiegen, dass
nur noch wenige Personen einen Wagen ihr Eigen nennen
151
können.
Wenn ich nicht den Hof übernehmen müsste, würde ich Ingenieurin werden. Ich würde die Solar- und Windkraftenergien
weiterentwickeln und mich für den Wiederaufbau unserer
Gesellschaft einsetzen. Gegen die Isolation kämpfen.
Aber Landwirtschaft ist auch wichtig, das weiß ich von meinen Eltern. Wir bekommen unsere Produkte nicht mehr aus
aller Welt. Wir müssen sie selbst anbauen.
Ganz gleich, welchen Weg mir das Leben ebnet, sage ich mir,
es wird schon der Richtige sein.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, kommt mein Bruder Kai die Treppe hinuntergestürmt. Er hat seine Bettdecke
um die Schultern gehüllt und sieht ziemlich blass aus. «Ich
glaub‘, ich bin krank», nuschelt er und schnieft zur Bestätigung.
«Oje, du Armer. Komm mal her.» Ich stehe auf, um mich um
den elfjährigen Jungen zu kümmern. Versuche herauszufinden, was ihn erwischt hat. Lege meine Hand an seine vor
Wärme glühende Stirn.
Ich schlucke. «Ich glaube, es ist eine Grippe», sage ich.
Im Schrank ist nicht mehr viel Medizin. Sie ist teurer und
seltener geworden, und um sie zu holen, müssen wir in die
nächste Stadt fahren. Mit unserem Auto. Aber vielleicht
haben wir noch Kräuter zu Hause. Ein warmer Tee würde
meinem Bruder fürs Erste guttun.
«Warte hier. Ich komme gleich», flüstere ich Kai zu und laufe
hinaus in den Hof, um meine Mutter zu rufen. Jetzt gibt es
Wichtigeres zu tun als die täglich anstehende Arbeit.
152
153
5. REPORTAGEN - REFLEXIONEN
ICH BIN ICH, MIT UND OHNE RASIERTE BEINE.
ODER NICHT?
Sarah Ouředníčková, freie Seele aus Tschechien
Ich bin ein Mädchen, das seine Beine nicht rasiert. Ja, das
gibt es wirklich. Jahr 2016. Dunkle, lange Haare auf beiden
Beinen. Und nein, es ist nicht, weil wir im Osten keine
Rasiergeräte haben oder weil postkommunistische Kulturen
im Mittelalter stecken geblieben sind (ich bin ja – übrigens –
eine halbe Schweizerin). Nein, es ist auch nicht, weil meine
Mutter eine verrückte Feministin ist, die alle Rasierer im
Haus sofort zerstören würde (sie rasiert sich ihre Beine, falls
das hier wichtig ist). Nein, ich bin nicht transgender. Es ist
etwas viel banaleres. Manchmal sind es ja die einfachsten
Antworten, die am schwierigsten zum finden sind.
Da dachte ich, ich könnte mal fragen, was die Menschen um
mich herum über meine Beine zu sagen haben. Und was für
eine bessere Gelegenheit dazu als eljub E-Book-Woche. Ich
bin also herumgegangen und habe Gespräche mit insgesamt
13 Menschen aus verschiedenen Ländern geführt. Ich habe
jedem die fünf gleichen Frage gestellt, und zwar:
1. Hast du bemerkt, dass ich meine Beine nicht rasiere?
2. Was hältst du davon? Wie findest du das?
3. Was denkst du, dass es über meine Persönlichkeit aussagt?
4. Warum denkst du, dass ich das mache, oder eben: nicht
mache?
5. Rasierst du deine Beine? Wenn ja, warum?
Wichtig zu sagen ist, dass ich nicht wissenschaftlich vorgehen
wollte. Keine Studie. Deshalb erwähne ich bei den Aussagen
das Alter, das Land und das Geschlecht der Person nicht,
weil die Anzahl der Befragten viel zu niedrig ist, um einen
Vergleich zu ermöglichen. Es ging mir um etwas anderes.
Es kamen sehr spannende Antworten. Nur drei Menschen
(von dreizehn) haben gesagt, dass es ihnen nicht aufgefallen
ist. Die meisten haben gesagt, dass es ihnen zwar aufgefallen
ist, aber es völlig meine Sache sei und es störe sie nicht.
Manche haben sogar gesagt, dass sie es cool, gut, originell
oder mutig fänden. Einmal ist auch das Wort provokativ
154
gefallen. Nur einmal kam die direkte Antwort: «Sie gefallen
mir nicht.» Vielleicht wollten die anderen nur höflich sein.
Anhand meiner haarigen Beine wurde ich als selbstbewusst,
zentriert, mutig oder revolutionär beschrieben, es kamen aber
auch Begriffe wie Hippie, Künstlerin oder eine freie Seele vor.
Ich wurde oft als jemand eingeschätzt, die nicht auf Mode
und von der Gesellschaft erstellte Schönheitsideale achtet.
Als meine möglichen Gründe wurden genannt:
— symbolischer Wert (gegen das jetzige Schönheitsideal,
gegen diesen Mode-Trend),
— geringerer Aufwand,
— andere Prioritäten,
— gesundheitliche Gründe,
— feministische Gründe (gegen das jetzige Frauenbild), oder
— einfach anders sein wollen.
Die lustigste Idee war sicher die, dass ich nicht wüsste, wie
man sich rasiert. Erstaunlich war, dass manche Mädchen
sagten, sie fanden es gut, dass ich mich nicht anpasse, aber
sie selbst fühlten sich nicht stark genug dafür.
Warum rasieren sich dann die Leute ihre Beine? Oft wurden
«ein gutes Gefühl» oder «ästhetischer Wert» erwähnt. Dann
Mode, die vor allem durch Modezeitschriften verbreitet wird.
Mehrere Mädchen haben gesagt, sie würden es nicht aushalten, mit dem Gefühl zu leben, dass sie beobachtet werden
und etwas über sie geflüstert wird. Interessant war, dass die
Mädchen den Anspruch sowohl von der Seite der Männer,
sowie auch von anderen Mädchen erlebt haben. Zwei haben
gesagt, sie rasieren sich im Winter nicht, weil es keinen Sinn
macht. Zweimal war die einzige Antwort tiefe Stille.
Hier vier ausgewählte Aussagen:
«Das Aussehen ist wirklich nicht so wichtig, das Wichtige ist, was
drinnen ist.»
«Ich bin ich, mit und ohne rasierte Beine.»
«Es ist fast ein gesellschaftlicher Wert geworden.»
«Würden wir jetzt im Dschungel leben zum Beispiel und würde ich
Wachs haben, dann würde ich das weiter machen.»
Es ist interessant, wie schnell sich die Mode-Trends in unserer
Gesellschaft verändern. Als Beweis kann die Geschichte
dienen, die mir (beim Gespräch) ein rumänisches Mädchen
erzählt hat. Ihre Mutter ist in den 60er-Jahren in einer
155
kleinen rumänischen Stadt aufgewachsen. Die einzigen, die
sich schminkten und rasierten, waren die Prostituierten.
Es ist auch eine Identitätsfrage, nicht? Was definiert eine
Frau? Was bedeutet weiblich? Bin ich weniger Frau, wenn
ich meine Beine nicht rasiere?
HEIßT DAS JETZT KULTUR-EXIT?
von Diana Dehelean
Ich habe eine Frage im Kopf, die sich schon seit längerer
Zeit hineinbohrt und mich zwingt, immer neue Meinungen
zu erkunden. Liegt die Kultur auf dem Sterbebett? Werden
die Mitschüler unserer Kinder überhaupt von Richard Wagner,
Gustav Klimt, Friedrich Dürrenmatt, Antonio Gaudí, Mihai Eminescu, Alfons Mucha oder Gerhard Haderer noch hören? Oder
werden alle kulturellen Werte, die die Menschheit in einigen
Jahrtausenden geschaffen und gesammelt hat, plötzlich bis
zum Nicht-Mehr-Erkennen verblassen?
Für mich ist Kultur extrem wichtig. Ich glaube, ich würde
ohne Kultur nicht überleben können, denn immer, wenn etwas
Unangenehmes oder Unerwartetes passiert, ist die Kultur meine Rettung: Ich höre oder spiele Musik, ich schaue mir Bilder
an oder male sie selbst, ich rede einfach mit jemandem und
denke darüber nach, was Kultur für die Menschheit bedeutet.
Ich bin in einer Familie groß geworden, in der Musik und
Malerei und gute Bücher und Filme ganz wichtige Teile des
Alltags waren und sind. Sie definieren mich als Mensch.
Das Schicksal der Kultur liegt in unseren Händen. Nur als
vereinigte Gemeinschaft kann man entscheiden, ob Werte
vom Vergessen gerettet werden, oder ob sie aussterben. Ein
gutes Beispiel dafür sind die antiken Zivilisationen, die trotz
ihres Untergangs immer noch bekannt sind. Jedoch, was ist
Kultur? eljub bietet neben viel Spaß auch die Gelegenheit,
sich mit Jugendlichen aus dem europäischen Kulturraum auszutauschen. Für mich ist es sehr interessant gewesen, mit
möglichst vielen über Kultur und Kunst zu diskutieren und
ein Stück ihres kulturellen Erbes kennenzulernen. Ich habe
Unerwartetes erfahren, wie zum Beispiel, dass der Begriff Kultur von verschiedenen Leuten sehr unterschiedlich verstanden
wird.
156
Erstens: Für manche bedeutet Kultur Bildung, Erweiterung
des Horizonts. Es geht um die Gelegenheit, Interessantes und
Weiterführendes zu erfahren, es geht um Wissensdurst und
Humanismus.
Zweitens, bedeutet Kultur Länderkultur: alles was im Inneren
einer bestimmten Region entsteht und diese von anderen
unterscheidet. Sprachen, Traditionen, Bräuche, Werte, aber
auch geschichtliche, soziale und politische Einflüsse prägen.
Europa ist ein außergewöhnlicher Kulturraum, der eine große
Vielfalt von sehr unterschiedlichen Länderkulturen auf einer
relativ kleinen Fläche versammelt. Es ist bemerkenswert, wie
unterschiedlich beispielsweise die Deutschsprachigen sind:
aus Deutschland, Österreich, der Schweiz (wie hier bei eljub).
Auf der anderen Seite sind im Laufe der Zeit als Folge des
Zusammenlebens viele Mischkulturen entstanden. In Europa
werden Sprachen der romanischen, germanischen, slawischen,
fino-ugrischen und semitischen Sprachfamilien gesprochen,
und wenn man alle Dialekte dazuzählt, sprechen etwa 750
Millionen Menschen mehr als 200 Sprachen. Ziemlich viel,
oder? Keine Rede von den Einflüssen der Globalisierung, der
nach Europa Flüchtenden und der relativ jungen Bewegungsfreiheit in den EU Ländern: das ist Vielfalt.
Drittens: Nicht zuletzt muss man erwähnen, dass Kultur auch
Kunstkultur bedeutet. De gustibus non discutandum. Es hat
mich wahnsinnig gefreut, dass ich zu der Frage, ob das Wort
«Kultur» langweilig ist, gar keine affirmative Antwort bekommen habe. Einige bevorzugen das Theater, andere wählen
sich Kulturfilme aus. Einige besuchen Kunstausstellungen, für
andere hat Musik eine besonders wichtige Rolle. Ich habe
dazu ein paar Jugendliche befragt. Das ist die Antwort, die
mir von allen am besten gefällt:
«Kultur ist das Bemühen der Menschen, etwas Positives und
zugleich Kritisches zu schaffen: einen Spiegel für uns alle.» (Sarah,
18)
Kunst ist kein fertiger Gegenstand: ein Bild alleine ist für
mich keine Kunst. Auch nicht ein einzelner Film oder ein
Buch. Kunst ist für mich, wenn jemand, also ich, oder jemand
anderer, das Buch liest oder das Bild oder den Film sieht.
Und dann geschieht etwas im Kopf: DAS ist Kunst. Das Kunstwerk ist für mich nur ein Kommunikationsmittel zwischen
157
zwei Menschen: den Kunstschaffenden und jenen, die das
Werk erleben. Kunst muss man erleben, sie ist nichts Statisches. Kunst erreicht ihre Vollkommenheit in dem Augenblick,
wo Künstler und Betrachter mittels des Kunstwerkes eine
Botschaft austauschen.
Unser Alltag ist von anderen Dingen geprägt. Es geht zu wenig um echtes Sich-Begegnen. Die Gesellschaft formt uns zu
Einzelkämpfern. Heute hast du einen Weg, und du gehst ihn
im Wesentlichen allein. In einer Zeit, die vom Extremismus,
Wettbewerb und Virtualisierung immer mehr geprägt ist, frage
ich mich, ob die Kunst überleben wird...
Wenn ich je den Fernseher aufdrehe, sehe ich künstlichen
Trash, gefakte Ratings und allerlei Skandalgeschichten. Legen
wir heute wirklich Wert auf Kunst und Kultur? Oder ist der
Brexit Großbritanniens eines der Signale für den Sturz der
europäischen Kultur? Ich glaube, dass neben den finanziellen
Krisen auch die Kultur schwere Momente erleben muss und
dass sie für uns alle von einer großen Bedeutung sind. Oder
beginnt gerade der Kultur-Exit?
REPORTAGE ELJUB E-BOOK-WOCHE: VON
E-BOOKS UND ESSBAREM
von Susanne Schmalwieser
«So viel zu interkulturellen Differenzen», denke ich, als mir
in der Wein- und Obstbauschule Krems heute schon das
zweite Mädchen begegnet, dass die selbe Hose trägt wie ich.
Eine Rumänin. Wir begrüßen uns, wechseln ein paar Worte
und machen uns auf den Weg in unsere Workshop-Gruppen.
Tatsächlich ist eines der vielen Dinge, die ich im Laufe der
E-Book-Woche 2016 lernen durfte, wie viele Gemeinsamkeiten
wir mit anderen EuropäerInnen teilen – begonnen bei einer
Liebe zu Shorts von H&M. Aber es ist nicht unser Kleidungsgeschmack, der uns alle in die österreichische Donaustadt
geführt hat – nein, es ist die Liebe zur Sprache, das Interesse an unseren Mitmenschen und am Weltgeschehen und,
vielleicht am allerwichtigsten: Der Drang, nachzudenken, sich
bemerkbar zu machen. Der Wunsch nach Gleichgesinnten und
der Wunsch nach einem Recht zur Mitbestimmung.
Um diese Wünsche zu erfüllen, und uns, als Jugendliche, vor
158
Augen zu führen, welche Möglichkeiten wir in unserem Alter
haben und dennoch häufig übersehen, organisieren der Verein
«pilgern & surfen melk», das NÖ Landesjugendreferat, die
Europäischen Literaturtage und die Arbeitsgemeinschaft der
Donauländer schon zum vierten Mal die eljub E-Book-Woche.
«E-Book-Woche» bedeutet aber nicht nur tagelanges Schreiben
– auch wenn ich persönlich kein Problem damit hätte. Es
bedeutet auch nicht, nur Vorträge und Ansprachen – nein –
hinter der E-Book-Woche steckt eine ganze Menge mehr, als
ihr Name vermuten lässt.
Als ich am 2. Juli 2016 im Quartier in Krems ankomme, ist es
mein erstes Mal bei eljub, und mich überrascht die Professionalität. Gedruckte Namensschilder, gestaffelte Ankunft und
fließendes Wasser in allen Zimmern – die Leiter des Projekts,
Veronika Trubel und Ernst Sachs, ersparen uns eine Rede und
nach einem kurzen Spielenachmittag sind wir bei der Suche
nach ersten Bekanntschaften auf uns alleine gestellt, auch,
weil wir unsere Betreuerin, die mehr als die Hälfte der 60
Teilnehmer zu kennen scheint, schnell im Getümmel aus den
Augen verlieren. Gut für sie, gut für uns, am nächsten Morgen
können wir schon die Namen unserer Zimmernachbarinnen
aussprechen.
Als Veganerin bemerke ich hier schnell, wie viele Kulturen
noch nicht verstanden haben, dass nicht jedes Gericht Eier
und Milch enthalten muss – auch mein eigenes Team fällt mir
mit Marillenknödeln in den Rücken, nur eine ungarische Gruppe erweist sich als mitleidig und bietet zum traditionellen
Gulasch nicht nur ein Gegengulasch, sondern auch Salzkartoffeln an, damit auch die herbivoren Mitglieder der Runde
ein wenig über den eigenen Tellerrand hinausblicken können
– im wahrsten Sinne des Wortes. Tatsächlich erweisen sich
einige Nationen als überaus motiviert, wenn es darum geht,
anderen die Kulinarik des eigenen Landes näher zu bringen –
während wir Österreicher in einer zehn-minütigen Präsentation über Kängurus und Dialekte sprechen, teilen Rumänen
und Ungarn Süßigkeiten aus und verunsichern sämtliche
Hobby-Sänger mit ihrem musikalischen Talent.
Wir befinden uns zweifellos an einem Ort, an dem jegliches
Talent gefordert und gefördert wird – sei es beim Fußball, beim Kistenklettern, oder aber direkt in den WorkshopStunden, in denen wir uns auf die unterschiedlichsten Weisen
mit noch unterschiedlicheren Themen – von Technik über
159
Geschichte bis hin zu Literatur – beschäftigen und Menschen
kennen lernen, die verschiedener nicht sein könnten.
Wer denkt, «E-Book-Woche» würde bedeuten, dass ein paar
schreibaffine Teenager in der Kremser Hitze gemeinsam ein
E-Book verfassen, liegt falsch. «E-Book Woche» bedeutet, seine eigenen Vorstellungen und Grundsätze zu hinterfragen, zu
lernen, peinliches Schweigen zu brechen, in der Sommersonne
auch einmal den «inneren Schweinehund» zu überwinden,
herauszufinden, dass die gute Schreibfreundin eine noch bessere Singstimme hat; sich auf Ungarisch ein Glas Wasser zu
bestellen und am Ende sogar neue Begriffe in der eigenen
Sprache zu lernen.
WERBUNG
Eine kurze Umfrage von Ylva Hagmair
Jeden Tag begegnen wir ihr. Sie ist störend und doch überall.
Werbung. Ich habe eine Umfrage mit Jugendlichen gemacht
um zu sehen, was eine Jugendliche ansprechende Werbung
ausmacht.
Bei meiner Befragung machten 15 Jugendliche aus vielen
verschiedenen Ländern der EU mit. Die Ergebnisse waren
sehr ähnlich, doch bei genauerem Hinsehen erkannte ich,
dass Deutsche und Österreicher sich humorvolle Werbung
wünschen. Einig waren sich aber alle, dass Werbung im
Fernsehen nervt. 16- bis 18-Jährige können Werbung an
Öffentlichen Flächen nicht leiden. Der Rest er Was ist der
Grund? Sind wir alle nur mehr vor unseren Bildschirmen oder
ist es für uns einfach normal?
Wir mögen nicht lange Werbung sehen, aber trotzdem von
dem Produkt etwas erfahren. Wie funktioniert das? Durch
originelle Werbung! Sie sollte eine Möglichst positive Stimmung verbreiten und auch eine gewisse sprachliche Qualität
sollte geboten werden. Werbung im Fernsehen ist ok, aber sie
sollte nicht während Filmen vorkommen oder zu mindestens
kürzer sein.
160
(FIKTIVER) LESERBRIEF
von Bernadette Sarman
Zum Artikel «Hach, die Frauen» von Franz Fichtenbauer über ein
Fussballmatch zwischen zwei berühmten
Frauenfußballmannschaften.
Am 7.7.2016 veröffentlichte Franz Fichtenbauer den Artikel
«Hach, die Frauen!» direkt nach dem Match der zwei besten
Frauenfußballmannschaften der Region. Er erläuterte in diesem seine persönliche Ansicht darüber und stellte sie – um
es freundlich auszudrücken – recht frauenfeindlich dar. Hier
ein Leserbrief von Frau Tannendorf/Clausenheim.
Um es gleich vorweg zu sagen: Ich gebe zu, Frauen sind
nicht unbedingt Ronaldos oder Messis des Fußballs. Trotzdem:
zu behaupten, ich zitiere wortwörtlich, sie seien «unsportliche Kreaturen, selbst Bisons bewegen sich auf dem Feld
besser als sie» ist etwas sehr wagemutig von Ihnen, Herr
Fichtenbauer, sehr wagemutig, wenn nicht sogar sexistisch.
Es gibt sehr viele athletische Frauen auf der Welt, die viele
Rekorde gebrochen und bei harten Wettkämpfen gewonnen
haben, auch im Fußball! Ja, heutzutage gibt es so etwas wie
Gleichberechtigung der Geschlechter, Herr Fichtenbauer, willkommen im 21. Jahrhundert! Und haben Sie schon einmal
einen ausgewachsenen Bison gesehen? Der Bison latifrons
hat eine Größe von stolzen 2,5m, sieht also doch ziemlich
anders aus als eine durchschnittliche Frau.
Meine Fußballfreundinnen und ich grübeln, wie eigentlich
Herr Fichtenbauer selbst aussieht. Von der Bewegung und
Geschwindigkeit der Bisons hat er anscheinend genau so
wenig Ahnung wie vom Frauenfußball. Aber wir hier wollen
doch sachlich bleiben.
Franz Fichtenbauer schrieb außerdem in seinem Artikel,
Frauen sollten «hinter der Küchentheke bleiben, anstatt das
Fußballfeld zu betreten», und wenn sie einen Fuß daraufsetzen sollten, dann «nur um den Rasen zu mähen». Das ist ja
wohl extrem sexistisch. Dieses mittelalterliche Bild der Frau
sollte nicht in den Köpfen der Männer sein, sondern gehört
allenfalls ins Museum.
Die Frauen der heutigen Zeit dürfen und können jeden Beruf
und auch jeden Sport ausüben. Also warum sollten Frauen
nicht Fußball spielen dürfen? Ich bin jedenfalls als langjährige
161
treue Leserin und Abonnentin entsetzt, in Ihrem Blatt so
einen sexistischen Schrott lesen zu müssen, wie die völlig
überflüssigen Äußerungen des Herrn Fichtenbauer.
Auf Antwort wartet gespannt Ihre schockierte Leserin
N. Tannendorf
BUNT GEMISCHTE EUROPATEAMS
Europafußballmeisterschaft in Krems
von unserem Korrespondenten Viktor Klochko
Am 3. Juli 2016 fand in Krems die kleine Europafußballmeisterschaft statt. Die Teams sind sich nicht in Stadions in
Frankreich begegnet, sondern im Areal der Wein- & Obstbauschule Krems. Ihr Hauptziel war auch kein goldener Pokal,
sondern Spaß, internationale Zusammenarbeit auf dem Beach
Soccer Platz und ein Sportwettbewerb in bestem Fair-PlayGeist.
Jeder, der Interesse und Lust hatte, konnte sich anmelden.
Insgesamt 7 Frauen- und Männerteams nahmen am Turnier
teil und zeigten den Zuschauer ihre Fußfertigkeiten.
Laut Turnierregeln wurde 3 gegen 3 auf dem Beachfußballplatz gespielt. Alle Teams spielten gegeneinander nach einem
Tabellensystem, was bedeutet, dass das beste Team nach der
Zahl der Punkte festgestellt wurde.
Die ersten 3 Plätze wurden sehr dicht von den Jungenteams
besetzt, die alle anderen Teams mit großem Torunterschied
besiegt hatten. Der Kampf zwischen den zwei größten Favoriten war so ausgeglichen, dass sie die einzigen Punkte,
die ihnen zur vollen Zahl fehlten, im gegenseitigem Wettkampf verloren. Die Teams hatten sehr kreative Namen. Mit
Gleichstand von 16 Punkten und 9 erhaltenen Toren auf
dem Konto haben die «Diabolischen Zauberfeen» den ersten
Preis nur dank 55 geschossener Tore gewonnen. Ihre Rivalen,
«Ropostralia», hatten bloß 3 Tore weniger hineingeschossen
und besetzten den 2. Platz. «Anfangs war der Spaßfaktor
unsere große Motivation beim Spielen. Erst im Laufe des
Turniers entwickelten wir mehr Wettbewerbsgeist, was uns
natürlich unter Druck setzte, jedoch den Sieg gegen unseren
162
Hauptkonkurrenten noch schöner machte,» erzählt ein Mitglied des Siegerteams.
Mit etwas weniger, und zwar 12 Punkten haben «Two and a
Half Men» den letzten Platz des Siegerpodests besetzt. Sie
haben gegen alle Frauenteams problemlos gewonnen, doch
gegen die Favoriten hatten sie keine Chance.
Das Team mit dem sehr ambitionierten Namen «Die Gewinner» war wirklich das beste von allen Frauenkollektiven, also
das vierte mit 9 Punkten. Laut Lena Haiden gab es zwischen
den Teams Unterschiede: «Ich fand das Turnier sehr lustig,
aber es war klar, dass manche Teams mitgespielt haben,
weil sie Fußball spielen wollten und andere, weil sie Fußball
spielen können, aber das macht nichts, weil alle Spaß hatten.»
Weitere Plätze wurden von den «Powerpuff Girls» mit 6
Punkten und dem «Gemischten Satz» mit 3 Punkten besetzt.
Die «Chesire Cats» haben leider keinen Wettkampf gewonnen
und haben die Tabelle beendet. «Die männlichen Gruppen
waren in den meisten Spielen führend und hielten sich
aber vor allem gegen Ende des Turniers zurück, um auch
ungeübteren Teilnehmer eine Chance zu geben,» so Susanne
Schmalwieser, die Torfrau der Chesire Cats. «Hauptproblem
unseres Teams war unsere fehlende Übung im Beach Soccer.
Trotzdem haben wir unser Bestes gegeben und ich bin zufrieden mit unserer Leistung.»
Zum Glück wurden alle Spiele ganz konfliktlos und ohne
ernsthafte Verletzungen gespielt, obwohl die Wettkämpfe
manchmal ziemlich hart aussahen.
Außer Fußball standen Spielern sowie Zuschauern verschiedene Unterhaltungswettbewerbe zur Verfügung. Es war möglich
zum Beispiel das Segwayfahren, Kistenklettern oder einen
Sicherheitsparcour auszuprobieren. Danach gab es ein buntes
und spannendes Unterhaltungsprogramm mit einer Band und
Grill.
163
164
165
DIE PRÄSENZ DER NATO IN OSTEUROPA
Eine kurze Betrachtung
von Anže Mediževec
Wenn wir uns mit der Frage «In welchem Europa werde ich
erwachen?» beschäftigen, ist die NATO eine Organisation, die
wir unbedingt in Betracht nehmen müssen, insbesondere im
Rahmen einer Betrachtung, wie deren Präsenz auf Osteuropa
wirkt.
Eine der ersten Fragen, die uns im Kopf einfallen, ist wahrscheinlich: Wieso ist die NATO überhaupt da und was sind
dessen Pläne für die Region?»
Die NATO verteidigt ihre Anwesenheit mit der Hilfe von Warnungen vor der sogenannten russischen Gefahr in diesem Teil
Europas. In der letzten Zeit aber haben viele Europäer angefangen sich zu fragen, ob das tatsächlich eine gute Erklärung
ist. Nehmen wir zum Beispiel die letzte Militärübung, die
die NATO durchgeführt hat. Die Übung geschah in diesem
Jahr in Polen mit rund 31’000 Soldaten aus verschiedenen
Staaten. Der Anlass dieser Übung war, die Reaktionszeit der
NATO-Truppen in Osteuropa im Falle eines Angriffes auf
diese Region auf die Probe zu stellen. Es ist interessant, dass
das grösste Manöver seit Ende des Kalten Krieges gerade in
dieser Region ablief, so nah an der russischen Grenze.
Die darauf folgende russische Rhetorik ist keine Überraschung.
In den Augen vieler Menschen sind solche Manöver die
schlimmste Gefahr für die internationale Sicherheit heutzutage. Viele meinen sogar, dass solche Aktionen die ganze
Region destabilisieren. In Deutschland zum Beispiel stimmen
nur 9% der Einwohner einer zum Teil geplanten Truppenvergrößerung zu, so hat YouGov herausgefunden.
Von einem geopolitischen Standpunkt aus gesehen ist die Kooperation der EU mit der NATO nichts überraschendes, denn
die Union hat an Recht darauf, ihre Grenzen zu schützen.
Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen strategischer
Verteidigung und Kriegstreiberei. Es geht dabei nicht nur um
Manöver, sondern auf um die Errichtung von Militärbasen
überall in Europa.
Manche könnten jetzt argumentieren, dass auch Russland
solche Basen in der Welt errichtet hat, aber die Anzahl ist im
166
Vergleich mit der NATO sehr gering.
Es geht also darum, wer den Einfluss in Osteuropa besitzt und
wer ihn auch in der Zukunft besitzen wird. Worauf wir und
besonders die Personen hinter dem Steuerbord jetzt achten
bzw. aufpassen müssen ist, dass wir uns genug Mühe geben,
um die jetzige Situation in Osteuropa zu verstehen und
lieber diplomatische als militärische Lösungen für Probleme
zu finden, auch wenn der Krieg oftmals als die verlängerte
Hand der Diplomatie bezeichnet wird.
167
EINDRÜCKE EINES PEER-BETREUERS
von Michal Strnad
Ich schreibe nun schon zum vierten Mal einen Beitrag für das
eljub E-Book. Für ein Medium, das ideal für dieses Projekt
ist und vor allem dazu dient, die Gedanken und Gespräche
von Jugendlichen während der eljub E-book-Woche schriftlich
festzuhalten.
Die Rede ist hier von jugendlichen Teilnehmern an eljub,
zu denen ich vor 2 Jahren noch selbst gehört habe. 2015,
im Alter von 21 Jahren, wechselte ich die Rolle und wurde
Peer, also Betreuer der tschechischen Gruppe. Für diese Ebook-Woche, aber auch andere eljub-Projekte, werden mir von
tschechischen Kreisämtern Jugendliche nach einem spezifischen Auswahlverfahren zugeordnet, die dann unter meiner
Leitung zur E-Book-Woche fahren.
Das eljub-Jahr 2016 schließt für mich eine merkwürdige
fünfjährige Etappe ab. Mit 18 kam ich als Fremdsprachenkandidat von meiner Mittelschule in Südmähren zum ersten Mal
zum Sprachwettbewerb nach Niederösterreich. Ich kann mich
an diese Spracholympiade in St. Pölten ganz gut erinnern.
An zwei Wochentagen Ende März repräsentierte dort jeweils
der beste Schüller in Deutsch seine Partnerschule, in meinem
Fall ein achtjähriges Gymnasium. Obwohl ich mir damals
in Deutsch ziemlich fit vorkam, erwartete ich nicht, angesichts der großen Konkurrenz aus lauter bilingualen Schulen
einen guten Platz belegen zu können. Ich erinnere mich
gut. Während sich alle anderen Teilnehmer am Vortag des
Wettbewerbs in einem Café auf Deutsch gemütlich unterhielten, analysierte ich im Hinterkopf die Sprachkenntisse aller
anderen Konkurrenten und nahm die größte Konkurrenz ins
Visier, und die war damals wirklich groß. Für die ersten vier
Plätze war wie seit langem ein Gutschein für die Teilnahme
an einem internationalen Jugendcamp in Niederösterreich
als Preis vorgesehen. Als bei der Siegerehrung beim vierten
Platz mein Name als Michael Strand, wie er von Deutschsprachigen oft falsch ausgeprochen wird, ausgerufen wurde,
war ich einigermaßen überrascht. So bin ich zum ersten Mal
zum Niederösterreichischen Jugendcamp gekommen, einem
Vorläufer der jetzigen eljub E-book-Woche.
Damals hat das Projekt noch wesentlich anders ausgeschaut.
168
Ich werde hier jetzt nicht in Einzelheiten gehen. Prinzipiell
war es eine tolle Woche, wo man Kontakte mit Jugendlichen
aus ganz Europa knüpfen konnte, nur war das Programm auf
Sport und Freizeitaktivitäten ausgerichtet. Wir waren damals
noch in Tulln an der Donau stationiert, von diesem Ort
aus unternahmen wir verschiedene Ausflüge kreuz und quer
durch Niederösterreich. Am meisten ist mir das Rollerfahren
auf dem Zauberberg am Semmering in Erinnerung geblieben.
Während dieser Woche bildete sich ein fantastischer Freundeskreis um mich herum. Mit diesen Menschen hatte ich 3 Jahre
danach noch Kontakt und sah sie oft an verschiedenen Orten
wieder. Als diese tollen sieben Tage zu Ende gingen, war für
mich das Jugendcamp in NÖ eigentlich ein abgeschlossenes
Kapitel, und ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich noch
mal herkommen würde.
Eine der Regeln beim Sprachwettbewerb in St. Pölten ist es
nämlich, dass dieser Gutschein-Preis nicht mehr als einmal
an dieselbe Person verliehen werden darf. Es gab z. B.
viele Teilnehmer aus Ungarn und aus der Slowakei, die schon
einmal irgendwann zum Jugendcamp gefahren waren. Sie
durften zwar ohne Probleme weiter am Sprachwettbewerb
teilnehmen, hatten jedoch keine Chance und kein Recht auf
Wiederholung. Dieser Regel war ich mir bewusst. Trotzdem
beschloss im Abiturjahr die Schulleitung, mich wieder als
den besten Fremdsprachenkandidaten nach St. Pölten zu
schicken. Andere Kandidaten aus meiner Schule hatten einfach zu schwache Sprachkenntnisse, um sich mit der Jury
auf Deutsch unterhalten zu können, deswegen war ihre gute
Platzierung äußerst unwahrscheinlich. Mit keiner Aussicht auf
eine weitere Teilnahme am Jugendcamp nahm ich also ein
zweites Mal am Sprachwettbewerb teil und gab trotzdem vor
der Jury mein Bestes zum Thema Kunst und Technologien.
Wie erwartet, wurde mein Name bei der Siegerehrung unter
den ersten vier nicht ausgerufen.
Zu meiner Überraschung bekam ich aber zum zweiten Mal
die Einladung, im Sommer zum niederösterreichischen Jugendcamp zu fahren. Ich war so gut, dass die Organisatoren es
nicht über sich bringen konnten, mir keinen Preis zu geben,
so meine Deutschlehrerin wortwörtlich. Ok, ich bleibe gerne
bei dieser Version.
Das Komplizierte beim zweiten Jugendcamp war, dass sich
dieses Projekt in einer Umbauphase befand. Es ging um
169
einen größeren inhaltlichen Input, der den Jugendlichen
geboten werden sollte, und zugleich um mehr Output der
Ergebnisse für die interessierte Öffentlichkeit. Das Selbstverständnis der europäischen Austauschprogramme hatte sich
verändert. Es ging weiterhin um das Schließen von Freundschaften, aber eben auch um Auseinandersetzung mit der
europäischen Idee. Es war ein bisschen problematisch, denn
großteils kamen Jugendliche, die auf das alte Sport-FreizeitModell eingestellt waren, und plötzlich standen Veronika, Beat
und Walter da und wollten, dass die Jugendlichen zusammen
ein E-book schreiben. In meiner Workshopgruppe hat das
nur sehr mühsam funktioniert. Ich persönlich habe die neuen
Impulse und Inputs sehr geschätzt, die meisten Teilnehmer
wussten aber nicht, wie sie an das neue Arbeits-Modell
herangehen sollten. Darüber habe ich später auch einen Text
geschrieben. Ich habe auch gemerkt, dass es mir großen Spaß
machte, zu beobachten, wie das ganze Projekt organisatorisch
abläuft, wie Ernst und sein Team vom Niederösterreichischen
Landesjugendreferat die Organisation im Griff hatten, wie sie
die Teilnehmer koordinierten, wie souverän immer alles zur
Verfügung stand und wie operativ sie laufend neu auftauchende Probleme zu bewältigen in der Lage waren. Schon
damals begann ich, mir von ihnen einiges abzuschauen.
Alle Länder-Gruppen (das Modell funktioniert bis heute so)
hatten eine Betreuerin oder einen Betreuer, meistens Lehrerinnen oder Lehrer von Beruf, die sich die ganze Woche
um ihre Jugendlichen kümmerten (von Schulstimmung ist in
diesem außerschulischen Projekt aber deswegen nichts zu
spüren). Die Sprachwettbewerbsieger von St. Pölten waren
hingegen als Einzelpersonen dabei. Ich wurde durch einen
Zufall zu einem quasi improvisierten Betreuer von uns vier
Sprachwettbewerbsiegern, weil ich zum Organisationsleiter
Ernst den besten Draht hatte, als er uns vor dem Buseinstieg
nach Semmering abzählen wollte. Am Ende der Woche sagte
er mir vor der Abreise, dass ich mich in meiner Betreuerrolle
bewährt hätte und meinte, dass wir in Kontakt bleiben sollten,
vielleicht könnte ich mich inhaltlich und organisatorisch am
Projekt beteiligen. Das war ein einmaliges Angebot für mich.
Die Frage war nur wie.
Um zu zeigen, dass ich mein Engagement ernst meine, habe
ich Veronika, Walter und Ernst im Januar 2014 mit einem
zehnseitigen Text names «Teamarbeit» via E-Mail angespro-
170
chen. Das Faszinierende an westlichen Ländern allgemein
ist, dass einem sofort zugehört wird, wenn man Engegement
und Interesse zeigt. In Tschechien hätte ich ein Vielfaches
an Aufwand aufbringen müssen, um gehört zu werden. Das
folgende bilaterale Treffen im April 2014 in Jihlava schien
eine gute Gelegenheit zu sein, miteinander zu reden und
meinen Text gemeinsam zu besprechen. Für eine kleine
Gruppe aus Österreich war dort ein dreitägiges Programm
organisiert worden, während dessen sie Jihlava erkunden und
etwas über neue Trends in der tschechischen Literaturwelt
erfahren sollte. Es brauchte Dolmetschdienste. Aus Verlegenheit habe ich drei Tage lang für die Österreicher aus dem
Tschechischen ins Deutsche gedolmetscht. Diese Rolle ist
mir bis heute geblieben.
Das ganze Jahr 2014 hatte ich eigentlich eine Doppelrolle.
Beim Vorbereitungstreffen zur E-Book-Woche (die damals
Europäische Literatur-Jugendbegegnung hieß) im Frühjahr
war ich Betreuer eines Mädchens, das um 3 Jahre älter war
als ich. Während der Projekt-Woche im Juli war ich zwar jugendlicher Teilnehmer, habe aber der damaligen tschechischen
Betreuerin Ivana bei der Teamführung geholfen. Nach jedem
Treffen bekamen die eljub Organisatoren einen detaillierten
Feedback-Text von mir mit Kritik und Ratschlägen, über die sie
sich immer gefreut haben. Zumindest haben sie es behauptet.
Diese Feedback-Texte sind dann fast zu einer Tradition geworden. Obwohl wir nicht immer einer Meinung waren, was
verschiedene Aspekte des Programms und Ablaufes betrifft,
fanden wir schnell eine gemeinsame Sprache, und es wurden
viele meiner Ratschläge dann auch wirklich umgesetzt. Auf
der anderen Seite musste ich auch oft zugeben, dass manche
meiner Vorstellungen nicht machbar und nicht im Sinne der
Begegnung waren. Es war ein wirklicher Dialog. So wurde
ich langsam an Bord genommen und wurde Schritt für Schritt
in die ziemlich komplizierte, aber für mich auch faszinierende
Projektproblematik eingeweiht.
Die jetzige Betreuerrolle, die ich seit 2015 inne habe, genieße ich extrem. Zum einen bin ich Altersgenosse meiner
jugendlichen Teilnehmer aus Tschechien, wodurch es keine
Hemmungen in der Kommunikation gibt – man ist einander
gegenüber sehr ehrlich und offen. Zum anderen bin ich der
Chef, der für die Jugendlichen verantwortlich ist – vor allem
wenn sie noch minderjährig sind, muss das Wort des Betreu-
171
ers ein bestimmtes Gewicht haben. Ich hatte schon circa 30
verschiedene Jugendliche unter meiner Führung und muss
sagen, dass sie immer problemlos waren. Am besten finde
ich die gemeinsamen Gruppenan- und -abreisen mit dem Zug.
Da die tschechischen Teilnehmer immer von verschiedenen
Orten Tschechiens kommen und sich nur von einer FacebookGruppe kennen, lernt sich die Gruppe erst am Anreisetag
kennen, und das hat natürlich seine Dynamik, die im Zug
entsprechend zum Ausdruck gebracht wird.
Bleiben wir noch kurz bei den Jugendlichen. Mit 23 und nach
drei Jahren Uni leide ich oft unter dem Eindruck, dass ich
mich von den Jugendlichen um 16 und 17 ziemlich entfernt
habe. Nach drei Jahren Uniunterricht über Weltpolitik und
Diplomatie weiß ich, wie schwer es ist, ohne eine gründliche
Analysie und Berücksichtigung aller Faktoren einen Schluss
zu ziehen. Deswegen war ich auch ein bisschen skeptisch,
dass sich Jugendliche in der eljub E-Book-Woche darum bemühen sollen, z. B. über Migration, Eurokrise, globale Erwärmung
usw. zu schreiben. Meine Meinung hat sich jedoch wesentlich geändert, als sich die Jugendlichen beim Brainstorming
des diesjährigen Vorbereitungstreffens im Mai 2016 zu Wort
meldeten. Die Breite an Themen, die sie interessierten und
die verschiedensten Zugänge, mit denen sie an die Themen
herangingen, waren einfach genial. Da haben alle und auch
ich gestaunt. In diesem Moment verstand ich, dass die Tiefe
der Analyse bei dieser Jugend-Begegnung eigentlich gar nicht
entscheidend ist. Schließlich geht es um den Austausch, und
der ist dieses Jahr während der eljub E-Book-Woche wirklich
gelungen. Die Jugendlichen haben sich von allein so bunt
durchmischt, dass wir als Organisatoren und Betreuer fast
nicht intervenieren mussten.
Die letzten zwei eljub-Jahre waren sehr intensiv. Die Übernahme der Betreuerrolle, eine Reihe von bilateralen Treffen,
eine eljub Think Tank-Konferenz, Poetry Slam und unzählige
Arbeitsgruppen- und Vorbereitungstreffen: All diese Veranstaltungen waren für mich eine einmalige Chance zu lernen, wie
grenzüberschreitende Projekte geplant, organisiert, finanziert
und abgerechnet werden. Ich habe in diesem eljub-Netzwerk
von Projekten als Ansprechpartner, Betreuer, Dolmetscher,
Organisator und sogar manchmal als Schlichtungstelle gewirkt, als ein bilaterales Projekt aus verschiedenen Gründen
gefährdet zu sein schien. Hier konnte ich auch meine Diploma-
172
tiekenntisse zur Geltung bringen. Ich bin dafür sehr dankbar,
dass ich die eljub-Franchise, die heutzutage schon drei Projektschienen beinhaltet, von Anfang an mitgestalten durfte,
und dass ich einer internationalen Projektfamilie angehören
darf. Nach vier Jahren gemeinsamer Abstimmung von Ideen,
Ratschlägen, Kritik und Evaluierung durch alle Beteiligten ist
das Projekt in meinen Augen ausgereift. Workshoparbeit, Freizeit, Austausch und Rahmenprogramm sind ideal ausgewogen.
Ich freue mich sehr darüber, dass man mit mir auch weiter
rechnet. Für mich ist das keine Selbstverständlichkeit und
werde mich auch weiterhin bemühen, meinen verschiedenen
Rollen gerecht zu werden.
173
175
6. REZEPTE
VORSPEISE
POLEN
Pierogi (Gefüllte Teigtaschen)
Zutaten:
3–4 kg Weizenmehl
6 Eier
1/2 Tasse Öl
Wasser
Pierogi gibt es in den verschiedenen Varianten:
– salzig als Vorspeise mit Fleisch- Füllung oder Kartoffel/
Topfen-Füllung
– als Dessert mit Früchten
Für die sauren Füllungen werden benötigt:
1 kg Hackfleisch (Schweinefleisch geht am besten)
100 g getrocknete Pilze (Steinpilze am besten)
0,5 kg Sauerkraut
2 kg Kartoffel
1 kg Topfen
2 Zwiebeln
Knoblauch
Zubereitung:
Hackfleisch anbraten, Kartoffeln kochen und pürieren, Pilze
einweiche, Zwiebel und Knoblauch hacken – alles mit dem
Topfen zu einer festen Füllung verrühren. Der Teig wird
ausgewallt und in Kreise zugeschnitten. In die Mitte der
Teigstücke wird die Füllung gelegt und der Teig überschlagen,
dass es ein Halbrund ergibt. Im Wasser kurz kochen, bis die
Pierogi obenauf schwimmen.
176
HAUPTSPEISE
BULGARIEN
Schopska-Salat
In Bulgarien gehört dieser Salat im Sommer auf jeden Tisch.
Er gelingt sehr leicht und beinhaltet keine exotischen Zutaten,
schmeckt aber durch die geröstete Paprika ausgezeichnet.
Zutaten:
400 g Tomaten
125 g Schafskäse
1 Gurke
1 Paprikaschote
4 Frühlingszwiebeln
1 Knoblauchzehe
1/2 Bund Petersilie
4 EL Olivenöl
2 EL Essig
Salz und Pfeffer
Zubereitung:
1. Schälen Sie die Gurke, waschen Sie die Tomaten und
schneiden Sie beides in mundgerechte Stücke.
2. Auch die Frühlingszwiebeln müssen gewaschen, geputzt
und dann in feine Ringe geschnitten werden.
3. Waschen Sie die Paprika, entfernen Sie Kerne und Trennwände und schneiden Sie sie in grobe Streifen. Mit ein
wenig Öl werden die Streifen entweder in der Pfanne oder
etwa 15 Minuten im Backofen geröstet. Danach wird die
Paprika in Stücke geschnitten und mit Gurke, Tomaten und
Frühlingszwiebeln in eine Schüssel gegeben.
4. Vermengen Sie Olivenöl, Essig, Salz und Pfeffer miteinander
und pressen Sie die geschälte Knoblauchzehe ebenfalls in das
Dressing hinein. Die Petersilie wird gewaschen, trockengeschüttelt und fein gehackt.
5. Marinieren Sie den Salat mit dem Dressing und der Petersilie und stellen Sie ihn etwa zwei Stunden lang kühl. Danach
können Sie den Schafskäse über den Salat zerbröckeln.
177
UNGARN
Ungarische Gulaschsuppe mit Nokedli
(Reginas Rezept)
Für das Gulasch für 10 Personen benötigt man:
20 dkg Schweineschmalz
1,5 kg Rinderwade
1
Kilo rote Zwiebel (drei große Stücke)
2
2 Tomaten
2 grüne Paprika
1 dl roter Wein
500 g Sauerrahm
1 Glas Gurke
Zutaten für die Nokedli:
1 kg Mehl
2 Eier
Salz
Wasser
Das Butterschmalz in einer tiefen Pfanne erhitzen. Die Zwiebel so lange braten, bis sie eine gelbe Farbe hat, dann
reichlich Paprika dazu geben. Das zerteilte Fleisch unter dem
Deckel 2 Stunden lang kochen. Dazwischen ein paar Löffel
Wein und Wasser hineingeben und warten, bis das Fleisch
weich wird. Am Ende muss man die aufgeschnittene Paprika und Tomaten dazugeben und mit Gurke und Sauerrahm
servieren.
Nokedli: In einer tiefen Pfanne muss man Wasser aufheizen.
Das Mehl mit den Eiern, Wasser und Salz mischen und ins
Wasser geben, bis sie gar sind.
178
RUMÄNIEN
Polenta/Maisbrei
Grundrezept
Zutaten:
750 g Maismehl,
3 l Wasser, Salz
Zubereitung:
Das Maismehl rührt man mit dem Schneebesen in das
kochende Salzwasser. Das Mehl wird in kleinen Mengen
eingestreut, damit es gut durchkocht und keine Knöllchen
bildet. Hat man das letzte Mehl eingerührt, wird der Maisbrei
noch mit einem Kochlöffel gerührt, bis er ganz glatt ist und
nicht mehr feucht aussieht.
Rezept für den Maisbrei mit Schafskäse und/oder Quark
Zutaten:
Schafskäse und/oder Quark/Topfen,
saure Sahne,
Hartkäse
(Die Menge hängt von der Sorte des Käses/Quarks ab und ist
Geschmackssache.)
Man streicht ein Backblech mit Butter aus und füllt es
lagenweise mit Maisbrei und Schafskäse oder Quark. Obenauf
reibt man Hartkäse und gießt etwas Rahm (saure Sahne)
darüber. Dann stellt man den Maisbrei für etwa 30 Minuten
in die Backröhre, bis der Hartkäse schön knusprig ist.
Man kann das Gericht «verfeinern», indem man auch eine
Lage gerösteten Speck oder Schinken dazugibt.
Eine andere Möglichkeit für die letzte Schicht: Man drückt
mit dem Löffel Vertiefungen in den Maisbrei, schlägt je ein
Ei hinein und gibt ein Flöckchen Butter darauf. Der Maisbrei
bleibt in der Röhre, bis das Ei gestockt ist.
179
UNGARN
Pörkölt (Gulasch) mit Salzkartoffeln
Zutaten:
Schweinefleisch
Zwiebeln
Schmalz
Gewürzpaprika
Salz und Schmalz
Saltzkartoffeln
Schweinefleisch wird in 2–3 cm grobe Würfel geschnitten.Die
Zwiebel wird in Schmalz angeschwitzt. Dann Gewürzpaprika
in die nicht zu heiße Zwiebelschwitze schnell einrühren, das
Fleisch dazugeben, salzen und rösten.Dann etwas Wasser
aufgießen, die Gewürze zufügen und zugedeckt, bei mäßiger
Hitze rösten. Beginnt das Fleisch weich zu werden, in Würfel
geschnittene Paprikaschoten und Tomaten zufügen und fertig
schmoren. Als Beilage Salzkartoffeln reichen.
180
NACHSPEISE
TSCHECHIEN
Palatschinken
Zutaten:
Weizenmehl – 1 Kg
Milch – 2,5 Liter
Staubzucker- 1 Kg
Vanillezucker 2 Stück (kleine Tüte)
Eier 10 Stück
Marillenmarmelade, Nutella, Schalgobers je nach Lust und
Bedarf
Zubereitung:
Als erstes verrührt man Eier mit ein paar Esslöffeln Zucker in
einer Schüssel. Dann fügt man Mehl und Milch hinzu. Nach
Bedarf mehr oder weniger Milch, je nachdem ob man einen
dünneren oder dickeren Teig haben möchte. Den fertigen
Teig gießt man dann auf eine erhitzte Pfanne mit einem
Schuss Öl. Die fertigen Palatschinken je nach Bedarf mit
Marmelade oder Nutella beschmieren und mit Schlagobers
oder Schokoladenguss verzieren. Man kann sie warm oder
auch kalt servieren.
***
NIEDERÖSTERREICH
Einfacher Topfenteig (Sophies Rezept)
Zutaten:
10 Marillen
250g Topfen
250g Mehl
9dag Butter
1 Ei,
Salz, Brösel und Staubzucker
Zubereitung:
Mehl mit Salz vermischen, Butter in kleinen Stücken hinzugeben und durchmischen, anschließend Topfen und Ei
181
hinzufügen und alles gut verkneten.
Teig für ca. halbe Stunde im Kühlschrank ruhen lassen.
Teig hervor nehmen: ist er zu weich, gibt man Mehl hinzu, ist
er zu fest, gibt man Butter hinzu.
Teig in zwei Hälften teilen, eine Hälfte auf bemehlter Arbeitsfläche dünn auswalken und in Quadrate teilen. Den
Marillenkern kann man durch einen Würfelzucker ersetzen.
Marillen mit dem Teig umhüllen und diesen gut festdrücken.
In leicht gesalzenem Wasser kochen bis der Knödel oben
schwimmt.
Brösel in zerlassener Butter leicht anrösten, Staubzucker hinzufügen, Knödel darin rollen.
Einfacher Topfenteig (Ylvas Rezept)
Zutaten für 4 Personen:
Marillen
25–30 dag Topfen
20 dag griffiges Mehl
5 dag Brösel
3 dag Butter und eine Prise Salz
Zubereitung:
Rasch zu einem Teig vermengen, eine Rolle formen, Scheiben
abschneiden, sie etwas auseinander drücken, Marillen (mit
Würfelzucker statt Kern) reinlegen und zu einem Knödel
formen.
10 min in leicht gesalzenem Wasser kochen und anschließend
in gerösteten, leicht gezuckerten Bröseln wälzen.
182
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
• BULGARIEN
Elitsa Kyulyan, Anna Ganeva, Plamena Kasurova, Gabriela
Kostadinova, Ivan Ivanov, Saner Sadak, Dayana Yordanova
• DEUTSCHLAND
David Seuferlein, Rosa Degenhardt, Katharina Franz, Maria
Gazarjan, Karla Greve, Friederike Ortmann, Johanna Schabik
• FRANKREICH
Marie de Lavergne de Cerval
• ÖSTERREICH
Lena Haiden, Ylva Hagmair, Sophie Hochenauer, Jakob Pugel,
Bernadette Sarman, Susanne Schmalwieser, Yasmin Schubert
• POLEN
Magdalena Musial, Mateusz Durski, Aimee Jeluk, Joanna Maczkowska, Alexander Ney, Pamela Witkowska, Ewa Wyganowska
• RUMÄNIEN
Gabriela-Simona Matieu, Andreas-Eduard Bausche, Diana Dehelean, Aurora-Doris Frăt, ilă, Jacqueline Kohl, Alexandra-Dragana
Nesici, Elena-Mira Târa
• SLOWAKEI
Michaela Čavargová
183
• SLOWENIEN
Anže Mediževec
• TSCHECHIEN
Michal Strnad, Viktor Klochko, Anna Koláčková, Eva Mlčochová,
Sarah Ouředníčková, Kristýna Sedláčková, Viktor Škopan
• UNGARN
Karl Lajosné (Zsóka), Hadfi Szilvia, Bányai Klaudia, Benkó
Sándor, Herzog Anna Katharina, Kovács Timea, Klausz Adrienn,
Orbán Klaudia, Orbán Réka, Rózsahegyi Regina, Stoll Ricky
Rudi
184
DANK
Die HerausgeberInnen und die AutorInnen danken dem Organisationsteam der «eljub Europäische Jugendbegegnungen»
dafür, dass sie für Arbeit und Freizeit so gute Bedingungen
geboten haben; das sind namentlich Wolfgang Juterschnig,
Ernst Sachs, Maria Huber und Anita Stadler vom Jugendreferat NÖ und Regina Stierschneider von der Geschäftsstelle
für AuslandsniederösterreicherInnen. Ein Dank geht auch an
Gottfried Gusenbauer vom Karikaturmusuem Krems, an Lucia
Täubler von der Kunstvermittlung der Kunstmeile Krems und
ihrem Team, Katharina Kreutzer und dem Team vom Kino im
Kesselhaus Krems, und an Christiane Krejs und dem Team
vom Kunstraum Niederösterreich in Wien.
185
INDEX
Čavargová, Michaela . 125, 183
Škopan, Viktor . . . . . 10, 14, 184
Bányai, Klaudia . . . . . . . . 93, 184
Bausche, Andreas-Eduard . . 75,
183
Benkó, Sándor . . . . . . . . . . 61, 184
de Lavergne de Cerval, Marie
24, 183
Degenhardt, Rosa . . . . . . 53, 183
Dehelean, Diana . . 81, 136, 156,
183
Durski, Mateusz. . . . . . . .75, 183
Frăt, ilă, Aurora-Doris . . 61, 183
Franz, Katharina . . . . . . . 48, 183
Ganeva, Anna . . . . . . . . 135, 183
Gazarjan, Maria. . .81, 148, 183
Greve, Karla . . . . . . . . . . . . 75, 183
Hadfi, Szilvia . . . . . . . . . . . . . . . 184
Hagmair, Ylva57, 160, 182, 183
Haiden, Lena10, 13, 17, 21, 183
Herzog, Anna Katharina10, 12,
31, 184
Hochenauer, Sophie . . 108, 109,
181, 183
Ivanov, Ivan . . . . . . . . 24, 86, 183
Jeluk, Aimee . . . . . . . . . . . 75, 183
Karl Lajosné (Zsóka) . . . . . . . 184
Kasurova, Joanna . . . . . . . . . . 183
Kasurova, Plamena . . . . . . . . . 133
Klausz, Adrienn . . . . . . . . 33, 184
Klochko, Viktor . . . 72, 162, 184
Kohl, Jacqueline . . . . . . . 93, 183
Koláčková, Anna . . . . . . . 69, 184
Kostadinova, Gabriela . . 29, 81,
183
Kovács, Timea . . . . . . . . . . 33, 184
Kyulan, Elitsa . . . . . . . . . . . . . . 183
Maczkowska, Joanna . . 24, 183
Mateu, Gabriela-Simona89, 183
Mediževec, Anže . 72, 166, 184
Mlčochová, Eva . . . . . . . . 65, 184
Musial, Magdalena . . . . . . . . . 183
Nesici, Alexandra-Dragana . 10,
15, 183
Ney, Alexander 10, 18, 24, 183
Orbán, Klaudia . 10, 11, 95, 184
Orbán, Réka . . . . . . . . 24, 95, 184
Ortmann, Friederike . . . . . . . 183
Ouředníčková, Sarah . 46, 154,
184
Pugel, Jakob . . . . . . . . . . . 38, 183
Rózsahegyi, Regina86, 178, 184
Sadak, Saner . . . . . . . . . . . 86, 183
Sarman, Bernadette . . . 91, 109,
161, 183
Schabik, Johanna . . . . . . 81, 183
Schmalwieser, Susanne. . . .109,
145, 158, 183
Schubert, Yasmin . . . . . 119, 183
Sedláčková, Kristýna. 106, 184
Seuferlein, David . . . . . . . 61, 183
Stoll, Ricky Rudi . . . . . . . 61, 184
Strnad, Michal . . . . . . . . 168, 184
Târa, Elena-Mira . . . . . . . 75, 183
Witkowska, Pamela . . . . 33, 183
Wyganowska, Ewa. . . . .24, 183
Yordanova, Dayana . . . . 75, 183
ROKFOR
Neugier
123
ROKFOR
Kompetenzen
ist eine Software, die Bücher und
andere Drucksachen produzieren kann.
Hinter Rokfor stehen Gina Bucher ,
Redaktion, Urs Hofer , Programmierung,
und Rafael Koch, Gestaltung.
THEMA
123
ROKFOR
Interessen
123
MATERIALSAMMLUNG
METHODE
suchen
Insbesondere möglichst große und
heterogene Datenmengen sind für
Rokfor interessant – unabhängig
davon, ob es sich um Text oder Bild
oder beides handelt. Wir analysieren
das Material auf explizite als auch
implizite Zusammenhänge. Zentral
sind dabei Fragen wie: Welche
Ordnung führt zu Wissensgewinn?
Wie kann via Struktur eine Narration
aufgebaut werden? Welche Stichwörter verbinden den Text? Ziel ist
es, dem Leser mehrere Zugänge zum
Inhalt zu verschaffen.
Das Material fließt in eine Datenbank,
die online gesteuert wird. Inhaltliche
und formale Strukturen werden als
Regeln formuliert, die logisch nachvollziehbar sind und Algorithmen
entsprechen. Um Inhalte zu kategorisieren, können verschiedene Tools
eingesetzt werden, z.B. Listen,
Stichwortmasken oder Selektoren.
Rokfor besitzt auch die Fähigkeit,
semantische Zusammenhänge als
Netzstrukturen darzustellen, um
komplexe Abhängigkeiten zwischen
Materialien abzubilden.
123
MATERIALSAMMLUNG
123
analysieren
123
Konzept
IDEE
13
Methode
123
123
1
Verlag
1
Datenbank
Geldgeber
Inhalt
1
1
Algorithmus
3
1
3
Form
23
Layout-Templates
2
Gestaltungsregeln formulieren
123
INHALT, ALGORITHMUS, FORM
ERGEBNIS
testing
testing
testing
Rokfor betrachtet automatisiertes
Design als einen alternativen Zugang
zu Gestaltung. Durch automatisierte
Prozesse ergeben sich neue
Begründungen für gestalterische
Entscheidungen. Ideen für Regeln,
auf denen automatisiertes Design
basiert, beinhalten unter anderem
Zufälle und Unschärfen durch
algorithmische Positionierung und
Skalierung einzelner Elemente.
Zusätzlich beeinflussen klassische
Raster- und Layout-Systeme die
Entwicklung von Algorithmen.
Im Zusammenspiel von Gestaltung und
Programmierung werden die LayoutTemplates entwickelt. Das letztlich
maschinell hergestellte Dokument
kann so immer wieder neu generiert
werden – mit unterschiedlichen Inhalten und veränderten Regeln. Rokfor
stellt die Arbeit des Gestalters nicht
infrage, sondern gewichtet den
Arbeitsprozess anders. Die Arbeit
verschiebt sich von der Gestaltung
einzelner Dokumente zur Gestaltung
eines einzigen Regelwerks für das
komplette Ergebnis.
123
13
Inhalt
Form
123
PRODUKTION
Ein Klick auf Vorschau oder
Document Export erzeugt ein PDF.
Die modulare Struktur erlaubt es
auch andere Formate, beispielsweise
Webseiten, zu produzieren.
ERGEBNIS
3
Produktion
123
NEU
START
Hg. v. W. Grond, V. Trubel, G. Kögl &
B. Mazenauer
zusammen leben
eljub Europäische
Jugendbegegnungen 2016
B5.117
nach
denken
vor
sehen