zusammen leben - Europäische Literatur
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zusammen leben - Europäische Literatur
eljub E-Book-Woche 2016 zusammen leben B5.117 Hrsg. von Walter Grond, Veronika Trubel, Gabriele Kögl und Beat Mazenauer zusammen leben Die Europäischen Jugendbegegnungen werden von p&s melk in Kooperation mit dem NÖ Landesjugendreferat und ELiT Literaturhaus Europa organisiert. p&s melk wird dafür 2016 im EU Programm Erasmus + gefördert. Alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren Edition Rokfor Zürich/Berlin B5.117/18-07-2016 Redaktion durch die Herausgeber Konzeption: Rokfor Produktion: Gina Bucher Grafische Gestaltung: Rafael Koch Programmierung: Urs Hofer Gesamtherstellung: epubli, Berlin VORWORT Dieses E-Book ist das Resultat eines europäischen Austausches und dokumentiert in dieser Form bereits zum vierten Mal, was Jugendliche bewegt, was sie sich wünschen, was sie befürchten, und wie sich ein gemeinsames Europa vorstellen. 50 Jugendliche aus 10 europäischen Ländern haben es in der abgelaufenen Projektwoche vom 2. bis 9. Juli 2016 miteinander geschrieben. Die Themen beziehungsweise die Annäherung an die Themen kamen von den Jugendlichen selbst. Dieses E-Book entstand in einer gemeinschaftsstiftenden Woche aus Workshops, Diskussionen, gegenseitigen Interviews und Reflexionen. Wertvolle Inputs holten sich die Jugendlichen im kulturellen Rahmenprogramm: Einer Begegnung mit international tätigen Fernsehjournalistinnen im Kunstraum Niederösterreich in Wien, einer Filmvorführung im Kino im Kesselhaus Krems bzw. einem Workshop im Karikaturmuseum Krems. Erstmals bildete sich in diesem Jahr eine JournalistInnengruppe, in der TeilnehmerInnen Einblicke ins Handwerk dieses Berufes erhielten und Reportagen im Zusammenhang der E-Book Woche schrieben. Die Texte sind drei Hauptthemen zugeordnet:: «Wie unterschiedlich werden heute Jugendliche erwachsen» (betreut von Walter Grond), «Zusammenleben in Europa» (betreut von Veronika Trubel), und «Was verändert sich heute in unserer Welt», betreut von Beat Mazenauer. Eine vierte Schreibgruppe näherte sich, betreut von Gabriele Kögl, diesen Themen auf eine ambitioniert literarische Weise. Die Jugendlichen erarbeiteten ihre Gedanken, Analysen und Ideen zu ihren Themen gemeinsam – in VORWORT Kleingruppen – und schrieben sie schließlich nieder, alleine, zu zweit und oft auch in Gruppen. Das Team von eljub bot hierbei nach Bedarf Unterstützung, Anregungen sowie auch die Gelegenheit, sich zu vernetzen. Sie haben eine immense große und im Resultat wertvolle Arbeit geliefert. Deshalb gilt unser Dank zuallererst all den mitwirkenden Jugendlichen, die bunte, kluge, überraschende, spannende Texte verfasst haben. Die Herausgeber Walter Grond, Veronika Trubel, Gabriele Kögl und Beat Mazenauer INHALT 1. Erwachsen werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Geschichtsunterricht und Jugendschutzgesetz im Ländervergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Scheißjugend oder Scheißpolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Wie wird man trendy? Was macht cool? . . . . . . . . . . . 24 Der Weg der Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Aufwachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Die Geschichte meiner Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Changes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Schritte in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Wo ist Europa? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Der Spiegel ist unser größter Feind . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Zukunftshoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Es gibt immer was zu tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Schule und Ritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Eine Utopie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Die „Tiere ohne Grenzen“-Show . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Kurze Anleitung zum Umgang mit der Natur . . . . . 69 3. zusammen leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Das Hochhaus Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Matrosen, Kommunisten, Diebe, Nazis . . . . . . . . . . . . . 75 Das Parfüm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Die Kommunikation als Brücke zwischen den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Reisen bildet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Wie es ist, anders zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Armut in der Nachbarschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Unsere Geheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Die Fabel vom brüllenden Löwen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Das zerrissene Plakat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Ambitiös, muskulös, bitterbös . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Kriegerin Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Königreich Hass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Die Schwester des Terroristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Gebet an einen Terroristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Die Geschichte einer unsichtbaren Familie . . . . . . . . 136 Unbezahlbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Wie könnte unsere Welt in 40 Jahren aussehen? . 148 5. Reportagen - Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Ich bin ich, mit und ohne rasierte Beine. Oder nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Heißt das jetzt Kultur-Exit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Reportage eljub E-Book-Woche: von E-Books und Essbarem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (Fiktiver) Leserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Bunt gemischte Europateams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Die Präsenz der NATO in Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . 166 Eindrücke eines Peer-Betreuers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6. Rezepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Vorspeise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Hauptspeise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Nachspeise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 9 1. ERWACHSEN WERDEN GESCHICHTSUNTERRICHT UND JUGENDSCHUTZGESETZ IM LÄNDERVERGLEICH Lena Haiden, Anna Herzog, Alexander Ney, Alexandra Nesici, Klaudia Orbán und Viktor Škopan EINLEITUNG Wie unterschiedlich werden Jugendliche in Europa erwachsen? Wir, das sind sechs Jugendliche aus sechs verschiedenen Ländern (Rumänien, Ungarn, Polen, Tschechien, Österreich, Australien/Polen) haben versucht diese Frage zu beantworten. Dabei haben wir uns zwei Faktoren, die dieses Aufwachsen beeinflussen, ausgewählt: den Geschichtsunterricht und die Jugendschutzgesetze. Diese haben wir erfasst und verglichen. Um einen möglichst großen Teil von Europa zu erfassen, haben wir auch Teilnehmer und Teilnehmerinnen von eljub aus anderen Ländern (Deutschland, Slowakei, Slowenien, Frankreich, Bulgarien) interviewt. Nun könnte sich ein jeder fragen: Warum ausgerechnet Geschichtsunterricht? Warum ist das wichtig für das Aufwachsen von Jugendlichen? Der Geschichtsunterricht beeinflusst stark das nationale Bewusstsein einer Generation und demzufolge die Verbundenheit der Bürger und Bürgerinnen mit ihrem Heimatland. Diese Verbundenheit wird auch von der Art und Weise geprägt, wie sich das jeweilige Land in seinem Geschichtsunterricht selbst darstellt. Vielsagend kann auch das Verhältnis zwischen der nationalen und internationalen Geschichte im Lehrplan sein. GESCHICHTSUNTERRICHT Ungarn – Polen: Unsere Generationsregeln Ich besuche das Lóczy Lajos Gymnasium am Plattensee. Generell ist in meiner Schule der Geschichtsunterricht ein Hauptfach; wie viel man lernt, hängt aber davon ab, welchen Zweig man wählt. Wer darüber hinaus mehr über Geschichte wissen will, kann eine spezielle Klasse besuchen oder Geschichte als Schwerpunktfach wählen. Wenn ein Schüler 10 Geschichte als Hauptfach wählt, muss er auch Deutsch lernen. Die ungarische Geschichte lernen wir auf Ungarisch. In meinem Klassentyp legt man ein zweisprachiges Abitur ab. Ich denke, dass es bei uns ein ausgewogenes Verhältnis zwischen ungarischer und internationaler Geschichte gibt. In Ungarn beschäftigen wir uns hauptsächlich mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Den Bezug zur aktuellen politischen Ordnung vermisse ich, darüber wird nur an den Universitäten gelehrt. Auch in Polen ist Geschichte ein Hauptfach. Vier Jahren lang wird internationale Geschichte unterrichtet, die in den höheren Klassen mit der polnischen verknüpft wird, z.B. was Kriege betrifft. Polen und Ungarn haben eine gemeinsame Vergangenheit. Zwei Kriege im 20. Jahrhundert, die große Auswirkungen auf die heutige Gesellschaft haben. (Klaudia Orbán) Geschichtsunterricht in Ungarn Zur Identitätsfindung der ungarischen Jugend trägt das in der Schule vermittelte Geschichtswissen maßgeblich bei. Meiner Einschätzung nach werden alle Etappen der ungarischen Geschichte ausgewogen behandelt, genauso wie auch das Verhältnis der internationalen zur nationalen Geschichte im Gleichgewicht stehen – was dadurch möglich ist, dass es als Hauptfach unterrichtet wird. Da aber der jüngsten Vergangenheit, im Bezug zur aktuellen Situation des Landes, unterproportionale Bedeutung beigemessen wird, erhöht sich die Gefahr, den Bezug zur Gegenwart zu verlieren und in einem politisch instrumentalisierten Vergangenheitsbild zu leben. Die heute herrschende Meinung in Ungarn hält meines Erachtens die Entstehungsgeschichte und die ruhmreiche Königszeit des Mittelalters hoch, in der das Land als ein unabhängiger, seine Souveränität erfolgreich verteidigender Staat dargestellt wird. Mit dem sogenannten Unheil bei Mohács beginnt die lange Ära der nationalen Unterdrückung und des Leides durch und unter Fremdherrschaft – welche laut der zweiten Orbán-Regierung vollständig erst mit der Ratifizierung des neuen Grundgesetzes im Jahre 2012 endet, wie es in der Präambel des Grundgesetzes verankert ist. (1) Der nationale Stolz wird dabei durch die Wertung der verschiedenen 11 Widerstände geschürt. Als eine besonders schwere Demütigung wird der Trianoner Friedensvertrag aus dem Jahre 1920 gesehen, durch den Ungarn 2/3 seines Territoriums (ohne Kroatien) verlor. Dies wird noch heute als nationales Trauma der jüngeren Generation weitergegeben und weitergelebt. Es wird ein Bild vermittelt, welches meiner Meinung nach die Schuld Ungarns in verschiedenen historischen Geschehnissen nahezu völlig ablehnt, zumindest aber zu thematisieren vermeidet. Es entsteht eher ein Bild über das Heimatland, das sehr oft durch unglückliche Umstände als Opfer gefallen ist – meist so passiv, wie auch diese Konstruktion. Nach dem Gesagten ist es vielleicht leichter nachvollziehbar, wieso ein immer größer werdender Teil der ungarischen Gesellschaft die ruhmreiche Zeit im Königtum sowie die späteren, autoritären Nationalführer als Vorbild zur Wiederherstellung des nationalen Stolzes sieht. Durch die beschriebene Geschichtsdarstellung wird also eine Wendung zur Vergangenheit gefördert, anstatt den Fokus auf die Möglichkeiten der Zukunft zu setzen. Ein anderer wichtiger Faktor in Bezug auf den Geschichtsunterricht ist die starke Betonung des lexikalischen Wissens, und dadurch das in den Hintergrund gedrängte selbstständige, kritische Denken. Das ermöglicht die Erziehung einer jungen Generation zum Nicht-Hinterfragen von Behauptungen und Regeln. Letzteres wird inzwischen von vielen Menschen in Ungarn verantwortungsvoll als Problem wahrgenommen, was die laufend stattfindenden Streiks für eine radikale Umgestaltung des Schulsystems demonstrieren. Die Hoffnung auf eine Veränderung bestehen noch. (Anna Herzog) (1) «Wir erkennen die kommunistische Verfassung aus dem Jahre 1949, die die Grundlage einer Willkürherrschaft bildete, nicht an. Daher erklären wir ihre Ungültigkeit. » Das Verfassungsgesetz aus 1949 war bis 2011 gültig. Gleichzeitig steht: «Für uns gilt die Wiederherstellung der am neunzehnten März 1944 verloren gegangenen staatlichen Selbstbestimmung unserer Heimat ab dem zweiten Mai 1990, von der Bildung der ersten frei gewählten Volksvertretung an. Diesen Tag betrachten wir als Beginn der neuen Demokratie und verfassungsmäßigen Ordnung unserer Heimat. » 12 Geschichtsunterricht in Slowenien In Slowenien wird besonders auf die Ära vom siebten bis zum zehnten Jahrhundert Wert gelegt. Die Zeit um 1990 wird auch besonders behandelt, das kann sich darin begründen, dass Slowenien ein vergleichsweise junger Staat ist, und es sich hierbei um die Jahre der Staatsbildung handelt. Slowenische Schüler lernen zu gleichen Teilen über die Geschichte ihres eigenen Landes wie über die Weltgeschichte im Allgemeinen, allerdings wird hauptsächlich aus der Perspektive Sloweniens unterrichtet. Geschichte ist in Slowenien in den ersten drei Jahren der Mittelschule ein Hauptfach, danach können die Schüler es frei wählen. Dinge, die das slowenische nationale Bewusstsein, sowie die persönliche Identität prägen, sind die historische Diversität des Staates sowie die Entstehungsgeschichte des Wappens. (Lena Haiden) Geschichtsunterricht in Tschechien und der Slowakei Bei uns in Tschechien lernt man Geschichte, Heimatkunde, ab der 2. Klasse Grundschule. Am Anfang ist Geschichte kein eigenes Fach, nur Teil eines Faches, das Přírodopis heißt. Erst ab der 4. Klasse wird Geschichte ein eigenes Schulfach. In der Grundschule lernt man fast nur die nationale Geschichte. Nur ab und zu wird auch etwas Internationales erwähnt. Das alles ändert sich mit der weiteren Schulausbildung. Entweder geht man in eine Lehre, dort wird Geschichte im Allgemeinen überhaupt nicht unterrichtet. In den Mittelschulen Schulen hängt es davon ab, im welchem Bereich sich die Schule bewegt. Manche Schulen unterrichten Geschichte überhaupt nicht, manche haben es als Nebenfach, und in manchen ist es sogar ein Hauptfach. Anders ist es im Gymnasium. Da hat man zwar viel Geschichtsunterricht, Geschichte ist aber ein Nebenfach. Vergleicht man die Lehrpläne in den einzelnen Mittelschulen, sieht man, dass man Geschichte überall fast gleich unterrichtet. Man beginnt mit der Urzeit in unserem Land und lehrt viel über die nationale Geschichte. Parallel dazu wird die internationale Geschichte unterrichtet. Und nun etwas zum nationalen Bewusstsein. Das nationale Bewusstsein ist zwar nicht so stark ausgeprägt wie in anderen Länder Osteuropas, es ist aber vorhanden. Unser 13 kleines Land war immer von großen Ländern umgeben, daher verwundert es nicht, dass diese großen Länder und Kulturen einen großen Einfluss hinterlassen haben. Den größten Einfluss hatten sicher die Deutsch sprechenden Einwohner. Am Anfang des 19. Jahrhunderts war die Situation so drastisch, dass die Tschechische Sprache fast ausstarb. In den großen Städten wurde fast nur Deutsch gesprochen, die tschechische Sprache nur in den Dörfern benutzt. Nur durch große Anstrengungen gelang es, unsere Sprache zu retten. Darauf sind die Tschechen ziemlich stolz. Noch ein Volk hat uns ziemlich beeinflusst, und zwar das der Slowaken. Der Einfluss war aber gegenseitig. Die beiden Länder sind sich sehr ähnlich, nicht nur wegen der Sprache. Auf den ersten Blick kann man keine großen Unterschiede zwischen Tschechien und der Slowakei entdecken. Man lernt auch in der Slowakei Geschichte ab der 2. Klasse, das Schulsystem ist ganz ähnlich, und doch betrachtet man Einiges anders. Vor allem sehen die Tschechen die Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 als eine gute Sache an, die für beide Länder von Vorteil war. Die Slowaken sehen das nicht so. Am Beginn stimmten sie zwar auch für die Gründung der Tschechoslowakei, waren aber später von diesem Staatenbund nicht mehr so begeistert. Sie klagten über die Dominanz der tschechischen Seite. Das meiste wurde von der tschechischen Seite geleitet, auf die Slowaken hat man nicht geachtet. Sie hatten fast keinen Einfluss auf die Regierung. Seit 1992 haben die Slowaken einen eigenen Staat. In der Zwischenzeit ist die Beziehung der Tschechen und Slowaken zueinander wieder ganz gut. Eine fast brüderliche Beziehung, könnte man sagen. Diese gute Beziehung zueinander wird eigentlich nur schaden, wenn beide Länder im Eishockey gegeneinander spielen, dann werden Tschechen und Slowaken zu den größten Feinden. Im Eishockey steigt das nationale Bewusstsein auf beiden Seiten. Noch eine Sache ist unterschiedlich, und zwar die Beziehung zu den Ungarn. Die Tschechen haben nichts gegen die Ungarn, die Slowaken aber sehr wohl. Diese schlechte Beziehung hat ihre Wurzeln tief in der Vergangenheit. ( Viktor Škopan) 14 Geschichtsunterricht in Rumänien und Bulgarien Das nationale Bewusstsein in Rumänien ist gering. Dazu trägt die Schule viel bei. Im rumänischen Schulsystem sind nur wenige Unterrichtseinheiten der Geschichte Rumäniens gewidmet. Nur in der achten und zwölften Klasse lernen die Jugendlichen in der Schule über die Geschichte ihres Mutterlandes. Insofern wachsen Schüler in Rumänien mit wenigen Informationen über die Vergangenheit auf, was demzufolge das geringe nationale Bewusstsein mit beeinflusst. Es wird im Unterricht viel Wert auf die Zeitspanne zwischen den Jahren 1400 bis 1600 gelegt, doch diese erweckt in den Schülern selten das Gefühl der Heimatlandliebe. Rumänien wird im Geschichtsunterricht als Nachzügler der europäischen Ideen dargestellt. Das v ein bewirkt ein gewisses Schamgefühl der Rumänen. Die internationale, besonders die europäische Geschichte steht im Vordergrund. Ähnlich verläuft es auch in den bulgarischen Schulen. Die internationale Geschichte steht hier aber in einer engeren Verbindung mit dem Land Bulgarien. Entlang dieses Fadens werden die Einflüsse verschiedener Länder auf Bulgarien verdeutlicht, und die Veränderung der bulgarischen Kultur durch die geschichtlichen Ereignisse betont. Die Vergangenheit und Geschichte des Mutterlandes werden auch in Bulgarien wenig behandelt. Rumänen und Bulgaren entwickeln sich unter anderem auch deswegen anders, weil sie mit verschiedenen Kenntnissen aufwachsen, doch etwas ist bei beiden gleich: Nämlich der Wunsch, die Geschichte seines Landes kennenzulernen. Dieses Wissen eine große Bedeutung zur Entwicklung der Persönlichkeit beitragen. (Alexandra Nesici) Geschichtsunterricht in Österreich Es gibt einen Zeitabschnitt in der Geschichte, der in Österreich besonders genau unterrichtet wird, und zwar die Zeit der Habsburgermonarchie, insbesondere Maria Theresia, Kaiser Franz Josef der Erste. Ebenfalls wird der Zweite Weltkrieg besonders behandelt. In Österreich lernt man auch über internationale Geschichte, hauptsächlich aus der Perspektive 15 Österreichs, mit der Ausnahme der Geschichte, in der es das Land Österreich noch nicht gab. Geschichte ist in Österreich ein eigenes Nebenfach. Auch darf man nicht vergessen, dass der Geschichtsunterricht in Österreich von Lehrer zu Lehrer und von Schultyp zu Schultyp anders ist, da die Geschichtslehrer einige Freiheiten genießen. Der Fokus auf die zwei oben erwähnten Zeitabschnitte (durch die signifikante Bedeutung in der Geschichte Österreichs) wird zum einen oft als Hochblüte betrachtet (Habsburger Monarchie), zum anderen der als nationales Trauma (Zweiter Weltkrieg). Geschichtsunterricht in Deutschland Ein Zeitabschnitt, auf den in Deutschland besonderen Wert gelegt wird, ist der Zweite Weltkrieg. Man lernt internationale Geschichte aus einer neutralen Perspektive, erfährt allerdings genügend darüber. In Deutschland ist Geschichte ein eigenes Nebenfach. Die Geschichtsdarstellung ist sehr wichtig für das nationale Bewusstsein, allerdings wird oft stark zwischen negativer Geschichte und persönlicher Identität unterschieden. Geschichtsunterricht in Österreich und Deutschland – ein Vergleich Der Geschichtsunterricht in Österreich und Deutschland zeigt einige Gemeinsamkeiten auf. Allerdings unterscheidet sich in beiden Ländern der Unterricht von Lehrer zu Lehrer, das Format ist aber immer das Gleiche: in beiden Ländern ist Geschichte ein eigenes Nebenfach. Ein thematischer Schwerpunkt beider Geschichtsunterrichte ist der Zweite Weltkrieg. Dies ist damit zu begründen, dass die Gräuel der Zeit des Nationalismus beide Länder maßgeblich geprägt hat. Es scheint so, als ob Deutschland mehr Fokus auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs legt, möglicherweise, weil sich Deutschland früher und intensiver mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Die österreichischen Geschichtslehrenden haben in ihrem Lehrplan nämlich noch Platz für einen weiteren Schwerpunkt: die Habsburgermonarchie. Der Grund dafür ist, dass das österreichische Nationalbewusstsein lange und teilweise immer noch bis zu einem gewissen Grad auf diesen Monarchen beruht. Den Satz Bella gerant alii, tu felix Austria nube hat beinahe jeder Österreicher 16 in irgendeiner Version gehört. Ein Unterschied ist auch, dass in Österreich oft internationale Geschichte aus der Perspektive Österreich unterrichtet wird, während in Deutschland die Perspektive meist neutral gehalten wird. Zusammenfassend kann wohl gesagt werden, dass sich die Geschichtsunterrichte in Deutschland und Österreich ähneln, weil beide Länder vom zweiten Weltkrieg ein nationales Trauma erlitten haben. Diese Traumata gilt es aufzuarbeiten. (Lena Haiden) Geschichtsunterricht in Frankreich und Australien Gibt es einen Zeitabschnitt in der Geschichte, auf den in deinem Land besonderer Wert gelegt wird? Welcher Zeitabschnitt ist das? Wieso? Frankreich: Schüler in Frankreich lernen nicht über einen speziellen Zeitabschnitt, sondern über die allgemeine Geschichte der Fränkischen Region. Das ist so, weil Kontinentaleuropa eine sehr lang geschriebene Geschichte zu erzählen hat. Frankreich hat auch viele Persönlichkeiten in der Geschichte, die wichtig für die Entwicklung Europas wie auch Frankreichs waren. Das bedeutet, dass ein Schüler in Frankreich die ganze Geschichte lernen muss, denn alles ist miteinander verknüpft, und jeder Fakt resultiert aus vielen anderen. Australien: In Australien lernen wir meistens die Geschichte der letzten 200 Jahre. Das ist so, da die Aborigines-Kultur, die seit 50 000 Jahre existiert, fast keine Artefakte hinterlassen hat. Das bedeutet, dass die europäische Kolonisation der älteste dokumentierte Zeitabschnitt in Australien ist. Wie viel lernst du in deinem Land über internationale Geschichte? Warum? Frankreich: Da Geschichte in Frankreich oft mit der Geschichte anderer Ländern verknüpft ist, beinhaltet der Geschichtsunterricht viele Informationen über andere Länder. Australien: Da die meisten Australier vor 200 Jahren aus England gekommen waren, und Australien eine Kolonie von England war, behandelt der Geschichtsunterricht Vieles der europäischen Historie. Ist Geschichte ein eigenes Fach – Hauptfach oder Nebenfach? Wie beeinflusst der Geschichtsunterricht das nationale Bewusstsein? 17 Frankreich: In Frankreich gehört Geschichte zur Fächergruppe, die vorgeschrieben, also Hauptfächer sind. In jedem Schuljahr muss man das Fach Geschichte belegen. Australien: Leider ist in meinem Land Geschichte nicht obligatorisch in den letzten zwei oder drei Jahren der Schule (abhängig von der Schule), denn man kann sich seine Fächer selbst aussuchen. In beiden Ländern beeinflusst Geschichte das nationale Bewusstsein aber nicht so sehr wie in früheren Zeiten. In Australien lernte man Großteils über England, und was England so groß macht, denn England war unser Kolonialherr; heute ist das nicht mehr so, weil wir unabhängiger sind, was zur Verstärkung der nationalen Identität geführt hat. Vor dem Ersten Weltkrieg lernten die Franzosen in der Schule über die «Goldenen Zeiten» (18. – 19. Jahrhundert), eine Epoche, in der sich das nationale Bewusstsein durch den deutsch-französischen Krieg 1870/71 verstärkte. Das ist ein Beispiel dafür, wie die aktuellen internationalen Beziehungen und Geschehnisse die Heimatliebe beeinflussen. (Alexander Ney) JUGENDSCHUTZGESETZ Jugendschutzgesetze sind ein Ergebnis der Wechselwirkung zwischen den gestellten Erwartungen der Erwachsenen und den Bedürfnissen der Jugendlichen. Wie unterschiedlich die bestimmten/gesetzten Regeln das Erwachsenwerden der Jugend in Europa und Australien beeinflusst, wollen wir anhand unserer Recherchetätigkeit verdeutlichen. Im Laufe unserer Untersuchungen wurde schnell sichtbar, dass Österreich den Jugendlichen die Verantwortung ihrer eigenen Entscheidungen früher überlässt. Dies unterstützt, dass in Österreich das Rauchen und der Alkoholkonsum schon ab sechszehn Jahren legal sind. Bier- und Weinkonsum sind auch in einigen Bundesländern Deutschlands ab 16 erlaubt. In den anderen Ländern wird mehr Wert auf den Schutz der Gesundheit der Minderjährigen gelegt. In Slowenien ist es ab 18 Jahren erlaubt Alkohol zu konsumieren und Zigaretten zu rauchen. Kontrolliert und eingehalten wird es am striktesten in Ungarn und Deutschland, wobei sich in Ungarn der Schwarzhandel verstärkt hat. 18 Bezogen auf die Schulpflicht gibt es einen Unterschied zwischen Ländern, die die Schulpflicht an einer bestimmten Klassenstufe oder an einem bestimmten Alter binden. In Ungarn, Frankreich und Slowenien ist das altersbedingt (16 Jahre). Dies hat zur Folge, dass nicht ein bestimmtes Bildungsniveau erreicht, sondern nur eine bestimmte Zeit in der Schule verbracht werden muss, was keine schulische Entwicklung fordert. Im Gegenteil dazu fordern die meisten von uns untersuchten europäischen Länder und Australien, neun beziehungsweise zehn Klassen zu absolvieren. Eine Ausnahme ist Bulgarien mit acht Klassen, dadurch wird ein allgemein geringeres Bildungsniveau erzielt. Diese Tatsache kann besonders bei Wahlen problematisch werden, obwohl das Wahlalter in den meisten Ländern auf 18 Jahren festgelegt ist. Ausnahmen sind Österreich und einige Bundesländer Deutschlands. In diesen zwei Staaten sind die selbstgestellten Erwartungen der Jugend dem Vertrauen der Erwachsenen gerecht zu werden hoch, wodurch sie im Vergleich mit den anderen Ländern früher lernen, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Interessant ist, dass gerade in Deutschland und Österreich das Autofahren erst ab 17 bzw. 18 erlaubt ist. Unter speziellen Bedingungen darf man in Polen, Slowenien, Frankreich, Rumänien und Australien aber schon mit 16 Jahren Auto fahren. Autofahren darf man in Slowenien in Begleitung ab 16 Jahren, alleine allerdings erst ab 18. Die meisten Länder erlauben den Jugendlichen, ab 15 oder 16 Jahren zu arbeiten. Die große Ausnahme ist hier Deutschland, wo Jugendliche bereits ab 13 Jahren in Ferienjobs tätig sein dürfen. Alle Länder verfügen über eine Art von Gesetz, das die Jugendlichen vor Ausbeutung schützt. Als Zusammenfassung der Analyse der Jugendschutzgesetze in 11 Ländern, können wir feststellen, dass Österreich den Jugendlichen am meisten zumutet. KONKLUSION Abschließend kann gesagt werden, dass schon anhand der Jugendschutzgesetze und des Geschichtsunterrichts ersichtlich wird; dass Jugendliche in Europa unterschiedlich erwachsen werden, allerdings existieren selten gravierende Unterschiede. Natürlich sind Geschichtsunterricht und Jugendschutzgesetze 19 nur zwei kleine Faktoren, die das Aufwachsen eines Jugendlichen beeinflussen. Jedoch reguliert das Jugendschutzgesetz gewissermaßen in welcher Geschwindigkeit sie aufwachsen. Ein Führerschein mit 16 Jahren bedeutet auch Unabhängigkeit in puncto Mobilität; eine längere Schulpflicht, die an eine Schulstufe gebunden ist, garantiert den Jugendlichen gesetzlich eine längere Ausbildung; und je früher das Wahlalter ist, desto eher sind Jugendliche dazu motiviert, am politischen Leben teilzunehmen. Ob alle Jugendlichen in Europa von gleichen Gesetzen betroffen sein sollten, egal wo sie leben, sei dahingestellt, aber es wäre vielleicht logischer. Die Spitze dieses Eisbergs bildet hier Österreich, wo sich die Jugendschutzgesetze von Bundesland zu Bundesland unterscheiden, sprich ein Niederösterreicher darf mit 16 bereits harten Alkohol kaufen, während der Rest der Jugendlichen in Österreich damit bis zum achtzehnten Geburtstag warten muss. Der Geschichtsunterricht, der sich logischerweise mehr von Land zu Land unterscheidet als die Jugendschutzgesetze, hängt selbst von vielen Faktoren ab, wie dem Lehrplan, der Präferenz der Lehrer, die Stellung des Unterrichts als Haupt- oder Nebenfach und die Zeit, dir im Stundenplan dafür vorgesehen ist. Es kann nun abschließend gesagt werden, dass es Länder gibt, die einen großen Wert auf die Geschichte ihres eigenen Landes legen, während sich andere eher der internationalen Geschichte widmen. Wir finden, dass es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen nationaler und Weltgeschichte geben soll. Ein Jugendlicher sollte über die Geschichte seines eigenen Landes bescheid wissen, da es einen maßgeblichen Beitrag zur Identifizierung mit seinem Heimatland und damit zur Bildung eines gesunden Nationalbewusstsein leistet. Genauso wichtig sollte es für ein Land sein, in seinem Geschichtsunterricht die Traumata der Vergangenheit mit der neuen Generation aufzuarbeiten. Weltgeschichte sollte eine genauso große Rolle in der Ausbildung der Schüler besitzen, damit sie nicht nur über eine ausreichende Allgemeinbildung verfügen, sondern auch aktuelle Ereignisse in den Verlauf der Geschichte einfügen können. 20 SCHEIßJUGEND ODER SCHEIßPOLITIK? Die Meinung einer Jugendlichen von Lena Haiden Die Jugend schimpft über die Politik. Weil sie nicht gefragt wurde, weil alles stillzustehen scheint, weil alles anders ist, als sie sich das vorstellt. Und die Politik schimpft über die Jugend, die unberechenbar ist, nur Probleme macht, und überhaupt sei die Jugend nur politikverdrossen. Stimmen werden laut mit Fragen wie: Hat ein Wahlalter ab 16 überhaupt einen Sinn? Ja, lautet meine Antwort. Jugendliche sollten stimmberechtigt sein und die Möglichkeit haben, ihre Gesellschaft mitzugestalten. In den Medien wundert man sich dann oft, warum die Wahlbeteiligung der sogenannten «unberechenbaren Erstwähler» so gering ist. Meiner Meinung nach ist dies kein Wunder, da es sich ja hier teilweise um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung handelt. Die Gesellschaft beäugt die wählende Jugend mit misstrauischen Blicken, und der gesamte Wahlkampf ist meist auf eine ältere Zielgruppe ausgerichtet. Während einer Diskussion ignoriert man doch auch nicht die ganze Zeit jemanden, und fragt am Ende unschuldig, warum er nicht seine Meinung abgegeben habe. Viele Jugendliche haben auch das Gefühl, ihre Stimme würde nichts ausrichten, oder sie sind frustriert von der Politik und wählen deshalb nicht. Dies sind allerdings meiner Meinung nach persönliche Einstellungen, die nichts mit dem Alter zu tun haben, aber vielleicht in der Generation der Jugendlichen vermehrt auftreten, weil es in der Natur der Jugendlichen meist liegt, Ideale anzustreben, was solche Gefühle meist noch verstärkt. Allerdings ist die Wahlbeteiligung allgemein niedrig, unter anderem wegen dieser Gründe. Ein weiterer Vorwurf in diesem Zusammenhang lautet, dass die Jugend so leicht manipulierbar sei. Ob durch Wahlwerbung oder andere Faktoren sei dahingestellt. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns fragen: Was macht einen Menschen manipulierbar? 21 Unwissenheit ist es, was einen Menschen manipulierbar macht. Falschinformationen machen einen Menschen manipulierbar. Desinteresse und dadurch nur oberflächliche Beschäftigung mit einem Thema macht einen Menschen manipulierbar. All diese Faktoren sind altersunabhängig. In jeder Generation gibt es ausnahmslos Menschen, die manipulierbar sind. Die Jugendlichen haben nur einen Faktor, der sie leichter manipulierbar macht: ihre Unerfahrenheit. Jugendliche können aufgrund ihrer bis dahin kurzen Lebenserfahrung nicht auf einen langjährig zusammengesammelten Erfahrungsschatz zurückblicken und lassen sich dadurch vielleicht leicht von manchen Dingen beeinflussen oder können sie nicht aus einer anderen Perspektive als der Gegenwart beleuchten. Unerfahrenheit kann man allerdings auch als positive Eigenschaft betrachten, denn Unerfahrenheit führt dazu, dass Dinge aus neuen Blickwinkeln gesehen werden, welche nie zwingend falsch sind. Außerdem sagt das Alter nichts über die politische Erfahrung oder Beteiligung eines Menschen aus. Kurzum es gibt in jeder Generation politische und unpolitische Menschen, und die unpolitischen Menschen werden immer leichter manipulierbar sein als die politischen. Die Politik redet, meinem Gefühl nach, ungern mit der Jugend, sie redet viel mehr ÜBER die Jugend. Die Jugend sitzt kaum mit am Tisch, sie ist das zu sezierende Objekt darauf. Oder das zu lösende Problem. Egal ob es sich dann dies betreffend um schlechte PISA-Ergebnisse, Bildungspolitik oder Jugendarbeitslosigkeit handelt. Das geht so weit, dass der Ausdruck «die Jugend heutzutage» schon fast ein Schimpfwort ist. Das geht so weit, dass eine Freundin die selbst 17 Jahre alt ist zu mir sagte: «Eigentlich finde ich, alles was die Jugend heutzutage macht, total scheiße ist.» Ich habe mir daraufhin nur gedacht: «Du BIST die Jugend von heutzutage.» Aber das stimmt nicht, denn sie ist eine Jugendliche. Die Jugend von heutzutage kann sie nicht sein. Denn die Jugend von heutzutage säuft und feiert nur, wenn sie nicht gerade ständig vor dem Smartphone und oder vor dem Computer gleichzeitig hängt. Die Jugend von heutzutage ist schon scheiße, oder? Nein das Klischee der Jugendlichen ist scheiße heutzutage und war es wahrscheinlich immer schon. Außerdem sagen Erwachsene immer gerne, früher war alles besser, und Jugendliche mittlerweile auch, weil sie mit der Zeit zu kämpfen haben. Die Generation Internet oder die Digital Natives, wie 22 auch immer sie man nennen mag, kämpfen mit dem Internet beziehungsweise mit der Informationsflut, die die neuen Medien mit sich bringen. Aber das ist eine Last, die alle Generationen miteinander stemmen müssen. Es hilft nichts, den Jugendlichen Vorwürfe zu machen, nur weil an ihnen unser neues schnelllebiges Zeitalter am meisten sichtbar ist, genauso wenig hilft es in bester Merkel-Manier das Internet für Neuland zu erklären, denn wir bewohnen es schon lange. So wie manchmal über «die Jugend» geredet wird, hat man das Gefühl, mit der Volljährigkeit werden alle dummen, unmündigen Jugendlichen, die nur vor dem Handy Internet konsumieren, zu klugen mündigen Erwachsen, die Zeitung lesen. Aber so funktioniert die Welt nicht. Die Jugendlichen von heute sind die Erwachsen von morgen, auch wenn niemand so handelt. Ich wünsche mir, dass die Kinder der heutigen Jugend an einem Tisch mit den Erwachsenen sitzen dürfen und vollständig gehört werden. Dass sie nicht ignoriert werden. Damit dies erreicht werden kann, muss ein Umdenken stattfinden. Die Jugend darf sich nicht kleinkriegen lassen, muss versuchen, nicht frustriert zu sein und gleich die Flinte ins Korn zu werfen. Auch darf sie sich nicht verschließen und muss lernen, von den Anderen zu lernen und nicht gegen den Strom wichtiger Erfahrungswerte zu schwimmen. Während die anderen Generationen aufgefordert sind die Jugend nicht zu verteufeln, sie ernst zu nehmen und ihre Erfahrungen und Werte an die Jugend weiterzugeben. Im Zuge dessen fordere ich im Namen der Jugendlichen eine Zukunftsperspektive. Eine Zukunftsperspektive mit einem Schulsystem in dem es sich ohne Leistungsdruck zu lernen lohnt. Eine Zukunftsperspektive in der die Arbeitswelt nicht ausschaut wie ein Trümmerhaufen voller arbeitsloser Akademiker. Eine Zukunftsperspektive in der jede Art von Medien als Informationsquelle und Orientierungspunkt in der Welt dient, statt Verwirrung und Chaos zu stiften. Eine Zukunftsperspektive in der jeder frei von der Last unserer riesigen Bürokratie ist und sich frei entfalten kann. Und wenn die Kinder der heutigen Jugendlichen dann «die Jugend von heutzutage» sagen, meinen sie die jungen, klugen, (politisch) engagierten Menschen, die sie auch sind. 23 WIE WIRD MAN TRENDY? WAS MACHT COOL? von Marie de Lavergne de Cerval, Joanna Maczkowska, Réka Orbán und Ewa Wyganowska Witamy mamy na imie˛ Asia i Ewa i pochodzimy z polski, jesteśmy cze˛ ścia˛ tego projektu, gdyż jesteśmy zainteresowane poszerzanie swoich zdolności jezykowych ˛ i chcemy nawiaza ˛ ć nowe znajomości. Az én nevem Réka, az ELJUB projektbe azért csatlakoztam, hogy új barátokat szerezzek és javítsak a nyelvtudásomon. Magyarországbol származom és tizennyolc éves vagyok. Je m’appelle Marie et j’habite en France. Je suis venue pour rencontrer de nouvelles personnes, et decouvrir la richesse des langues d’autres pays tout en travaillant sur un projet interressant qui me permet aussi d’ameliorer mon allemand. Hallo, wir sind Asia (Kosename von Joanna), Ewa, Réka und Marie. Wir kommen aus Polen, Ungarn und Frankreich und nehmen an diesem Projekt teil, um unsere Sprachkenntnisse zu verbessern und neue Freunde kennenzulernen. In den letzten Tagen fiel uns auf, dass in den verschiedenen Ländern, die hier teilnehmen, verschiedene Partys stattfinden, auch die Kleidung, Geschenke und anderes unterschiedlich sind. Wir haben daher auch zwei Jungs aus der E-Book Woche befragt, was für sie trendy und cool ist, Jungs aus Australien und Bulgarien, Alex und Ivan. Wir waren neugierig darauf, was für Jugendliche in den verschiedenen Ländern trendy und modisch ist. Welche Trends weltweit bestehen und welche in den einzelnen Ländern spezifisch sind. Asia übernahm die Rolle der Erzählerin. In der EU lebt man heute unter vielen Nachbarn. In jedem Land bleiben aber verschiedene Lebenshintergründe bestehen. Es gibt überall reichere und ärmere Schichten. Wir haben also versucht herauszufinden, was überall gleich ist, und was verschieden. Unsere Fragen an uns selbst lauteten: Was macht einen trendy? Wie bin ich cool? *** – Als ich dich zum ersten Mal sah, Réka, war mir sofort klar, dass du sehr gut aussiehst. Das war natürlich nicht der 24 einzige Grund dafür, dass ich dich mag, sagte ich (Asia), als die fünf Leute im Zimmer zusammenkamen, um über das Trendy-Sein zu reden. Die anderen nahmen Platz auf dem Boden, auch auf den Betten. Sie lächelten schüchtern und waren noch ein bisschen unsicher. – Der erste Augenblick spielt die größte Rolle für die Beurteilung eines Menschen. Natürlich, kann sich das Bild später verändern, aber in den meisten Fällen passiert das nicht. Im Allgemeinen urteilen die meisten Leute über andere Menschen und verurteilen sie auch auf den ersten Blick. Das Aussehen und Auftreten hat mit Geld, mit den finanziellen Möglichkeiten zu tun, die jemand hat. Nicht jeder kann sich die besten Klamotten leisten. Dazu muss man sehr viel verdienen. Die soziale Stellung bestimmt das Aussehen der Leute, sagte Réka, das ungarische Mädel. – Natürlich, führte Ewa den Gedanken weiter, da gibt’s Pros und Kontras. Man kann auch gut aussehende Klamotten mit wenig Geld kaufen, in Second-Hand Stores bekommt man Markenklamotten um niedrige Preise. – Na, um diesen Gedanke aufzunehmen, sagte Ivan aus Bulgarien, sollte man darüber reden, wie sich Menschen in den einzelnen Ländern kleiden. Früher, also vor der europäischen Integration, waren die Unterschiede größer, wie man sich in einer bestimmten Region anzog. Heute gibt es überall Internet, jeder hat ein Handy, so ist die Welt kleiner geworden. – Genau, stimmte ihm Alex aus Australien zu. Man kann heute in wenigen Stunden von einer Ecke der Welt in eine andere fliegen, oder sich Rat und Tat aus dem Internet holen. Da gibt’s keine Hindernisse mehr, und deshalb sind die Mode und das Aussehen der Leute fast gleich geworden in allen Ländern. Das ist auch der Grund dafür, dass jedes Gespräch zuerst um Klamotten und Outfits geht. – Glaubt mir, begann Marie aus Frankreich, als ich hier ankam, glaubte ich nicht, dass ich mit euch zusammen arbeiten kann. Da gibt’s so viele unterschiedliche Dinge, aber wir leben nicht so weit voneinander. Australien, Frankreich, Ungarn, Polen und Bulgarien, nickte sie den anderen in der Runde zu, die im Zimmer beieinander waren. Unsere Länder sind alle Mitglied der EU, und wir alle leben in der Welt des Internets. Die Welt, in der wir leben, ist anders als die unserer Eltern. Drei unserer Länder lagen im Herrschaftsbereich der Sowjetunion. 25 – Ich finde, sagte Alex, wir sollten über unsere verschiedenen Schulordnungen reden. Es interessiert mich, wie man bei euch cool wird. Dafür spielt die Schulordnung eine große Rolle. Ich weiß, ausgenommen Australien und Frankreich beginnt man die Schule mit sechs Jahren. – Die polnische, bulgarische und ungarische Schulordnung ähneln sich sehr, antwortete Réka. Daher haben wir gemeinsame Gewohnheiten. Außerhalb der Schule gibt es aber Unterschiede. – In allen Ländern, lächelte Ivan, ist es trendy, sich im Einkaufszentrum zu treffen, glaube ich. Für Mädels ist es charakteristisch, den Nachmittag mit Shoppen zu verbringen. Da gibt’s auch andere Möglichkeiten sich zu begegnen, etwa in Parks. Sie hören gern weltberühmte Musikgruppen, zum Beispiel Skrillex, Eminem, Alan Walker, Avicci, Sia, Maroon5 und Coldplay. Unter den Jungs – freilich auch unter den Mädels – ist es sehr modisch, sich eine Zigarette anzuzünden. Rauchen gehört zum Free Lebensfeeling. – Und das Schulsystem in Bulgarien, wie sieht das aus? fragte ich (Asia). – Es ist zu kompliziert, glaube ich. Es ist unterschiedlich in den verschiedenen Regionen. Man beginnt im Kindergarten, dann kommt die echte Schule, aber die ist überall anders. – Ok, nickte Ewa. – Also abgesehen vom Schulsystem, das uns prägt, was macht eine SchülerIn cooler als andere, so Alex. – Zum Beispiel, was für eine Klamotte ist modisch? – fragte ich (Asia). – In Ungarn Klamotten von H&M, Bershka, Pull&Bear, New Yorker und Stradivarius, sagte Réka. Aber ich möchte betonen, dass es diese Geschäfte nur in größeren Städten gibt. In kleineren Städten und auf dem Land ist das nicht typisch. Die Leute dort leben langsamer, sind auch ärmer als in der Hauptstadt. – In Frankreich, sagte Marie, außer in Paris, sind die normalen Leute nicht modesüchtig. Allgemein, man geht zu Mango, Promod oder H&M, auch Zara. – In Polen sieht es ähnlich aus. Da gibt es diese Geschäfte auch. – David Jones und Mayer sind typisch in Australien. 26 – Und wo verbringen die Jugendlichen ihre Freizeit? – wollte ich wissen (Asia). – Am Wochenende gehen wir in die Kneipe, trinken Alkohol und rauchen. Die Ungarn leben auf den Straßen. Wir sind gerne zusammen, nicht nur mit unseren Bekannten, wir fühlen uns wohl in der Gemeinschaft. Kollektivität spielt eine wichtige Rolle. Es macht einen cool, wenn man nicht individuell ist, sondern auch mit anderen umgehen, sogar mit Unbekannten zusammenarbeiten kann. – In Frankreich gehen wir ins Kino, gehen gerne aus oder ins Konzert. Wir treiben auch gerne Sport, z.B. Tennis oder Schwimmen. – In Polen gehen wir gerne in ein Pub, trinken Alkohol, treffen uns im Einkaufszentrum. – In Australien gehen wir zum Strand, Surfen oder Camping sind cool. – Oh, das ist sehr interessant und welches sind die populären Fernsehen-Serien? – wollte ich wissen (Asia). – Game of Thrones. – Auch Game of Thrones. – Auch Game of Thrones. – Auch Game of Thrones. Und in Frankreich, Marie? – The Walking dead und Game of Thrones. – Und welcher Alkohol ist populär? – In Polen natürlich Vodka Zobrowka oder Wyborowa. – In Frankreich auch Wodka! – In Ungaren ist Wein cool. – In Australien ist das anders. Wir trinken Bier, und wenn du cool sein willst, nennst du das Bier goon oder rog. – Ist es modisch, Tiere zu halten? – Nein, nicht so typisch, sagte Ewa aus Polen. – Bei uns in Ungarn, sagte Réka, gibt es bestimmte Hunderassen, die beliebt sind, Pulis, auch Sennenhunde. Wir lieben alle Tiere. In der Vergangenheit war Ungarn berühmt für die Pferdehaltung. Heute ist es trendy, Chihuahua zu halten, auch Bichon Havanais, sie in kleinen Taschen mit sich herum zu tragen. Populär macht es einen in meiner Heimat, wenn man viele von denen hat. – Also, in Frankreich, sagte Marie, gibt’s keine typisch coolen Tiere, aber viele Franzosen haben Hunde oder Katzen. 27 Bei uns ist z. B nicht cool, Fische in Aquarien zu halten. Schlangen sind cool, aber es hängt nicht davon ab, dass du ein cooles Tier hast, ob du trendy bist. Es hängt von deinen Eigenschaften ab, ob du als cool giltst. – Was für Beziehungen, welche Lebensumstände machen einen cool? wollte ich wissen (Asia). – Ich glaube, dass ist überall gleich. Wer als cool gelten will, braucht eine Stange Geld, um modernste Kleidungsstücke kaufen zu können. Wenn du Geld hast, kannst du alles haben. Freunde, Alkohol, Image, Drogen. Damit wird man auch berühmt, meinte Réka aus Ungarn. – Ich komme von Bulgarien, mischte sich Ivan ein, da auf dem Balkan gibt’s sehr viele Nationen, türkische, bulgarische und russische Volksgruppen. Deshalb gibt’s auch viele Konflikte, wir sind an Zusammenstöße gewöhnt. Zur türkischen Kultur gehört Marihuana kiffen. Also man ist nicht süchtig, aber alle machen das. So gingen wir wieder auseinander. Wir haben etwas erfahren über Modetrends und über Manches, das uns prägt. 28 DER WEG DER VERÄNDERUNG von Gabriela Kostadinova Jeder von uns hat sich einmal eine Liste mit Zielen erstellt, von deren Verwirklichung geträumt wurde. Manche schaffen es ganz einfach, manche aber verlieren sich auf dem Weg bis zum Glücklichsein. Es ist so, dass es viele Schwierigkeiten gibt, Momente, in denen man kurz vor dem Ziel aufgeben möchte und Selbstzweifel auftauchen. Mit einigen Schritten zur Selbstvervollkommnung könnten aber die Geduldigen ihre Pläne zu Erfüllung bringen. Wenn man «genug» sagen soll 4:30 Uhr. Ingeborg wacht auf, dieses Mal war sie aber nicht positiv eingestellt. Sie war rastlos, darum abgespannt. Sie wurde von der Arbeit eingenommen, vergaß, dass sie ein Bedürfnis hat, nach draußen zu gehen und mit jemandem, außer sich selbst, zu kommunizieren. Dinge gingen schief und Ingeborg bemerkte es. Sie überforderte sich, sodass sie ihre Grenzen übertrat, versunken in dem Gefühl der Not, immer mehr Geld zu verdienen, um selbstständig zu sein, um sich stolz zu fühlen. Ingeborgs Geldbeutel war voll, aber ihre Seele war leer. Lust auf Nichts. Es ist so, dass man auf Erfolg und Geld erwartend, alle Hebel in Bewegung setzt, produktiv zu sein. Falls das passiert, fühlt man sich aber unbefriedigt. Dieses Mädchen verkörpert manchen unserer Zeitgenossen. Was täte dieser, der um seine Mentalgesundheit besorgt ist? Die Antwort auf die Frage könnte erschreckend klingen, doch das Bedeutende ist, wie man sich in diesem Moment fühlt. Falls die Erwiderung negativ belastet ist, ist es höchst nötig, etwas zur Veränderung beizubringen. Freiheit! Setze dich frei. Finde etwas, was dich mit Energie erfüllt – egal ob es Tanzen, Singen oder Schreiben ist. Schuld, Schuld, Schuld Die «Energiequelle» von Ingeborg war das Singen, endlich fühlte sie sich glücklich. ABER... in diesem Moment erfasste sie ein ganz anderes Gefühl. Es hieß Schuld – weil sie als 29 Egoistin betrachtet wurde. Beklommenheit. Dinge sind zu schnell passiert. Für uns ist es wichtig, dass wir uns daran erinnern: Niemand zwingt uns, nur von derselben Speise, die auf den Tisch gestellt wurde, zu essen und deshalb wäre es besser, etwas Neues auszuprobieren. Was für Hindernisse stehen vor uns? Die Verantwortungen? Die Meinung unserer Familie/Freunde und Kollegen/der Gesellschaft, also die Normen sozialer Kontrolle? Unsere selbstgetroffene Entscheidung ist kein Irrtum. Wenn ein Mensch, der sich liebt, sich um sich selbst kümmert, ist das auf keinen Fall egoistisch. Geld – nicht mehr das schmutzige Wort Es wurde darüber viel gesprochen und Leute leben mit diesem Gedanken, dass Geld schmutzig ist. «Nicht alles ist zu kaufen» sagen sie sich. Bis sie die Realität erleben und die Welt durch neue Augen sehen, bis das Geld nicht als Ziel, sondern als ein Mittel betrachtet wird. Dieses macht unser Leben dynamisch, ist ein Teil von uns, das kommt und verschwindet. Es ist ein Mittel, das uns die Gelegenheit bietet, schöne Momente mit den von uns geliebten Leuten gemeinsam zu schaffen – Reisen durch das Gelände mit dem Zug, an unterschiedlichen Veranstaltungen teilzunehmen, Produkte zu kaufen, mit denen wir etwas Gesundes oder sogar Ungesundes zusammen kochen, und die Liste kann weiter geschrieben werden. Manche verfügen über mehr, manche über weniger, das Wichtigste ist, wozu es ausgegeben wird. Geldfrönen wirkt negativ auf unsere Seele und es kommt zu einem Kreislauf, wie er anfangs bei Ingeborg war. Die Wirklichkeit einmal anders betrachten: Probleme als Gelegenheiten sehen Jeder von uns träumt von der Zeit, in der alle Probleme gelöst worden sind. Manche beklagen sich mehr als andere. Es ist aber kein Zufall, dass bestimmte Schwierigkeiten auftauchen – das ist die gewöhnliche Form von Signal, die wir bekommen, falls etwas nicht gut geht und wir etwas verändern müssen. Das heißt, mithilfe dieser Überzeugung betrachten die Menschen jedes Problem als eine Gelegenheit. Und wenn einmal 30 das Geheimnis hinter dem Signal enträtselt wird, kommt unser Leben wieder in Schwung. Der Aufbau einer neuen Welt liegt an uns und wir sollten ihn unternehmen. Wir sind auf die Erde gekommen, um das Leben zu genießen und unser Potential in die Tat zu setzen. AUFWACHSEN von Anna Herzog Wir leben in einer Welt, in der Wachstum bis zum Himmel hoch verehrt wird. Kapitalanhäufung, Akkumulation von Gütern, mehr Arbeit und Wettbewerbe, in denen man immer mehr leisten muss: schneller, größer, weiter – doch das Heranwachsen einer neuen Generation, ihren Kampf in Raum und Zeit, sieht man nur selten als Teil dieses heilig betrachteten Prozesses des Wachstums an. Der Faktor des immateriellen Wachstums gerät heutzutage leider leicht ins Vergessen. So auch die Tatsache, dass mit dem Aufwachsen der Jugend auch die Gesellschaft mitwächst – denn das ist nicht messbar und es ist auch nicht zu garantieren, dass die Entwicklungen, die die junge Generation nimmt, auf jeden Fall eine positive ist. Man sollte aber nicht aus den Augen verlieren, dass nicht nur die Jugendlichen aufwachsen, sondern diejenigen, die sie erwachsen werden lassen, ebenso an ihrer Aufgabe wachsen. Ich denke an den Menschen nicht nur als ein biologisches Wesen, sondern auch an die aus ihm entsprungene Intellektualität, an die Kultur, die dann die Basis der geistigen Entwicklung jeder neuen Generation bildet. Diese Wechselwirkung sieht man ganz deutlich am Beispiel der heute herrschenden politisch-philosophischen Idee der Demokratie: Nach dem zweiten Weltkrieg versuchten viele Staaten in Westeuropa eine demokratische Regierungsform zu praktizieren, und von dieser Idee geprägt erzogen schließlich die Eltern ihre Kinder. Diese, schon historisch gewordene Idee bekam die neue Generation gewissermaßen schon im Mutterleib mit. So kann sie heute weiterentwickelt, können auch neue Modelle erdacht werden, wie z.B. das einer Wirtschaftsdemokratie oder überhaupt eine neue Form der Demokratie, die durch Los gewählte Volksvertreter vorsieht.(1) 31 Ein weiterer Faktor, der die Entwicklung der Jugend maßgeblich beeinflusst, ist die aktuelle Schul- bzw. Unterrichtspolitik: Inwiefern haben SchülerInnen nicht nur ein Recht, sondern auch die Möglichkeit und Unterstützung zur Mitgestaltung des Schulalltags? Inwiefern wird durch die Geschichtsdarstellung das nationale Bewusstsein beeinflusst und damit auch die Bildung einer persönlichen Identität? Die Suche nach der eigenen Identität ist ein natürlicher, menschlicher Prozess, der das Erwachsenwerden begleitet. In diesem Prozess stellt man sich selbst Erwartungen, denen man gerecht werden will, das braucht es ein Selbstbild, das nach und nach genauer wird. Fragen wie: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich? könnten letztendlich zur Mündigkeit einer Person und dadurch zum Erwachsenwerden führen – so diese Gewissheiten je erreicht werden könnten. Ich sehe das Aufwachsen als einen Prozess, der nie beendet wird, denn ein Ende hat nur das Leben eines biologischen Wesens. Eine Entwicklung, sei sie positiv oder negativ, kann aber nur stattfinden, wenn es Diversität unter den Menschen gibt: Verschiedenheit macht die Kraft der menschlichen Gemeinschaft aus, ganz gleich wie bei der Biodiversität als Kraftquelle der Energie der Natur. Durch Mobilität entstandene Beziehungen über die enge eigene Gruppen hinaus, und durch den Austausch über Grenzen des Ortes und der Generationen hinweg wächst die menschliche Erkenntnis und das Wissen, in diesem Austausch nähern sich verschiedene Menschengruppen und später Nationen einander an. Durch die Beschäftigung der älteren sowie auch der jungen Generationen mit Jugendlichen aus anderen Weltgegenden werden sie selbst Teil einer größeren Gemeinschaft. Die neuen Gedanken und Ideen, die die Jugend beschäftigt und verwirklicht, beeinflussen die ganze Gesellschaft, egal welchen Alters die Menschen sind. Einzig allein die Tatsache, dass heute durch einen Menschen der jungen Generation etwas Nicht-Normiertes und Ungewöhnliches – oder anders gesagtes – Neues entsteht, verändert die ganze Gesellschaft. Eine geistige Bereicherung entstand in den letzten Jahrzehnten – und nicht nur im Präteritum: so geschieht es heute, jetzt, in jedem Moment, indem wir Menschen oder sogar andere Lebewesen, wie Tiere oder Pflanzen, wachsen lassen, oder genauer gesagt: Mit ihnen MITWACHSEN. Die Betonung liegt also nicht auf dem Einzelnen, sondern 32 auf der Gemeinschaft, nicht auf der materiellen Anhäufung, sondern auf der geistigen Bereicherung; und letztendlich nicht auf Erwartungen anderer, sondern auf der freien Entfaltung der jeweiligen Person, denn nur dadurch kann nachhaltiges Wachstum und gegenseitige Bereicherung stattfinden. (1) Im Film Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen von Mélanie Laurent und Cyril Dion, der für die Jugendlichen der eljub E-Book-Woche im Kino im Kesselhaus Krems gezeigt wurde, plädiert der belgische Autor und Journalist David van Reybrouck für neue Formen der Demokratie. DIE GESCHICHTE MEINER KRANKHEIT von Pamela Witkowska, Adrienn Klausz und Tímea Kovács 07. Juni 2016 Liebes Tagebuch, mein Name ist Maria, ich bin 18 Jahre alt, eine Gymnasiastin. Ich bin gerade vom Arzt nach Hause gekommen. Die Untersuchungen haben gute Ergebnisse gezeigt, ich bin endlich gesund und darüber natürlich sehr froh. Ich möchte dir erzählen, was mit mir vor zwei Jahren passiert ist, also die Geschichte meiner Krankheit... Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sechs Jahre alt war. Ich bin mit meiner Mutter aufgewachsen, meinen Vater habe ich nur selten gesehen. Meine Mutti war immer sehr modisch und hübsch, hatte eine gute Figur, sie war, als sie geboren wurde, auch Model, aber sie hat sich um mich nicht viel gekümmert, weil sie keine Zeit für mich hatte. Ich war immer mit den Mädchen aus meinem Freundeskreis zusammen. Unser gemeinsame Lieblingsbeschäftigung war das Shoppen, im Mittelpunkt standen immer die Schönheit und die Mode. Dieselben Interessen haben uns zuerst sehr geholfen, weil wir mit der Zeit gar nicht wussten, warum wir Freundinnen sind. Oft ist es uns vorgekommen, als alle schon Smartphones und Facebook hatten, dass wir stundenlang nebeneinander gesessen haben, auf den Geräten spielten, ohne ein Wort zu sprechen. Wir haben sehr viel Zeit zusammen verbracht, aber jetzt sehe ich schon, dass 33 sie falsche Freundinnen waren und wir miteinander vertraut waren. Ich habe bemerkt, dass unsere Generation nur Handys zur Kommunikation benutzt. So verlieren wir langsam die Fähigkeit, miteinander zu sprechen. Manchmal war auch mein Freund mit dabei. Eines Tages habe ich mit ihm Schluss gemacht. Er war sehr wütend auf mich und hat zu meinem neuen Facebookfoto einen bösen Kommentar abgegeben. Er schrieb, dass ich eine fette Sau sei und er nicht mehr wisse, warum er mit mir eine Beziehung gehabt habe. Es war schockierend. Deshalb habe ich begonnen, mich mit meinem Körper zu beschäftigen. Ich habe meine Mutter gefragt, wie viele Kilos sie gehabt habe, als sie Model war, wie viel Sport sie getrieben habe, was, und wie viel sie damals ass. Mein Wunsch wurde, wie meine Mutter, dünn und hübsch zu sein. Meine Freundinnen haben auch wie sie früher ausgesehen. Hier hat alles begonnen. Mein früherer Freund hat mir gesagt, dass er in sozialen Netzwerken andere Bilder über schöne, dünne Mädchen gesehen hat, und ich ihnen nicht einmal ähnlich sei. Ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht, warum ich schlechter bin als sie? Aber eine Antwort habe ich von niemandem bekommen. Ich habe begonnen, nur noch auf die dünnen Menschen zu achten, ich habe nur sie bemerkt, vor mir gesehen. Immer mehr wollte ich ihnen ähnlich werden, und für dieses Ziel war ich bereit, alles zu tun. Dafür musste ich die Hälfte meines Gewichtes loswerden. Wie man das erreichen konnte, war keine Frage. Die Werbung in den Medien war voll von solchen Methoden. Früher habe ich das gar nicht bemerkt, erst dann wurde ich darauf aufmerksam. Alle Seiten im Internet haben gezeigt, dass die berühmten Menschen, die diese Pillen benutzen, schöner als die anderen sind. Sie wurden mein Ideal, und ich habe mich dumm gefühlt, weil ich bisher nicht so gehandelt habe, und weil ich auf diese Idee nicht gekommen bin. Ich hatte ein bisschen Angst, weil diese Medikamente auch Nebenwirkungen haben konnten, aber für Schönheit muss man sich quälen, sagt man, und jetzt war das für mich das Wichtigste. Aber mit allen diesen Methoden habe ich nicht viel erreicht, ich habe mich einfach nur schlecht gefühlt, deshalb habe ich begonnen, daneben auch Sport zu treiben. Die sportlichen Mädchen waren eben in der Mode, in den Zeitungen konnte 34 man viele von ihnen sehen. Mit Sport kann man für sich selbst sowieso keinen Schaden verursachen – habe ich gedacht. Die Mädchen neben mir haben gesagt, dass ich immer dünner und hübscher werde. So was Schönes hat bisher niemand zu mir gesagt, auch mein früherer Freund nicht. Ich war überglücklich. Nach einer Zeit habe ich bemerkt, dass die Trainings sehr anstrengend sind, aber nicht so erfolgreich, wie ich es gehofft habe. Dann habe ich die schlecht möglichste Sache gemacht, ich habe angefangen, immer weniger und weniger zu essen. Zuerst habe ich sehr gelitten, ich konnte meinen Hunger nur sehr schwer besiegen. Mit der Zeit wurde das besser, von Tag zu Tag habe ich immer weniger Essen gewünscht, es gab schon Tage, an denen ich fast nichts zu mir genommen habe. Inzwischen war ich sehr froh, weil ich bedeutend an Gewicht verloren habe. Was mir interessant schien, dass die anderen Leute mir nicht mehr gesagt haben, wie hübsch und dünn ich sei, sondern dass ich sehr abgenommen habe, ich wäre zu dünn, manche haben sich schon Sorgen wegen mir gemacht: Ist alles ok? Hast du Probleme? Warum bist du so dünn? Ich habe diese Meinungen eigentlich nicht verstanden, vor dem Spiegel stehend und die Fotos im Internet betrachtend habe ich mich noch immer dick gesehen. Das dauerte ein paar Monate lang. Eines Tages hat die Schulärztin meine Mutti angerufen, dass ich sofort Hilfe brauche. Meine Mutti hat sich große Sorgen gemacht, sie hat sich einfach nicht vorstellen können, was mit mir los ist. Zu Hause hat sie mich als eine verständnisvolle Mutter darum gebeten, ihr alles zu erzählen. Da konnte ich mich nicht mehr beherrschen, alles ist aus mir herausgebrochen. Ich habe ihr alles genau erzählt. Am Ende hat meine Mutter zu meiner größten Überraschung gesagt, dass sie in meinem Alter auch mit diesen Problemen gekämpft hat, und dass es eine Krankheit ist, nämlich Anorexie. Sie hat mir gesagt, dass ich wirklich Hilfe brauche, weil diese Krankheit sehr gefährlich ist. Dann habe ich mich mit Psychologen und Ärzten getroffen. Ich habe von dieser Krankheit sehr viel gelernt. Der Weg war nicht leicht, wieder gesund zu werden, aber ich konnte das mit Hilfe schaffen. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich weiß es auch, dass sehr viele ähnliche Mädchen mit solchen Krankheiten kämpfen. Ich habe daraus viel gelernt. Bleib individuell 35 und realistisch! Finde deinen eigenen Weg! Versuch deine eigenen Einstellungen zu erkennen und bewahren! Versuch die Manipulation der sozialen Medien nicht zu hören, nicht zu beachten! Du darfst dich nicht manipulieren lassen! Es ist nicht unbedingt ein Vorbild, was deine Freundinnen tun! Jetzt habe ich wieder mein Gewicht und fühle mich wohl dabei. 36 37 2. CHANGES «I’d love to change the world, but I don’t know what to do, so I’ll leave it up to you.» (Alvin Lee) SCHRITTE IN DIE ZUKUNFT Was sich zur Zeit ändert und wie wir in Zukunft leben wollen, liegt uns sehr am Herzen. Doch das ist ein enorm großes, weites Feld, das viele Antworten und noch mehr Fragen beinhaltet. Wir haben diskutiert, uns gegenseitig inspiriert, gestritten und und in tiefgründigen Diskussionen verloren. Eine Beschränkung auf eine einheitliche Thematik geriet dabei mehr und mehr aus dem Blickfeld. So haben wir uns entschlossen, unseren Texte freien Auslauf zu lassen. Doch im Geist gehören sie alle zusammen. (Jakob Pugel, Sarah Ouředníčková, Katharina Franz, Rosa Degenhardt, Ylva Hagmair) WO IST EUROPA? von Jakob Pugel Es war einmal ein Kaiser, der hieß Europa. Er wohnte in einem prächtigen Schlosse voller Reichtümer und voller Wissen, obgleich Kaiser Europa schon einigen Jahren regierte. Heute stand Kaiser Europa auf seinem Balkon, ließ seinen Blick über das Land schweifen und dachte nach. Er fragte sich nämlich schon seit einiger Zeit, wer er eigentlich war. Sein Name lautete Europa, natürlich, aber wer war er? Was machte ihn aus? So überlegte er, wälzte Gedanken hin und her, bis ihn ein nasales Hüsteln aus seinen Träumereien riss. Als er sich umwandte, erblickte er den Herold. «Oh», sprach Europa, «Herold – was hat er zu vermelden?» «Nun, es gälte, einige Aspekte von höchster politischer Brisanz zu diskutieren, Euer Majestät!», erwiderte Herold mit überspitzter Stimme. «Ach so», sprach Kaiser Europa da, «Verstehe. Nun denn, hole er Unsere Berater!» 38 Herold klatschte zweimal vernehmlich in die Hände und da trotteten sie auch bereits heran, die Berater – in etwa zwei Dutzend an der Zahl – unter ihnen Gesichter wie Herr JeanClaude, Frau Angela, Herr Francois, Herr Nigel und zahlreiche andere. «Man ist präsent», wisperte Herold. «Oh», sprach Europa, «Nun gut, beginne er!» «Sehr wohl», lächelte Herold und hüstelte aristokratisch. «Die Agenda des heutigen Tages», proklamierte er, «umfasst folgende Punkte: Erstens: Der Treueschwur – auf die Knie, meine ehrenwerten Damen und Herren!» Einige wenige wie Frau Angela und Herr Francois begaben sich umgehend und mit beneidenswertem Eifer auf die marmornen Fliesen des Balkons, während andere zögerten, murrten, ein Liedchen summten oder fluchten, doch nach und nach folgten auch sie dem Ruf. Nur einer blieb stehen – Herr Nigel. Kaiser Europa, der die ganze Zeremonie hindurch jedem feierlich zugenickt hatte, zog die Augenbrauen zusammen, ohne jedoch die Bewegung seines Hauptes zu unterbrechen. «Ich bin mein eigener König!», rief Herr Nigel. «Ihr könnt mich alle mal!» Hierauf herrschte Schweigen, niemand rührte sich, bis auf Europa, der seinen Beratern weiterhin der Reihe nach gewichtig zunickte. Mit Bedacht wandte Herr Jean-Claude seinen Kopf empor, sodass er Herrn Nigel direkt ins Angesicht blicken konnte. «Wir könnten doch», setzte er an, «Wir könnten dem Reich Engelonde doch eine Art Sonderstatus einräumen; wir gewähren den Engelondern das außerordentliche Recht, geringere Abgaben leisten zu müssen, sie behalten ihre eigene Währung und bleiben NATÜRLICH ihr eigenes Königreich, mit einem eigenen König. Das könnten wir doch.» Herr Jean-Claude verdrehte die Augen Richtung Frau Angela und Herrn Francois ‚Was¿, dachte Europa bei sich und unterbrach sein Nicken für einen Augenblick, bevor er damit fortfuhr. Wer waren denn jetzt diese Engelonder? Und er hatte immer gedacht, es gäbe, nun ja, dieses ominöse uns eben – Europäer oder so. Doch gerade, als Europa Herold eine Frage diesbezüglich stellen wollte, ging Herr Nigel ebenfalls auf die Knie, unablässig «Hehehe mein eigener König hehehehe», kichernd. 39 «Also ist es beschlossen», tönte Herolds nasale Stimme über die Mauern. Er warf die Arme gen Himmel. «Wir sind Europäer!» Ein Sturm von Jubel und Applaus brach los, Abgeordnete johlten und skandierten, sprangen in die Luft und applaudierten noch etwas mehr. «Seine Exzellenz mögen indes mit dem Nicken aufhören, es hat seinen Zweck getan, Euer Majestät!», raunte Herold gutmütig. «Ach so», sprach Kaiser Europa, «Natürlich.» Und er stellte das Nicken ein. Auf ein Winken Herolds wurden nunmehr einige Stühle herbeigeschafft und voller Begeisterung und immer noch aufgeregt flüsternd nahmen die Abgeordneten Platz. Herold hob die Hand und alles verstummte schlagartig. Er spreizte zwei Finger. «Der zweite Punkt», hob er an, «Umfasst ein Ansuchen direkt aus unserer Mitte. Frau Athena, bitte aufzustehen!» Applaus, während sich Frau Athena errötend von ihrem Sitz erhob. «Frau Athena», donnerte Herolds Stimme durch sein Riechorgan, den Lärm erstickend, «Sie hat kein Geld.» Betroffenes Schweigen. «Sie hat hmhmhm verspekuliert hmhm wurde beraubt», murmelte er. «Von bösen Mächten», setzte er noch hinzu. Hände wurden vor Münder geschlagen, Luft scharf durch Nasen eingesogen und Köpfe betrübt geschüttelt. «Wir wollen ihr helfen!», verkündete Herold jovial. Begeisterung, Jubel, und noch mehr Tatendrang waren in den Augen der Abgeordneten abzulesen, Rufe wie «Ja, ja!» oder «Ausgezeichnet!» und füllten die Luft. «Indem wir ihr Geld geben.» Stille. Totenstille. Jemand räusperte sich. Nach einigen Augenblicken höchster Anspannung, begannen Frau Angela und Herr Francois miteinander zu tuscheln, während rings um die kurz vor der Ohnmacht zu stehen scheinende Frau Athena ein ungemeiner Tumult ausbrach. «Den verdammten Südländern habe ich noch nie getraut!» «Wer sind die überhaupt? Wollen unser Geld, unser!» «Sischer nischt», zischte Herr Francois Frau Angela zu. «Mein Geld!», kreischte Herr Nigel. 40 «Unser!», widersprach Herr Jean-Claude. «Unser gemeinschaftliches Geld!» «Die Griechen, was gehen die uns an?» «Genau, wir haben eine andere Sprache, eine andere Kultur – wir sind andere Menschen!» «Haber vielleischt...», erwog Herr Francois auf ein Wispern von Frau Angela. «Und eben deswegen müssen wir ihnen helfen», warf Herr Jean-Claude ein. «Was würden Sie denn tun, wenn ihnen plötzlich das Geld ausginge? Sie würden auf Unterstützung durch uns hoffen, durch die Deutschen, die Briten, die Franzosen und alle anderen von uns!» Im darauf folgenden Moment des Schweigens hatte Kaiser Europa kurz Zeit, das Chaos in seinem royalen Haupte zu ordnen. Also, da es gab Briten, Griechen, Franzosen, Deutsche und... und... «Sie ist doch eine emanzipierte Frau! Sie schafft das allein!», rief jemand von ganz hinten Aber sie waren doch alle Europäer, oder nicht? Offiziell und rechtlich. Oder war das etwas Anderes? Sein Kopf begann zu rauchen. «Ich habe auch meinen Stolz», krähte Herr Nigel. «Ich bin mein eigener König!» Zustimmendes Gemurmel. Aber wer war er nun, dachte Europa. Denn wenn er der Regent dieses Landes war, seine Untertanen aber keine Europäer, sondern lauter Griechen und Engelonder und Franzosen, dann bestand er ja aus ihnen allen, wie ein Flickenteppich, der nicht recht zusammengehörte. Aber wenn sie nun Europäer waren und sich trotzdem noch nach ihrer Nationalität nannten, dann war da ein Fehler passiert... Er dachte angestrengt nach, und da hatte er einen Geistesblitz! Ja, er würde diese Worte einfach abschaffen, genau! Er war schließlich der Kaiser, oder? Dann gäbe es keine Differenzen, keine Unterschiede mehr nur, weil man auf dieser oder jener Seite des Flusses geboren war, ein exzellenter Einfall! An diesem Punkt war der Kaiser sehr stolz auf sich. «Ähm, Herold, ich hätte da eine...» «Ruhe bitte!», presste Herold hervor. «Ruheee!» «Oh», sprach Kaiser Europa und alles wurde still. «Mein Kollege Francois und ich haben auch einen konstruktiven Lösungs vor...» begann Frau Angela dreieckig, doch sie 41 wurde von Herold unterbrochen. «ICH schlage vor, wir verlegen das Traktandum auf nächste Woche, dann sind wir alle gut ausgeschlafen und es ist ein neuer Tag!» Affirmierendes Raunen war die Folge und Herold lächelte selbstzufrieden – gerade noch hatte er eine Katastrophe abwenden können, puh, war das knapp gewesen! Er wischte sich den imaginären Schweiß von der Stirn. «Nunmehr zum dritten Punkt der heutigen Agenda», trompetete er. «Da!» Sein Finger wies über die Balkonbrüstung direkt ins Land. Die Gesamtheit der Abgeordneten stürmte zur Brüstung und spähte über die Ebene. Konzentriertes Schweigen setzte ein. Nachdem ein wenig Zeit verstrichen war, erklärte JeanClaude: «Ich, ähm, sehe nichts...» «Natürlich nicht!», giftete Herold unwirsch. «Da gibt es auch nichts zu sehen!» Er machte eine Kunstpause. «Noch nicht.» Herold aalte sich in der Anspannung, die diesen Worten folgte. Dann fuhr er fort. «Die Kundschafter Seiner Majestät haben mir die Nachricht von einem unfassbaren Menschenstrom zuteil werden lassen, der sich in kurzer Zeit über unser ganzes» Herold gab ein diskretes Zeichen und die Hofkapelle spielte zum Walkürenritt von Wagner auf, «Der sich über unser gesamtes Land ergießen wird!» Es wurde kollektiv nach Luft geschnappt und gekeucht. «Oh», sprach Kaiser Europa da. «Verstehe», setzte er noch hinzu. «Und wer», fragte er Herold nach einer kurzen Pause tiefen Nachsinnens, «Und wer sind diese Menschen? Gehören die auch zu uns so wie diese Briten?» Herold war verblüfft – eine solche Reaktion hätte er gemäß der intellektuellen Kapazität Seiner Majestät nie und nimmer für möglich gehalten. «Nun, ähm», setzte er an und die Musik im Hintergrund begann zweifelnd zu zittern, «Nun, diese Menschen, also ‚Menschen‘, die...» Und mit einem Schlag fiel es ihm wieder ein. «Da!», rief er, wie schon zuvor und die Musik schwoll wieder, «Da! Sehet ihr dies Ding?» Und sie reckten sich und neigten die Köpfe in verschiedene 42 Himmelsrichtungen, und tatsächlich, ganz am Horizont erblickten sie eine dünne Linie über der Ebene von Europa. «Da!», gellte Herolds Ruf, «Da ist – ein Zaun!» Es folgten Ausrufe wie «Oh!» und «Ah!» und sogar vereinzelter Applaus, der nicht ganz zu wissen schien, wem er nun genau huldigen sollte. «Oh», sprach Kaiser Europa. «Ach so.» «Und da wir den Zaun schließlich alle von dieser Seite aus sehen können», bemerkte Herold, «wissen wir, dass wir alle auf derselben Seite des Zaunes stehen! Wir sind doch alle Europäer!», deduzierte Herold in einem beinahe beiläufigen Ton und wurde mit sofortigem Jubel und Klatschen belohnt, während sich der Kaiser erneut über das Verhältnis zwischen Franzosen, Briten und Europäern nur wunder konnte. «Also, da wir alle auf derselben Seite des Zaunes stehen, sind wir Europäer und...» Da ging Europa ein Licht auf, das Licht seines Lebens und er unterbrach Herold in einem Sturm der Begeisterung. «Oh, und das bedeutet, der Zaun bestimmt, wer wir sind, richtig? Der Zaun schenkt uns das Leben, das wir haben! Er ist die Fackel, die uns den rechten Weg zum Ort unserer Bestimmung weist!» Kurzes, konzentriertes Schweigen. Das Orchester erhob die Instrumente zum Finale. «Ja!», posaunte Herold schließlich, «Ja, Euer Hochwohlgeboren, absolut exakt artikuliert!» Doch bevor die Abgeordneten wieder in stürmischen Beifall verfallen konnten, erhob Frau Angela die Stimme: «Wir müssen den Zaun einreißen», deklarierte sie. «WAS?!», entrüstete sich Herold in einem bestürzt pneumatischen Pfeifen, «WAS?!» «Aber... aber...», meldete sich Herr Victor, der bisher stumm geblieben war, «Aber wer sind wir denn dann? Wenn da kein Zaun mehr ist, woher wissen wir dann, wo unsere Land ist?» «Wenn es keine Zäune gibt, dann sind wir doch wie die, oder?» «Oh mein Gott, niemals!» «Ihr versteht das alle nicht», rief Mutter Angela, «Sie sind wie wir – wir sind doch alle Menschen, nur die einen eben Niederländer oder Deutsche und die anderen Syrer oder Afghanen oder...» Ihre Stimme ging im reißenden Tumult unter. «Was ist, wenn sie mich in ihrer fremden Sprache beleidigen, 43 diese Fremden? Was tue ich dann nur? Was?» Der Sprecher dieses Satzes brach zusammen. Und Herold begann seltsam zu lächeln. «Es sind doch Ausländer», rief Herr Victor, «Aus-Länder! Und sie sind Aus-Länder, da sie sich außerhalb des Zaunes aufhalten, aber wenn die Aus-Länder zu uns kommen – und wir sind ja die In-Länder, also innerhalb des Zaunes – was geschieht dann nur?» Er brach ab, von Emotion überkommen. «Oh», murmelte Kaiser Europa und wurde daraufhin sehr still. «Ja, was geschieht denn dann nur?», warf Herold in gespielter Verzweiflung ein. «Sind wir dann überhaupt noch Europäer? Wenn die Aus-Länder zu den In-Ländern kommen, dann muss einer von beiden Platz machen, denn In-Land kann nicht gleichzeitig Aus-Land sein, versteht ihr, meine Freunde?» Alle nickten angsterfüllt. Herr Victor schüttelte nur den Kopf, den Tränen nahe, und verließ Schloss Europa, um sich einen eigenen Zaun zu besorgen und ihn zu Hause aufzustellen. Er war er selbst und niemand anders, niemand! Vielleicht sollte er sich einen Anzug aus Zaun nähen lassen... «Ich bin mein eigener König!», schrillte Herrn Nigels Stimme durch die Versammlung. «Die sind auch sicher alle ihre eigenen Könige, die sollen sich um ihre Seite des Zaunes kümmern, jawohl!» Herold lächelte in sich hinein. «Genau», schnurrte er. «Wir gehören zusammen und müssen uns gegen die Eindringlinge zur Wehr setzen! Wir sind eine Festung!» «Festung! Festung! Festung!», skandierten die zugleich verschreckten sowie begeisterten Abgeordneten. «Wo ist denn nur», schallte Frau Angelas Organ plötzlich über den herrschaftlichen Balkon und brachte jede andere Lautquelle zum Verstummen. «Wo ist denn nur Europa?» Und sie sahen sich um. «Isch weiß nischt.», entgegnete Francois unsicher. «Puh» «Nun ja, gewiss irgendwo bei...» «Vielleicht» Und als sie endlich realisiert hatten, dass niemand über den Aufenthaltsort Seiner Majestät Bescheid wusste, wurde es sehr schnell sehr still. «Herr Francois», wandte sich Frau Angela an ihren Kollegen und fasste ihn am Ellbogen. «Kommen Sie! Wir suchen Euro- 44 pa!» «Ja», wisperte Herr Francois, fast wie zu sich selbst. «Ja, ja, das maschen wir.» Und sie verließen den Balkon. In die neuerliche Stille rief Herold mit einem Male so unheilvoll wie er es sich nur vorzustellen vermochte «Oh nein!» und da brach die Hölle erst richtig los. Der Bann Europas war gebrochen und die gesamte Anspannung entlud sich in einer gewaltigen Eruption. Angstschreie gellten, Fragen wie «Sind wir ohne Europa überhaupt noch Europäer?», «Wo ist mein Zaun?» «Wer bin ich?» oder «Wo ist Europa?» schallten durch die Flure und Säle als die Abgeordneten begannen, wild umherzulaufen und sich über die gesamte Schlossanlage zu verteilen. «Ich bin mein eigener König!» Doch als auch Herr Nigel bemerken musste, dass ihm niemand mehr Gehör schenkte, da sagte er sich: «Na gut, dann eben nicht! Ich bin mein eigener König, ich gehe! Ja, ich gehe, jawohl!» Und Nigel der König ging. «Oh nein!» rief Herold erneut und lachte. Er drückte auf «Stopp». In einer chaotischen Windböe lief Herr Jean-Claude noch an ihm vorüber und mit einem apokalyptischen Schnauben fragte Herold: «Ist dies nun unser Ende? Das Ende Europas?» Da sprach Herr Jean-Claude jenes magische Wort, diese geradezu Legendenpotenzial bergende und nach heroischen Liedern verlangende Phrase, diese nämlich: «Nein», erwiderte Herr Jean-Claude unwirsch und begab sich ebenfalls auf die Suche nach Europa. Und sie suchten und suchten, doch so sehr sie sich auch anstrengten, all ihre Mühen blieben letztlich vergebens. Denn niemand hatte begriffen, dass nicht Europa aus den einzelnen Abgeordneten oder Fürstentümern bestand, sondern vielmehr Europa in jedem von ihnen lag, ohne dass sie dazu noch Slowenen und Esten, Griechen, Spanier, Deutsche oder Franzosen sein mussten, denn Europäer, das waren wahrlich nur die wenigsten von ihnen. Nur einer hatte es verstanden: Herold. Nun saß er einsam, aber zufrieden in seiner Studierstube und holte ein kleines metallenes Kästchen aus der Tasche seines Umhanges. Er drückte auf den grünen Pfeil. «Oh, Herold – was hat er zu vermelden?» – «Nun, es gälte, 45 einige Aspekte von höchster politischer Brisanz zu diskutieren, Euer Majestät!» – «Oh. Ach so. Nun denn, hole er Unsere Berater!» Ein leises Lächeln zierte Herolds Lippen. Das würde eine gute Geschichte geben. Und er begann, zu tippen. DER SPIEGEL IST UNSER GRÖßTER FEIND oder Frieden ist eben, wenn Bomben woanders fallen Sarah Ouředníčková Es ist Zeit. Heute. Nicht morgen, nicht in einem Monat. Wir brauchen keine Revolution in den Straßen. Wir brauchen eine Revolution im Kopf. Und das ist viel anspruchsvoller. Krieg in Asien, Krieg in Afrika. Naja, man lebt weiter. Die Nachrichten kommen und gehen. Der Diktator ist zur ück, zweitausend Tote, das Gartenfestival beginnt schon am Samstag. Alles klar. Ein Terroranschlag in Spanien ! Hunderte ahnungslose Menschen ums Leben gekommen ! Was? Terroristen in London: unschuldige Opfer wurden kaltblütig ermordet. In Paris! Oh, nein, nicht im Herz der Kultur!In Belgien, in... in Europa? Warum eigentlich in Europa? Ich finde es ein bisschen traurig, dass wir Terrorismus brauchen, um uns selbst auf unsere eigene Geschichte aufmerksam zu machen. Es ist nicht leicht. Man wächst mit dieser Vision eines goldenen Europas auf: eine freie, friedliche, reiche Region. Ja, es ist ein goldenes Europa, aber auch ein sehr verrottetes. Es sind die dunklen Momente unserer Geschichte, die vieles erklären. Besonders bemerkenswert: man muss sich ziemlich heftig damit auseinandersetzen, bis man den Kern der heutigen Konflikte findet. Europa kennt viele Lieder über seine großartigen Revolutionen, über seine enorme millitärische Kraft. Aber über die Zerstörung des Nahen Ostens? Über das Ausrauben der Welt? Na, da gibt es nicht so viele. Der Spiegel ist unser größter Feind. Was eigentlich auch schade ist. Es gibt viel Schönes in Europa, sogar auch in unserer Geschichte. Die humanistische Tradition, die Idee der Menschenrechte, der Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft. 46 Die Revolutionen, die den Absolutismus zu Ende brachten. Aber es gibt eine Rückseite. Und die sollte man auch beachten. Wer macht sich zum Beispiel Gedanken darüber, dass Australien zu den Top-Ländern in food waste (dem Verschwenden von Essen) gehört, obwohl es keine riesige Bevölkerung hat? Wer überlegt sich, dass das mit dem Lebenstil, den wir unsinnig verbreiten, zu tun hat? Statt sich den geographischen und natürlichen Bedingungen (wie z. B. Klima) anzupassen (wie es die früheren Völker getan haben), exportieren wir die europäische Kultur in die ganze Welt. Damit kommt auch das Essen. Das bedeutet, dass die australische Küche nicht dem australischen Klima angepasst ist, wodurch viel Essen kaputtgeht. Es wird aber noch bizarrer. Das Essen wird zu lange im Kühlschrank oder der Tiefkühltruhe behalten; das ist echt ein bedeutender Grund für food waste in Australien. Danke, Europa! Oder die Konflikte in Nahen Osten? Haben wir damit wirklich nichts zu tun? Woher nehmen wir die Frechheit zu sagen, dass «Muslime in keiner Demokratie leben können»? Weil ihnen unser Typ von aufgezwungener Demokratie nicht passt? Ich finde es lustig. Wir fühlen uns berechtigt zu entscheiden, wer eine Demokratie verdient. Wir sind uns selbst aber nicht sicher, was eine Demokratie bedeutet. Wir wissen nicht, was Freiheit ist oder wie eine bürgerliche Gesellschaft aussehen soll. Wer trägt die Verantwortung in einer Demokratie? Der demokratische Staat, der Garant der Demokratie und eine Autorität sein soll? Kann das Volk überhaupt der einzige Entscheidungsträger sein? Wir sägen den Ast ab, auf dem wir sitzen. Wir lassen unsere Kinder von kommerziellen Massenmedien erziehen. Wir lassen sie in einer vulgarisierten und sexualisierten Welt aufwachsen. Wir werfen sie ohne Vorbereitung in den Mediendschungel und unterschätzen die Folgen. Wir lassen große Konzerne und mächtige Politiker die Pressefreiheit zerstören. Wir stehen an der Grenze der «digitalen Demenz» – der Begriff wird sogar schon von Ärzten benutzt! Wir sprechen laut über unsere Tradition der Menschenrechte. Wer aber erwähnt, dass die Hautfarbe und die Religion immer noch einen entscheidenden Wert haben? Wo ist Luthers Traum-Welt? Wir brauchen eine Revolution im Denken. Unseres europazentrierte Denken muss sich verändern. Leider 47 kann sich erst dann die Welt verändern. Und hoffentlich verbessern. Wer wird diese Revolution führen? Die neue Generation. Die jungen Menschen, die in einer freien Welt aufgewachsen sind. Jede Generation muss für sich selbst kämpfen. Jede Generation muss ihre Freiheit verdienen. Doch die ältere Generation ist auch mit angesprochen. Sie hat bereits für sich gekämpft. Ihre Erfahrungen und ihre Lebensweisheit sind deshalb für uns nachfolgende Generation wichtig, auch wenn wir vieles ganz anders machen werden. Wir können daraus lernen und darauf aufbauen. Das ist der Humus, aus dem – dank unserer Energie und unserer Ideale – neue Bäume wachsen können. ZUKUNFTSHOFFNUNG von Katharina Franz Wie wird die Zukunft sein? Nicht die Science-Fiction-typische, In-Tausend-Jahren-leben-wir-alle-auf-dem-Mond-Zukunft, sondern die unmittelbare Zukunft in fünfzig oder hundert Jahren? Was wird unseren Alltag dominieren? Die Angst vor Krieg, Bomben über unseren Köpfen und die Sorge, dass wir oder die, die wir lieben jede Sekunde sterben könnten und wir nichts tun können, um das zu verhindern? Oder werden wir in einer utopischen Gesellschaft leben, in der es keinen Krieg, Armut oder Umweltprobleme mehr gibt? Das klingt natürlich besser. Aber ist es auch realistisch? Wir müssten so viel in unserem Verhalten rapide ändern. Der Mensch als Gewohnheitstier wird da einige Probleme haben Die Fleisch-, Fisch- und Milchindustrie müsste sich grundlegend wandeln. Alle Tiere sollten zu Freilandtieren werden: Gesund, an der frischen Luft, mit ihrem natürlichen Futter, nicht das Chemie-Fressen, von dem sie nur groß und möglichst schnell möglichst fett werden sollen. Hühner könnten mithilfe eines Eglu -Stalles, der von ehemaligen Studenten des Royal College of Art entwickelt wurde, der einfach aufklappbar ist. Dabei hätten die Hühner immer noch mehr Auslauf als in den zur Zeit typischen Hühnerställen im Garten. Durch einige 48 dieser Hühnerställe könnte sich ein komplettes Apartmenthaus selbst mit Eiern versorgen. Bei den Fischen geht es so natürlich nicht. Die Meere dürfen nicht überfischt werden. Man müsste viel mehr darauf achten, dass alle Fischarten gleich stark gefischt werden, damit nicht eine Art völlig verschwindet und so, weil die Nahrungskette durchbrochen wird, alle anderen ebenfalls bedroht sind. Da so viele Fischarten fast ganz verschwunden sind, könnte man die fehlenden Arten in Fischzuchtbecken nachzüchten und dann ins Meer entlassen, damit sie sich wieder neu ansiedeln. Die Fischzuchtbecken, die nur für den Konsum bestimmt sind, sollten aber entweder verschwinden oder so gestaltet sein, dass darin jeder Fisch genug Platz hat. Weiterhin sollte es nicht nur ein Betonbecken sein, sondern so gestaltet, dass die Wände und der Boden aus Felsen gehauen sind und mit Korallen, Algen und anderen Wasserpflanzen bewachsen sind. Tiere sollten nicht mit Medikamenten vollgepumpt werden, was gesünder für Tiere, Menschen und die Umwelt ist. Alternativ könnte man auch, wie in Aldous Huxleys Brave New World, das Fleisch im Reagenzglas züchten, ohne dass es je zu richtigen Tieren wird, sondern von Anfang an als Schnitzel wächst. Allerdings wird es vermutlich noch sehr lange dauern, bis die Wissenschaft in der Lage ist, so etwas im globalen Maßstab zu bewältigen. Entgegen dem bisherigen Fortschritt der Wissenschaft sollte man genmanipulierte und überzüchtete Tiere und Pflanzen allgemein verbieten, da die Tiere oft durch ihr unnatürliches Aussehen viel schneller krank werden oder allgemein leichter anfällig für Krankheiten und Verschleißerscheinungen sind als normal gezüchtete. Die genmanipulierten Pflanzen verbreiten sich oft so, dass neben ihnen keine anderen Pflanzen mehr wachsen können oder sie entziehen dem Boden alle Nährstoffe, so dass er unfruchtbar wird. Aber auch Genmanipulationen können in die Nahrungsketten eingreifen, wie im Falle der Moskitos, die kein Blut mehr saugen können, dadurch zwar keine Krankheiten wie Malaria übertragen, aber auch keine Nachkommen mehr bekommen und wenn man nicht aufpasst, irgendwann aussterben können. Dadurch wären viele Tiere und Pflanzen betroffen, da man einen Teil der Nahrungskette einfach ausgelöscht hat. Menschen denken oft zu egoistisch und eindimensional, um zu erahnen, welche Folgen kleine Veränderungen in der 49 Natur haben können. Wahrscheinlich werden die Menschen in der Zukunft genauso wenig verstehen, wie wir auf die Idee gekommen sind, irgendwelche Tiere so zu verändern, dass sie entweder völlig verschwinden oder sich ihr Verhalten entscheidend verändert; so wie wir heute nicht verstehen, warum Menschen vor hundert Jahren Tierarten bis zum Aussterben jagten. Aber man muss nicht nur im Bereich Tierschutz einiges ändern. Allen voran muss sich die Chemie stark wandeln. Fabriken sollten giftige Abfälle nicht einfach irgendwohin stellen oder verseuchtes Wasser ins Meer kippen dürfen. Alles sollte umweltfreundlich und sauber sein. Dazu gehört auch, keine schädlichen Abgase mehr zu erzeugen bzw. nicht einfach den anfallenden Müll zu verbrennen, sondern ihn umweltfreundlich zu entsorgen. Allgemein müssen wir viel weniger Müll erzeugen und mit unseren Ressourcen verantwortungsbewusster umgehen. Da die Weltbevölkerung stetig wächst, gibt es immer weniger Ressourcen für jeden, also sollten wir aufpassen, dass wir nicht in fünfzig Jahren das verbrauchen, was die Menschheit noch die nächsten 300 Jahre braucht. Die Entsorgung des Mülls muss besser klappen, wir können nicht einfach jedes Mal, wenn wir zu viel produzieren, das Meer als riesige Mülldeponie, die frei zu unserer Verfügung steht, betrachten und Inseln aus Müll bauen. Wir können auch nicht Plastik einfach ins Wasser kippen, bis es sich unter Wasser zu riesigen Tornados aus kleinen Plastikpartikeln formt, die dann von Tieren mit Plankton verwechselt und gefressen werden, woran sie oft sterben, oder das Plastik in ihren Kreislauf aufnehmen, von wo aus es in den Körper der Menschen gelangt, sobald sie eines dieser Tiere essen. Aber auch Müll verbrennen hat keine Zukunft, da dadurch nur das Ozonloch wächst. Man müsste auf allen Deponien Mülltrennung einführen, damit der kompostierbare Müll anständig verrottet und der Rest auf möglichst umweltschonende Art und Weise gelagert werden kann. Die Wissenschaft müsste eine gute Methode finden, um möglichst viele Stoffe zu recyceln. Nicht zu kompostierendes Plastik wird verschwinden müssen, damit wir nicht irgendwann auf einem Riesenhaufen aus Plastik sitzen, den wir nicht loswerden. Vor allem aber müssen wir uns selbst in unserem Konsum umgewöhnen. Wir sollten nur so viel produzieren, wie wir wirklich brauchen, 50 seien es Nahrungsmittel, Klamotten oder Möbel. Nicht mal eben ein T-Shirt kaufen, das man eigentlich gar nicht braucht. Fast neue Schuhe nicht wegwerfen, wenn man sie nicht oft anzieht, sondern lieber an jemanden weitergeben, der sie benutzt. Wenn die Schuhe ein Loch haben, sollte man zum Schuster gehen und sie flicken lassen anstatt sie wegzuwerfen und neue zu kaufen. Allgemein sollten wir weniger horten und lieber verantwortungsvoller mit dem umgehen, was wir haben, damit es möglichst lange hält. Weiterhin müssten wir komplett auf Atomstrom verzichten, damit nicht noch mehr strahlender Müll anfällt, der Menschen und Umwelt belastet, krank macht und zerstört. Alle Gebäude und Fortbewegungsmittel werden sich komplett selbst mit Strom versorgen, teilweise wie in einem Hamburger Neubaugebiet, in dem alles, was das Klo hinuntergespült wird, zur Gewinnung von Bioenergie verwendet wird. Das Dusch- bzw. Spülwasser wird gemeinsam mit dem Regenwasser gereinigt und braucht dadurch ein weniger intensives Säuberungsprogramm als in einer normalen Kläranlage. Der benötigte Strom könnte grün produziert werden, durch Solaranlagen sowie Photovoltaikanlagen, die ihr Potential zu 100% ausschöpfen und auf jeden Hausdach zu finden sein sollten, so dass riesige Solarparks nur noch vereinzelt vorkommen, da jedes Haus seinen Strom selbst erzeugt. So bräuchten wir keine fossilen Energiequellen oder Windräder, die den Vogelflug beeinträchtigen, durch den Lärm Menschen und Tiere dauerbelästigen und dringend gebrauchten Platz wegnehmen. Idealerweise haben die Menschen bis dahin ihre Vorurteile überwunden und arbeiten daran, eine vereinte Welt aufzubauen, in der es keine Kriege mehr gibt. Natürlich darf deshalb jeder Staat nicht mehr so egoistisch handeln wie heute, und nicht nur an sein eigenes Wohl, sondern an das Wohl aller denken. Hilfreich wäre es, wenn es auf jedem Kontinent eine Organisation wie die EU gäbe, in der alle auf dem Kontinent vorhandenen Länder vertreten sind, um so gemeinsam Politik zu machen. Von jeder dieser Unionen sollten dann einige Ländervertreter gewählt werden, die an einer Art Welttreffen, ebenfalls ein wenig wie die EU aufgebaut, gemeinsam Projekte planen und international gültige Gesetze verfassen. Da so jedes Land eine Chance hat, die Weltpolitik mit zu formen und an die gemeinsamen Projekte und Ziele zu denken, wird es einfacher sein, Kompromisse zu schließen, da man 51 einander braucht und zu einem gewissen Grad voneinander abhängt. Dabei sollte das komplette System demokratisch aufgebaut sein, und es wäre natürlich ideal, wenn alle Länder eine Demokratie wären, oder eine noch bessere Art der Volksherrschaft hätten (also weder Diktatur noch Monarchie sind). Da man so mehr Druck auf einzelne Länder ausüben kann, haben gemeinsam beschlossene Richtlinien mehr Erfolg als z.B. die Klimakonferenzen, in denen zwar Richtlinien und Grenzen beschlossen, anschließend aber oft nicht weiter beachtet werden. Da alle zusammenarbeiten, wird es immer weniger Kriege geben, bis die Menschen eingesehen haben, dass Diplomatie und Kompromisse mehr bringen als Krieg. Das Geld, das der Staat sonst für Berufsheer, Ausrüstung und Instandhaltung der Kasernen und Ausrüstung ausgeben würde, kann er für soziale Leistungen und zur Beschaffung von Arbeitsplätzen verwenden, um Armut zu bekämpfen und irgendwann auszulöschen. So wächst die Weltbevölkerung allerdings rapide an. Deshalb sindneue Lösungen wichtig, die ökologisch vielleicht immer optimal sind. Um die Menschen zu ernähren, wird viel mehr Essen notwendig sein, als wir bisher produzieren, weshalb mehr Treibhäuser notwendig sein werden, die möglicherweise mehrstöckig sind, da sie so weniger Platz wegnehmen als die gewöhnlichen. Durch verglaste Wände und Wärmelampen in den unteren Stockwerken, sowie tiefe Böden, die mit nährstoffreicher Erde gefüllt sind, könnte man alles regional anbauen und würden sich weite Wege und somit hohe Emissionsraten sparen. Alternativ könnte man auch die Dächer der Häuser als Treibhäuser verwenden, indem man ein Treibhaus auf das Flachdach baut und die Seite des Daches, die nach Süden zeigt, mit Solaranlagen ausstattet. Um mehr Platz für die benötigten Wohnhäuser, öffentlichen Gebäude, Treibhäuser und Viehweiden zu haben, könnte man alle Fabriken, Einkaufszentren, Zuggleise etc. unter die Erde verlegen, da vor allem Fabriken und Einkaufszentren meist sowieso keine Fenster besitzen und durch Klimaanlagen belüftet werden. Zuggleise und vielleicht sogar Straßen könnte man zumindest bei weiten Strecken unter die Erde legen. Allein in Deutschland betrug die Länge der Autobahnen im Jahr 2015 12’949 km. Alle sind mindestens zweispurig, meist jedoch sechsspurig plus zwei Seitenstreifen. Wäre das alles unterirdisch, würde man enorm viel Platz sparen. Vielleicht 52 gibt es bis dahin ohnehin keine Autos mehr, weil man in Städten alles schnell und einfach erreichen kann. Auf dem Land sind Autos vermutlich noch lange sinnvoll, deshalb müsste man den öffentliche Personennahverkehr ausbauen. In Städten müsste man überlegen, ob es sinnvoll wäre, die Straßen unter die Erde zu verlegen, da man einerseits eine Möglichkeit braucht, unterirdisch von A nach B zu kommen. Andererseits braucht man über der Erde auch Wege, aber wenn alle Straßenbahnen und Buslinien unterirdisch verlaufen würden, könnte man überirdisch leicht laufen oder Fahrrad fahren und zwar viel schneller als heute, da keine Autos, Busse oder Ampeln den Verkehr aufhalten würden. Wären alle Straßen unterirdisch, könnte man in den so gewonnenen Räumen zwischen den Häusern Gärten, Parks, Schwimmbäder oder sonstiges errichten. Weiterhin gäbe es vermutlich viel weniger Verkehrsunfälle, da Busse und Autos nie wirklich Fußgängern begegnen würden. Man sieht, dass wir durch große und kleine Dinge unsere Zukunft maßgebend verändern können, wenn wir nur anfangen, die ersten Schritte in die richtige Richtung zu gehen. ES GIBT IMMER WAS ZU TUN von Rosa Degenhardt Es gibt immer etwas, das getan werden muss, um sich danach Schönerem zuwenden zu können. Das ist die Arbeit. Was im eigenen Hauhalt gerne auf andere abgeschoben wird, ist in den meisten Volkswirtschaften heiß umkämpft. Arbeit ist knapp und kostbar. Der technische Fortschritt, dazu gedacht, uns Arbeit zu erleichtern, scheint sie uns nun zu entreißen. Immer mehr Aufgaben werden von Robotern übernommen, sodass es möglich ist, die Menge menschlicher Arbeit zu verringern, ohne dabei an Lebensstandard einbüßen zu müssen. Der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin sagte eine 20:80Gesellschaft voraus, in der die Arbeit von 20% der Menschen ausreicht, um die Produktion aller Waren und aller Dienstleistungen zu bewältigen. Jedem arbeitenden Menschen ständen also vier gegenüber, deren Einsatz dank der Tätigkeit des ersten und der Effizienz der Technik nicht von Nöten ist. Die Frage, die dabei fast vergessen geht, ist die nach dem 53 für mich besseren Teil der Gesellschaft. Wer würde schon in Abhängigkeit von einer kleinen Gruppe, in deren Händen die Steuerung und Entwicklung der Automatisierung liegt, leben wollen. Dass diese Konstellation enorme Spannungen und Gefahren birgt, ist so nachvollziehbar, wie die Demütigung, die mit dieser Deklassifizierung einhergeht. Es mag an den gesellschaftlichen Vorstellungen liegen, die dereinst überholt sein werden, dass ein Leben ohne Beitrag zur Gemeinschaft, ohne Arbeit kaum als ein erfülltes angesehen wird. Vielleicht ist das Bedürfnis danach, das eigene Dasein durch Arbeit zu rechtfertigen, anerzogen und bald ein sinnloses Relikt. Die Verdacht jedoch, dass ein Tag, ein Leben in einem solchen System aussehen könnte, wie von Ray Bradbury in Fahrenheit 451 entworfen, voll von Ablenkung und Betäubung, ist nicht abzuwenden. Ob sich die Gesellschaft so weit oder überhaupt in diese Richtung entwickeln wird, ist nicht sicher, wohingegen der Verlust von Arbeitsplätzen im Zuge der Modernisierung für viele schon zur traurigen Gewissheit geworden ist. Es schaut aus der Sicht dieser Menschen vielleicht wie natürlich aus, aus einigem Abstand jedoch wirkt es völlig absurd, dass jeder erhaltene und erschaffene Arbeitsplatz bejubelt wird, als sehnten wir uns nach nichts mehr, als nach mehr Arbeit. Das Paradox löst sich auf, wenn man sich klarmacht, dass es nicht um die Arbeit an sich geht, sondern um Arbeitsplätze, die Möglichkeit also, für Arbeit bezahlt zu werden. Es ist nicht nur aus Sicht eines Unternehmers richtig, eine menschliche Arbeitskraft durch eine effizientere Maschine zu ersetzen. Die Kosten werden somit gesenkt, der Gewinn maximiert. Mit letzterem können wiederum Menschen für ihre Arbeit bezahlt werden, indem man sie anstellt oder ihre Waren oder Dienstleistungen in Anspruch nimmt. Die Automatisierung hat uns Arbeit abgenommen und damit die Möglichkeit geschaffen, uns anderer Arbeit zu widmen, die möglicherweise wiederum Neuerungen mit sich bringt. Es ist der pure Fortschritt. Warum schwinden dann aber Arbeitsplätze, warum geht mit der Technologisierung Armut einher?Gier ist es, die im beschriebenen Kreislauf den Rückfluss der Gewinne in Arbeit verhindert. Die Einkommensquote, also der Anteil aller Arbeitseinkommen (aus der Selbständigkeit wie als Arbeit- 54 nehmerlohn) am Volkseinkommen, ist seit den 70er-Jahren weltweit gesunken. Im Gegenzug wird ein immer größerer Teil der Einnahmen aus Kapitaleinkünften erzielt. Für den einzelnen ist es zwar schön, wenn das angelegte Geld sich einfach so vermehrt, aber mit einem distanzierteren Blick ist nicht zu übersehen, dass es natürlich nicht das Geld ist, das uns leben lässt, sondern Nahrung, Behausung, Infrastruktur etc. und diese Dinge nicht durch Geld entstehen, sondern durch Arbeit. Geld, das nicht dazu verwendet wird, Arbeit zu ermöglichen, verhindert all dies. Nicht die Technik gefährdet die Arbeitsplätze, sondern die Gier, Gewinn zu machen, aber diese Gewinne nicht wieder in die Arbeitswelt zurückzugeben. Vor dieser Gier sind Bedenken tatsächlich berechtigt. Sie blockiert einen tatsächlichen Fortschritt, der nicht wie viele jetzige Produktionsprozesse Produktivität auf Kosten der Natur vortäuschen. Ressourcendebatten und Umweltzerstörung zeigen, dass die heutigen Produktionsweisen nicht nachhaltig funktionieren. Besonders in diesem Bereich wird noch viel Aufwand nötig sein, um Möglichkeiten zu entwickeln, die geringen Aufwand mit Nachhaltigkeit vereinbaren. Auch ohne den Misstand der Umweltzerstörung ist die Notwendigkeit menschlicher Arbeit nicht zu übersehen. Solange noch Armutsbekämpfung zuoberst auf der Liste der «Sustainable Development Goals» steht, wie sie von der UN formuliert wurde, weil 836 Millionen Menschen in extremer Armut leben, sollten nicht Millionen von potentiellen Arbeitskräften daran gehindert werden, dem Abhilfe zu schaffen. Und wenn niemand mehr Hunger leidet, alle gesundheitlich versorgt sind, jedes Kind zur Schule geht und dies alles wunderbar im Einklang mit unserer Umwelt von statten geht, auch dann wird es dank des Ideenreichtums nicht an Arbeit fehlen. «Es gibt immer was zu tun», nicht nur für jene, die, wie es dieser Spruch aus der Werbung eines deutschen Baumarkts versucht, zu passionierten Heimwerkern und treuen Kunden gemacht werden sollen. Bisher jedoch bekommen nicht alle etwas ab vom Segen des Fortschritts. Um zu erreichen, das Technik nicht nur Einzelne bereichert, sondern umfassende Verbesserungen ermöglicht, ist sicher auch der Staat gefragt, aber zugleich sind wir alle selbst gefordert. Wir als junge Generation, die sich hierzulande fragt, warum ausgerechnet ihr im Gegensatz zu unseren Eltern und Großel- 55 tern, keine leichtere Zukunft vorhergesagt wird, können unsere Vernunft und Humanität einsetzen, um uns selbst aus dieser verqueren Situation zu befreien. Jetzt sind wir die Generation Praktikum, die nicht mehr darauf vertrauen darf, für ihre braven, stetigen Bemühungen mit einem sicheren Arbeitsplatz belohnt zu werden. Aber wir können auch diejenigen sein, deren Kinder nicht mehr angstvoll auf die moderne Technik und ratlos auf den Klimawandel blicken. Es ist machbar, wenn unser Egoismus nicht die modernen Errungenschaften der Technik und Wissenschaft zunichte macht. Für mich persönlich gilt, ganz abgesehen von allen Überlegungen, die ich zur Notwendigkeit, die Arbeitsfähigkeit der Menschen zu nutzen, angestellt habe: Ich möchte schon deshalb nicht zu den 80 untätigen Prozent einer Gesellschaft gehören, einfach weil es mir Freude macht, zu sehen, was ich tun kann, wenn ich mich anstrenge und weil eine Welt, die ich mitgestalten kann, mir mehr bedeutet, als eine, die mich bloß füttert und unterhält. Für mich ist es eine schöne Vorstellung, dass wir die Welt alle zusammen am Laufen halten. Darauf, dass wirtschaftliche Entscheidungen in Zukunft mit der Weitsicht und Rücksicht getroffen werden, die auf solchen komplexen Gebieten angebracht sind, hoffe ich mit den Worten Stefan Zweigs (die zugegebenermaßen in einem anderen Zusammenhang standen, was ihrer Gültigkeit aber in meinen Augen keinen Abbruch tut): Seien wir also entschlossen und geduldig zugleich: Lassen wir uns nicht beirren durch alle Unvernunft und Unhumanität der Zeit, bleiben wir dem zeitlosen Gedanken der Humanität treu – es ist nicht so schwer! Überall können einige Menschen, die guten Willens sind, das Wunder vollbringen, sich zu verstehen. 56 SCHULE UND RITTER von Ylva Hagmair 4. September 2083 Nur mehr wenige Tage bis zum Schulstart. Endlich werde ich wieder lernen können. Während den Ferien half ich meist den Robotern beim Kaffee kochen und bringen, was eigentlich ziemlich altmodisch ist. Rund um mich waren hunderte von Robotern, die einen halben Meter über den Boden schwebten. Ich durfte sogar die wichtigste Person überhaupt bedienen: den Bürgermeister. Ich werde die restlichen Tage Vater etwas bei seiner Arbeit als Gentechniker über die Schulter schauen. Bis zum nächsten Mal liebes Tagebuch, Liya * * * 4. September 2083 Ein weiterer Tag voller Wäsche waschen, kochen und meiner Mutter bei Kaffeekränzchen zu begleiten geht wieder einmal zu Ende. Nun liege ich in meinem Bett und schreibe in dieses Buch, das ich beim Bringen von Kuchen und Obst für die lieben Herrn Ritter geschenkt bekommen habe. Sie erzählten, dass ich unbedingt zur Parade am Montag kommen sollte, da es diesmal besonders prachtvoll sein solle. Ich besuchte meine Freunde, die anders als ich als Bäcker, Hufschmied und Schreiber arbeiten. Es war sehr amüsant zu sehen wie der Bäckerknabe über meine Zeit als verheiratete Frau spekulierte, die gar nicht so weit entfernt war. Nun muss ich einen Schluss finden. Gute Nacht liebes Buch! Deine Addolororata * * * 7. September 2083 57 Heute hat die Schule begonnen! Ich freue mich schon sehr, da wir viele Eignungstests machen werden und unsere Bestimmung bekommen. Ich hoffe, wie mein Vater auch Gentechnologin werden zu können. Wir hatten heute den ersten Test für dieses Jahr. Es ging darum, was wir in den Ferien gemacht hatten. Meine Arbeit als Lieferantin hat mir sicher einige Pluspunkte gebracht. Wünsch mir Glück liebes Tagebuch, Liya * * * 7. September 2083 Heute war es soweit. Die Parade hatte zu Mittag begonnen. Alle versammelten sich am großen Marktplatz. Trompeten ertönten und unser König erschien mit seinem großen, prachtvollen Festwagen und dem Ritterorden. Alle jubelten ihnen zu. Es war ein tolles Gefühl. Anschließend verkündete er, dass es eine Erneuerung geben würde. Ich verstand zwar nicht, was es bedeuten sollte, aber es hörte sich gefährlich an, also beschloss ich wegzulaufen, aber wohin? Es gab ja nur diese Stadt, das hatte man uns schon von klein auf erzählt. Außerhalb wäre ja ein Abgrund, hinter dieser Stadtmauer. Doch heute ist keine Zeit mehr... Gute Nacht liebes Tagebuch und pass auf, dass du nicht in die falschen Hände gerätst. Deine Addolororata * * * 8. September 2083 Heute bekamen wir die Tests zurück und uns wurde gesagt, was jeder dieses Jahr für Sachen ausprobieren durfte, nicht etwas, was wir normalerweise machen würden, sondern was uns interessieren könnte, wir aber trotzdem nicht machen würden. Übermorgen beginnen wir damit. Rye wurde Schreiber, Newt Arzthelfer und ich Fährtenleserin... Zuallererst war ich geschockt, jedoch später fand ich es ganz cool, den ältesten Beruf, den es gab, zu bekommen. Am Abend wurde 58 beschlossen, dass wir noch ein weiteres Familienmitglied bekommen würden. Wir müssen nur noch ein Bestellformular ausfüllen und abschicken. Gute Nacht, Liya * * * 8. September 2083 Ich plane meinen Ausbruch. Ich werde über die Mauer klettern. Weit weg von dieser Erneuerung, diesem Teufelszeug! Falls wirklich nichts dort ist... dann gehe ich wieder zurück. Deine Addolororalata * * * 9. September 2083 Heute wird der beste Tag aller Zeiten. Ich werde zur Fährtenleserin und bekomme ein Geschwisterchen! Ich werde jetzt ans Ende der Stadt fahren, dort wo der Nebel den Horizont verschwinden lässt. Man muss aufpassen, um dort nicht von der Platte zu fallen. Wünsch mir Glück, Liya * * * 9. September 2083 Heute war ein komischer Tag. Ich begegnete einer eigenartigen Person, nachdem ich von der Mauer geklettert war. Sie sah aus wie ich, hatte leicht gewellte blonde Haare und grüne Augen. Es war, als käme sie aus einer Parallelwelt. Wir lernten uns kennen. Sie erzählte mir, wie ihr Tagesablauf aussah, und ich schilderte ihr meinen. Sie erklärte mir, was das bedeutete und schlug vor mitzukommen in ihre Stadt. Ich willigte ein. Zurzeit liege ich in einem fremden Bett in einem fremden Haus, das wiederum in einer fremden Stadt steht. 59 Deine Addolororalata * * * 10. September 2083 Gestern passierte etwas Merkwürdiges. Als ich allein war, ging ich durch den Nebel und sah ein merkwürdiges Mädchen, das wie aus dem letzten Jahrtausend aussah. Ich lud es ein und, nun ja, jetzt ist sie da. Ich erzählte ihr vom Bürgermeister, sie mir vom König. Wir entdeckten viele Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden, und als wir zu dem Punkt Aussehen kamen, zogen wir den Schluss, dass es sich dabei um ein und dieselbe Person handelt. Wir wollten das jemandem erzählen und suchten uns dafür den Ort aus, in dem meine Freundin Alyssia arbeitet: den Radioturm. Wir kaperten die Radiosendung «Radio Rasend», die alle Bewohner hören mussten, und wir erzählten unsere Geschichte. Drück uns die Daumen, Liya * * * 11. September Nach dem gestrigen Vorfall wurden wir in eine Jugendbesserungsanstalt gebracht. Am Weg dorthin verlor Addoirgendwas ihr Buch. Angekommen bei der Anstalt hörten wir davon, dass der Bürgermeister/König gestürzt wurde, und wir wurden wieder freigelassen. Momentan planen wir in die andere Stadt zu gehen und dort die Nachricht von uns Zwillingen zu verkünden. Also doch noch ein Happy End? Deine Liya 60 EINE UTOPIE? Aus einem Tagebuch von Aurora-Doris Frăt, ilă, David Seuferlein, Ricky Stoll und Sándor Benkó 12. Dezember 1980 Liebes Tagebuch, Meine Mutter hat sich die Brüste vergrössern lassen. Ich bin schockiert. Ich frage mich, warum sie das gemacht hat, und wie sowas gemacht wird. Ich habe noch nie was davon gehört. Ich denke, dass sie sich unwohl gefühlt hat. 3. Juni 2015 Meine Freundin macht seit einem Monat eine Diät mit Schwangerschaftshormonen und hat schon 10 kg abgenommen. Ich bin wirklich beeindruckt, dass sie das geschafft hat und wie man heutzutage mit den neuen medizinischen Technologien so leicht abnehmen kann. In der letzten Zeit wurde die Gesellschaft von ständigen Innovationen radikal verändert. Was soll denn bitte als Nächstes kommen? Sich die Augenfarbe ändern lassen, sowie man sich die Haare färbt? 21. November 2020 Es ist soweit. Ich kann es nicht glauben. Einer meine Freunde war schon seit langer Zeit auf der Warteliste für eine Herztransplantation wegen eines Gendefektes, an dem schon seine Großmutter verstarb. Sein Herz war schon so geschwächt, dass er an einen LVAD (Linksventrikuläres Unterstützungssystem) angeschlossen sein musste. Jetzt wird er von den Ärzten vor die Wahl gestellt, ob er sein Problem mit den herkömmlichen Methoden (Transplantation eines Schweineherzens oder eines mechanischen Herzens) oder mit einer neuen experimentellen Technologie lösen möchte. Die Ärzte haben vor, meinem Freund ein komplett aus Stammzellen gezüchtetes Herz einzusetzen. Da über mögliche Risiken dieses Verfahrens nichts bekannt ist, hoffe ich, dass die Methode anschlagen wird und mein Freund gesund wird. 61 16. Juli 2025 Die Operation, die vor fast fünf Jahren an meinem Freund durchgeführt wurde verlief so erfolgreich, dass die Methode nun bei ähnlichen Verletzungen üblicherweise verwendet wird. Zu dem Zeitpunkt erschien mir dieser Eingriff noch sehr riskant. Es ist erstaunlich wie effektiv und weit verbreitet diese Methode nun ist. Da ich in letzter Zeit immer vergesslicher werde, denke ich darüber nach, mir einen Biodatenchip einpflanzen zu lassen. 3. April 2031 Heute ist mein Biodatenchip kaputt gegangen. Ich muss nun wieder zu Schlüssel und Kreditkarte greifen. Mir ist klar geworden, wie schnell ich von ihm abhängig geworden bin. Ich bin nicht mehr in der Lage, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen und merke auch, dass ich in vielen alltäglichen Dingen mehr Zeit benötige. Von meiner Vergesslichkeit will ich gar nicht anfangen... Ich mache mich wohl trotzdem daran, mir einen neuen Biodatenchip anzuschaffen. Ich habe gehört dass es mit dieser neuen Generation von Biodatenchips sogar möglich sein soll, komplizierte Bewegungsabläufe abzuspeichern, was meine Motorik verbessert und präzisere Bewegungen ermöglicht. Es ist bemerkenswert, wie es uns moderne Technologie ermöglicht, unser Leben so viel komfortabler und einfacher zu gestalten. 8. Mai 2034 Die neumodischen Schönheitstrends sind mir mittlerweile selbst unheimlich. Meine Freundin hat sich ihre Augenfarbe durch einen Prozess, der sich genetic engineering nennt, ändern lassen. Nun beklagt die sich über leichte Kopfschmerzen und starke Lichtempfindlichkeit. Vielleicht sind es ja nur die Nachwirkungen der OP und der Eingriff an sich ist komplett ungefährlich, wie von den Medien proklamiert wird. Wie dem auch sei, der neue Biodatenchip, den ich nun seit geraumer Zeit in mir trage, verbessert meine Reaktionen und Fähigkeiten ungemein. Ich kann mir komplizierte Sachlagen besser merken und bin alles in Allem sportlicher geworden, ohne dass ich trainiert hätte. Wenn man genauer darüber nachdenkt, bemerkt man, dass der Chip langsam meinen Körper übernimmt. Auch wenn heutzutage eigentlich jeder einen 62 solchen Chip besitzt, fürchte ich mich doch immer wieder vor den Risiken dieser Technologie. Vor kurzem kam sogar in den Nachrichten, dass Unbekannte Zugang zu Bankkonten und persönlichen Daten von über 100 Biodatenchip-Trägern entwendet haben. Wäre es so nicht auch möglich, meine individuellen Bewegungen fernzusteuern oder gar zu lähmen? Wäre ich für so eine Person denn überhaupt mehr als ein ferngesteuertes Spielzeug? Wie viel Mensch steckt noch in mir? Wie viel von mir bin noch ich? 19. Dezember 2036 Gestern ist das passiert, was ich schon vorausgesagt habe. Mithilfe eines modernen Virus hat es ein terroristisches Hackerkollektiv geschafft, über die Schnittstelle des Biodatenchips alle Träger des Chips in einem Vorort von Ankara vollständig lahmzulegen. Über ihre Motive wird noch spekuliert, es wird aber angenommen, dass es den Gegnern der technologischen Modifizierung des menschlichen Körpers angehört. Das Kollektiv hat angekündigt, ähnliche Anschläge überall auf der Welt durchzuführen. Sollte dem wirklich so sein, werden sicher viele Menschen Bedenken gegen die sogenannte Augmentierung äußern und sich der Widerstandsbewegung anschließen. Ich für meinen Teil finde die Beweggründe dieser Gruppierung durchaus nachvollziehbar und habe ja auch selbst schon früh Bedenken gegen diese Technologie gehabt. Da ich an meiner Arbeitsstelle aber vollständig auf den Chip angewiesen bin, hoffe ich, dass dieser Konflikt nicht weiter eskaliert. Außerdem wäre es peinlich, immer wieder Schlüssel und Geldbeutel dabei haben zu müssen. Zudem habe ich Angst davor, so zu enden wie ein ehemaliger Freund von mir, der sich von Anfang an geweigert hat, sich zu augmentieren und es so für ihn nicht möglich war, den meisten Freizeitbeschäftigungen nachzugehen, wie wir es konnten. Er ist ja nicht einmal dauerhaft erreichbar. Ist so ein Leben überhaupt noch lebenswert? 4.August 2042 35. Juli 2042 Liebes Tagebuch, so leid es mir auch tut, wird dies mein letzter Tagebucheintrag sein. Da ich mir alles selbst merken kann, sehe ich traurigerweise keinen sinnvollen Nutzen, weitere Einträge zu 63 schreiben. Außerdem gibt es kaum mehr Hefte und Papier zu kaufen. Es ist schon erstaunlich, wie sich der Versuch die Menschheit perfekt zu machen, auch zur Selbstzerstörung entwickeln kann. Unsere Eigenschaften variieren von Mensch zu Mensch und keiner von ihnen ist sich seiner Eigenarten bewusst. Die heutige Gesellschaft grenzt die aus, die das Ideal nicht verkörpern. Wie konnte sich die Welt, in der ich mich so wohl gefühlt habe, so drastisch verändern? Wie viel Mensch steckt noch in uns? Apropos, heute habe ich mir präventiv Stammzellen entnehmen lassen. Die Weiterentwicklung in der Klontechnologie ist erstaunlich. Die heutige Medizin ist schon dazu im Stande, sowohl Glieder als auch vollständig funktionierende Organe zu züchten. Das Klonen von Menschen ist bereits möglich, jedoch wird es ausschließlich für militärische Zwecke praktiziert. Keinem ist bewusst, wann es für Jedermann ermöglicht wird, sich selbst zu duplizieren. Konkurrieren wir damit nicht bereits mit Gott? Wir erschaffen Leben verändern und verbessern es. Vielleicht auch nicht, denn Gott gibt es ja nur einmal. Wie du schon gesehen hast, habe ich mich immer noch nicht an die verlängerten Monate gewöhnt. Durch unsere verbesserte Leistungsfähigkeit wurde das Zeitmodul dementsprechend angepasst. Wie sich das Ganze wohl noch für die nächsten Generationen verändern wird, will und kann ich mir gar nicht vorstellen. Laut Wissenschaftlern ist die Unsterblichkeit nicht mehr weit entfernt, aber was tun wir damit unserer jetzt schon geschädigten Erde an? 64 DIE „TIERE OHNE GRENZEN“-SHOW von Eva Mlčochová Der Moderator: Liebe Zuschauer, liebe Zuschauerinnen, herzlich willkommen zur «Tiere ohne Grenzen»-Show! Heute haben wir eine außergewöhnliche Möglichkeit, Herr Michael zu treffen und ihm ein paar Fragen zu stellen. Herr Michael wohnt in einem Wald in Europa, in der Nähe von einer Stadt, die wir nicht nennen. Wie jeder richtige Igel hat er viele Stacheln, eine empfindliche Schnauze, vier Beine, aber noch dazu ist er sehr intelligent und will uns berichten, wie sich das Leben in der Natur in den letzten zehn Jahren verändert hat. Applaus, bitte. — Applaus — — ein dicklicher Igel, der sich aber überraschend schnell bewegt, kommt ins Studio — Der Moderator: Herr Michael, wir sind sehr froh, dass Sie heute in unserer Show sind. Michael, der Igel: Freut mich auch hier zu sein. Der Moderator: Ich habe Sie vorher schon sehr kurz unseren Zuschauern vorgestellt und ich möchte Ihnen einige Fragen stellen. Sind sie bereit? Michael, der Igel: Natürlich, deshalb bin ich doch hier. Der Moderator: Die erste Frage ist sehr einfach. Könnten sie uns erzählen, wie das Leben im Wald läuft, was sich vielleicht verändert hat und welche Beziehung Sie mit den Menschen haben. Michael, der Igel: Mein Wald war immer ein wirklich ruhiger Platz. Zum Glück ist er bis heutzutage so geblieben. Leider ist das Verhältnis zu den Menschen völlig anders. Erstens mögen sie unseren Wald nicht mehr, weil sie alles Mögliche machen, um ihn abzuholzen oder sogar ganz zu zerstören. Zweitens gibt es offensichtlich zu wenig Platz für ihren Müll, weil man oft Plastikpackungen, Metalldosen und sogar Möbel hinter einem Baumstumpf findet. Manchmal ist es zwar 65 sehr angenehm, wenn es dort noch leckere Essensreste gibt, dennoch verletzen sich ab und zu meine Freunde deswegen. Der Moderator: Ach so, essen sie wirklich manchmal die Reste von den Menschen? Michael, der Igel: Ja, manchmal kann man sogar etwas Interessantes finden, zum Beispiel diese Chips, die habe ich... — der Moderator schaut sehr erschrocken, lässt den Igel seinen Satz nicht fertig sagen und fragt teilnahmsvoll — Der Moderator: Wissen Sie überhaupt, was alles die Menschen ins Essen hineinmischen?! Michael, der Igel: Nein, nicht wirklich. Mir ist bewusst, dass dort viele chemische Stoffe sind, über diese «E» habe ich vor einiger Zeit gehört... Der Moderator: Naja, nicht nur «E». Mit einer Packung Chips kaufen sie auch Acrylamid, das sehr schädlich ist. Dazu gibt es darin noch irgendwelche Weichmacher, die auf Hormone und Leber negativ wirken. Michael, der Igel: Oh nein, wirklich ist es so? Kann ich mir dann sicher sein, dass ich mir von einem Landwirtschaftsfeld besser ernähre? In der Nähe befindet sich nämlich ein Bauernhof. Der Moderator: Es hängt davon ab, welche Bauer es besitzt. Entweder sind es Biobauern und dann ist es kein Problem, wenn sie ihre Nahrung essen. Oder es sind Bauern, die eine maximale Ernte wollen und nur an Geld denken. Die benutzen wahrscheinlich Pestizide, die Krebs verursachen. Michael, der Igel: Das ist echt seltsam. Was essen die Menschen? Wissen Sie, ich esse sogar kein Fleisch, das von ihnen bearbeitet wurde, weil ich gehört habe, dass sie die Tiere mit Antibiotika und Hormonalmedikamenten füttern. Der Moderator: Und dann wundern sie sich, dass jedes Jahr etwa 14 Millionen von ihnen an Krebs erkranken. Michael, der Igel: Einfach schrecklich... 66 — beide sehen sich traurig an und nicken mit dem Kopf — Der Moderator: Jetzt zurück zu dem Thema Wald. Man behauptet, dass es in der Natur eine gesunde Luft gibt. Sie leben im Wald, wo viele Bäume wachsen. Wie sieht es dort mit der Luftqualität aus? Michael, der Igel: Die hat sich deutlich verschlechtert. Es ist selbstverständlich, dass es die Luft beeinflusst, wenn so viel mit dem Auto gefahren wird. Schädliche Stoffe werden auch von einem Kraftwerk, beim Rauchen oder sogar beim Grillen gelöst. Ein Freund von mir hat mir erzählt, dass Schwermetalle normalerweise in der Luft schweben, leider sind sie in einer höheren Konzentration sehr gefährlich und beschädigen fast jedes Organ. Der Moderator: Ich sage Ihnen eine kurze Bemerkung zu den Rauchern: Sie bezahlen dafür. Michael, der Igel: Wirklich? Sie kaufen sich freiwillig einen Krebstumor? Und sie bezahlen dafür, dass die heutigen naturklimatischen Bedingungen sinken. Witzig. Der Moderator: Eine weitere Frage. Welche Einstellung haben Sie zu den lokalen Einwohnern? Michael, der Igel: Keine positive. Ich verstehe nicht, warum sie uns immer stören müssen. Wir haben Angst vor ihnen, sie sind einfach zu unvorsichtig und tun uns leicht weh. Die furchtbarste Erfahrung waren Kinder, die mich anfassen und mit mir spielen wollten. Damals war ich wirklich dankbar, dass ich ein Igel bin und die Stachel meinen Körper bedecken, damit sie mich nicht verletzen konnten. Der Moderator: Aber das ist doch gut, dass sie Sie Tiere mögen, oder? Michael, der Igel: Manchmal denke ich es mir auch. Aber dann sehe ich, wie rücksichtslos sie mit den Autos fahren. Ganz viele von uns sind schon deswegen gestorben, weil irgendwelcher Mensch auf einer Konferenz unbedingt um 20 Sekunden früher da sein musste. Das ist doch lächerlich. Ich weiß, dass es schwer ist, wenn wir schnell auf die Straße laufen, trotzdem könnten sie vorher nachdenken und, wenn 67 die Straße durch den Wald geht, auch langsamer fahren. Der Blick auf einen überfahrenen Marder oder Fuchs ist nichts Schönes oder Angenehmes für uns, ich wette für Sie auch nicht. Der Moderator: Darauf möchte ich auch die Antwort wissen. Wie sehen sie allgemein ihr Verhalten zur Natur? Michael, der Igel: Ich habe das Gefühl, dass die Menschen vergessen haben, welchen wichtigen Teil ihres Lebens die Natur darstellt. Meiner Meinung nach überleben sie ohne sie einfach nicht. Der Moderator: Warum denken sie es? Michael, der Igel: Wenn ein paar Pflanzen aussterben, sterben bald auch einige Tierarten aus. Und so geht es weiter und weiter, bis es nichts mehr gibt. Dann müssen sie nur künstliche Nahrung essen, bis sie nur noch daraus bestehen. Der Moderator: Wie stellen Sie sich dann ihre Zukunft vor? Michael, der Igel: Vielleicht werden sie Robotern und verlieren ihre Gefühle. Oder sie sterben zum Schluss sogar aus. Aber falls sie sich zur Natur weiter so wie bisher verhalten, sehe ich die Zukunft nur in den dunkelsten Farben. Der Moderator: Oder wir werden optimistischer und hoffen auf eine Generation, die nicht nur an sich selbst denkt, sondern auch an Natur. Michael, der Igel: Hoffentlich. Es wäre für die Menschen einfacher, wenn sie Müll trennen würden, gesünder essen würden, nicht so viel Auto fahren und sich mehr darum kümmern würden, ob sie uns und dabei eigentlich auch ihnen schaden. Wir leben doch im 21. Jahrhundert, wo alles möglich ist! Der Moderator: Das war ein schöner Gedanke zum Schluss. Die Zeit ist nämlich aus. Wir bedanken uns herzlich, dass Sie in unser Studio gekommen sind, Herr Michael. Applaus, bitte. — Applaus — 68 Michael, der Igel: Danke für die Einladung, war ganz interessant hier. Der Moderator: Auf Wiedersehen und einen schönen Tag. Michael, der Igel: Ihnen auch, auf Wiedersehen. Der Moderator: Liebes Publikum, vielleicht hat Ihnen Herr Michael die Augen geöffnet. Ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag und zum nächsten Mal besprechen wir das Thema freche Jungtiere. Ich heiße Leonard und das war unsere «Tiere ohne Grenzen»Show! — Applaus — KURZE ANLEITUNG ZUM UMGANG MIT DER NATUR von Anna Koláčková Man weiß ungefähr, wie alles begonnen hat, aber man spekuliert immer noch, wie alles einmal untergehen wird. Und das wird es, wenn wir nicht etwas dagegen machen. Die Wissenschaftler haben vor einiger Zeit erfahren, dass die Sonne wächst. Einmal wird sie so groß sein, dass sie die Erde verschluckt. Aber das liegt Millionen von Jahren in der Zukunft. Unterdessen können wir uns auf das, was uns Menschen blüht, konzentrieren. Naturschutz, Ökologie, Mülltrennung – wie hat das alles angefangen? Ich glaube, dass es wegen neuer Erkenntnisse in der Wissenschaft dazu gekommen ist. Und ich glaube auch, dass man die Probleme erst dann zu lösen anfängt, wenn sie schon existieren, und dass keiner an Prävention denkt. Oder nur in medizinischer Hinsicht. Aber warum hat man nicht früher daran gedacht, dass uns unsere eigenen Erfindungen zu Grunde richten? Ich glaube schon, irgendwer hat das gewusst oder gedacht, aber nichts gesagt, oder man hat auf nicht auf diesen Irgendwer gehört und ihn nicht beachtet. 69 Was kann man machen? • Man kann die Natur schützen, • oder man kann sie weiter zerstören. Zerstören heißt: — viele Plastik-Artikel benutzen und im Wald und überall sonst wegwerfen, — ganz viel und unnötig Auto fahren, — billiges Fleisch und die billigsten Produkte kaufen die es im Laden gibt, — nicht Müll trennen, — Müll am Waldrand absetzen. Schützen aber heißt: — Müll trennen, — nicht Müll im Freiem fortwerfen — mehr Rad fahren, Massenverkehr nutzen oder laufen, anstatt Auto zu fahren, — nicht so viele Plastiktaschen benutzen, — erneuerbare Energiequellen benutzen, — auch mal etwas teueres Fleisch kaufen und darauf achten, woher es kommt, — nicht immer das billigste Produkt im Regal kaufen. Vor allem aber sollen wir: • Mehr Phantasie einsetzen, um Lösungen zu finden, • genau überlegen, was in diesem Bereich alles möglich. 70 71 3. ZUSAMMEN LEBEN DAS HOCHHAUS EUROPA von Viktor Klochko & Anže Mediževec Wer in einem großen Haus wohnt, weiß ganz gut, wie ein solches enges Zusammenleben mit Nachbarn aussieht. Wir wissen von vielen Nachteilen, wie zum Beispiel von endlosen Streitereien mit den Nachbarn um die Aufräumung oder von unerträglichen Versammlungen. Dennoch ist das Wohnen in einem gemeinsamen Haus nicht so schrecklich und hat auch seine Vorteile. Schließlich sind die Wohnkosten für jeden Haushalt niedriger und technische Unfälle sowie sonstige Schwierigkeiten können von speziellen Diensten beseitigt werden. Natürlich, in einem eigenen Haus fühlt sich man bequemer und begegnet seinen Nachbarn nur selten. «Mein Haus – meine Burg,» sagt man in Tschechien. Hat man aber eine Burg, muss man auch damit rechnen, dass die ganze Pflege seiner Festung auf den eigenen Schultern liegt. Oder auf den eigenen Kosten. Jeder kann sich für seine Traumwohnung entscheiden. Jemand fühlt sich besser auf seinem unantastbaren Territorium, andere ziehen ein praktisches Zusammenleben vor. Am Ende des 20. Jahrhunderts ist von 12 Familien ein Haus erbaut worden. Die ersten Einwohner nannten das Haus «Die Europäische Union». Schon damals wussten sie, dass sie ein großes Hochhaus bauen sollten, damit alle Menschen, die in der Umgebung wohnen, da hinein umziehen können. Ganz am Anfang war es nötig, eine Hausordnung einzuführen. So haben die Bewohner den Hausrat, das Hausparlament, die Hauskommission und sogar den Gerichts- und Rechnungshof gegründet. Ihr Haus war das beste und das schönste in der ganzen Umgebung und das Interesse für eine Wohnung dort stieg rapid an. Viele Familien aus nahen Kleinhäusern zogen um und waren mit ihrem neuen Wohnen sehr zufrieden. Als letzte zogen die Familien ein, die früher in der Mehrheit im Ostblockhaus wohnten, aber nach seinem Zerfall kurz obdachlos wurden. 72 Schließlich wohnten im Haus 28 Familien. Laut Hausverfassung galt da kein Reziprozitätsprinzip. Jeder Haushalt trug zum gemeinsamen Unterhalt genauso viel bei, wie er konnte. Aus diesem Fonds wurde die gemeinsame Infrastruktur gewartet, aber auch finanziell schwächere Familien wurden unterstützt. Jede Familie konnte ihre Wohnung nach ihrem Wunsch einrichten, trotzdem wurden einige Dinge standardisiert, wie zum Beispiel Wasserleitungsrohre oder Elektrizitätssteuerung, damit sie einfacher bedient werden können. Das gefiel nicht jedem, aber so wurde das Wohnen im Hochhaus einfacher und allgemein wohnte man dort ganz bequem. Nun, kein Material ist ewig und nach einigen Jahren war das Haus nicht mehr so perfekt wie früher. Die Fassade war schon ein bisschen angegriffen und das Dach war ziemlich alt. Als in einem Sommer starke Regen kamen, floß das Wasser durch die Lücken hinein und überflutete die Dachwohnungen, die ganz oben waren. So ging es nicht mehr weiter, deshalb haben sich manche Bewohner darauf geeinigt, dass es nötig ist, das Haus zu reparieren. Die Idee war ganz toll, aber die Realisation war sehr schwer. Alle waren sich bewusst, dass eine Reparatur notwendig ist, aber die Hausgemeinschaft war gar nicht fähig, zu einer Übereinkunft zu kommen, wie genau das Haus repariert werden sollte. Eines Tags schaute es sich an, als ob eine Zustimmung schon am Horizont ist. Dann passierte plötzlich etwas, was niemand erwartet hat. Eine Familie hat sich entschieden wegzuziehen. Weil in allen Haushalten schon lange die demokratischen Prinzipien herrschten, stimmte die Familie, die einem der mittleren Stockwerke wohnte, darüber ab, ob sie im Haus bleiben oder das Haus verlassen sollen. Das ganze Haus war total gespannt und am nächsten Tag total schockiert – die Familie entschied ganz klar, dass sie das Haus verlassen... Auf der Hausversammlung haben sie erklärt, dass sie mit den Verhältnissen im Haus nicht mehr zufrieden sind. Sie regten sich auf, dass sie immer mehr, als alle andere, in den Fonds zahlen müssen, aber nichts zurück bekommen. Auch kamen immer wieder Besucher aus anderen Wohnungen zu ihnen, was störte. Und die Farbe der Fassade war ihrer Meinung nach total schrecklich. 73 Das Haus wurde vor vielen Jahren freiwillig gegründet, deshalb hatte niemand ihren Wegzug verhindert. Nur die Kinder waren im Haus immer glücklich und wollten nicht umziehen. Sie weinten, baten ihre Eltern, im Haus zu bleiben, aber nichts half. Der ältere Sohn hat gesagt, dass wenn er aufwächst, er ins Haus zurückkehren wird, aber das blieb immer sein Kindertraum. Eine Wohnung blieb leer. Die Nachbarn hörten keine Schritte und kein Lachen mehr daraus. 27 Familien wohnten immer noch im Haus und alles funktionierte genauso wie früher. Doch die Luft war dichter und jedem war klar, dass noch etwas passieren könnte. Niemand hat das einander laut gesagt, aber fast jede Familie begann an einem Umzug zu denken. Niemand wollte mehr gemeinsam leben. Alle träumten von ihrem eigenen Haus und die Werte, die sie vor einigen Jahren so geschätzt haben, bedeuteten für sie plötzlich nichts. Die Jahre vergingen und fast alle Familien zogen nacheinander weg. Manche kehrten in ihren Villas und Familienhäuser um, andere in Bungalows, die, die noch kein Haus hatten, stellten Zelte auf, aber niemand wollte im Haus bleiben. In dem Haus, das ihre Eltern und Großeltern erbaut hatten, das immer ein festes Fundament und gute Wände hatte und nur kleine Reparaturen brauchte, damit seine Bewohner im Frieden wohnen konnten. * Die Zeit verfloss, die Generationen wechselten sich ab und neue europäische Familien dachten langsam daran, dass es so gut wäre, zusammen in einem großen Haus zu wohnen. Sie hatten einen Plan und eine Zeichnung des eventuellen Hauses. Sie haben den Kostenvorschlag gerechnet, aber zu jenem Moment konnten sie sich solch einen teuren Bau nicht leisten. Und im Hintergrund stand die Ruine des alten Hochhauses Europa... 74 MATROSEN, KOMMUNISTEN, DIEBE, NAZIS Vorurteile in Europa von Aimee Jeluk, Mateusz Durski, Dayana Yordanova, Eduard Bausche, Mira Tara und Karla Greve Wir können heutzutage so schnell von Europa nach Amerika reisen, wie nie zuvor. Und in Europa sind die Grenzen für fast alle Europäer offen. Dennoch wissen wir so wenig über unsere unmittelbaren Nachbarn, dass wir uns immer noch auf die alten Vorurteile berufen, um uns ein Bild von ihnen zu machen. Sind wir einfach zu faul und wollen uns nicht ändern? Oder ist es nicht einfach leichter, an einer Meinung festzuhalten, als sich selber zu hinterfragen. Vorurteile werden uns in die Wiege gelegt, unsere Eltern geben sie uns schon früh mit auf den Weg. Wir bauen unsere Welt nach diesen Vorstellungen auf, denn diese Meinungen, die in der Kindheit entstehen, sind nur schwer wieder zu zerstören. Einstein hat mal gesagt, dass es leichter sei, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil. Vorurteile sind durch Ängste vor dem Fremden bestimmt und Ängste geben Menschen bekanntlich nur widerwillig ab. Doch sie schränken uns in unserer Bewegungsfreiheit ein, weil sie einen Menschen immer davor zurückhalten etwas Neues zu erleben. Wie entscheidet man sich zum Beispiel für einen Urlaubsort, wenn man bei jedem Land voreingenommen ist? Im folgenden Text versucht ein Ehepaar genau dieses Problem zu lösen. Die Frau steht in der Küche am Herd. Sie trägt ein rotes Kleid, das schon von der Sonne ausgeblichen ist. über ihrem Rock hat sie eine geblümte Schürze an, an der sie sich oft beim Kochen die Hände abwischt. Sie füllt Wasser in einen Topf, stellt ihn auf den Herd und entzündet die Gasflamme der Herdplatte. Danach beginnt sie die Tomaten zu entkernen und vierteln. Der Mann betritt die Küche, er lässt die Tür hinter sich zufallen. Seine schwarze Aktentasche legt er auf den ersten Stuhl, der seinen Weg kreuzt. Er zieht sein Jackett aus und schmeißt es über die Armlehne des Stuhls. Während er seine Hemdärmel hochkrempelt, küsst er die Frau auf die rechte Wange. 75 M: Ist das Essen schon fertig? F: ( holt einen Topf für die Tomaten aus dem Küchenschrank) Nein, das dauert noch. M: Gut, denn ich wollte sowieso noch mit dir reden. Ich hab heute mit meinem Kollegen aus der Finanzabteilung gesprochen. Weißt du, wen ich meine? Er war auch beim Grillen dabei. Hat die ganzen Steaks aufgegessen. Er und seine Familie waren im Urlaub in Bulgarien. Total billig sind die dort hingeflogen. Das Hotel soll super gewesen sein und die Strände traumhaft. Ich würde sagen, wir buchen da gleich nachher unseren Sommerurlaub. F: ( seufzt laut ) Ich will nie wieder nach Bulgarien fahren. Schon als Kind fuhr ich mit meinen Eltern dorthin und bemerkte, dass die Bulgaren sehr unhöflich waren. Man geht in ein Geschäft, sagt «Hallo» und bekommt dabei keine Antwort. Auch beim Rausgehen verabschieden sie sich nicht. Nicht nur unhöflich sind sie, sondern auch neidisch und faul. Sie wollen immer mehr haben. Moderner, berühmter oder überhaupt besser als die anderen sein. Wäre das bloß auch ohne Arbeit möglich! Dann wäre das Leben vollendet! Ihre Wünsche sind auch sehr wechselhaft, in einem Moment wollen sie zum Beispiel Geld für ein Auto sparen und morgen geben sie das Geld, das sie gespart haben, für das neuste Hoverboard aus. Deshalb kann man sich auf sie nie verlassen. In Bulgarien gibt es auch so viele Zigeuner. Leute, beschützt eure Wertsachen. Diesen Menschen sind so unpünktlich und man kann nie darauf hoffen, dass jemand rechtzeitig kommt. Hätte man mit ihnen eine Verabredung um sieben Uhr, würden sie sich mindestens um eine halbe Stunde verspäten. In Bulgarien weiß man nicht, was Gesetz bedeutet. Deshalb sind sie so nachlässig und die ausländischen Leute, die in Bulgarien Urlaub machen, meinen, dass sie dort komplett frei sind. Sie fahren nach Sunny Beach und machen, was sie wollen. Alkohol, Drogen und Partys bis zum Morgen. Du musst auf den Straßen besonders aufmerksam sein. Diese Menschen können gar nicht Auto fahren. Ich kann nicht mal verstehen, wie sie ihren Führerschein machen konnten. Frau seufzt . Sie schüttet Nudeln in das kochende Salzwasser und rührt die Tomaten im Topf um .) M: Du hast bloß immer Angst, dass dich alle Menschen beklauen. Selbst zuhause traust du dich nicht wirklich nachts auf die Straßen. Sei doch nicht immer gleich so paranoid. 76 F: (heftig) Das ist doch gar nicht wahr. Ich möchte nur nicht in so ein Dritte Welt Land fahren. Lass uns doch nach Deutschland reisen. Da ist es sicher und sauber. M: ( verdreht genervt die Augen ) In Deutschland kann man gut arbeiten, aber doch keinen Urlaub machen. Die machen ihr Leben lang doch nichts anderes. Arbeiten von morgens bis abends. Deshalb ziehen die auch immer so ein Gesicht, wie sieben Tage Regenwetter. Da würde ich mich nie trauen, einen Menschen auf der Straße nach dem Weg zu fragen. Bestenfalls ignorieren die dich dann nämlich nur. Wenn ich im Urlaub bin, möchte ich netten, freundlichen Menschen begegnen. Nicht diesen Deutschen, die dich nur abschätzig angucken. Doch wenn du dich auch ein bisschen anpassen möchtest, dann schätzen sie das gar nicht wirklich. Habe ich dir von der Deutschlandreise meines Onkels erzählt? Er hat sich extra vorbereitet und recherchiert, wie man sich in diesem Nazireich grüsst. Dann begrüsst er an seinem ersten Tag den Supermarktverkäufer. Weißt du, was der gemacht hat? Dieser kleine Idiot hat einfach die Polizei gerufen. Zwei Tage saß er in Hamburg im Gefängnis und was der dann für Unsummen zahlen musste. Außerdem musste er Mengen von Formularen ausfüllen. Diese Bürokratie in Deutschland ist echt ein Übel. Deshalb arbeiten die auch so viel, weil sich jemand um den ganzen unnötigen Papierkram kümmern muss. Andere Länder bekommen ihr Land doch auch organisiert und ersticken dabei nicht in Bergen von Akten. Wenn ich mich mein Leben lang auch nur damit beschäftigen würde, würde ich auch so humorlos werden, wie die Deutschen. Ich denke nicht, dass die je lachen in ihrem Leben. Im Urlaub möchte ich Spaß haben und nicht von diesen grimmigen Gesichtern umgeben sein. F: Natürlich haben die Deutschen Spaß. Hast du noch nie Bilder vom Oktoberfest gesehen? Die können wirklich gut feiern. M: Bloß saufen tun die und ihre Versessenheit auf diese hässlichen Lederhosen und Dirndl ist wirklich lächerlich. F: Dann lass doch nach Österreich fahren. Ich wollte schon immer einmal in den Alpen wandern gehen. M: Ich sagte doch, dass ich nicht nach Deutschland will. Nein, Deutschland ist langweilig, da muss ich nicht hinfahren. Lass uns lieber in ein interessantes, unbekanntes Land fahren. Wie wäre es mit Rumänien. Dann könnten wir nach Sinaia fahren, 77 ich habe gehört, dass man dort vieles besuchen kann. Dort ist der schönste Garten der Karpaten. F: Sinaia? Davon habe ich noch nie gehört. M: Na klar, du Ignorantin, das ist in Rumänien. F: Nach Asien willst du jetzt fahren, das liegt doch am Ende der Welt. M: Seit wann liegt Südosteuropa in Asien? F: Südosteuropa? Das ist noch schlimmer. Dort sind alle ungewaschene Zigeuner, Sklaven des Kommunismus. M: Es gibt dort keine Kommunisten mehr seit 1989, das habe ich schon überprüft. F: Dann bedeutet das, dass die Zigeuner jetzt die Macht haben. Soll ich vielleicht entführt werden, in ein stinkendes Zelt gebracht und Mutter von 17 Zigeunerkindern werden? Sie sind doch unverschämte Diebe, ich will mit dem Auto zurückfahren, nicht auf einem Esel dieser Höhlenmenschen. M: Mit dem Auto kann man durch Rumänien sowieso nicht fahren, sie haben keine Autobahnen. F: Und dann willst du mich auf dem Rücken tragen, weil sie zu faul und arm sind, ein richtiges Land zu sein? Bitte, ich will nicht im Land dieser dreckigen, unzivilisierten, dicken Raben Urlaub machen. ( Frau stellt energisch das Essen auf den Tisch und beginn lustlos den Tisch zu decken .) Wieso können wir nicht in ein ordentliches Land fahren, wie meine Schwester? Die war mit ihrer Familie in Frankreich. M: Nein, wir können nicht nach Frankreich, ich kann doch kein Französisch. Mit Englisch kommst du da wirklich nicht weiter. Fragst du sie auf Englisch etwa, wo der Bahnhof ist, sehen sie dich nur beleidigt an und du musst schon froh sein, wenn sie dich nicht mit ihrem Baguette verprügeln. Es ist schon fast verletzend für sie, wenn man kein Französisch spricht. Außerdem sehen die alle wie Matrosen aus mit ihren albernen blau-weiß gesteiften Hemdchen. Und was hat es mit diesen roten Halstüchern auf sich? Haben die dort immer Halsschmerzen, oder was? F: Die laufen dort doch nicht alle so rum. ( Frau und Mann setzen sich an den Tisch. Mann beginnt Nudeln auf seinen Teller zu schaufeln .) M: Dafür stinken die Franzosen. Glauben nur weil sie so tolle und teure Parfums haben, müssen sie sich nicht duschen. F: Aber alle schwärmen doch immer so von der französischen Küche. 78 M: Das Essen? Diese eingebildeten Franzosen essen Froschschenkel und Schnecken! Nein danke, darauf kann ich wirklich verzichten. Weißt du, wer wirklich gutes Essen hat? Die Italiener. Pizza und Pasta könnte ich den ganzen Tag essen. F: Auf diese Italiener, diese Spagettifresser, kann man sich nicht verlassen. Wer weiß, sie könnten zu der italienischen Mafia gehören. Anders gesagt: Erzähle keinem Italiener, dass ich ihn Spagettifresser genannt habe. Was für ein lautes Volk die auch sind. Die ganze Nacht diese dröhnende Musik kann ich nicht ertragen und sie schalten die nie aus. Wer könnte bei diesen Geräuschen genug Schlaf bekommen? Nicht nur die Musik, auch dieses unendliche Streiten und Gekeife. Das klingt für mich nur so: «Si! No! Spagetti! Finito! Mammamia! Cabonara!» Ein guter Italiener, der wirklich Auto fahren kann, ist selten zu treffen. Rote Ampeln werden immer ignoriert. Und dann diese italienischen Männer, die leben mit dreißig immer noch bei ihren Eltern und machen trotzdem auf dicke Hose. Von Mutti werden sie täglich verwöhnt und umsorgt. Die können doch nicht eigenständig denken. M: Du hast nun wirklich gegen jedes Land etwas einzuwenden. Nichts und Niemand ist gut genug für dich. F: Und was ist mit Polen? Dagegen habe ich nichts einzuwenden. M: Auf keinen Fall. Ich will nicht zu diesen kommunistischen, zurückgebliebenen Bauerntrotteln. Alles was die den ganzen Tag lang machen ist Wodka trinken. Anstatt einer Tasse Kaffee, trinken die Polen ein Glas puren Wodka zum Frühstück und dann noch eins darauf, um überhaupt für ihren schlecht bezahlten Job arbeiten zu können. Aber ich kann sie verstehen, denn sie müssen in einer Doppelschicht arbeiten, um die Schönheitsoperationen für ihre hässlichen Frauen bezahlen zu können. Wenn sie sich etwas nicht leisten können, dann stehlen sie es einfach oder verkaufen gestohlene Sachen auf dem Schwarzmarkt. Man erzählt doch diesen Witz nicht ohne Grund. F: Welchen Witz meinst du? M: Kaum gestohlen, schon in Polen. Wenn ich Ferien habe, möchte ich mich entspannen und nicht ständig nachschauen, ob ich noch Alles in meinen Taschen habe. F: Es gibt überall Diebe, egal wo du hingehst. M: Ja, aber in Polen könnte dich sogar eine alte Frau beklauen. Das liegt einfach in ihrer Natur. Wo wir gerade über die 79 Natur reden, weist du wie kalt es dort ist? F: So wie in fast jedem europäischen Land. M: Nein! Dort könnten sogar Eisbären rumlaufen! Wenn du deine Ferien damit verbringen willst, mit Pinguinen zu tanzen, dann können wir gerne nach Polen fahren. F: Ach du spinnst doch, es gibt keine Pinguine in Polen. Die sind dort doch schon längst ausgestorben. M: Sie machen überall Unordnung und hinterlassen Dreck. F: So wie du. M: Ja, aber dort muss es wie auf einer Müllhalde aussehen. F: Aber möchtest du nicht eine andere Kultur kennenlernen und neue Sachen sehen und ausprobieren? So wie das Essen dort? M: Das Essen dort ist so schwer und fettig, das ist nicht gut für meinen Cholesterinspiegel. Ich bin immerhin schon 27 und muss auf meine Gesundheit achten. Der Mensch lebt nicht so lange. F: Jetzt übertreibe nicht so, du magst doch auch fettiges Essen. M: Ja, aber ich würde nie das Verdauungssystem einer Kuh essen. Das ist widerlich. Sie sind verrückte Barbaren, denn sie essen Suppe aus Blut wie die Vampire. F: Na gut, mein letztes Argument ist, dass die Polen wissen, wie man feiert und du liebst doch Partys. M: Leider kann man nachts aber nicht ausgehen, weil es viel zu gefährlich ist. Dort gibt es Hooligans wie Sand am Meer, die nur darauf warten, dir eine reinzuhauen. F: Weißt du was? Dann fahren wir überhaupt nicht in den Urlaub und bleiben hier, wie jedes Jahr. ( Frau verdreht die Augen. Sie fängt an den Tisch abzuräumen .) M: Lass uns später darüber reden und erst die Nachrichten gucken. Sie schalten den Fernseher an und setzen sich nebeneinander. Kurz vor den Nachrichten läuft noch das Ende einer Comedy Show, in der der Komödiant sich über das Land, in dem die Frau und der Mann leben, lustig macht. Er gibt sarkastische Kommentare von sich und kritisiert die Menschen wegen ihres Benehmens und ihrer Mentalität. Das Ehepaar findet die Kommentare überhaupt nicht witzig und ist empört. Nachdem die Show vorbei ist, gucken die beiden sich an und sagen gleichzeitig: Das stimmt doch alles gar nicht! 80 Das Ehepaar lebt eingeschlossen in ihrem eigenen Land und in ihren kleinlichen Vorurteilen. Sie glauben lieber all den blind nacherzählten Wahrheiten, als sich von der Wirklichkeit überraschen zu lassen. Der Mann und die Frau sind ein gutes Beispiel für intolerante Menschen, die sich von ihrer Angst vor dem Fremden beherrschen lassen. Vorurteile sind alltäglich und bei jedem Menschen im Unterbewusstsein vorhanden. Wir treffen schon ein Urteil über einen Menschen bevor wir das erste Wort mit ihm gewechselt haben, weil wir ein Bild in unserem Kopf haben, das wir wie eine Schablone für jeden Menschen benutzen. Vorurteile können wir daher nie ganz ablegen. Doch Vorurteile behindern uns und verhindern, dass wir jeden Menschen unvoreingenommen betrachten. Daher müssen wir anfangen, richtig mit Vorurteilen umzugehen und toleranter gegenüber Unbekanntem zu sein. Vorurteile sollten man zudem nie zu ernst nehmen, weil sie aus Unwissenheit entstehen und nicht immer aus böser Absicht. Man muss auch über die Gerüchte um die eigene Nation lachen können. DAS PARFÜM Ein Stück von Diana Dehelean, Johanna Schabik, Maria Gazarjan und Gabriela Kostadinova Spielort: 4-er Zimmer von deutscher, französischer, polnischer und italienischer Teilnehmerin während einer Projektphase Personen: 1 Deutsche, 1 Französin, 1 Polin, 1 Italienerin Die Deutsche und die Französin im Zimmer. Beide sind mit Eingewöhnen und Auspacken beschäftigt. Deutsche irritiert und herumsuchend, zu sich sprechend: Mann, wo ist denn mein Parfüm hingekommen? Ich habe es doch dort in den Schrank gestellt. Das kann doch nicht sein...Mist, Mist, Mist, wo kann ich es nur hingetan haben? Hat es vielleicht F genommen? Schließlich war es ziemlich teuer... Ich kenne sie ja gar nicht, warum soll ich ihr trauen... Ich hätte es einschließen sollen... Ich frag am besten mal... Sag mal, hast du mein Parfüm irgendwo gesehen? Und mein Make-up fehlt auch irgendwie... Französin: Dein Parfüm? Was hast du denn für eines? Schau 81 doch mal im Badezimmer nach. Vielleicht hast du es dort vergessen... D geht ins Badezimmmer und schaut hektisch nach D: Nein, da ist es nicht. Ich weiß doch ganz genau, dass ich es dort in den Schrank gestellt habe. Kann es vielleicht sein, dass du es versehentlich genommen hast? F: Nein, isch habe mein eigenes. Isch brauch kein deutschen Krimskrams... Ihr habt sowieso kein Gespür für Stil und Mode... In Frankreich wir haben Düfte exclusive und dort wird Parfüm kreiert traditionale... D: Pphh... Du spinnst doch! Wenn französicher Stil noch schön sein soll...Das ist zu viel Exklusivität und Eleganz...Ihr zieht doch ständig diese schweren Duftwolken hinter euch her, und dann das ewige Küsschen, Küsschen, sobald ihr jemanden seht...Das ist doch alles übertrieben!!! Ihr lebt nur im Oh und ah und trallalalalalah... F: Du bist doch nur neidisch, dass ihr in Deutschland nichts zur Schau stellen könnt und euch der gout luxurieux fehlt...Und wenn ihr einander auf der Straße ignoriert und nur sagt ’Allo’dann finde isch das traurig... D: Aha, und du kommst immer zu spät, weil du ständig im Mittelpunkt stehen musst. Reichen dir deine ach so luxuriösen Klamotten nicht? Wir haben eben nicht so ein Geltungsbedürfnis...Ich kann mich auch so mit Freunden verabreden, ohne es jeden auf der Straße wissen zu lassen..das ist doch nervig... F: Isch brauche keine Aufmerksamkeit...Wenn du disch minderwertig fühlst, brauchst du nicht so eine spectacle zu spielen... D: Das glaubst auch nur du! Ich soll mich weniger als du fühlen? Das ist doch nur eine Masche von dir, um dein schlechtes Gefühl zu überspielen und zu vertuschen, mein Parfüm in Wahrheit doch genommen zu haben! F: Wie oft soll isch dir noch sagen, dass isch von deutscher Mode nischts halte? Wenn du ein schlechtes Gewissen hast, weil du meine Magazine Voque mit einem Croissant darauf genommen hast, musst du disch nicht so verhalten... Bin dir nischt böse, wenn du es gestehst. Kann verstehen, dass es dir gefällt, wenn ihr so etwas nischt habt. Du kannst es ruhig sagen... D: Ich glaub es nicht!!! Das reicht!! Jetzt beschuldigst du 82 mich auch noch, französisches Schickimicki und Essen zu stehlen!! Nicht zu fassen!!!! Sie steht auf und rauft sich mit Fingern durch die Haare, dabei erblickt sie Modemagazin und Croissant im Mülleimer D verächtlich lachend: Ist das vielleicht das hier im Müll?? F herüberschauend: Wer schmeißt meine Sachen denn einfach weg, als wäre es dechètes? Polin schaltet sich ein und kommt dazu: Ich dachte vorhin, ich schaffe etwas Ordnung in diesem Chaos, räume auf und mache sauber. Ich bin davon ausgegangen, du brauchst es nicht mehr, tut mir leid! F etwas verwundert und baff D: Hör zu, wir haben schon genug Putzfrauen aus dem Osten und wo wir unsere Sachen hinlegen, das geht dich nichts an! Du kannst doch nicht einfach nehmen und verschachern, von dem du denkst, dass es nicht mehr gebraucht wird. Ihr Polen reißt euch ja sowieso alles unter den Nagel! Schmuggelt Autos aus Deutschland und verkauft sie teuer in Polen! Hast du auch vor, dort mein Parfüm zu versteigern, das dort so offen und unordentlich im Schrank stand? (zur Schranknische zeigend) P gekränkt und etwas irritiert: Das ist nicht wahr, du verallgemeinerst! Wir sind nicht alle so! Nur weil es manche Polen tun, heißt es nicht, dass wir alle so sind! D genervt: Aber die meisten! Irgendetwas muss an diesem Ruf schließlich dran sein, sonst gäbe es ihn nicht! P: Du bist wirklich gemein! Merkst du nicht, dass das verletzt? Seid ihr Deutschen immer so kaltherzig und wenig einfühlsam? Geht ihr immer so grob und abweisend mit einem um und richtet euch nach Vorurteilen? Ich habe nur guten Willen gezeigt und aufgeräumt! F: Das finde isch auch! Mit Deutschen kann man nicht kommunizieren! Entweder schweigen sie, sind verschlossen, in sich gekehrt und spreschen ihre Gefühle nicht aus oder sie schmeißen mit Vorurteilen um sich und beschweren sisch überall!! Lachen und lustisch sein mit Umor können sie nur unter engen Freunden! D wütend und aufgebracht: Denen kann ich wenigstens vertrauen, das sind wahre Freunde! Sie sind wenigstens ehrlich zu mir und unterstützen mich!! Aber hier gibt ja niemand zu, dass er mein Parfüm gestohlen hat!! Ihr seid alle nur so 83 oberflächlich und lebt so ganz unbeschwert, alles locker auf die Schulter nehmend ohne Ernsthaftigkeit dahinter... Italienerin stürmt herein, reißt die Türe mit Schwung auf und rempelt die drei an. F: Pass doch auf, wo du hinrennst! Hast du keine Augen in Kopf? I: Scusa, Scusa,...bin in Eile, aber ist doch nichts passiert! Niente! Seid doch mal locker!! D: Das sind gerade die richtigen Worte!! I: Was ist denn hier los?? Habt ihr ein Problemo? D übergenervt: Ich halte es nicht mehr aus!! Kleb dir doch gleich ne Hupe an die Stirn, damit du überall tuten kannst mit deinem Matchogehabe, und jeden anrempelst. Ich suche immer noch mein Parfüm, das einer hier im Raum gestohlen hat!!!! Wenn ihr Italiener euch schon nicht an Regeln halten könnt und jedes Limit, egal ob Geschwindigkeit, Lärm oder Temperament überschreitet, dann vergreifst du dich vielleicht genauso an fremdem Eigentum!! Gibs doch zu!! I: Was ist eigentlich mit dir los, was soll ich zugeben? Was habe ich dir getan? Ich verstehe niente! Eigentum?? P: Genau! Wieso sollten wir etwas zugeben, das wir nicht getan haben? Ehrlichkeit ist für uns sehr wichtig in Polen! Die meisten von uns sind sehr gläubig. Wir pflegen auch unseren Glauben und Kult und halten an Traditionen fest. Ich habe gehört, in Deutschland gibt es nicht mehr viel Tradition und richtige Familienfeiern spielen für euch auch keine Rolle. Daher traust du wohl niemandem und bist keine Gemeinschaft gewohnt! D: Klar haben wir Tradition! Wir tragen z.B. immer noch Dirndl und Lederhosen und Fest- sowie Geburtstage werden auch gefeiert! Ihr sauft euch doch sowieso nur mit eurem Vodka voll! P: Bei uns gibt es noch einen tieferen Wert; Respekt, Vertrauen und Glauben! F: Klingt abergläubisch für misch! Aber was macht ihr Deutschen auf dem Oktoberfest? Es besteht doch ausch nur aus Biertrinken mit Schweinshaxen und Brezeln in Festzelten und komischer Musik! Rummel und Vergnügen! Wir haben etwas eleganteres Leben! Exclusivere Mode...Genießen unseren Wein mit längeren Menüs und unterhalten uns sehr, sehr viel! P lacht: Die ewigen Gänge, nach denen man immer noch 84 Hunger hat? I: Also bei uns ist jeder satt! Meine Mama macht die besten Pizze und Spaghetti der Welt! Ich liebe sie dafür!! F: Das ist für mich nischts, sich nur voll zu essen und Tarantella tanzen, den halben Tag bei Siesta zu verschlafen und bis 30 im Hotel Mamma zu leben... Wir sind sehr schnell selbstständig, meine beiden Eltern sind berufstätisch, und obwohl wir den ganzen Tag in le collège gehen, haben wir nosch Familienleben! I: Willst du damit sagen, dass wir Italiener faul sind, nur weil wir gutes Essen und dolce far niente haben? Wir wissen wenigstens, wie man feiert mit guter Musik! Von französischen Chansons bekomme ich Kopfschmerzen, und die ganze Zeit euer Gelalle von le/la/les...singt ihr den ganzen Tag?! Das Handy von D klingelt...D kramt es aus der Tasche und geht ran... D: Ich muss mal kurz...Oh da ist ja mein Parfüm, da hab ich es gestern wohl vergessen rauszunehmen...Okay, okay,...das tut mir leid...Das war alles ein Missverständnis...ich habe zu vorschnell reagiert...Sorry, dass ich euch alle beleidigt habe, ich nehme das wieder zurück...war wohl wirklich nicht mein Tag... Ich hoffe, ihr verzeiht mir... I: Jetzt verstehe ich gar nichts mehr..!! P: Siehst du, wir Polen sind eben nicht alle so...Ich verzeihe dir, aber denke das nächste Mal erst nach, was du sagst, und wirf nicht mit Vorurteilen um dich... F: Genau, und was du zu französischem gout und Stil meintest, auch. Ihr anderen aber genauso. La france, ma pays d’amour!!! D: Ja, das ist mir wirklich unangenehm!! I humorvoll: Si, si P: Vergeben! F: Kommt alle her, lasst uns aben ein Embrassement!!! D verlegen: Typisch, aber okay!... schmunzelt Alle vier umarmen sich P: Ich schlage vor, wir machen einen gemeinsamen europäischen Abend mit Wein, Bier, Vodka, Pizza und allem, was für unsere Länder typisch ist und tauschen uns aus, um unsere Vorurteile abzubauen und uns besser kennenzulernen! F: Eine gute Idee! Alle: Ja! 85 DIE KOMMUNIKATION ALS BRÜCKE ZWISCHEN DEN MENSCHEN von Regina Rózsahegyi, Saner Sadak und Ivan Ivanov Die Kommunikation ist ein sehr wichtiger und komplexer Begriff in unserem Leben. Sie verändert sich ständig, weil wir im digitalen Zeitalter leben. Die heutige Kommunikation läuft öfter auf schriftlichem Weg. Es wird oft statt dem persönlichen Kontakt eine virtuelle Kommunikation gewählt. Ein einfaches Beispiel dafür ist, dass es viel gechattet wird. Anstatt miteinander zu kommunizieren bevorzugen es die Jugendlichen, am Handy sich zu unterhalten. Sowohl die verbale als auch die nonverbale Kommunikation ist entscheidend in unserem Leben. Paul Watzlawick hat gesagt, dass man nicht nicht kommunizieren kann, weil unser Gestik und Mimik schon etwas über uns verrät. Mit den verschiedenen Mitteln der Kommunikation haben wir die Möglichkeit, uns einander näher zu bringen und Brücken zwischen Ländern zu bauen. Geht unsere Welt in die richtige Richtung? Funktioniert die Kommunikation gut in unserer Welt? Mit dem Lernen von Fremdsprachen können wir uns in verschiedenen Ländern verständigen, aber wir können auch damit die anderen Kulturen besser verständigen, was auch das Zusammenleben von Menschen buntgemischter Nationen erleichtert. Dabei sind Toleranz und Verständnis wichtig. So ist es auch bei den Gesprächen zwischen Kindern und Eltern. Manchmal fehlen entweder die richtigen Kommunikationsweisen oder die Zeit, obwohl die für eine gute Erziehung grundsätzlich wären. Die Sozialnetzwerke haben unsere Welt komplett verändert. Man soll im Internet aufpassen, dass man nicht alles glaubt, weil einige Lügen im Netz zu finden sind. Man muss kritisch bleiben und zugleich offen. Die Kommunikation für Menschen aus verschiedenen Ländern kann zu Schwierigkeiten führen. Diese Gespräche können Missverständnisse hervorrufen. Es ist interessant, dass einige Wörter, obwohl sie aus verschiedenen Sprachen kommen, ähnlich klingen, aber eine komplett andere Bedeutung haben. Wir möchten das an drei kurzen Beispielen zeigen. 86 Vater und Sohn Der Mangel an Kommunikation kann zu großen Problemen führen. Sohn: Vater, ich brauche deine Hilfe! Ich möchte etwas dich fragen. Vater: Nein, nicht jetzt, ich bin beschäftigt mit der Arbeit. Lass mich in Ruhe! Sohn: Könnten wir einmal reden? Vater: Ja, vielleicht später. Ein paar Jahre später ist der Sohn drogensüchtig geworden Sohn: Können wir sprechen, ich habe Probleme? Vater: Ich habe keine Zeit, mich mit dir zu beschäftigen! Geh mit deinen Freunden aus! Ich gebe dir 50 Euro. Hau ab, endlich! Sohn: (stumm, enttäuscht, nimmt das Geld) Im Laufe der Zeit wird der Vater krank. Vater: Kannst du mir bitte Medikamente kaufen gehen? Sohn: Nein, Vater, ich kann dir welche aus meinem Zimmer holen. Damit wird es dir besser gehen. Chat zwischen Freunden - Hallo, Maria! Ich möchte dir sagen, was es gestern geschehen ist. – Hallo, Ana! Ich höre auf dich zu. – Ich habe in Facebook das Datum meines Geburtstags verändert, um zu prüfen, wer mich wirklich kennt. – Na, und? – Meine Schwester hat mir gratuliert... – Vielleicht hat sie vergessen, wann du geboren bist. – Ich bin enttäuscht... wir sind doch Zwillinge! – Oh, das ist unerwartet! Ein Bulgare und ein Ungar in Sunny Beach, Bulgarien B: Hallo, aus welchem Land kommst du? U: Hallo, ich komme aus Ungarn. B: Aaa, Ungaria? Die ungarische Sprache gefällt mir sehr. Ich möchte Ungarisch lernen. U: Ich kann dir helfen. Welche Wörter möchtest du lernen? 87 B: Wie sagst du auf ungarisch kein Problem? U: Semmi baj. Und wie sagst du das auf bulgarisch? B: . (Njama problem) U: Ich lerne russisch und eure Sprache klingt ähnlich. B: Ja, ich kann ein bisschen die russische Sprache verstehen. U: Unsere Muttersprachen sind schwer zu lernen. B: Ja, Englisch ist viel einfacher. U: Weiss du, dass es viele ähnliche Wörter in unseren Muttersprachen gibt? B: Ja, zum Beispiel sapka bedeutet auf bulgarisch und ungarisch Hut oder Kappe. U: Ich habe gehört, dass kerek bei euch Reifen bedeutet, bei uns sagt man das für jemand, der Pech hat. B: Dann bin ich ja ein kerek, wenn ich zum Meer gehe und das Wetter wieder schlecht ist. U: Ich mag Bulgarien und Sunny Beach. Wird das Wetter morgen schön? B: Ja, aber es gibt so viele... oblak. U: Was? Ablak? Fenster? B: Nein, nein. Ooooblak – Bei uns bedeutet es Wolke. U: Ah, interessant. B: Und was sind deine Lieblingstiere? U: Beka und Kutya. B: Bank und Schachtel – das sind doch keine Tiere! U: Nein, auf ungarisch heißt das Frosch und Hund. B: Jetzt habe ich begriffen, dass es solche Wörter gibt, die einen leicht konfus machen können. U: Ja, du hast Recht. 88 REISEN BILDET oder Was einen nicht loslässt von Gabriela-Simona Mateiu Jemand meinte neulich, heute reise man frei, ungehindert und unbeschwert durch Europa. Mag sein, aber das betrifft nicht diejenigen, die von dem Schatten unangenehmer Erfahrungen verfolgt werden. Vor 1989 kamen für die Rumänen Auslandsreisen nur für Begnadete des Schicksals in Frage. Und fast nur in die Ostblockstaaten. Wer in den Westen durfte, der musste schon wer sein. Unmittelbar nach der Wende hat sich das geändert. Man durfte reisen, aber um den Preis welcher Erniedrigungen! Bei der Ausreise wurde einem an der rumänischen Grenze das gesamte Gepäck durchwühlt. Warum? Weil uns selbst im eigenen Land und nicht nur der Verdacht des Gesetzeswidrigen, des Illegalen, des Verbrechens und Schmuggels anhaftete. Gewiss gab es Leute, auf die das zutraf. Und es gibt sie auch heute noch überall. Aber deretwegen beim rumänisch-ungarischen Zoll das gesamte Gepäck öffnen und manchmal auch auspacken müssen, das nahm und nimmt einem die Würde. Man ist mit 20 Minderjährigen für 14 Tage unterwegs. Die Ausreisepapiere für die Gruppe sprechen von einem Sokrates-Projekt. Gepäck aus dem Bus raus, etwa hundert Meter tragen, öffnen, durchwühlen lassen, Koffer wieder schließen so gut es geht, zurücktragen. «Warum, Frau Lehrerin? Wir sind doch Kinder! Stimmt. Reisen bildet und prägt. Das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein, die Meinung, den Charakter. Wenn wir ein paar gute Jahre nach der Wende mit dem Wagen unterwegs waren, wurde uns, den Rumänen, im östlichen Ungarn aufgelauert. Wörtlich. Die heutige Autobahn zur Grenze gab es noch nicht. Hinter Kurven und in Waldlichtungen warteten allerlei Kontrollen auf uns. Rumänische Wagen wurden durch und durch kontrolliert, selbst die Arzneimittel im Erste-Hilfe-Täschchen wurden auf das Verfallsdatum hin überprüft. Es war kein Vergnügen zuzusehen, wie die ANDEREN ungestört vorbeifuhren. Auch solche Erfahrungen prägen einen und hinterlassen eine gewisse Furcht. Zollbeamte und Grenzpolizei – extrem gut situierte Mitbürger 89 in Rumänien. Früher und heute. Wieso? Eine indirekte Antwort aus den Medien der letzten Woche: An der rumänischen Grenze zu Serbien wird derzeit ein europaweit einzigartiges Experiment durchgeführt, das der Korruption in diesem Bereich Einhalt gebieten soll. Die Passkontrolle soll elektronisch erfolgen, durch Auflegen des Passes oder Ausweises, ohne unmittelbaren Kontakt zwischen dem Reisenden und den Grenzangestellten. Auch wenn man sich mit bestem Gewissen dem Grenzübergang näherte und das Land als unbeschwerter Tourist verlassen wollte, konnte man sein blaues Wunder erleben und nicht durchgelassen werden. Weil der Grenzbeamte das so wollte in der Meinung, dass es demjenigen, der im Urlaub ins Ausland fährt, zu gut geht und er ihm, dem Beamten, doch auch was zustecken könnte. Auch diese Befürchtung und Einschüchterung beim Passieren der Grenze hat Spuren hinterlassen. Will man auch heute noch mit einer x-beliebigen Reisegesellschaft das Land verlassen, wird man kurz vor der Grenze darauf angesprochen, ob man Verbotenes oder unerlaubte Mengen mit sich führe. Der nächste Schritt: Man möge je 2 Euro pro Person sammeln, um die Ausreise zu erleichtern, im Klartext, um der Gepäckkontrolle zu entkommen, lautet die Durchsage des Fahrers oder Reisebegleiters. Die meisten leisten dieser Aufforderung Folge. Schon zweimal im letzten Jahr habe ich das verweigert, als ich mit Schülern unterwegs war. «Frau Lehrerin, die lehren und ermutigen uns, die Korruption zu unterstützen!» Und damit meine ich gesagt zu haben, worin das Gefühl der Unfreiheit weiterhin besteht: in dem Herzklopfen, wenn man sich der Grenze nähert, in dem Unbehagen gegenüber den Grenzangestellten. In dem Weiterwirken der Angst, dass die Laster der Vergangenheit in Einzelfällen weiterleben. In der Furcht vor den Schatten einer nicht allzu weit zurückliegenden Vergangenheit. In den Beweisen, dass nicht alle das Europa von heute verstanden haben. In den Vorurteilen von Innen und von Außen den Rumänen gegenüber. 90 WIE ES IST, ANDERS ZU SEIN von Bernadette Sarman Heutzutage ist es normal geworden, mehrere Sprachen zu können, in einer Familie mit Migrationshintergrund zu leben und als Tourist ins Ausland zu reisen. Aber weshalb, um Gottes willen, gibt es dann trotz allem solche Vorurteile gegenüber Ausländer? Das frage ich mich schon seit klein auf und bin bis zum heutigen Tag immer noch der Meinung, dass alle einfach Angst vor Neuem und Unbekanntem haben. Und dabei reden wir von Pionieren und Abenteuerlust. Wir sind alle Menschen, ist das nicht das Wichtigste? Alle, die hören, dass ich «Halbblut» bin, finden es cool, kulturelle Verschiedenheiten von einer Ebene aus zu betrachten, vom Essen ganz zu schweigen, eine zweite Muttersprache zu haben, andere Leute zu kennen und so weiter. Und ich liebe es auch, ich liebe meine Wurzeln. Umso seltsamer ist es, in beiden Ländern Ausländerin zu sein. In Europa Ausländerin sein. In Asien Ausländerin sein. Nirgendwo nicht mit seltsamen Blicken bedacht. Habe ich etwas im Gesicht? Ständig mit der vorgehaltenen Hand hinter tuschelnden Stimmen rechnen zu müssen. Blicke, die einen eine Millisekunde zu lange anstarren. Ab und zu von Klassenkameraden veräppelt zu werden für sein zweites Land, sein Aussehen. Oh Gott, das Aussehen. Wie mich unwissende Nichtasiaten einfach mit einem beliebig dahergelaufenen Chinesen vergleichen und sagen «Oh hey, schau mal, der sieht aus wie du!», wo ich erstens dem weiblichen Geschlecht angehöre und zweitens meine Wurzeln nicht aus China stammen. Und zur Information: ich bin auch Europäerin. Also wäre es freundlich, mich nicht als Schlitzauge abzustempeln und mich als eine von euch zu sehen. Das erste, was ich zu hören bekomme, nach dem ich auf die Frage, aus welchem Land ich stamme, mit Österreich und Japan antworte, ist in 90% der Fälle «Cool. (Schweigen) Also kannst du Japanisch?». Meistens komme ich mit der Person so ins Gespräch, weil sich im 21.Jahrhundert sehr viele «oh-mein-Gott-Japan-ist-so-kawaii»-Mädchen für das Land interessieren, beziehungsweise für Animes und Mangas, wofür ich nicht ganz die Obsession besitze, die man mir als Halbjapanerin zutrauen könnte. Wenn ich auf ein 91 Manga-Mädchen (meistens sind es Mädchen, Jungs sind eher selten) treffe und sie mir Löcher in den Bauch bohren will, kann ich nur abwehrend die Arme heben und mich dafür entschuldigen, dass ich nicht alle Animes/Mangas kenne. Darauf bekomme ich eine Antwort, die ich schon sehr, sehr, sehr oft gehört habe (wenn ich jedes Mal für diesen Satz Geld bekommen würde, wäre ich schon reich) und es ist immer dieselbe: «Was bist du für eine Japanerin?!» Wow, okay, sorry, nobody is perfect. Und außerdem bin ich Halb. Bei einigen wenigen Animes kann ich jedoch mitreden, aber nur, weil ich mir vorgenommen habe, mein Japanisch aufzubessern und somit Serien in der Originalsprache ansehe. Aber das war’s auch schon. Mein Japanisch ist nicht das Beste, mir wurde vor kurzem sogar gesagt, ich hätte einen totalen Akzent bekommen, weshalb seither nur wenige japanische Wörter meinen Mund verlassen haben. In Japan merkt man sowieso, dass ich in einem anderen Land aufgewachsen bin und das liegt nicht nur an meiner Aussprache, sondern hauptsächlich an meinem Aussehen. Dort bin ich für mein Alter größer, wo ich doch in Österreich als eine der Kleinsten in der Klasse angesehen werde. Meine Augen werden in Japan für ihre Größe bewundert, doch hier sind meine Augen klein und werden –Gott sei Dank!- selten als Schlitze bezeichnet, was ich trotzdem als eine Frechheit aufnehme. Die Person sollte darauf vorbereitet sein, dass sie nicht mehr in meiner Gunst steht und ich jeglichen Respekt für sie verloren habe. Oder ist es normal geworden, dass man Beleidigungen einfach akzeptiert? Bei mir auf jeden Fall nicht. Es gibt natürlich auch noch andere Halbösterreicher/ Halbjapaner, die sich in einer ähnlichen Situation wie ich befinden und im Moment, wo man denkt, das ist eine Person, die mir sehr ähnlich ist, höre ich von ihr etwa Sätze wie «Dein Japanisch ist wirklich, wirklich schlecht» und meine Hoffnung, Bänder zwischen anderen «Halbblütern» zu knüpfen, zerplatzt. Das ist nicht wirklich angenehm. Meine beiden Nationalitäten bedeuten mir viel, sie sind ja praktisch das, was mich ausmacht. Es gibt einige Vorteile und Momente, wo man sich bewusst wird, dass es doch toll ist, zwei Nationalitäten zu haben und stolz darauf ist. Dann ist mir egal, was andere denken oder tuscheln, ich bin froh, ein wenig anders zu sein. Aber das ist nicht sehr oft und ich denke, dass es in einer Zeit, in der ich mich gerade befinde 92 (auch anders bekannt für Pubertät) sehr mit meiner Identität zusammenhängt und auf die Frage, wer ich eigentlich bin. Und im Endeffekt sind wir doch alle Menschen und nur das sollte zählen. ARMUT IN DER NACHBARSCHAFT von Klaudia Bányai und Jacqueline Kohl Jugendliche in Europa wachsen unterschiedlich auf. Die Armut stellt ein Problem für viele Menschen in der Gesellschaft dar. Es ist bekannt, dass die wirtschaftliche und soziale Situation in den Ländern der EU unterschiedlich ist. Auch die Situation für Teenager ist unterschiedlich, daher haben nicht alle dieselben Möglichkeiten zu studieren, obwohl manche ein großes Potential besitzen. Wir beide haben keine absurden Vorstellungen, wir wollen nicht dass alle Jugendlichen gleich sind, aber dass alle dieselben Chancen in Bezug auf Bildung haben. Wir kommen aus Ungarn bzw. aus Rumänien. Vor allem wollen wir im Folgenden die Nachteile, die ein Mensch aus armen Verhältnissen hat (nur weil er so geboren wurde) bewusst machen. Alles hängt von der finanziellen Situation der Eltern ab. Wegen der geringen Anzahl der Arbeitsplätze können viele Eltern nicht einmal das Nötigste für ihre Kinder besorgen. Noch dazu sind leider die Schulbedingungen im Dorf schlecht, und die Kinder werden daher wenig stimuliert. Auch ihre Lehrer kümmern sich weniger, und so führt das mit der Vernachlässigung durch die Eltern zu einer bestimmten «Verdummung» der Kinder, und damit auch der Gesellschaft. Warum das ein Problem ist? Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt auf dem Lande, das beeinflusst die Entwicklung des Staates. Obwohl in unseren Ländern Schulpflicht herrscht, schicken Eltern vom Land ihre Kinder wegen der beschriebenen Probleme nicht zur Schule. Die Politiker machen wenig oder nichts dagegen, so bleiben Menschen leicht beeinflussbar. Das alles führt zur Zerstörung der Zukunft des Landes, und dazu kommt noch, dass sehr arme Menschen zum Betteln und Stehlen gezwungen sind. Im Unterschied dazu gibt es in der Stadt mehr Möglichkeiten, obwohl auch hier arme Menschen leben. Hier können gute 93 Schüler ein Studium beginnen. In der Stadt gibt es zwar mehr Arbeitsplätze, unter denen die Jugendlichen wählen können. Trotz der kritischen Situation und der globalen Krise gehen aber fast alle guten Studenten ins Ausland. So stagniert der intellektuelle und kulturelle Zustand des Staates oder sinkt sogar. Wir haben aus unserer Perspektive geschrieben, und weitere Jugendliche nach ihrer Meinung gefragt. Und zwar Jugendliche aus Rumänen, Ungarn, Bulgarien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Tschechien und Polen. Wir stellten ihnen Fragen zu den Problemen der Armut. Einige sagten, dass die politische Führung in ihrem Land die Armen zu unterstützen versucht, und in einigen Ländern gibt es Organisationen, die sich für die Armen einsetzen und ihnen helfen. Wir haben dann auch bemerkt, dass einige Regionen Europas nicht so von diesen Armutsproblemen betroffen sind. Unserer Meinung nach sind wir mit den gleichen Rechten geboren, aber beim Erwachsenwerden relativiert sich das. Was wir damit meinen? Wir können nicht wählen, in welche Familie wir hinein geboren werden, und damit auch unseren Bildungsweg nicht. Darum haben einige bessere Möglichkeiten als andere, obwohl alle die gleichen Möglichkeiten haben sollten. Wir sind mit dem Recht auf Lernen geboren, und jeder Mensch sollte sich in einem Bereich nützlich machen können, egal ob in der Landwirtschaft, Politik, Medizin oder was immer. Jeder sollte Arbeit haben, jeder sollte die Chance bekommen, Geld zu verdienen und das Recht zu besitzen, seine eigene Zukunft und Lebensweise zu bestimmen. Das Problem wird sich nicht von selbst lösen. Es ist schade, dass die Armen ihr Potential nicht ausschöpfen können. Wir müssen etwas bewegen und Initiative übernehmen. Es liegt in der Natur des Menschen, sich gegenseitig zu unterstützen, wir können nicht alleine leben. Schon seit der Urzeit hat sich das gezeigt, als die Mitglieder von Stammesgesellschaften zusammen jagten und sich halfen. Ein anderes Beispiel ist die Kindheit. Die kleinen Kinder wissen nicht was Bosheit ist, das lernen sie erst mit der Zeit. Kinder spielen und unterstützen sich einfach, genau wie eine Familie. Wir haben uns einige Lösungen ausgedacht: → Für neue Arbeitsplätze protestieren. 94 → Notwendiges spenden. → Charity Concerts organisieren, um Schulen zu renovieren und den Transport zu den Schulen sicherzustellen. → Transportfirmen um Unterstützung bitten (indem wir ihnen Werbung in den Medien bieten). → Wir könnten gemeinsame Aktionen zwischen Dorf und Stadt initiieren, damit die Armen auf dem Land lernen und arbeiten können und damit Zugang zu einer besseren Zukunft haben. → Über Medien den Menschen diese Probleme bewusst machen. Wenn wir die Frage der Armut auch in den betroffenen Ländern lösen könnten, würde ganz Europa aufblühen (nicht nur ein Teil davon wie jetzt). Heute wachsen Jugendliche in Europa immer noch unterschiedlich auf. UNSERE GEHEIMNISSE von Klaudia Orbán und Réka Orbán Ich hatte total Verspätung. Meine Mama rannte neben mir her, unser Chauffeur stellte den Wagen am Liszt-FerencFlughafen ab, um 9 Uhr, Montag, im Juli. Der Flughafen war überfüllt, ich hoffte, dass beim Einchecken die Situation besser würde. Mama war nervös, sie arbeitet als Model bei einer internationalen Agentur. Sie ist die Chefin da. Ich erbte ihre äußere Beauté, aber innerlich ähnele ich völlig meinem Vater. Er ist zuverlässig – und auch ich hüte zahllose Geheimnisse –, geduldig und immer gut gelaunt. Obzwar ich mich nicht beschweren kann. Ich habe alles, was sich ein Mädel mit siebzehn Jahren wünscht. Ich lebe derzeit in Budapest, in einer mächtigen Villa, am Budaer Hang. Unsere Umgebung ist wunderschön, ich lebe gern hier. Meine Schule ist ein Gymnasium auf der Pester Seite. Meine Position ist besonders, ich habe andere Freunde, Ihr werdet das später sehen. Sie stammen aus anderen Regionen in der EU und betrachten die Welt sehr anders. Das ist nicht negativ, im Gegenteil. Während ich und meine nervöse Mama bei der TicketKontrolle warteten, dachte ich an meinen Schulkameraden. 95 Diese Schule, die ich seit 3 Jahren besuche, ist eine sogenannte Stipendium-Schule. Das bedeutet, es können hier nur die besten Schüler studieren. Nach einigen Monaten werden die Noten kontrolliert, um auszufiltern, wer bleiben kann und wer nicht bleiben kann, basierend auf den Leistungen. Die Kontrolleurin gab mir meinen Personalausweis, oder meine ID – wie man auf Englisch sagt. Nebenbei möchte ich erwähnen, dass mein Vater Deutscher ist, deshalb spreche ich Deutsch. Die englische Sprache habe ich in der Schule und von meiner Mama gelernt. Im nächsten Moment stand ich am Kontroll-Tor, wo ich durchleuchtet wurde. Ich umarmte Mama. – Bis bald, Mama. – wir sind nicht religiös oder so, aber als Engländer geben wir nie kund, wie wir uns eigentlich fühlen. Nie sagen wir anders als: ich liebe dich. Wenigstens lernte ich es so. Ich habe zwei Hunde und ein Pferd – mit dem Namen Rocky, Zeno, und Queen –, sie sind die einzigen, die ich kose. Klingt das komisch? Es kann sein. Meine beste Freundin kommt aus einer armen Region in Ungarn. Als wir uns zum ersten Mal trafen, mochte sie meine Lebensform, und als sie diese später besser kannte – zum Beispiel, weil sie bei uns schlief, sagte sie: Manchmal wünsche ich mir dein Leben. Meine Antwort ist im Allgemeinen: Siehst du, Zsófi, wie anders die Lebensform der Reichen ist? – Sei gut, Schatz, und rufe mich an, wenn du gelandet bist! – sagte Mama. – Es wird schon. Tschüss! – lächelte ich. Und warum ich eigentlich fliegen werde? Und wohin? Ich und meine fünf Freunde haben eine solche Tradition seit Jahren, dass wir am Ende des Schuljahrs eine Woche zusammen verbringen. Dieses Mal ist unser Ziel die ewige Stadt, Roma, und die romantische Holiday-Siedlung, Ladispoli. Unter dem Jahr kann ich meine Freunde gar nicht treffen, weil wir in verschiedenen Ländern leben. Ich fliege sehr oft, mein Vater ist Diplomat, deswegen kenne ich die oben genannten fünf Freunde aus vielen Ländern Europas. – Emese – schrie mir Mama nach. Sie konnte mir nicht folgen, sie hatte kein Ticket. – Ja? – überlegte ich neben meinem Kofferwagen. – Begrüße alle im Namen der Familie, ok? – In Ordnung, Mama. Ich küsse Opa und Oma. Und sag ihnen, 96 es tut mir leid, dass ich nicht Abschied von ihnen nahm. – In einer Woche, tschüss! – winkte sie mit ihrer rechten Hand. Beim Terminal A checkte ich ein, winkte meiner Mama und ging durch die Zoll-Freie-Zone. Nach einer halben Stunde Warten flog mein Flugzeug ab. An Board zog ich mein Lieblingsbuch von Imre Kertész hervor. Der Titel ist «Sorstalanság», auf Deutsch «Roman eines Schicksallosen». Es geht um die Geschichte eines Jungen im Zweiten Weltkrieg, und zwar im Holocaust. Eine erschütternde Lektüre, das ist sicher. Ich bin einhundert Prozent ungarisch, und ich bin stolz, dass ich das sein kann. Heutzutage lebt man in schweren Zeiten, es ist egal, ob im Wohlstand oder weniger behütet. Ich muss das jeden Tag erfahren, wenn ich zur Schule gehe. In der Schule sollte nur das Wissen zählen, aber natürlich gibt es da Streit, wenn eine Schülerin aus besseren Verhältnissen mit dem modernsten Alfa Romeo ankommt. Im Allgemeinen muss ich sagen, dass ich und meine direkte Umgebung glücklich sind. In der Hauptstadt befinden sich auch ärmere Bezirke, wie in jeder Stadt und in jedem Land. Zsófi stammt von Miskolc, da herrschen andere Zustände wie in Budapest. Ich bin betrübt, dass talentierte junge Menschen wegen des fehlenden Geldes nicht weiterlernen können. Und diese meine Schule unterstützt eben solche jungen Menschen seit Jahren. Mein Opa maturierte auch hier. Unglaublich, ja? – Fräulein, kann ich Ihnen etwas holen? Etwas zum Trinken? – riss mich eine Frau mit einem gelben Tuch um den Hals aus meinen Gedanken. – Oh, ja. Ich bitte um einen Apfelspritz, bitte. – Sofort. – schmunzelte die Stewardess. Noch eine Stunde dauerte der Flug, ich machte meine Augen zu und fing mich zu entspannen an. Leider konnte ich diese Mini-Pause nicht so richtig genießen, weil hinter mir ein kleiner Knabe zu weinen begann. Bald kam seine Mama, und die Stille kehrte zurück. So konnte ich über mein letztes Schuljahr nachdenken. Ich pflegte nach jedem Jahr eine kleine Zusammenfassung zu 97 machen. Hier gab es die beste Möglichkeit dazu. Als ich im September wieder in meiner Klasse kam, fühlte ich die besondere Stimmung, mit dem Duft der neuen Bücher. Meine Mitschüler waren wieder andere. Die langen Sommerferien (in Ungarn zweieinhalb Monate). Ich verbringe sehr viel Zeit mit den Schulkameraden. Unsere Schultage sehen im Allgemeinen so aus: Die erste Stunde beginnt Viertel vor acht, der Unterricht endet um zirka vier Uhr. Die Stunden dauern 45 Minuten. Ich besuche eine zweisprachige Schule, am meisten habe ich Englischstunden. Ich lerne nicht nur einfach die Fremdsprache, sondern deren Kultur, die Gewohnheiten. Außerdem lerne ich sogar Geschichte und Biologie in dieser Sprache. Am Ende der Schule kriege ich das zweisprachige Abi. Ich finde, dass ich in einer besonderen Position bin. Mein Lieblingsfach ist Geschichte. In Ungarn ist am wichtigsten die ungarische Geschichte. Also, ich lerne auch englische Traditionen, aber der Kern bleibt immer das Ungarische. Unsere Lehrer sind talentierte Professoren in Geschichte und machen das Lernen spannend. Trotzdem hasse ich dieses Fach auch. Weswegen? Wir müssen zahllose Jahresziffern büffeln. Ich sehe keinen Sinn darin. Da gibt’s den Atlas mit allen Informationen. Die anderen Fächer fallen mir schwer. Mathe und Biologielernen sind meine Schwachpunkte. Die Lehrer haben auch eine schreckliche Natur. Der Klassenvorstand ist schon zu alt, und wir sind zu jung. Er passt nicht zu uns. Davon abgesehen habe ich eine Vorliebe für ihn. Nach der Landung hatte ich mehr als eine Stunde Zeit bis zu Jacquelines und James’ Ankunft. So nahm ich Platz auf meinen Koffern. Um mich rennende Leute, Frauen mit kleinen Kindern, entweder im Kinderwagen oder zu Fuß. Sie waren irr, und auch ihre Eltern. In der Zwischenzeit zeigte mein Handy etwas an. Ich hatte einen entgangenen Anruf von Jan. Er ist aus Polen und zwei Jahre älter wir. Er beendete in diesem Jahr die Schule, ab September wird er Medizin studieren. – Hallo, Jan. Wie geht’s? Ich habe gesehen, dass du mich angerufen hast. – Ah, hi, Emese. Ich rief dich an, um dir zu sagen, dass ich schon angekommen bin. Die Herberge ist toll! – Ja, auch dieses Mal. – Bist du schon am Flughafen? Robert und Patricia sind schon bei mir. 98 – HALLO! – grölte die ins Telefon. – Hi, Leute. Bald werden wir da sein. Noch eine Viertelstunde. Soll ich was einkaufen? Oder gibt es schon alles für das Lagerfeuer am Abend? – Keep calm, alles. Wir erwarten euch. – sagte Patricia mit ihrer besonderen Stimme. Sie ist eine echte Italienerin, glaub mir! Mit einem Lächeln legte ich das Handy auf. Plötzlich machte mich ein Knabe auf sich aufmerksam. Er konnte nicht älter sein als zehn, und saß total allein nicht weit von mir. – Hey, Kumpel, was ist los? – wandte ich mich an ihn. Er hörte sofort zu weinen auf. – Meine Mutter sagte mir gerade, dass sie und Papa sich scheiden lassen. – Oh, das tut mir sehr leid. – Was wird aus mir? Ich besuchte eine kleine, aber süße Schule in Serbien, aber jetzt ist Schluss. Mein Vater ging weg, Mama ging mit einem reichen Kerl, und sie werden mich in einer Bordingschule in der Schweiz eintragen. – Seine Stimme klang verzweifelt. – Wohin fährst du jetzt? Allein? – Ich bin hier mit meiner Mutti. Sie ist da. – Er zeigte auf eine große Frau mit einem iPhone in der Hand. – Gleich startet das Flugzeug und landet in zwei Stunden in Zürich. – Er beugte sich über sein Knie. – Und du kannst es dir nicht vorstellen. Ich stamme aus einem winzigen Dorf, wo wir sehr arm lebten. Dann kam dieser Kerl und zerstörte alles. Ich möchte nicht reich sein. – Am Ende dieses kurzen Monologs war er ganz verzweifelt. – Pass auf, was würdest du sagen, wenn du dich nur für mich ein bisschen zu freuen versuchst, hm? Glaub mir, ich weiß, was ich sage. Ich besuchte einen Bordingkindergarten. Er war schrecklich. Ich sah meine Eltern fast nie. Du hast wenigstens deine Mama. – Du hast keine Ahnung, wie meine Mama wirklich ist. – Hey, Aleksandar, habe ich dir nicht gesagt, dass du die Pappe halten sollst, wenn ich telefoniere? – kreischte die blonde Frau. Dann wandte sie sich mir zu, freundlicher und friedlicher. – Verzeihen Sie ihm, bitte, sagte sie. – Ah, kein Problem. Wir haben uns nur unterhalten. Sie verhielt sich so, als hätte sie nicht einmal meine Sätze 99 mit angehört. Sie giftete ihren Sohn an: – Bitte sofort um Entschuldigung, Aleksandar! – Hhm... Verzeihen Sie mir bitte. – sagte er, aber er sah mich nicht an. – Haben Sie einen schönen Tag! – wünschte ich den beiden mit einem bitteren Geschmack in meinem Mund. Was würde meine Oma zu dieser Situation sagen? Ah, ich erinnere mich schon. Das Leben ist gnadenlos. Leider hatte ich keine Zeit mehr über diesen Spruch nachzugrübeln, weil James und Jacqueline mit großen Taschen auf mich zu gelaufen kamen. – Hi! – Hey, Emese! Ich schnellte hoch. – Ah, hi, Leute! – breitete ich meine Arme nach ihnen aus. James war ebenso unverändert, ganz wie letztes Jahr. Jacquelines Haare waren zurzeit rot, sie sah viel besser auf den Fotos aus, als IRL – also im realen Leben. Dafür habe ich auch ein Spruch: Photoshop verschönert eine Frau. Bei Jacquelines Fall ist er auch korrekt. Es ist viel geschehen im letzten Jahr, aber wir redeten nicht darüber während der Busfahrt. Alle drei waren wir müde, und brauchten diese halbe Stunde bis zur Ankunft in Ladispoli, wo sich unser Appartement befand. Vor dem Bungalow erwarteten Robert, Jan und Patricia aus Deutschland, Polen und Italien. Nachdem wir uns begrüßt hatten, gingen wir mit den Koffern ins Haus. Schon beim Aussteigen aus dem Bus hatte ich in meiner Nase den Duft der See gespürt. Es gibt keinen feineren Duft in der Welt als den eines Meers. Wir drei Mädel teilten uns ein gemeinsames Zimmer, direkt neben der Terrasse. Die Jungs schliefen in einem Zimmer, dessen Fenster zur Straße hinausgingen. Um drei Uhr kleideten wir uns um und gingen baden. Das Wetter was ausgezeichnet, die Temperatur lag um 40 Grad. Mit Patricia legte ich mich in den Schatten eines Palmbaumes, wir nahmen ein Sonnenbad, ehe wir ins Wasser wollten. – Ich habe gehört, dass deine Eltern auseinander ziehen. – sagte ich. – Die Nachricht hat sich sehr schnell herum gesprochen. – 100 seufzte Patricia. – Weißt du, wie verzweifelt ich bin? Ich glaubte, dass es in unserer Familie passt. Ich hoffte, dass sie zusammenhalten wird. Natürlich, es hatte schon früher Zeichen gegeben, und ich habe die auch bemerkt. Ich wollte sie ignorieren. Als Jacqueline ihre Geschichte erzählte, lächelte ich innerlich. Pah schon wieder, es ist traurig, ja, aber ich werde das nicht erleben. – Und jetzt... ich habe so viele Schwierigkeiten, die ich nie haben wollte. Ich habe vor, das Schuljahr im September zu lassen. Ich fühle es, dass ich an meinen Brüdern arbeiten müsste. Meine Nase ist aber voll von Armut. Eure Gemeinschaft ist so weit von meiner Welt entfernt, ich bin so anders als ihr. Für diese Reise sparte ich ein ganzes Jahr. Und ihr? Euch ist es – sie machte eine breite Armbewegung – nur nach Holiday. – Was für ein Wert hat ein Abi, ha? Ich glaube, dass ich ohne ein solches gut leben kann. Zum Beispiel dauert das Schuljahr bei uns zweihundert Tage. Wir haben wenig Ferien unter dem Jahr. Und es zählt fast nichts, dass wir zwölf Wochen Sommerferien haben. Im Mai lag die Temperatur über fünfunddreißig Grad. Und in der Schule gibt’s keine Klimaanlage. Meine schwachen Lungen halten es nicht aus. Insbesondere das Lernen nicht. Chancenlos. Und nach der Schule muss ich arbeiten, um mir Kleidung kaufen zu können. Für Jacqueline und dich ist es so leicht! – langsam rollten Tränen über ihr Gesicht. – Als ich verstanden habe, dass sich meine Eltern scheiden lassen, war ich desperat. Bis zu diesem Punkt war fast alles perfekt, oder es war beinahe perfekt. Und jetzt, alles ist zerstört, meine Welt, sogar meine Seele. – Plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. – Vergiss alles, was ich gesagt habe. Ich bin total OK, mach dir keine Sorgen! – Sie schnellte hoch. – Hast du Lust, dich in die Wellen zu werfen? – Sie lächelte. OK, ich nickte. Während wir ins Wasser rannten, dachte ich dran, was sich in ihrer Seele abspielt. Tief in meiner Seele gab ich ihr Recht. Alle hatte ihre Aufgabe, genauso wie in den letzten Jahren. James und Jan waren verantwortlich für das Abendessen und das Lagerfeuer. Ich und Jacqueline beschäftigen uns mit Kochen und Backen und Marinieren. Wir ließen Patricia in Ruhe. 101 Während Jacqueline Punsch kochte, stellte ich ihr eine Frage. – Es ist so komisch, dass wir seit September nicht einmal gechattet haben – Ich stellte einen voll beladenen Teller in den Kühlschrank. Sie blickte mich rasch an, dann wandte sie sich wieder der Eiscremetorte zu. – Du hast völlig Recht, aber ich finde, dass wir so unterschiedliche Lebensweisen haben. Während des Schuljahr bin ich so mit Lernen zugedeckt. – Ich weiß es genau, dass wir uns jedes Jahr versprechen, Kontakt zu halten. Wenn dann September beginnt, vergesse ich alles und... – Sie blickte mich wieder an. –... du auch. In Toulouse, wo ich lebe, und in ganz Frankreich, bald nach Halloween, James könnte es wirklich erzählen, der 11. November ist ein besonderer Tag. Der Tag gedenkt an den sogenannten Waffenstillstand im Jahr 1918. An diesem Tag fühlen alle den Korpsgeist. In meiner Familie, du weißt es, arbeiten die Männer als Soldaten. Dieser Tag bedeutet mir und den anderen Frauen sehr viel, weil wir an diesem Tag zusammen sind. Leider kommt es oft vor, dass die Familie Weihnachten wegen eines Kriegs nicht zusammen verbringt. Ich hasse Kriege. – Sie zog gefülltes Gemüse aus dem Ofen. – Viele denken, dass es nur eine Arbeit ist, aber es war nie nur eine Arbeit und etwas, von dessen Lohn wir leicht leben konnten. Sie irren. Sie glauben, dass die Kinder nichts von dieser Situation verstehen, aber wir fühlen es. Ich fühle mich desperat und bin verzweifelt. Seit 17 Jahren. Und jedes Jahr im September, wenn die Schule beginnt, und die Soldaten zu arbeiten beginnen, fühle ich mich gleich. Was wird, wenn ich allein überbleibe? Plötzlich rannte Robert hinein. – Was ist los Mädels? Wir haben Bärenhunger. Los, los, ja! Wir brachten Teller, Becher und die Platten raus. Noch ehe ich die letzte Platte ergriff, kam Jacqueline mit einem Brief herein. – Er ist für Patricia, gib ihn ihr. – Warum ich? Weil ich gehört habe, worüber ihr geredet habt. Ich nickte. Es war 9 Uhr, als wir mit dem Abendessen begannen. Ich ließ mich neben Robert fallen, der schon seinen Teller bis dahin vollgepackt hatte. – Dieser leckere Geschmack erinnerte mich an Weihnachten, das ich bei meinen Großeltern als Kind verbracht habe. – Da sagte Jan plötzlich: – Leider waren 102 meine Großmama und Papa schon damals nicht mehr am Leben. Und trotzdem dachte ich immer mit großer Freude an die dort verbrachte Zeit zurück. Wenn meine Winterferien begannen, stieg ich den ersten Zug ein, der nach Colbitz fuhr, in die Waldländer. Vor Weihnachten kauften ich und Papa in der Nähe einen Tannenbaum, immer wählte ich den Baum haben aus. Leider arbeiteten meine Eltern ständig in unserer Landwirtschaft, bis zum Heiligabend. Bis dahin bearbeitete ich mit Opa den Baum, bei leiser und feierlicher Musik, zu der meine Oma beim Kochen sang. Jedes Jahr war auf dem Tisch gebratene Gans und Ente mit Kraut. Yumi. Vermisse ich es. Die letzten Weihnachten, bei dem sie noch am Leben waren, musste ich ohne sie verbringen. Im Januar hatte ich eine Sprachprüfung in Französisch und wollte meine Zeit nicht mit drei Stunden im Zug verschwenden. Ein großes Schuldgefühl habe ich deswegen. – Er wrang seine Hände – Aber für mich war das Ergebnis der Prüfung sehr wichtig, daran hing mein weiteres Studium ab, und meine Großeltern konnten das nicht verstehen. Weil ich nicht mit ihnen dieses große Familienfest gefeiert habe, enttäuschte ich sie sehr. Ich wollte ihnen meine großen News erklären, aber über die Liebe zu ihnen konnte ich nicht sprechen. Für sie war jeder körperliche Kontakt ein Tabuthema. Sie heirateten miteinander, weil ihre Eltern es so wollten. Ich kann es eigentlich verstehen, wie kann man sein Leben mit einer Person verbringen, die man nicht liebt. Dann machten wir nach meiner erfolgreich bestandenen Prüfung eine kleine Party, natürlich waren meine Großeltern dahin eingeladen, und auf dem Weg zu uns passierte ihnen ein schwerer Unfall. Einen Monat später habe ich eine Mail bekommen, ich musste zu einem Rechtsanwaltsbüro gehen. Dort gab mir ein Mann einen dicken Brief meiner Großeltern an mich, ich sah die kursiven Buchstaben meines Opas. Im Testament vermachten sie mir die ganze Landwirtschaft, sobald ich 25 Jahre würde, könnte ich sie allein leiten. – Du hast uns das noch nie erzählt, sagte James. – Ich möchte euch auch meine Geschichte erzählen. Jacqueline drehte sich interessiert ihm zu. James hat einen reizvollen Charakter, Jacqueline ist aber aussichtslos roman- 103 tisch. Seit Jahren ist sie insgeheim verliebt in ihn. – Sag nur, Kumpel. – Jan trank an seinem Bier. – Ich glaube, dass du weißt, wie wichtig mir Halloween ist. Im Vereinigten Königreich ist das System ganz anders. Also wir haben kleinere Perioden unter dem Schuljahr. Halloween ist am Ende der ersten Periode. Man zieht sich eine komische Maske über, und alle denken, dass dies eine der wichtigsten Ereignisse im Jahr ist. Dieses Jahr aber war es total anders. Ich hütete zu Hause das Bett, während meine Dudes... – oh, ja James verwendet oft englische Ausdrücke in seinem Reden. Dudes bedeutet Kumpels. – Was war dein Problem? – sagte Jacqueline und hielt ihre Hand vor ihren Mund. Alle wussten es, auch sie, was damals mit James geschah. Sie sind die Personen, die während des Jahres wirklich «keep in touch». – Bei einem Football-Match wurden meine Beine verletzt. Aber, the gist of the things... Oh, sorry. Also, der Kern der Sache ist, dass ich endlich Zeit hatte, um über mein Leben nachzudenken. Ich erfuhr so viele Sachen seit diesem Moment, und ich glaube, ich lerne noch immer, weil es meine Verantwortung ist. Und seit diesem Moment bin ich nicht nur für mich verantwortlich. Es ist ein Mädel, sie ist zweieinhalb Jahre älter als ich. Wir, außer Jan, natürlich, ol‘ Dude – blickten mit herzigen Augen zu Jan. – Wir wurden richtig gute Freunde im Lauf der Jahre. Diese Freundschaft füllte meine Seele mit Zufriedenheit im grauen Alltag. Jacquelines Geschichte war ein offenes Buch, alle verstanden James, nur Jacqueline nicht. Sie fand dann heraus, was ich schon wusste, als er mit der Neuigkeit herausrückte. – Mach keine Zukost, bitte. – lächelte Robert. – Sag, du, Mr. Perfektion! Und warum ist James Mr. Perfektion? James ist eine der klügsten und talentiertesten Leute, die ich kenne. Er hatte nie B, oder nur C, er kriegte ausschließlich As. Er ist nicht nur im Lernen ausgezeichnet, sondern auch im Sport. Er spielt Fußball, seitdem er geboren ist. Der Ball wuchs seinem Fuß zu. Alle hofften, dass er eines Tages weltberühmt wird. Deshalb waren wir schockiert über die nächsten Sätze. – Vor dem dreiundzwanzigsten Oktober, am Ende der ersten Periode sagte mir die aktuelle Girl friend with benefits, also Freundin mit... dafür gibt’s kein Wort auf Deutsch... egal, ihr versteht, hoffe ich... also sagte mir, dass sie schwanger 104 ist. Nächste Woche wird sie unser Baby gebären. Ich zog von meinen Eltern weg, und mit der Schule machte ich Schluss. Sie besuchte eine Technikuniversität, sie ließ diese auch sein. Ich miete eine kleine Wohnung in der Stadtmitte, aber ich habe keine Ahnung, was der nächste Schritt sein wird. Ich bin verzweifelt, aber ich weiß, dass wir eine gute Entscheidung trafen. Ich liebe sie. Jacqueline war weiß wie die Wand in der Küche, aber sie bemühte sich um ein zartes Lächeln. Sie tut mir leid. Patricia und Robert umarmten James und sagten sehr nette Worte. – Und was wird mit deinen Stipendien? – fragte Jan. – Wir werden eine Weile vom letzten gut leben. – Pass auf, was wird, wenn du keine Arbeit findest? – Ich werde. – Aber, wenn es nicht gelingt, dann nimm das an! – Er gab ihm eine Stange Geld aus seiner Tasche. – Oh, Jan. Oh, Gott. Danke. Ich werde es zurückgeben. Verspreche es. – Er schnellte hoch und umarmte ihn. – Aber nächstes Mal, wirst du mit mir – plötzlich hielt er inne – reden. Egal, für wie groß du dieses Ding hältst. – OK. – Er weinte mit Lächeln. – In Ordnung. – Ich schnellte auch hoch. – Passt auf! Jetzt machen wir uns bitte ein Versprechen. Greift zu eurem Becher, und sprecht mir nach! Ich wartete ein bisschen, bis alle aufgestanden waren. – Wir wissen – begann ich, und die fünf Freunde sagten es nach – dass wir alle Geheimnisse haben. Diese Geheimnisse machen uns zu den Personen – ich hielt inne – die wir wirklich sind. Ich hoffe, dass diese vielfaltigen Charaktere immer so bleiben werden und uns zu einer Gemeinschaft zusammenfügen. – Ich hob meinen Becher. – Vergessen wir das nie, dass wir zusammen am stärksten sind. Nicht nur in dieser Woche, sondern im ganzen Jahr. – Ich sah mich herzlich um. – Zum Wohl, meine Freunde! 105 DIE FABEL VOM BRÜLLENDEN LÖWEN von Kristýna Sedláčková Es scheint heute wieder die Sonne, und irgendwo brüllt ein Löwe laut, ich habe Angst, denn es geht nicht daohne. Ein Löwe muss immer hinten brüllen, er ist nicht zu stoppen, ich kann nur hoffen, dass wir schnell entkommen können, egal, was wir uns auch immer wollen gönnen und wünschen, um das zu erreichen, wonach wir uns sehnen. Aber aus dem Fenster ist nicht hinauszulehnen. Sonst kommt ein Ast, er erschwert dir die Last, weiterzumachen. Dein Auge wird blind, und du weißt nicht mehr, wo wir sind. Es lebe das Leben, es lebe die Freiheit, in welcher Einheit? In wessen Namen wird da gejubelt, gelacht? Mein Herz sagt, gib acht, vielleicht geht’s wieder nur um Geld und Macht. 106 107 4. GESCHICHTEN DAS ZERRISSENE PLAKAT von Sophie Hochenauer Wind und Regen Lärm und Menschen Hupen und Heulen städtisches Leben zerrissen dazwischen Ein Plakat Nichts zu erkennen verschwommene Bilder Farben ineinander zerronnen, verkommen zerrissen darunter Ein Plakat Früher war es was Jetzt fast nichts Früher waren es Sterne Sind es jetzt Monde? Zerrissen ist es ein Plakat Vergessen, vergeben neue Worte, gleicher Sinn zu verwirrend, doch alle fragen alle reden, viele streben Die Antwort ein Plakat 108 AMBITIÖS, MUSKULÖS, BITTERBÖS von Sophie Hochenauer, Bernadette Sarman und Susanne Schmalwieser Autobahn zum Flughafen in Canberra, 13:25, 31˚C Flug: 14:15 Drei verschiedene Kulturen, drei verschiedene Familien, drei verschiedene Väter. Es staut. In einem weißen Lexus mit getönten Scheiben sitzt Familie Satou aus Japan. Stau. Immer dieser Stau. Ungeduldig trommle ich mit dem Finger auf das Lenkrad des gemieteten weißen Lexus, der uns zum Flughafen bringen soll. Haben die in Australien keine Ordnung im Verkehr? Okay, ja, in Tokio ist auch ab und zu Stau, aber nie mit mehr als zehn Minuten Verspätung. Herr Gott, wir haben es hier eilig. Um 14:15 Uhr geht der Flug von Melbourne nach London. In Großbritannien steigen wir um, um anschließend nach Wien, in die Stadt der Musik zu fahren. Da sollte jeder einmal gewesen sein und außerdem stärkt eine Auslandsreise das Allgemeinwissen. Nicht weit entfernt kommen die Reifen eines vollgepackten silbernen Chevrolet zum Stehen, in seinem inneren eine amerikanische Familie mit zwei Teenagern und einem Baby. God damn it, wieso stehen denn alle? Ich muss zum Flughafen, können die nicht weiterfahren? Auf Hupen reagiert hier auch niemand. «Darling, wahrscheinlich ist etwas passiert, die Leute vor dir können nicht weiterfahren» Jaja darling, danke darling, das hilft uns aber auch nicht, unseren Flug zu erreichen. Bezahlt habe ich dafür, auch wenn wir nicht in der Businessclass sitzen, die Plätze waren nicht die billigsten. Ich wäre ja gar nicht hier, in diesem komischen Land mit Wüsten und Städten und Haien, wären da nicht die Kinder. ‚Kulturelle Bildung ist so wichtig¡ haben sie gesagt. ‚Auslandsaufenthalte lassen den Lebenslauf besser aussehen¡ haben sie gesagt. Aber ein Lebenslauf ohne Abschluss an einem angesehenen College wird nicht einmal angesehen! 109 Und wer zahlt ihnen das College? Ich natürlich, mit meiner Frau. Noch ganz versteh ich nicht, wieso sie so optimistisch über diese Reise war. Wieso konnten wir nicht nach England fliegen, das wäre ein gutes Angebot mit Direktflug gewesen. Und hängen Australien und England nicht eh irgendwie zusammen? Das ist ja dann auch schon egal, billiger wäre es auf jeden Fall gewesen. Bin ich in diesem Auto der einzige, der sich über die Zukunft Sorgen macht? Jetzt, wo wir ja das Baby haben, das so ungeplant alle Pläne durchkreuzt hat, jetzt geht es ohne Stipendium nicht mehr. Robert Jr. ist ab dem Herbst ein Sophomore. Zwar sind seine Noten nicht die besten, aber die helfen einem sowieso nur, wenn sie perfekt sind, und da stehlen uns immer die ambitiösen Asiaten das Spiel. Aber das Spiel ist nicht so wichtig, besser gesagt, dieses Spiel, denn das wichtigste Spiel ist Football. Mein Sohn und ich, wir trainieren täglich. Abgeben, passen, laufen. Obwohl, in den letzten zwei Wochen, in diesem gottverdammten Urlaub, der mich jetzt hier so genervt im Stau stehen lässt, haben wir ein wenig nachgelassen. Etwas weiter hinten schmückt ein blauer Volkswagen die breite Automasse, gesteuert von einem Österreicher, der mit Frau und Kindern den Rückflug antreten will. Einunddreißig, nicht ein Grad weniger, Einunddreißig, Einunddreißig, Maria Mutter Gottes, ist es heiß. Vor uns staut es, hinter uns auch, Autos neben, Autos um und scheinbar auch bald Autos auf uns, wo wollen die bitte alle hin? Einunddreißig, Einunddreißig, Einund – wie soll das bitte einer aushalten? Ich habs ja gleich gesagt, Urlaub macht man nur zuhause, Bergseen, Gipfel, Wanderrouten; Fernseher, Bier und Liegestuhl. Aber nein doch, nein, nein, Ausland muss sein. Roter Mazda, schwarzer Audi, unserer ist ein Volkswagen – den müssen wir ja auch noch zurückbringen, in der Hitze, die Arbeit hätten wir doch sparen können, und erklären werden wir ihnen müssen, wieso wir so spät sind, mit «Excuse me, ma‘am», und einem Knicks. Knicks und Knacks kommt jetzt auch von der Rückbank – Nina – nein – Lena, was ist denn jetzt los? Wie? Wo? Was zum Essen? Im Handschuhfach sind Wurstsemmeln drin, im Kofferraum vier Äpfel. Wo? Wie? Was Warmes, was Gutes? Wer hat dieses Fräulein erzogen? Prinzesschen, Prinzesschen, heute bleiben wir nicht mehr stehen. Zuhause, zuhause könnten wir zum Heurigen gehen, 110 aber nein doch, nein, nein, Ausland muss sein. Wo hat der bitte Autofahren gelernt? Mangel an Hirn oder Mangel an Hausverstand? Lena – nein – Nina, jetzt raunz doch nicht so. Es gibt nicht einmal genug Zuspeisen in den Take-Away-Beisln, was stört ihre Hoheit denn an Brot mit Speck? Ihr seids alle nicht die hinterm Steuer, und die anderen am Steuer kann ich nicht leiden, wieso müssen die ausgerechnet dann stauen, wenn wir es eilig haben, Himmel Herrgott noch einmal. Daheim, daheim könnten wir jetzt zu Fuß gehen, und nach kürzestem Schlange-Stehen, ohne «Wait to be seated» was schnabulieren. Nicht einmal nur zu Fuß gehen, nein, auch das Fußballspiel sehen, keine Ahnung wer spielt, Frau und Tochter sei Dank, das ist ja nicht wichtig, und darf, nein doch, nein, nein, im Ausland nicht sein. Der Stau ist lang, die Väter beginnen ihren Gedanken nachzujagen, vorneweg der Herr im weißen Lexus. Ich blicke durch den Rückspiegel nach hinten zu meiner Tochter. Moemi, vor kurzem gerade sechzehn geworden, sitzt auf der Rückbank und starrt aus dem Fenster, die Kopfhörer im Ohr, maximal Tonstärke sieben, denn man hört nichts. Ich seufze leise. Ich wünschte, sie gebe sich mehr Mühe in der Schule. Auf den letzten Test hat Moemi nur 89% gebracht... Es ist schade, was aus ihr geworden ist, ich war definitiv ein ambitionierterer Schüler. Ich habe meiner Familie Ehre gemacht. Ein hoch angesehener Job, genügend Einkommen sowie eine Berufskarriere, auf die jeder stolz sein könnte, plus eine vorzeigbare Familie. Was will man mehr? Mr America im Silver Car gelingt es nicht, seine Unruhe abzustreifen. «Junior, hast du gestern deine Sit-ups gemacht?» Streng und selbstsicher, so ist es gut. Selbst in Stresssituation so scheinen, als hätte man alles unter Kontrolle. Oh, come on, er hat mich nicht gehört. Dröhnt seine Ohren die ganze Zeit mit grauenhaftem Hip-Hop zu. Damals, als ich noch in seinem Alter war, da hat man noch richtige Musik gehört. Da hat man die lokale High-School-Rock-Band unterstützt und nicht zu unverständlichen Worten genickt. Und hier in Australien, ich denke das Leben der Teenager besteht sowieso nur aus 111 Surfen und Strandparties, im Wasser und Sand spielen. My god, jetzt fängt das Baby auch noch an zu schreien. Meine Nerven halten das nicht lange aus, ich hab das schon zweimal durchgestanden, aber damals war ich noch sorgenfreier. Natürlich liebe ich den kleinen Fratz, unseren Brandon, dann wird mir nicht langweilig, wenn Robert Jr. hoffentlich ein Stipendium bekommt. Im blauen Volkswagen findet man sich missmutig mit der Situation ab. Einunddreißig, Einunddreißig, das Spiel gegen Deutschland sicher schon in der einunddreißigsten Minute, Tobias, jetzt raunz nicht, bist doch eh so umsorgt. Junger Mann, uns ist allen heiß, und du hast es ja noch so leicht, dein ganzes Leben noch vor dir, kein Bedürfnis nach Freibier, Perspektiven größer als der Stephansdom, wenn auch der Ehrgeiz irgendwie im Keller. Aber Ehrgeiz lass gerne Ehrgeiz sein, Geiz ist nicht geil und die Ehrvollen allein. Auf die Uni kommst du soundso, und das Gelbe vom Ei waren meine Noten nie, auch nie, solange da noch ein Einser in Turnen steht, ist die Welt schon in Ordnung. Wir müssen ja nicht alle Talente sein, manche Superhelden mähen eben lieber den Rasen, als John F. Kennedys Kugel zu fangen, nein doch, nein, nein, das muss doch nicht sein. Nina, ruf die Irmi an, die muss den Bello nochmal füttern, heute kommen wir nicht mehr nach Haus, das arme Hundsvieh ist schon so lange alleine, dass es mir ja nicht auf den Trachtenanzug macht, ich leiste mir ja sonst keinen Luxus, die Damen des Hauses sind die Shoppingqueens, während ich mich bemüh, das Geld zu verdienen, die Firma zu schupfen und von A nach Z zu hupfen, aber so gehört sichs, so soll es halt sein. Nina und arbeiten? Nein doch, nein, nein. Gedanken über die Zukunft seiner Tochter füllen das Auto von Vater Japan. Zu meiner Zeit gab es noch kein Internet. Die heutige Jugend hängt aber nur mehr noch an Handys und so einem Kram, deshalb darf Moemi nur eine halbe Stunde pro Tag im Internet surfen, danach nimmt meine Ehefrau Haruka es ihr ab. Sonst würde Moemi nie zum Geigespielen kommen. Und das 112 ist für sie das allerwichtigste. Eine berühmte Geigenspielerin wird sie wohl nicht werden können, das wäre mir zudem auch sehr unsicher. Moemi soll später bei einem großen Unternehmen, vielleicht Toyota, arbeiten, um so eine Grundlage für ein erfolgreiches Familienleben zu schaffen. Wenn ihr Zukünftiger ebenfalls einen gut bezahlten Job ausübt, hat Moemis Familie die besten Chancen als angesehene Familie geschätzt zu werden. Langsam legt sich der Sturm im American-Dream, oder ist es nur die Ruhe davor? «Daddy, mir ist so unerträglich heiß, mein Make-Up verrinnt gleich.» Tiefe Atemzüge. Ach danke liebe Frau, für die kühle Hand im Nacken. Tiffany weiß immer genau, was ich brauche. Nicht viele haben das Glück, eine so treue, tiefsinnige und feinfühlige Lebensbegleiterin zu finden. Ohne sie hätte ich schon zu oft meinen Kopf verloren. Alle haben gesagt, die College-Liebe würde erlöschen, aber sie brennt immer noch, so heiß wie die Sonne auf uns herab, über die sich Aubrey beschwert. Unser silberner Chevrolet ist zwar gut ausgestattet, aber gegen fünf schwitzende Menschen kommt er nicht an. «Die Klimaanlage ist schon aufgedreht, honey. Sorge dich nicht, du siehst fabelhaft aus!» Ach, ich kann mich so glücklich schätzen, sie gefunden zu haben. 88˚ Fahrenheit, so heiß ist meine Liebe für sie. Auch meine Aubrey wächst zu einem entzückenden Mädchen heran, wunderschönes braunes Haar, welches sie zweifellos in der High School blond färben wird, in der Meinung, dass nur blonde Cheerleader scharf sind. Trotzdem ist sie ein vernünftiges Mädchen. Früher hat sie Klavierunterricht genommen, aber jetzt hat sie eingesehen, dass Sport einfach wichtiger für ihre Zukunft ist. Es heißt ja nicht, dass sie nicht mehr Klavier spielen darf, aber Prioritäten muss man einfach setzen, that‘s life, und leider kann man die Kinder davor nicht schützen. Außer mein Junior und ich, wir hatten es gut. Football ist unsere Leidenschaft, go bulldogs!, und es war auch mein Ticket ins College. Wahr, ich verdiene als Coach nicht sehr viel, hab als typischer Teenager der zum Mann wird, meine Zeit im College mit Trinken und Spielen verbracht. Aber Tiffany arbeitet bei der Bank. Sie bringt das Geld, und ich 113 sorge dafür, dass wir es so wenig wie möglich für Schule und College ausgeben müssen. Eigentlich muss ich mir gar nicht so viele Sorgen machen. Wie hat das angefangen? Ach ja, Stau, 88˚ Fahrenheit und ein Flug der in, was, 20 Minuten schon geht? No no no, wir erwischen ihn noch, wir schaffen das! Vorwurfsvolle ungläubige Fragen an Gott werden aus dem blauen VW an den Himmel geschickt. Wie in aller Welt hab ich das hier verdient? Nicht einmal Lena ist zufrieden, dabei hat die sich so gefreut, und anscheinend wars ja so gut für ihr Englisch, kann schon sein, aber Sprachen waren nie so meins, und wie oft hätt ichs schon gebraucht mit einer anderen Frau? Wär ich gläubig, würd ich jetzt mein Karma betrachten, den Herrn in den Wolken fragen, wo das Problem liegt, ob Ostern- und Weihnachtskirchen-Gänge nicht reichen. Ist das bisschen Steuerhinterziehen jetzt wirklich so ein Verbrechen, oder will sich das Schicksal aus Prinzip an mir rächen, weil bis jetzt alles so glatt gelaufen ist? Nein doch, nein, nein, das wäre gemein. Der ambitiöse Asiat versucht, das beste aus dem Stau zu machen. Die Sonne brennt heiß und erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel herunter, doch durch die getönten Scheiben unseres weißen Lexus sondern wir – Gott sei Dank- die Hitze ab. Ich verkneife mir ein Grinsen, als wir langsam an einem blauen Volkswagen vorbeirollen. Die Kinder der Familie quengeln nach Essen und etwas zu trinken, während der Vater versucht, die Nörgeleien auszublenden. Anscheinend haben sie keine Klimaanlage. Ich wende mich wieder der Straße zu. Vor uns steht ein großer silberner Chevrolet mit einem vollgestopften Kofferraum, der aufzuplatzen droht. Aus dem Auto dröhnt laute Hip-Hop Musik, vermischt mit mehreren Wortfetzen. «Amerikaner? “ frage ich meine Frau, die sich leicht mit ihrem Fächer Luft zufächelt und deute auf den Chevrolet vor uns. Haruka hat zwei Jahre in New York studiert, also muss sie sich auskennen. Sie nickt und schließt das Fenster, damit sich die kühle Luft der Klimaanlage im Auto gleichmäßig verteilt. Gut, dass ich 114 durch meine Kontakte den Lexus mieten konnte, mit einem Volkswagen hätte ich die Hitze nicht überlebt. Draußen ist ja die ärgste Affenhitze. Entnervt sinke ich in meinen Autositz zurück. Das kann hier noch ewig dauern. Und wenn wir es schaffen sollten, irgendwann am Flughafen anzukommen, dann brauchen wir sicher noch mehrere Minuten, zum Check-in und durch die Kontrollschranken zu laufen. Aja, und den Mietwagen muss ich auch noch abgeben. Die amerikanische Familie vor uns kommt mir durch die geschlossenen Fenster noch lauter vor als sie schon ist. Und langsam wird mir das hier zu bunt. Gerade in dem Moment wird eine Lücke neben uns frei, als ich schon auf das Gaspedal trete und haarscharf die Amerikaner überhole. Der durchtrainierte Fahrer, der Vater nehme ich an, schaut mich mit hochrotem Kopf böse an, während ich einen Blick auf die Familie des Bodybuilders, oder was dieser Typ auch sein mag, erhasche. Typisch American. Nichts Besonderes. Sogar ein typisches High-School- Mädchen ist dabei, mit tonnenweise Make-Up. Natürlich. Ein triumphierendes Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Irgendwann muss ja ein Japaner gegen einen Amerikaner gewinnen. Jetzt fühle ich mich noch besser, denn dort vorne sichte ich schon die Abfahrt zum Flughafen. Wir sind endlich da. Währenddessen fühlt sich Robert im Chevrolet in seiner Rolle etwas eingeschränkt. «Yo dad, listen to this sick beat!» Ah, das ist viel zu laut! Was will mir Tiffany gerade sagen? Ouch, da pochen meine Schläfen gleich wie verrückt. Oh, der Stau lockert sich, schnell vorfahren — das gibt es jetzt aber nicht, was will dieser weiße Lexus da? Etwa in meine Lücke? Aha, Chinesen, oder Japaner? Egal, ich hatte recht vorhin, die klauen einem jedes Spiel. Wie gern ich sie mit meinem Junior fertig machen würde, mal sehen wie sie sich in Football anstellen. Aber jetzt konzentrieren, da vorne ist die Abfahrt. «Schalt es aus, Mate!» Endlich wieder Ruhe. Natürlich, auch der blaue Volkswagen will mich überholen. Aber nicht mit mir, der Stau ist fast aufgelöst, da kann man schon ein wenig aufs Gas drücken. 115 Na, wieso starrt mich diese Frau vom Volkswagen aus denn so an? Haben die echt Snacks mitgenommen? Hier gibt es doch gar keine gute Peanutbutter. Auch Österreich nähert sich tapfer dem Ziel, weit ist es ja nicht mehr. Ha! Den silbernen holen wir ein, sind schneller als ihr, mit der Menge an Gepäck auch gar nicht so schwierig, so, gleich sind wir neben ihnen. Schaut die Nina da den Typen da an? Schaut gut aus, sagt sie, das Auto, frag ich, ja, doch, ja, ja, ganz wunderbar. Der Muskelmann in Silber steigt aufs Gas, hat wohl herausgefunden, wozu das Pedal gut sind, Himmel Hergott, ist der schnell, jetzt muss die Nina woanders hinschauen. Was hat sie gesagt? Ein Flughafenschild? Heureka, wir habens! Kinder, my lady, alles wird gut! Morgen schlafen wir schon in unseren eigenen Betten, ist euer Vater nicht grandios? Einmal links abbiegen, Blinken, Schalten, und dann ins Parkhaus. Gibt es hier ein Auto, dessen rechter, rechter Platz noch leer ist? Dort drüben, dort drüben, Tobias ist brav. Und jetzt zackig, haben noch zwanzig Minuten, das könnte noch gehen, online check-in sei Dank. Raus mit den Koffern, küsst den Volkswagen Lebewohl, Lebewohl, Lebewohl – ha! – ich werde jetzt wieder wohl leben, denn ja doch, ja, ja, wir sind endlich da. War im Stau das Stehen so irritierend, so müssen jetzt die Füße der japanischen Familie bewegt werden. «Schnell, gebt das Gepäck ab, ich parke das Auto», rufe ich meiner Frau zu, die daraufhin nickt und vollbepackt mit den Koffern und Moemi im Schlepptau los eilt. Kaum habe ich den Lexus eingeparkt und den Schlüssel abgegeben, sprinte ich schon los. Okay, Flug 232, das bedeutet, ich muss... erst mal zu meiner Familie. Ahh, da ist sie schon. Gott sei Dank hat Haruka das Gepäck schon abgegeben, wenigstens etwas. Meine Frau reicht mir das Ticket, als ich sie außer Atem und mit plagenden Seitenstechen erreiche. Ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Schnell gehe ich durch das Kontrollteil, das mir mit seinem Piepsen immer gehörig auf die Nerven geht. Ich brauche Ruhe. Und die bekomme ich nur im Flugzeug, frühestens. Also weiter. 116 Durch den Sicherheitscheck. Der Kontrolleur sieht mich misstrauisch an, als ich durch den Schranken gehe und meine Rolex wieder überstreife. Wahrscheinlich dachte er, ich sei einer von der Yakuza und schmuggle Drogen. Ha, als ob. Die Vorurteile sollten die Känguru-Menschen lieber lassen. Sie haben schon mehr als genug. Der Kontrolleur starrt mich noch einmal an, während ich ihn kühl mustere, dann eile ich im Laufschritt mit meiner Familie in Richtung Gates. Ich sehe kurz von der Ferne die Volkswagen-Familie rennen, (sind das Deutsche?) dann verschwindet sie aus meinem Blickfeld. Anscheinend haben sie ihren Flieger verpasst. Gleich haben wir es geschafft. Ein Blick auf mein Ticket verrät mir, dass wir zu Gate 9 müssen. Gleich. Gleich... Ebenso zeigen Muskelmann und Familie ihr sportliches Talent im Rennen zum Flieger. Okay, hier muss ich abfahren, gleich hinter dem weißen Lexus mit den fancy getönten Scheiben, der, der mich vorher geschnitten hat. Oh, der Volkswagen folgt uns? Kann man hier in diesem Land angezeigt werden, wenn man jemanden nicht überholen lässt? Wundern würde es mich nicht, manche leben ja auch mitten im Outback, wo man nur mit Fliegern weiterkommt und giftige Spinnen in der Badewanne findet. Da ist mir mein sicheres Amerika lieber, da kann ich mir ein Gewehr kaufen und meine Familie verteidigen. Ja, endlich der Flughafen, wie spät ist es, nur mehr 10 Minuten, oh no. Schnell alle raus, Koffer auspacken, puh ist der heavy. «Aubrey, bist du sicher, dass du das Gewichtslimit nicht überschritten hast?» Unschuldiges Lächeln, great. «Ich treff euch beim Gate, ich bring noch das Mietauto zurück!» Faster, faster, faster, gut, da ist das Parkhaus und auch gleich eine Parklücke, diesmal nimmt sie mir keiner weg. Schlüssel auf das Armaturenbrett, wie ausgemacht. Now, schnell zum Gate, ich trau mich gar nicht, auf die Uhr zu blicken. Welches Gate? Ach ja, neun, das ist rechts von hier, nein links, okay. Jetzt zahlt sich das Training aus, um die Ecke, rauf die Stiegen, da vorne ist ja meine Familie! Obwohl wir so im Stress sind, reicht mir meine Frau die Hand, beruhigt mich, wir schaffen das! Aha, vor uns, das 117 sind doch die Chinesen-Japaner, die uns geschnitten haben und die Volkswagenleute, god knows wo die herkommen. Europa ist ja der reinste Fleckenteppich. Manche Länder hab ich ja noch nicht mal gehört, und Football spielen sie auch nicht. Nur Soccer, pff, wir können uns doch alle einigen, dass das mehr was für Mädchen ist, oder? Man muss sich nur unser glorreiches Land ansehen! Oops, da wäre ich ja fast gestolpert. Da vorne ist das Gate, nur noch wenige Meter... Zu guter Letzt wollen auch die Österreicher so schnell wie möglich ins Land der Berge zurückkehren Wieso ist das Gepäck denn so schwer, schmuggeln wir etwa heute Steine? Ist doch nur Gewand, meint Nina, fährt mir nebenbei über die Zehen, au, ja, au, au, verflucht sei die Frau. Achtzehn Minuten, Familie, Beeilung! Achtzehn Minuten, das geht sich noch aus. Wie? Wo? Meine Uhr geht falsch? Ein Einser zu viel, nur noch acht? Das wird knapp. Lauft Kinder, lauft, Lena, ich trag dich, Nina, bring den VW zurück. Gott sei gelobt, keine Schlange, Pässe da, Koffer jetzt nicht mehr da, sondern flugzeugwärts am Fließband, Tickets gedruckt, sicherheitsgecheckt, Kinder, alles wird gut. Laufen, laufen, kommt, Beeilung, Gate Nummer neun, bald sind wir zuhause. Hallo, hallo, ist hier jemand, ist das Boarding schon aus? Wir müssen noch rein! Schaut nur, der Muskelprotz von vorher, läuft hinter uns, geschieht im recht. Hab ich die Japaner da nicht auch schon gesehen, oder schauen die wirklich alle gleich aus? Wie auch immer, wie sind nicht die letzten, gut ist das, gut, so gut wie der dort aussieht, meint Nina, das Flugzeug, frag ich, ja doch, ja, ja. Ich ziehe sie weiter, aus der Puste wäre untertrieben, Gate sieben und Gate acht ziehen an uns vorbei wie die Wolken am Himmel – und endlich, endlich, ja doch, hurra, wir haben’s geschafft, Gate neun, wir sind da... Ein Lautsprecher knackst. «Next flight on Gate 9 to Amsterdam will start boarding at 17 o‘clock.» 118 KRIEGERIN GOTTES von Yasmin Schubert GERADE eben war es Mitternacht geworden, draußen läuteten die Glocken der Kirche am Dorfplatz. Im Wohnzimmer nebenan legte meine Mutter ihr Buch zur Seite, in dem sie gelesen hatte und drehte das Licht aus, das wusste ich. Wach lag ich seit zwei Stunden, in meinem Bett und hatte Musik gehört, die ich nun ausdrehte, die Kopfhörer nahm ich ab und legte sie auf mein Nachtkästchen. Aufmerksam und ein bisschen angestrengt horchte ich nach draußen vor meine zugemachte Zimmertür. Da hörte ich den schlurfenden Schritt meiner Mutter, wie sie ins Bad tappte und wenig später genauso müden Schrittes zu meinem Zimmer kam. Sie öffnete die Türe, warf einen flüchtigen Blick herein. Als sie sah, dass ich im Bett lag und dachte ich würde schlafen, schloss sie die Tür wieder und ging in ihr Schlafzimmer, um sich hinzulegen. Zeit für mich, um aufzustehen, so wie ich es jede Nacht tat. Meine Mutter hatte mir verboten, meinem Wissensdurst in dieser Hinsicht zu stillen. Sie hatte Angst um mich, dass ich wurde wie meine Schwester. Ich wollte wissen, ich konnte nicht anders, ich musste es wissen, alles, denn ich wollte verstehen. Ter-ro-ris-mus Die Anwendung von Terror zur Einschüchterung von Personengruppen und zur Durchsetzung bestimmter – politischer – Ziele. Die Medien berichten regelmäßig, in sehr engen Abständen, von Terroranschlägen. Selbstmordattentäter, Autobomben, Sprengsätze, Schießereien, uvm. Es zählt zur Tagesordnung, kaum eine Tageszeitung bringt keinen Bericht über solche Themen, wie ein Muss wirkt es, als würden die Journalisten nach einem weiteren Anschlag Ausschau halten, über den sie berichten können. Ter-ror 119 Ein über längere Zeit anhaltendes Verhalten gegenüber anderen Menschen, bei dem man mit Drohungen, Zwang und Gewalt diese einschüchtern und schließlich beherrschen will. Der IS, Der Islamische Staat, steckt hinter all dem, sagt man. Eine Bezeichnung die in aller Mund ist. Beinahe jeder weiß, was der IS ist und fast genauso viele sprechen und diskutieren darüber. Das ist Terror. Das ist das Ziel der Terroristen. Sie wollen in aller Munde sein, sie wollen besprochen und beredet werden, denn man spricht nur über solche Dinge die einen beschäftigen- in positiver sowie in negativer Hinsicht. Terroristen wollen die negativen Folgen, sagt man. Terror bedeutet im Lateinischen Angst, Schrecken. Terroristen wollen Angst und Schrecken verbreiten, Regierungen erschüttern, Menschen in Panik versetzten um sie dann kontrollieren zu können. Meine Finger flogen über die Laptoptastatur, ich drückte die Entertaste und öffnete mir eine Dose Energydrink, die ich aus der Schreibtischschublade holte, wo ich sie vor meiner Mutter versteckte, während das langsame Internet die Seiten lud. Fun-da-men-ta-lis-mus Eine politische Anschauung der Religion, die sich starr an die ursprünglichen Inhalte ihrer Lehre hält. Keine Veränderung, keine neue Entwicklung, kein Wachstum. Rein das Festhalten an den alten Lehren. Dschihadismus, auch Jihadismus Eine militante, extremistische Strömung des Islam. Die Anhänger propagieren den Aufbau und die Ausdehnung des Machtbereichs eines Islamischen Staates mit Mitteln der Gewalt. Mittel der Gewalt also. Mittel wie Flugzeuge in ein Gebäude steuern, so wie sie es am 11. September 2001 in den USA gemacht hatten. Oder am 22. Mai dieses Jahres in Brüssel. Bombenanschläge am Flughafen und in Metrostationen, daraus gingen 23 Tote 120 und zahlreiche Verletzte hervor. Ebenfalls dieses Jahr, am 17. Februar in der türkischen Hauptstadt Ankara, wurde ein Militärkonvoi mit einer Autobombe gestoppt, es gab 28 Tote. Und gleich zu Beginn, am 12. Tag des Jahres 2016 starben 11 Menschen durch einen Bombenanschlag bei der Blauen Moschee, einem Touristenzentrum. Zum Ende 2015 gab es zwei große Attentate. Das Erste am 31. Oktober. Ein russisches Passagierflugzeug stürzte über Ägypten ab, eine Bombe der IS war an Bord laut dem russischen FSB. Diesem Attentat fielen 224 Menschen zum Opfer. Das Zweite war am 13. November in Paris. Dabei handelte es sich um mehrere Anschläge an verschiedenen Orten zur selben Zeit. Acht Attentäter des IS wüteten. 132 Menschen starben. Ich sank in meinen Schreibtischsessel zurück und wischte mir die Tränen von den Wangen. Mein Herz fühlte sich schwer an und mein Kopf schwirrte. Ein paar Schluck von meinem Energydrink tat ich und massierte mir die Schläfen. Dabei starrte ich auf das Standbild von mir und meiner Schwester, welches auf einem kleinen Regalbrett über dem Schreibtisch stand. Schließlich streckte ich die Hand aus und legte das Standbild mit dem Foto nach unten hin. Schmerzhafterweise tat es gut, dieses Bild nicht mehr zu sehen. Salafisten. Der Salafismus ist eine fundamentalistische Strömung des Islam. Die Salafisten wollen die Gründerzeit des Islams wieder aufbauen. Etwas in der Art, wie die Steinzeit? Salaf bedeutet in Arabisch «der Vorfahre», «der Ahne». Sie lehnen die demokratische Grundordnung ab. Laut Studien sind fast alle Muslime, die zu Gewalt neigen, Salafisten, doch sie stellen meist keine Terrorgefahr dar. Vor ihnen mussten wir Europäer uns also nicht fürchten, wir kamen mit unseren eigenen Leuten mit Neigungen zu Gewalttaten klar, das würden wir auch bei den Salafisten 121 schaffen. Islamisten hingegen, mussten wir uns vor ihnen fürchten? Islamisten. Sind Muslime, die die Meinung vertreten, dass der Staat nach ihrer Auffassung des Islams regiert werden sollte. Der Islam als Grundlage für Politik. Sie lehnen Menschenrechte, Individualismus und Pluralismus ab. Mir stellte es die feinen Härchen auf meinen Armen und im Nacken auf. Wollte das meine Schwester? Wollte sie eine Politik, die auf bestimmten Auslegungen und Auffassungen des Korans basierte? Dschihadisten. Sie wollen die Gesellschaft nach ihrer Vorstellung verändern und scheuen dabei nicht, Mittel der Gewalt einzusetzen. Dschihadistische Organisationen sind die Al.Quida und der IS. Ihre Ansichten basieren auf fundamentalistischen Auslegungen des Islam mit salafistischer Ideologie. Da hatte ich sie, die, vor denen Europa sich fürchten durfte. In meinem Innersten brach mit einem Mal eine seltsame, undefinierbare Art von Fühlen aus, die sich breit machte, schleichend, still und leise. Von einem jungen Mann aus meinem Land las ich, der den Dschihadisten beigetreten war. Er war gefangen genommen worden und dieser Bericht erzählte seine Worte. Die Dschihadisten würden kommen und Europa unterwerfen und jeder, der sich nicht zum Islam bekenne, würde getötet werden. Es war ihnen egal, ob es eine Million oder fünf Millionen Opfer fordern würde. Ich hatte Angst. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr sicher in meinem kleinen Zimmer, die Wände mit den Plakaten meiner Lieblingsbands rückten näher und ich dachte einen Moment, vollkommen irrational, dass in einer meiner Zimmerecken eine Kamera befestigt sei, die mich ausspionierte. Bestimmt hatte meine Schwester sie persönlich angebracht. Ich schloss die Augen, versuchte wieder in die Realität zurück 122 zu kommen und den sich anbahnenden Verfolgungswahn zu beenden. Unvermittelt musste ich an sie denken. Lebte meine Schwester noch, oder war sie bereits zu einer Selbstmordattentäterin geworden? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Gotteskrieger. So werden Menschen bezeichnet, die Krieg, oder allgemein Waffengewalt befürworten, um den Einfluss ihrer Religion auszubauen und zu festigen. 550 Deutsche Sympathisanten zogen in den Dschihad. Man denkt, etwa 180 kehrten wieder zurück. Dshi-had Der heiliger Krieg der Muslime zur Ausbreitung und Verteidigung des Islam. Durch Hasspredigten in Hinterhöfen oder Moscheen, durch Verwandte, Freunde und vor allem durch das Internet werden Jugendliche dazu gebracht, ihr friedliches Leben in einer Demokratie gegen einen Märtyrer-Tod in einem Heiligen Krieg und einem Land, das über 4000 Kilometer entfernt ist zu, tauschen. Sie streben nach dem Kalifat und der Scharia. Kalifat ist das Amt, die Würde, die Herrschaft des Kalifen. Ein Kalif ist der Nachfahre Mohammeds, oder jemand mit einer hohen Stellung im IS. Die Sharia ist das religiöse Gesetz des Islam. Außerdem ist die Auswanderung zum IS eine Pflicht, die jeder Dschihadist erfüllen muss. Sicherheitsbehörden schätzen die Rückkehr vom Dschihad als die größte Terrorgefahr in Deutschland ein. 123 Meine Schwester würde nicht wieder kommen, sie war fort. Das sagte mir dieser eine Satz, ich wünschte, ich hätte ihn nie gelesen. Still und leise weinte ich. Es war drei Uhr in der Nacht, auf die Minute genau. Draußen läutete die Kirchenglocke, die Datei, an der ich schrieb, speicherte ich sorgfältig und klappte den Laptop zu. Müde, an Körper und Seele, erhob ich mich von meinem Schreibtischsessel und schwankte zum Bett. Es war Donnerstag, der einunddreißigste Donnerstag seit meine Schwester gegangen war, um eine Gotteskriegerin zu werden, welch hirnrissige Idee. Ich tastete nach den Kopfhörern, setzte sie mir auf und schaltete den MP3-Player an. Einer meiner Lieblingssongs klang leise aus den Hörern in meine Ohren, und ich schloss die Augen. Weder konnte ich sie vergessen, noch wollte ich an sie denken. Es war schmerzhaft und zu verwirrend, daran zu denken, deshalb versuchte ich meinen verstörten Verstand mit Fakten zuzuschütten. Hatte sie gewusst, was sie tat? War ihr klar gewesen, als sie ging, welche Taten sie für Gott, für Allah ausführen musste? Ich konnte, und ich wollte nicht glauben, dass meine Schwester im Wissen dieser grauenvollen und herzlosen Taten in diesen Krieg für Gott gezogen war. Andererseits konnte ich mir nicht denken, wie an ihr diese Flut an Informationen zu diesem Thema, vor der wir uns alle nicht verstecken können, vorüber gegangen sein sollte. Sie musste es gewusst haben, das machte die ganze Sache noch verwirrender. Sie musste überzeugt davon sein. Wie konnte man von Terrorismus überzeugt sein? und noch schlimmer, wie konnte sie, meine Schwester, von Terrorismus überzeugt sein? Nun war ich verstört und schockiert. Ich hatte keine Angst, das nicht mehr, nein. Alleine Schock und Unglauben fühlte ich in mir. Eine Menge wusste ich nun, Fakten. Doch immer noch konnte ich den Beweggrund, sich den Dschihadisten anzuschließen, nicht verstehen. 124 Ich konnte es nicht verstehen! Um meiner Schwester Willen hatte ich es gewollt. Jedoch in diesem Moment der Stille in der Nacht, wo in meinem Kopf nichts als Chaos herrschte, war ich froh, es nicht zu verstehen. Ich hatte Angst zu werden wie sie, wenn ich verstehen würde. Hatte Angst auch eine Dschihadistin zu werden. KÖNIGREICH HASS von Michaela Čavargová Vorher habe ich noch nie darüber nachgedacht, dass ich eigentlich sterben werde. Es war nur so ein außenseitiger Gedanke, eine schmerzhafte Sicherheit irgendwo im tiefsten Inneren meines Gehirns, wo ich meistens überhaupt nicht hinreichen wollte. Und trotzdem ist es jetzt da, so wahr und greifbar wie nie zuvor. Plötzlich habe ich Angst. Ich habe die ganze Reise im Flugzeug im Stillen verbracht. ‘Keinen Verdacht erwecken, nur keinen Verdacht erwecken!’ habe ich mir immer wieder im Kopf wiederholt. Ich hatte den Eindruck, dass mich alle anschauen und überprüfen wollten. Es war unangenehm, um nicht zu sagen, gefährlich. Wir haben es doch so lange geplant. Wir können es uns nicht leisten, einfach so zu versagen. Fehler werden nicht entschuldigt. Sehr viel ist im Spiel. Wir haben schon den Boden erreicht. Die Passagiere stehen auf. Sie sind wie ein Haufen von Bienen. Es macht mich nervös. Ich warte, um dem Personal des Flugzeuges den Eindruck zu geben, dass ich etwas dringend suche. Mein zusätzliches Gepäck zum Beispiel. Ich bin mir der prekären Situation bewusst, dass ich so schnell wie möglich verschwinden muss. Aber wie? Alle Ausgänge sind vollgestopft. Es gibt Kontrollen in jeder Ecke des Flughafens. Mein Pass ist gefälscht. Mein Ausweis ist gefälscht. Normalerweise existiere ich nicht. Ich bin ein Niemand im Auge der Welt. Aber das wird sich bald ändern. Ich werde zur Legende, die die Geschichte verändert und die die Flamme der Gerechtigkeit und des Glaubens wieder anzündet. Ich werde uns alle 125 retten. Plötzlich bemerke ich eine Gruppe von türkischen Jugendlichen. Wenigstens glaube ich, dass sie Türken sind. Ich kenne ihre Sprache nicht. Ohne zu zögern, mische ich mich zwischen ihnen hinein. Der Flughafen ist riesig groß. Leute bewegen sich wie Ameisen. Sie steigen die Treppe hinauf und hinunter, beeilen sich, um ihren Flug nicht zu verpassen. ‘Hallo! Leute! Wozu die Eile?! Genießt jede Minute, so lange ihr noch könnt. ‘ schreie ich sie in meinen Gedanken an. Aber die hören nicht richtig zu, jeder von ihnen ist mit seinen eigenen Lebensproblemen beschäftigt. In diesem Moment spricht mich jemand an. Bonjour Monsieur! Es ist eine junge Frau in kurzem blauen Rock. Ich befinde mich beim Check Out. Ihr unbedecktes Gesicht lächelt mich frech an. Mir wird übel davon. Bienvenue en France. Nous vous souhaitons un bon temps pendent que vous restiez ici. *************** Asch-hadu an laa ilaaha ila-Allah was Asch-hadu anna Muhammadan abd-ullahi abduhu wa rasouluh *************** Es war meine Mutter, die mir über die sieben Himmel erzählt hatte. Wer denkt, dass es nur einen Himmel gibt, ist entweder blöd, oder ein ungläubiger Hund. Eigentlich gibt es sieben davon, jeder für unterschiedliche Arten der Kreaturen geeignet. Die ersten sechs gehören den zahlreichen Lebewesen der Erde. Der siebte Himmel, das ist das Paradies. Laut dem Koran sei es ein großer Garten, ohne stützende Säulen gebaut. Von dort aus sende Allah den Regen herab und bewege die Sonne und den Mond. In der Mitte befinde sich ein Baum, und neben diesem Baum stehe Allahs Thron. Dieses Paradies sei in hundert Stufen verteilt. Diese Stufen sind so weit voneinander entfernt, wie die Erde und das Firmament. Um die Wahrheit zu sagen, interessierten mich die niedrigen Stufen des Himmels nicht. Ich wollte mehr. Ich wollte die Macht unseres Schöpfers deutlich an mir erspüren und das 126 konnte man nur in der höchsten Stufe, in Mujahidun, sagte meine Mutter oft. Sie war sehr klug, meine Mutter. Fast so klug, wie ein Mann, was sehr ungewöhnlich war. Die Frauen waren nicht dazu geschaffen, zu denken. sie sollten Kinder gebären, sie erziehen und ihre Männer zufrieden machen. So stehe es eigentlich auch im Koran. Aber mit meiner Mutter wollte es unser Schöpfer wahrscheinlich anders. Ihre schwarzen Augen, die durch die Öffnung in ihrer Burka auf mich herabschauten, glänzten. Und dieser Glanz, das war die Klugheit. Mein Vater mochte es nicht. Er sagte oft, dass dieser Glanz das verführerische Werk des Teufels sei. Deswegen hat er sie manchmal auch geschlagen, was mir nicht gefallen hat, denn nach dem Gesetz des allerhöchsten Propheten Muhammad, Scharia, sind die Frauen und Männer im Auge Allahs gleich. Erst als sie gestorben war, hat er zugegeben, dass seine Idee eigentlich unlogisch war. Frauen waren zu schwach, um über teuflische Kräfte zu verfügen. In dieser Sache waren wir uns beide einig. Das war aber alles, was er nach ihrem Tod gesagt hatte. Es gab doch die anderen zwei Frauen, um die er sich kümmern musste. Am Sterbebett hat mir meine Mutter ins Ohr zugeflüstert. ‘Hab Acht! Nichts ist, wie es scheint! Höre dem Gott zu. Höre, was er sagt!’ Dann verschwand sowohl das Atmen aus ihren Lungen, als auch der Glanz aus ihren Augen. In der Moschee habe ich den Imam gefragt, ob sich meine Mutter neben dem Thron Allahs befinde. ‘Nein’ antwortete er ‘ Dorthin gehen nur Männer, die Gotteskrieger sind.’ Und in diesem Moment habe ich mich fest entschlossen, ein Gotteskrieger zu werden. *************** Die Ungläubigen habe ich zum ersten Mal kennengelernt, als ich zehn war. Wozu sie gekommen sind, das weiß ich nicht. Niemand hat sie gerufen, oder um Hilfe gebeten. Sie waren plötzlich da. Sie sind in unser Leben eingetreten, um unseren Glauben zu gefährden. Das war es. Ihre Habgier kannte keine Grenzen. Ihre Präsenz brachte nur Chaos und Leid. Uns war es ohne sie besser gegangen. Aber die Wege 127 des Teufels sind verschieden, habe ich gehört. Um uns zu schaden, verwandelt er sich in zahlreiche Formen, appelliert an unser Mitgefühl, an unser Mitleid, und danach greift er mit schrecklicher Kraft an. Genauso ist es auch bei mir passiert. Als ich meinen Vater in den Armen gehalten habe und Bäche von knallrotem Blut aus seinen Adern flossen. Er hat mich mit so einer leeren Miene betrachtet. Vielleicht wollte er auch etwas zum Abschied sagen, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Da war so viel Blut in seinem Mund. Und dazu der Lärm der Flugzeuge und das Krachen der Bomben. Alle haben gekreischt. Ich nicht. In meiner Seele herrschte unerträgliche Stille. ‘Allahu akbar!’ habe ich zum ersten Mal geflüstert, hoffend, dass mich der da oben hören wurde. *************** Die Rache ist ein Paradies auf der Erde. Wenn du dich zürnest, zürnet sich auch Allah. Er erhört deine Stimme. Er folgt dir. seine schützende Hand steht bei dir, wo auch du hingehen möchtest. Er wartet auf dich in Mujahidun, wo er dir tausend züchtig blickende Jungfrauen schenkt, die Huris mit großen Augen und schwellenden Brüsten, die weder Mensch noch Dschin zuvor berührte. Danke ihn für seine Großherzigkeit! Diene ihm gut! Denn Belohnung wartet auf dich, sowohl auf Erden, als auch im Himmel. Du wirst herrliche Säfte aus goldenen und silbernen Krügen trinken. Dein Körper wird weder krank noch kalt. Du wirst die süßesten Früchte aus seinen Gärten kosten und deine Seele wird seinen Namen feiern. *************** Nach dem Einmarsch der Ungläubigen ist das Leben in unserer Heimat schwer geworden. sie haben unseren Führer getötet. Hätte es Allah erlaubt, hätten sie uns auch getötet. Aber Allah wollte es nicht. Allah schützt seine treuen Diener. Als die Ungläubigen endlich weggegangen waren, haben wir unsere Freiheit nicht zurück bekommen. Männer kämpften gegen Männer, Nachbarn gegen Nachbarn, obwohl sie alle im Auge Allahs seine Diener waren. Und in diesem Chaos ist er gekommen. Der Imam, der Kalif 128 unserer neuen Epoche. Wenn er sprach, glänzten seine Augen wie die meiner Mutter. Und wie er sprach! Seine Stimme war sowohl sanft als auch kräftig. Sie berührte mein Herz, meine Seele, mein ganzes Ich. Ich hätte jedem geglaubt, wenn er mir gesagt hätte, dass der Kalif die Verkörperung von Muhammad gewesen sei. Ich wäre bis ans Ende der Welt für ihn gegangen. Deshalb bin ich in die Reihen der Krieger eingetreten. Für den Kalif und für Allah. Für unseren Glauben. Ich habe alles getan, um ein richtiger Krieger zu werden. Ich machte mich stark. Sowohl im Leibe, als auch in der Seele. Und jetzt zittere ich wie ein Hund. Vor Angst? Vor Zögern oder vielleicht vor Kälte? Ich weiß es nicht. Leute gehen an mir vorbei, ohne mir wenigstens einen kurzen Blick zu schenken. Es regnet hier, in Paris, im Nest der Ungläubigen. Die Engel und Cherubs weinen. Ich bin alleine. In wenigen Stunden soll ich mich mit anderen Kriegern treffen. Also, es geht endlich alles los. Die Rache, auf die ich mich so lange gefreut habe, wird verwirklicht. Allahu Akbar! *************** Eines Tages, als ich von einem Angriff nach Hause gekommen bin, war sie da. Ihre Hände und Beine waren fest zusammengebunden, ihre langen schwarzen Haare völlig ungekämmt, und sie betrachtete mich mit ihren riesigen blauen Augen. Keine Ahnung, wie alt sie war. Dreizehn? Vierzehn? Unter ihren zerrissenen und schmutzigen Kleidern konnte ich einen wunderschönen, vielleicht noch etwas kindlichen Körper erahnen. Eine Welle von Wolllust strömte durch meine Adern. In dem Raum ist es plötzlich heiß geworden. Vorher hatte ich noch nie mit einer Frau geschlafen. Ich war noch sehr jung. Also habe ich sie losgebunden, am Handgelenk fest gepackt und in mein Zimmer gezogen. Dort habe ich sie aufs Bett geworfen und ihre zerrissenen Kleider ausgezogen. Ihr Körper war wirklich schön. Ihre Haut blass wie Alabaster. Ihr Busen klein, ganz in meine Hand passend, und fest. Sie hat nicht gekreischt, als ich sie genommen habe, nur die Augen zugemacht und Tränen ausgelöst. Es gab Blut zwischen ihren Beinen. Aber in dem Moment war es mir egal. Ich wollte nur mein Verlangen sättigen. In der Nacht habe ich es noch dreimal wiederholt. Sie kämpfte nicht. Eigentlich bewegte sie sich kaum. Sie war wie ein 129 Käfer, der versucht, dem Vogel zu entkommen, indem er einen Toten spielt. Ihr Name war Aische, wie ich später erfuhr. Sie sprach mich weder an, noch sah sie mir in die Augen. Es machte mich sehr wütend, dass ich nicht sagen konnte, dass es mir auch leid tat. Irgendwie hatte ich ein Gefühl von Schuld. Sie sah nicht aus, als wäre sie Einheimische gewesen. Sie war sicher keine Muslimin. Woher sie gekommen ist, hat sie mir nie erzählt. Sie hat mir nie etwas erzählt. Am Abend, wenn sie dachte, dass ich sie nicht hören könne, hat sie oft in der Ecke gesessen, eingerollt wie eine Kugel und hat geweint. Ich wusste auch nicht, ob sie überhaupt unsere Sprache verstand. Die anderen Burschen haben mir gesagt, dass ihre Frauen Geschlechtsverkehr mochten. Sie schnurrten wie Katzen und seufzten dabei. Wenigsten in den meisten Fällen. Es gab auch Zeiten, in denen sie sogar zitterten und kreischten vor Wolllust. Als ich das hörte, dachte ich, dass es mir vielleicht gefallen hätte, so ein Geräusch zu hören. Die Jungs fanden meine Situation witzig, wofür ich mich sehr geschämt habe, und es ärgerte mich. Als ich nach Hause kam, habe ich sie wieder in der Ecke weinen gesehen. ‘Was ist mit dir?’ fragte ich. Sie verstummte, hob ihren Kopf, sah mich kurz ängstlich an und wendete ihr Blick schnell anderswo hin. ‘Findest du mich ekelhaft?’ fragte ich wieder. Stille. ‘Magst du nicht, wenn ich dich anfasse?’ Nichts. Danach sah ich, dass es keinen Sinn hatte, sie dazu zu zwingen, mit mir zu sprechen. Wahrscheinlich verstand sie mich nicht. Oder sie war taub. Das eine oder das andere, dumm war sie sowieso. Alle Frauen sind dumm, deshalb können sie nicht ins Mujahidun. Also erhob ich mich und ging einfach davon. Als ich an die Türschwelle ankam, hörte ich eine leise weibliche Stimme u sagen: ‘Es tut weh.’ Am nächsten Tag beschloss ich, ihr ein Geschenk zu bringen. Es war eine Schachtel voll Süßigkeiten. Als sie nicht im Zimmer war, habe ich die Schachtel sanft in die Ecke gestellt. Ich habe sogar aufgehört, mit ihr zu schlafen, auch wenn es mir schwer fiel. Sie war sehr schön, und ich habe die Tätigkeit 130 allgemein sehr gemocht. Es war entspannend. Jeden Tag brachte ich ihr ein neues Geschenk. Ein schönes Tuch, einen Ring, eine Halskette, eine duftende Creme, einen Blumenstrauß, ein schönes Kleid. Mit jedem Geschenk hatte ich das Gefühl, dass ihr Entsetzen und ihre Angst vor mir langsam verschwanden. Als ich ihr einmal goldene Ohrringe mit einem blauen Stein gebracht habe – sie haben sehr viel gekostet, diese Ohrringe – hat sie mich plötzlich angeschaut. Es dauerte viel länger als zuvor. Ihre Wangen wurde rosig und ihre blauen Augen vergrößerten sich noch mehr. Ich sah, wie ihr Atem schneller wurde. ‘Danke’ sagte sie sehr leise und rannte weg. Am Abend ist sie wieder zu mir gekommen. Ihre schwarzen Haare fielen auf ihre Schultern und reichten ihr bis zur Taille. Sie trug ein weißes Nachthemd, das ich ihr gekauft hatte. Sie war sehr schön. ‘Bitte, mach, dass es nicht wehtut!’ flüsterte sie. Sie schnurrte nicht wie eine Katze, sondern am Ende hat sie mir ein kleines Lächeln geschenkt. *************** Ich werde zu einem Märtyrer. Ich werde derjenige sein, an dessen Leib die Bombe festgeschnallt wird. Ich werde für unseren Gott sterben. Das steht fest. Aber trotzdem gibt mir dieser Gedanke keine Zufriedenheit. Schon vorher habe ich darüber nachgedacht, dass wir vielleicht alle irre sind. Vielleicht gibt es keinen Gott. Vielleicht sterben wir alle umsonst. Wäre es dann nicht schade? Die Ungläubigen können sterben, aber wir? Wozu müssen wir sterben? Angeblich sei es natürlich, in den Sachen des Glaubens zu zögern. Unser Kalif versteht es, und Allah versteht es auch. Wir Menschen sind sündige und unverbesserliche Wesen. Man kann sich selten auf uns verlassen. Wie zum Beispiel auf Aische. Wie sie mich gebeten hat! Wie sie gejammert hat! Geh nicht! Geh nicht! Verlass mich und dein ungeborenes Kind nicht! Ich habe sie angeschrien, sie solle mit dem Quatsch sofort aufhören, sonst schlage ich sie. Aber sie hörte nicht auf. Ich 131 geriet total außer mir, schlug sie überall, wo ich eine freie Stelle finden konnte...und sie heulte, dass sie mich liebe, dass sie nicht wolle, dass ich sterben soll... Das Kind ist in dieser Nacht in ihr gestorben. Also bin ich jetzt hier, in Frankreich. Es regnet auf mein Gesicht, und unter meiner Jacke befindet sich die Bombe. Mein ganzer Körper ist mit verschiedenen Kabeln bedeckt. Ich kann ein ganz schwaches Pulsieren spüren. Die Bombe ist lebendig. Sie ist ein selbständiger Organismus, der auf meiner Brust lebt. Genau wie eine Zecke saugt sie mein Leben heraus aus in der Form der Zeit. Bald wird es keine mehr für mich geben. Die Ungläubigen wissen nichts. Sie sind sich der Tatsache überhaupt nicht bewusst, dass ihr Leben zu Ende geht. Sie plaudern miteinander und lachen dabei, trinken Kaffee und essen leckeren Kuchen. Der Eiffelturm blickt auf sie herab und die Seine fließt in ihrem ruhigen Tempo dahin. Jemand spielt auf einem Akkordeon. Die Melodie ist exotisch und störend für mich. Mit jedem Ton zeigt sie mir, dass ich nicht hierher gehöre. Ich will auch nicht hierher gehören, sage ich mir. Ich bin nicht einer von euch! Ich sterbe! Und plötzlich will ich weglaufen und die Bombe aus meiner Brust reißen. Ich kann es aber nicht. Sie klebt fest. Die Leute haben mein seltsames Benehmen schon bemerkt. Sie gucken mich neugierig an. Ich sterbe! Ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe... Ich ziehe mir die Jacke aus. ...Ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe, ich... Und sie wissen schon. Ich sehe den Schock auf ihren Gesichtern. Die Panik. Einige rennen weg, die anderen bleiben stehen wie Statuen. Ich höre nichts, obwohl alle heulen und brüllen, als wären sie einfach nur Tiere. In der Luft kann man den Tod spüren. ...Ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe, ich sterbe... Ich sehe meine Mutter. ’Hab Acht! Nichts ist wie es scheint! Höre dem Gott zu! Höre was er sagt!’ 132 Und ich sage zu ihr: ‚Ich sterbe, Mutter, ich sterbe!’ Ich sehe Aische, nackt und blutig zwischen den Beinen. ’Ich liebe dich! Verlass mich und dein ungeborenes Kind nicht!’ Und ich sage zu ihr: ‚Oh, mein Liebling, ich sterbe...’ Ich sehe meinen Vater. Er sagt nichts. Sein Atem rasselt. Er liegt in meinen Armen, blass und blau. Und ich sage: ‚Vater, ich sterbe.’ Ich sehe den Kalif. Seine Stimme ist tief und wohlklingend. ’Er erhört deine Stimme! Er folgt dir! Seine schützende Hand steht bei dir, wo immer du auch hingehen möchtest!’ Und ich sterbe. ‘Er wartet auf dich in Mujahidun, wo er dir tausend züchtig blickenden Jungfrauen schenkt...’ Aische! Ach, ich... BOOOOOOOOOOOM! DIE SCHWESTER DES TERRORISTEN von Plamena Kasurova Wenn ich an meinen Bruder denke, tauchen zwei Personen in mir auf. Die eine Person ist der ehemalige Charakter meines Bruders und die andere Person ist der, der sich verändert hat. Mein Bruder war früher ein lustiger Junge und hatte viele Träume. Wir haben so viele gemeinsame Erinnerungen. Er war immer positiv und gut gelaunt. Wir verstanden uns gut und er beriet mich, als ich Probleme hatte. Einmal kam ich zu spät nach Hause und unsere Eltern waren wütend. Mein Bruder sagte zur Mutter: Sie ist nicht daran schuld, ich bin für ihre Verspätung verantwortlich. Ich bat sie, bei einem Freund vorbeizugehen, weil ich meine Sachen in seinem Haus vergessen hatte. Ich ging dann in mein Zimmer. Er kam zu mir, um mich nach dem Grund für meine Verspätung zu fragen. Ich sagte ihm alles, weil ich ihm immer alles mitteilte und wusste, dass er mich unterstützt und mir hilft. 133 Leider veränderte sich mein Bruder im Laufe der Zeit. Ich konnte ihn nicht mehr erkennen. Auf einmal hatte sich seine Stimmung geändert und auch seine Wünsche waren andere geworden. Früher träumte er von einer Familie mit vielen Kindern, aber plötzlich bevorzugte er die Einsamkeit. Er konnte niemanden mehr ertragen, er konnte sich mit niemandem mehr verständigen. Ihm fehlte die Lust, irgend etwas zu reden oder unter Leuten zu sein. Wenn er zu Hause war, blieb er einfach in seinem Zimmer. Einmal wollte ich mit ihm sprechen, aber er war schlechtgelaunt und sagte mir: Ich will jetzt niemanden sehen und allein bleiben! Ich hatte aber Schwierigkeiten in meiner Arbeit. Ich bekam die Benachrichtigung über meine Entlassung. Das war schlimm. Ich konnte es meinen Eltern nicht mitteilen. Irgendwann kam mein Bruder aus seinem Zimmer und sah mich zusammengekauert in meinem Zimmer. Meine Augen waren voll Tränen und ich war verzweifelt. Er ging weg, ohne sich für meinen Kummer zu interessieren. Als er nach Hause kam, setzte er sich neben mich. Er erzählte mir alles, was geschehen war. Er sagte, dass er Mitglied einer Terroristengruppe geworden war und er müsste seinen Grundsätzen folgen. Deshalb verhielte er sich auf diese ungewöhnliche Weise. In diesem Moment verstand ich, dass meine Probleme winzig klein waren im Vergleich. Zum ersten Mal beriet ich meinen Bruder. Ich wollte ihm helfen und ihn unterstützen. Wir sprachen stundenlang miteinander, und zum Glück gelang es mir, ihn zu überzeugen, die terroristische Gruppe zu verlassen. Er begann wieder, an Familie und Zukunft zu denken. Er begann sein Leben neu zu gestalten. Nun habe ich meinen Bruder wieder. Mein bester Freund, meine Vertrauensperson, ist wieder bei mir. Ich hoffe, dass es für immer so bleibt. 134 GEBET AN EINEN TERRORISTEN von Anna Ganeva Ich kenne den Grund deines Besuchs. Ich weiß, warum du gekommen bist. Dein Herz schlägt immer schneller. Dein Wunsch wird immer größer. Aber genug! Hör endlich auf! Schieb deine grausamen Gedanken Auf die Seite. Sie bestimmen deine eigentliche Persönlichkeit nicht. Du wurdest nicht für so schreckliche Taten geschaffen. Erinnere dich an deine Kindheit. Was für ein Bursche du warst. Erinnere dich an deine Träume, an deine Wünsche und an deine inneren Werte. Gibt es überhaupt etwas, was dich stoppen könnte? Gibt es jemanden, für den du dich verändern würdest? Gibt es überhaupt eine Sache, die deine Sichtweise beeinflussen kann? Ich glaube, ich glaube an Zauber ich bete jede Nacht, dich zu retten, dir zu helfen, ich hoffe stark darauf, dass du zur Vernunft kommst, dass du wieder der frühere Mensch wirst. 135 DIE GESCHICHTE EINER UNSICHTBAREN FAMILIE von Diana Dehelean Motto: «Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt wird er gar noch Pöbel.» (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra) Selbstverständlich, dass auch Gott manchmal übermütig wird und sich einen Spaziergang in den Herzen der Vagabunden zutraut, so dass er sich manchmal in die kleinen, mittelalterlichen Straßen, deren Schweiß und Tränen in perlenartigen dünnen Fäden zwischen den Gehsteigen fließen, verirrt und nur dort zu finden ist. Obdachlose Ideen überschwemmen seine Gestalt und verändern die Richtung seiner Gedanken. Ein Schatz besteht nicht nur aus teuren sichtbaren Gegenständen... Oft bilden die Ideen, die Gefühle, die unsichtbaren Elemente des Lebens den Mittelpunkt und das Bindemittel unserer ganzen Existenz. Obwohl sie dessen unbewusst leben, würden die mittelmäßigen Materialisten ohne diese unbeachteten unsichtbaren Dinge nicht weiterleben können. * * * Im überschwänglichen Applaus des Goldenen Saales erheben sich drei Kulturliebhaber. Die neue Inszenierung ist ein wahrer Erfolg! In ihrer Stadt gibt es genügend Kulturveranstaltungen, jedoch muss man nicht außergewöhnlich angeberisch sein, um ihre Anzahl mit mindestens einer Dezimalstelle zu vermindern. Regisseure, die den Wert eines Kunstwerkes hinter der schwarzen Tinte, zwischen den Noten und an der Linie, die zwei verschiedene Farben trennt, erkennen, wählen selten diese Stadt, weil sie auch möchten, dass ihr Honorar nicht nur aus einer schönen Zeit, der Unterkunft im besten Hotel der Stadt und einer Taschengeldsumme besteht. An diesem Abend kann man aber nicht nur den Melodien zuhören, sondern man spürt den künstlerischen Ausdruck mit allen Nerven. Sie verbirgt Tausende von Jahren Geschichte mit ihren Geheimnissen und Mächten, mit einfachen Menschen und großen Denkern, die Formen und Farben wiedergeben, die sanften Landschaften einer Welt aus anderen Zeiten, die uns für immer fremd bleiben werden; eine antike Zivilisation, die wir trotz unserer Forschungen nicht genau 136 kennen, sondern nur erahnen, widerspiegelt sich durch ihre Symbole und Traditionen. Die Aufführung ist so magisch, genial vorbereitet, dass man das Gefühl hat, man könne dieses Universum betreten und ein wahrer Held des Märchens werden. Die glänzende Marmoroberfläche befreit verschlossene Stimmen der zerbrechlichen Becher und tausende Scherben verteilen sich wie Sandkörner im Foyer. «Schaut, das ist der Simon! Gut, dass mindestens er die Aufführung nicht verpasst hat.» Der Vater freut sich immer, den Sohn seines Freundes und ehemaligen Kameraden zu treffen. «Wir sollten ihn nicht so alleine lassen», schlägt Hanna vor. Doch bevor sie sich gegen ihn richten, steht der junge Mann schon neben ihnen und verbreitet mit einem Lächeln Lichtstrahlen. «Ich war mir absolut sicher, dass ihr diese Aufführung nicht verpassen könnt und ich wünschte, dass wir diesen magischen Abend mit Champagner feiern, aber so ungeschickt ich bin, müssen wir das jetzt auf trockenem Land machen. Meine Eltern lassen euch herzlich grüßen und ihnen tut es wirklich leid, dass sie gerade heute nicht kommen konnten.» Die letzten Glasscherben, die auf dem Boden Himmelsbrüche widerspiegelten, wurden schon aufgeräumt, und das Foyer sieht so aus wie vor vier Minuten. «Wie geht es noch mit deiner Doktorarbeit, Simon?», fragt die Mutter. «Es geht schwierig voran, weil mir zu wenige Quellen zur Verfügung stehen. Fast alle Kontakte meines Professors haben uns keine Rückmeldung gegeben und sogar die Partner aus Amerika haben uns ihre dunkle Seite gezeigt, als sie uns die Tür vor der Nase zugeschlagen haben. Ich bearbeite jetzt verschiedene Bücher und Photos aus privaten Sammlungen und Archiven und werde mit einer der größten Herausforderungen meines Lebens konfrontiert: tolerant und geduldig zu sein.» «Es wäre sicher höchste Zeit, dein Bild als leicht egoistischer Bube ein bisschen zu raffinieren. Aber, dass ein paar rosinenartige, einmal stinkreiche Damen mit ihren Teetässchen das erreichen werden, was deine Eltern schon immer versucht hatten, daran verzweifle ich noch.» Der Vater hält seine undiplomatischen Reden nur für die besten Freunde, mit denen er sich so bequem fühlt. 137 «In deiner Lage ist es wirklich schön, dass du uns gewählt hast und nicht allein zu Hause hinter Bergen von Analysen, Chroniken und Studien die Dämmerung dieses sonnigen Tages verbringen wolltest.» Da die Kinder der zwei Familien fast gemeinsam großgeworden sind, werden sie von den beiden Müttern wie die eigenen geliebt. «Es scheint, als ob die Kunstgeschichte des 20. Jhds. mehr gefährliche Geheimnisse verstecken würde, als die blutigsten Berichte des zweiten Weltkrieges. Ich bin mir sicher, dass unter der Matratze genügend Quellen verborgen liegen, die aber nicht ans Licht gebracht werden dürfen.» «Haben verborgen gelegen.» Drei Paar Augen schauen zu Hanna hinüber, die bis jetzt nur zugehört hat. «Wie meinst du das?» «Die Quellen haben verborgen gelegen. Wahrscheinlich wurden sie schon vor langem vernichtet. Meiner Meinung nach können die noch existierenden nicht bekannt gemacht werden, weil sie im Zusammenhang mit Kunstwerken stehen. Kannst du dir vorstellen, was passieren würde, wenn morgen Picassos «Guernica » nicht mehr zu finden wäre? Es würde ein Riesenskandal entstehen: Museen, Ministerien, Kunstvereine, Medien, diplomatische Beziehungen, alles würde wie in Hiroschima explodieren. Folgt ihr mir noch? Die Kunstwerke dürfen nicht zerstört werden; außerdem liegen viel mehr Interessen hinter allen diesen teuren Gegenständen. Wie wird etwas auf eine solche Art getötet, dass es weiter aufrecht steht und lebendig scheint? Man vernichtet seine Geschichte, man schneidet seine Wurzeln ab. Etwas, das keine Geschichte besitzt, hat auch keinen Wert, und das Leben tropft heimlich heraus, so dass es eines Tages unverständlich tot vor der ganzen Welt steht.» «Wenn aber schon so vieles bekannt gemacht wurde, alle monströsen Facetten des Krieges und der Geheimdienste, warum bleibt gerade die Kunst hinter Schloss und Riegel?» «Weil sie immer noch brauchbar ist. Alles, was schon in einem Krieg verwendet wurde, ist allen Interessierten bekannt und deshalb auch unnötig. Darum werden auch den einfachen Leuten solche Einzelheiten präsentiert: nicht für Erziehung, sondern für Ablenkung von den wirklich wichtigen Sachen.» «Die klassische Kunst ist heutzutage so unwichtig und übersehbar, dass sie bald aussterben wird. Vielleicht werde ich bis am Ende meiner Karriere keine Beschäftigung mehr haben.» 138 Sein Lachen ist so angestrengt, als ob er das Sterben eines guten Freundes verheimlichen wollte. «Für Kunsthändler wird nichts aussterben, mach dir keine Sorgen. Die werden darauf bedacht sein, dass ihr sicherstes Mittel nicht verschwindet. Die einzige Frage, die mich beängstigt, ist, für wen du in 30 Jahren arbeiten wirst. Meiner Meinung nach muss die ganze Gemeinschaft dazu bereit sein, ihre Werte zu promovieren und zu schützen, aber dafür gibt es zu selten die nötige Erziehung. Man kann doch gleich gut mit oder ohne Kultur und Geschichte leben; ohne ist alles sogar viel einfacher, oder?» «Du hast bestimmt Recht. Leider fehlt das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Wir leben die individualistischste Epoche unserer ganzen Existenz. Ich bezweifle, dass es noch einen weiteren Schritt gibt.» «Darüber hinaus auch noch die Epoche der Entzivilisierung!» «Das klingt wie ein Toast: Für unsere Epoche und für...!» Das schrille Klirren unterbricht die Rede der vier Kunstliebhaber wie ein kalter Wind aus dem Osten den goldenen Sandstrand an einem Sommertag aufwühlt. «Simon. möchtest du dich neben uns setzen; da gibt es reichlich freie Plätze?» * * * Aus dem Foyer führen zwei kaiserlich geschmückten Treppen hinunter zum Parkett und weitere zwei steigen zu den Logen. Hanna und ihre Mutter wählen die rechte Treppe. Das spielt auch keine Rolle, weil sie beim Hinuntersteigen die linke sein wird. «Mama, glaubst du, dass es in 30 Jahren noch Familien geben wird? Oder wird auch dieses Gefühl eines Tages verblassen?» «Ich habe keine Ahnung, Hanna. Um ehrlich zu sein, bin ich überfordert. Ich glaube nicht, dass jemand weiß, was in einem halben Jahrhundert alles passieren wird und ob die Welt noch so sein wird, wie sie uns bis jetzt bekannt gewesen ist. In letzter Zeit wurden so viele mächtige Kräfte in Bewegung gesetzt... Diese Kräfte brauchen Zeit und Mühe, um eingeschaltet zu werden, aber in dem Augenblick, wo sie unabhängig werden, ist ihre Trägheit schon so groß, dass sie nicht mehr aufzuhalten sind. Wenn es aber die Möglichkeit gibt, dass alles Gute für immer gerettet wird, wird dies nur durch Liebe, Weisheit und Toleranz erfolgen.» 139 Der Vater hatte Simon am Arm genommen und ihn zur linken Treppe geführt. «Ich habe gestern einen so guten Witz gehört und selbstverständlich habe ich ihn mir gemerkt», sagt der Vater lachend. «Ich bin doch auch neugierig. Ich bitte um eine Erweiterung meiner Humor-Weisheiten-Sammlung.» «Ein Asteroid wird in kurzer Zeit auf die Erde stürzen. Die Medien haben sich bei einem Weissager erkundigt, ob diese Kollision das Ende der Welt darstellen wird. Die Antwort kam kurzfristig: Nein, sie wird nicht das Ende der Welt sein. Sondern Wordlexit! » «Ich wünsche mir, dass wir als vernünftige Wesen eines Tages einen besseren Weg, als die heutigen holprigen Autobahnen finden werden. Das einzig Gute, das ich an der künstlichen Produktion der Babys finde, ist die Tatsache, dass man sie theoretisch mit allen erwünschten Qualitäten beschenken könnte. Ich würde solchen Wesen unbedingt Integrationsfähigkeit und Geduld geben, damit keine Frustrierte und Gestresste mehr existieren!» Hanna lacht schon über ihren komischen Plan. «Du weißt doch, wie man sagt, Intelligenz ist die Fähigkeit, sich an alle Bedingungen anpassen zu können. Dann würde den künstlichen Menschen lebend in einer chaotischen Welt auch nur die Anpassungsfähigkeit genügen, oder?» «Weißt du, welches der größte Fehler unserer demokratischen Gesellschaft ist?» «Ich könnte mir mehrere Fehler überlegen, aber einen einzigen, das ist zu schwer» «Ich sage es dir gleich. Ich habe zu lange die Einzelheiten verschiedener politischer Systeme studiert, habe mich mit geschichtlichen katastrophalen Fehlern durchgesetzt und habe versucht, die Denkweise der Wahlperson zu verstehen. Ich glaube, dass unsere Existenz von keinen Prinzipien mehr geleitet ist; es gibt nichts, das uns durch innere Verbrennung auf eine höhere Ebene bringen kann. Politisch gesehen widerspiegelt sich die Mentalität des modernen Menschen durch die Tatsache, dass keine Ideen, keine Ideologien mehr gewählt werden, sondern Menschen. Man wählt ein Aussehen, eine Funktion, im besten Fall eine Biographie.» «In Prinzip verlieren wir mit exponentieller Geschwindigkeit alles, was unsere Vorfahren in Millionen von Jahren gesammelt haben. Nein, besser gesagt, wir synthetisieren unser 140 kulturelles Erbmaterial in einer solcher Weise, dass wir es nicht mehr erkennen können, aber es bleibt noch immer da, als Basis unserer weiteren Entwicklung.» «Und eines Tages wird jemand erkennen, wie weit entfernt von der Wirklichkeit wir unsere Existenz führen.» Hanna und ihre Mutter sind schneller vor der Loge angekommen und haben auf die Männer gewartet, so dass sie auch das Ende ihres Gespräches überhören konnten. * * * Das Licht löscht sich aus und das Publikum tritt in das Sagenhafte ein. Ein tiefer Ton bringt unbekannte angestammte Furcht in die Seelen und lässt sie wie vor dem Tod zittern. Hanna schließt die Augen, um die Empfindung besser zu spüren und als sie sie wieder öffnet, kann sie die Wirklichkeit nicht mehr erkennen. Sie sitzt nicht mehr auf ihrem flauschigen Platz, sondern steht in der Mitte der Bühne, vor allen Menschen, vor gierigen Augen, die sich wie schwarze Löcher vor ihr öffnen und darauf warten, sie aufzuschlucken. «Wenn sie mich hinunterschlucken wollen, dann bleiben ihnen meine Ideen sowieso im Hals stehen», denkt Hanna mit zynischem Vergnügen. «Das ist doch unglaublich, dass wir hier sind!» Sie hatte Simon noch gar nicht bemerkt. Der hat jetzt noch gefehlt! Seit langem hat sie nicht mehr mit ihm geredet. Oft wünscht sich Hanna, dass die Sachen wieder so sind wie früher; das alles einfach und natürlich verläuft, dass sie keinem etwas beweisen müssen, dass nur sie wichtig sind. Doch sie ist sich ziemlich sicher, dass sie für eine Zeit nichts Ernstes mit ihm reden wird. «Seit immer habe ich mir gewünscht, die wahre Geschichte hinter einem Kunstwerk zu erfahren.» «Das hast du doch schon gemacht» «Du hast mich nicht richtig verstanden: die Welt, die ein Kunstwerk darstellt, möchte ich erforschen, die Geschichte im Herzen der Erzählung oder des Bildes möchte ich erleben.» «Das ist doch unmöglich! Dafür hast du Phantasie.» Empörung stieg in Hanna herauf. «Es muss möglich sein: wir sind doch hier! Außerdem gibt Kunst keine Antworten. Sie ist nur ein trübes Fenster zu Fragen und Ideen, die keiner noch hatte.» «Glaubst du, dass wir diese Stelle verlassen können werden?» 141 Die Stille breitet sich auf die ganze Bühne aus und dehnt sich auch im Publikum aus. Ein leiser Triller der Flöten im Hintergrund ist die Botschaft eines unbekannten Teiles des Märchens. «Ich weiß nicht. Ich glaube, wir sind da aus einem bestimmten Grund, aber ich wage es nicht, diesen zu suchen. Sicher werden wir nachher von hier herauskommen können.» Sie dreht sich herum und Simon glaubt, ein zartes «Schade» zu hören Der Triller verstummt. Der Kontrabass öffnet den Tubas den tönernen Weg. Plötzlich wird die Luft heiß wie Blut, auf der Zunge schmeckt Blut, am Hinterkopf spürt man den Sturz der Gestalt. Eine Gruppe dunkel bekleideter Gestalten, mit Hörnern und schwarz geschminkten Augen sperren Ana und Simon in einem kleinen Zimmer ab. «Ana, es tut mir leid... für alles, das nicht passieren sollte, tut es mir leid. Ich hätte für dich da sein sollen, wenn du am meisten jemanden gebraucht hast. Für mich war es auch eine schwere Zeit gewesen, die ich allein durchqueren musste, aber dann wollte ich nicht deine Hilfe bekommen. Ich kann dich verstehen, wenn du mir nicht vergeben kannst.» «Ich habe dir nichts zu vergeben.» «Willst du mich erzählen lassen, was ich mit mir alles gemacht habe?» «Hat es ein trauriges Ende? Ich bin mir jetzt nicht sicher, ob ich eine tragische Geschichte hören kann.» «Wenn es traurig ist, bedeutet es, dass das Märchen noch nicht zu Ende ist.» Als Antwort breitet sich ein kleines, altes Lächeln auf Hannas Gesicht. «Das Seltsame an dieser Geschichte ist mein Eindruck, dass ich sie noch in einem anderen Leben gelebt habe.» «Ich habe so oft dieses Gefühl, dass ich eine uralte Seele bin, die schon in so vielen Leben die Augen geöffnet hat, dass ich jetzt vorher wissen kann, was passieren wird.» «Zur Geschichte also. Kurz nachdem ich die Recherche für meine Doktorarbeit begonnen habe, wollte ich endlich sichtbar werden; ich kann bis heute nicht verstehen, welches mein damaliger Wunsch gewesen ist, aber ich wollte ein für alle Mal anders sein als ich bin: sichtbar. Es ist nicht schwer gewesen, eine Gruppe freundlicher Leute kennenzulernen und kurz danach verbrachte ich schon ziemlich viel Zeit mit 142 ihnen. Sie waren hauptsächlich Studierende und Kollegen. Ich erlebte komplett neue Sachen, von denen ich nie geträumte hatte. Wir hätten eines Tages sogar Freunde sein können, aber ich hatte schon damals dieses fremde Gefühl, angefangen mit den grundsätzlichen Charakterzügen meiner Identität verändert zu werden.» «Wie hast du es bemerkt, dass nicht alles zwischen euch funktioniert hat?» «Es sind drei Ereignisse, die für mich eine besondere Bedeutung haben.» «Drei?» «Ja, genau. Über das erste habe ich gelogen, es sei mindestens normal, wenn nicht selbstverständlich. Trotz meines alten Wunsches, nie zu rauchen, habe ich darauf eines Nachts verzichtet und glaubte, mit einer Kopfbewegung so zu sein, wie sie.» «Unglaublich, du hast dir vor Jahren versprochen, das nicht zu machen. Wie leicht-vergesslich einer sein kann. Und was waren die anderen zwei?» «Am Anfang des Frühjahrs haben wir eine ganzen Nacht auf den Dächern der Wohngemeinschaften aus dem Ostviertel verbracht. Es ist so magisch wie ein geheimes Ritual gewesen. Der Himmel schien auf uns fallen zu wollen, und man konnte die leuchtenden Sterne mit der Hand berühren. Bildlich ist es wunderschön gewesen, die unendlich vielen Farbvariationen mitzuerleben. Dorthin sind wir später nie wieder zurückgekehrt, und obwohl ich es auch alleine machen könnte, will ich auf die riesigen Gebäuden nicht ein zweites Mal klettern, damit ich den Traum nicht zerstöre.» Simon verstummte in seiner Ecke. In langen hellen Stoffen als Bekleidung, verprügelt, verängstigt, sahen beide so jung und zart wie zwei Schneeglöckchen auf einem Haufen fauler Erde aus. Sie waren machtlos. Nutzlos. Sinnlos. Die Pause verlängerte sich in höchster Ruhe und die Stimmung war so angespannt, dass man nur den Zug der Zeit hören konnte. «Weiterhin haben wir uns sehr gut und fast wortlos verstanden. Doch am Anfang des Sommers sind sie alle plötzlich verschwunden und nie wieder erschienen. Wie ein guter Freund habe ich sie aufgesucht. Ich fühlte mich verlassen, ohne ihre Unterstützung war ich verloren, ich spürte physisch ihre Abwesenheit.» «Ich weiß nicht, warum du dich aufregst. Das kann jedem 143 passieren: du hast geglaubt, sie wären deine Kumpel, aber nachdem sie genug von dir hatten, haben sie dich so verlassen, wie sie dich gefunden hatten.» «Nein, Hanna. Es ist viel schlimmer, als du denkst. Ich habe den Plan meiner Dämonen, die mir die Seele auffressen, vollendet. Am Ende habe ich den Sieg meines Körpers als Preis bekommen, aber dieser stimmte mit dem Sturz meiner Seele überein. Dafür muss ich jetzt sterben.» «Nein, nein, dir wird nichts mehr passieren. Habe keine Angst, ich bin jetzt bei dir. Suche nur das Gute; es muss irgendwo sein, obwohl du es vielleicht nicht sehen kannst. Wo immer Böses zu Hause ist, kann genauso viel Gutes gefunden werden.» Kreise von dunklen Menschen umzingeln die beiden Kinder, und im Hintergrund erblickt man eine mächtige Gestalt mit reicher Krone auf dem Haupt. In diesem Augenblick wird Simon von einer langen schwarzen Messerschneide gestochen, und er fällt schwer atmend zu Boden. Hanna, die neben ihm gesessen hat, bleibt vor Schreck keine Bewegung. Dann langsam, als ob sie die Luft nicht stören wollte, nimmt sie aus einer innerer Schicht seiner Bekleidung ein kleines Holzstück. «Simon, wach auf, einer neuer Tag fängt an!» Hanna legt das Holzstück auf die Lippen und das schönste Lied, das jemals gespielt wurde, erschallt um die zwei herum. «Simon, wach auf, die alte Nacht verblasst!» Die schwarzen Menschen können der Anziehungskraft nicht widerstehen und legen sich auf den Boden hin, weiße Menschen treten herauf und die mächtige Gekrönte explodiert in Tausende von Splittern, als sie vom ersten hellen Sonnenstrahl gestreichelt wird. Das Orchester erreicht einen letzten harmonischen Höhepunkt und ihr letzter Klang lässt den ganzen Goldenen Saal vibrieren. «Simon,...» Der schwere Goldene Vorhang fällt zum Boden und schließt die Geschichte wie zwei Buchdeckel in einer Welt, die nie dieselbe sein wird. Der Aufprall und der Applaus überdecken Worte und Fragen, die vielleicht nie Antworten bekommen werden. * * * Eine Familie. Die kühle Luft der Sommernacht streichelt die Gesichter vierer unsichtbarer Menschen. Keiner kennt ihre 144 wahre Identität. Ihre Existenz ist ein harmonisches Gemisch unendlich vieler Farben, das aber von keinem gesehen wird. Weil sie unsichtbare Menschen sind. UNBEZAHLBAR von Susanne Schmalwieser Ort: Kaffeehaus. Kaffeehauskultur, Speisekartenliteratur, Konzerte aus Murmlern, Sinfonien vom Gabel-Am-Teller-Kratzen. Herr Ober, Herr Ober, steht im Libretto der Leute und der Koch ist Komponist. Vor mir: Oma. Sie trägt rot in rot, mit Lippenstift, nippt am Wasser, im Oma-Stil, wie alte Leute eben nippen: Würdevoll berechnend, mit einem Blick über den Glasrand hinweg. Was zählt ist die Gestik, das Jetzt-Wird-Es-Ernst, das Trinken ist nur Nebensache, denn Getränke kann man kaufen. Alles andere an dieser Geste nicht. Du bist ja noch ein Kind, beginnt sie, und verstehst ja eigentlich nicht, aber die Sache ist die, macht sie weiter, ich werde bald gehen. Fort von hier, fort von dir, und dann wird es aus sein, vorbei mit aller Berechnung und Würde, und was von mir bleibt, ist Besitz. Sie meine es nicht pessimistisch, es sie ein Fakt, so wahr, wie das Kaffeehaus klein ist, so ungelogen, wie die Torte gut. Torte: schon fast weg. Kratze, Sterne und Herzen aus Bröseln, Blumenwiesen aus Schokoglasur. Glasiert ist auch der nette Kellner, unter der Lackschicht würde er uns gerne von seiner Tochter erzählen, seiner großen, die nächstes Semester Jura studiert. Über der Lackschicht bringt er Kaffee, einen Espresso und eine Melange, mandelbraun, wie der Tisch, auf dem Oma sich mit ihren Fingern einen eigenen Trommelwirbel gibt. Trotz allem gäbe es Dinge zu klären, sagt sie jetzt, Dinge im wahrsten Sinne des Wortes. Dinge, die ich nicht verstehe, eine Schande sei es, aber man könne nichts ändern, man brauche meine Einverständnis. Im Blicke-Universum zwischen Augen und 145 Brille versuche ich mich zurechtzufinden, will lesen, was in den Sternen ihrer Gedankenwelt steht, doch – wie heißt es so schön – außerirdisches Leben wird uns besuchen, nicht umgekehrt. Im Blicke-Universum: Ein Zwinkern. Nicht an mich, vielmehr an das würdevolle Spiegelbild, doch das Zwinkern ist die Sternschuppe, die mich wünschen lässt, mich mir die Frage wünschen lässt, die ich höher als jedes Weihnachtsgeschenk dieser Welt geschätzt hätte. Ein Haus wäre da, nahe bei der Hauptstadt, der Garten nicht groß, die Nachbarn passabel, das Grundstück etwa eine Million. Etwa eine Million glücklich habe sie das Haus gemacht, sie nennt es Häuslein, ihr Häuslein des Glücks. Sie könne es aus Prinzip nicht verkaufen, denn wer kauft sind die Jungen, die Aufsteiger, die Umstürzler, und umstürzen, gar abreißen würde ihr Häuslein niemand. Das stehe schon gut dort, wo es steht. Und ich sei eben zu jung. Ich: lege den Kopf schief. Senke ihn auch leicht nach unten, kneife meine Augen zusammen, manche Dinge lernt man eben mit der Zeit. WieBitte-Was zu sagen zeugt von Mangel an Verständnis, von falscher Empörung, unberechtigter Wut – unkontrollierten Hormonen des Eben-Zu-Jung. Ich wisse nicht, was ich wolle, meint sie, bin doch nur ein Kind. Sie wolle mich ja auch nicht belasten, aber ich wisse ja, wie Mama ist. Mit der brauche man ja nicht zu diskutieren. Schreibe Mamas Namen am Teller, verstehe nicht, was man von mir will, vielleicht bin ich dafür zu jung, früher hätte ich gefragt, aber Fragen wirft dich zurück ins Früher, macht dich noch jünger, als du bist. Früher: war alles anders. Hab mich so verändert, in letzter Zeit, hab die Veränderung in die Arme geschlossen, sie hat mich huckepack mit auf den Weg genommen, auf den Weg ins Kaffeehaus, auf den Weg hierher. Habe Schoko- und nicht Obsttorte bestellt, hatte der Routine genug, traue mich jetzt nicht nach der Frage zu fragen, um das zu bitten, was ich wirklich will. Sie denke nicht, dass ich gut für ihr Haus sei, meint Oma, ich sei ja noch so jung. Wisse nicht, was aus mir werde, und ich selbst 146 wisse noch nichts von der Welt. Wahrscheinlich würde ich es ja verkaufen, irgendwann, wenn ich einmal lieber Getränke kaufe, als an Oma zu denken, und nicht einmal das könne ich jetzt wissen, ich darf noch nicht trinken, und wer noch nie betrunken war, kann keine echten Versprechungen machen. Meint Oma. Kaffee: Wird kalt. Wollte schon immer über Gespräche die Bestellung vergessen, das Essen stehen und die Getränke kalt werden lassen, mich nur auf mein Gegenüber konzentrieren und mich im Blicke-Universum verlieren. Aber nicht so. Überschlage meine Beine, trage das Blumenkleid, weil Oma es mag. Mädchen müssen Kleider tragen, meint sie, denn Kleider machen Leute, machen Freunde, machen Ehemänner, zeigen Ordnung, Etikette, und mir ist es eigentlich egal. Egal ob Jeans oder Kostüm, gleich sehen wir ja sowieso aus, in der Schule, in der Oper, auf den Straßen und die Dinge, in denen wir uns wirklich unterscheiden, lassen sich sowieso nicht ändern. Könnte jetzt diskutieren, ob das gut ist, aber zurück zu Oma. Sie schlägt einen Block auf, dort steht, handgeschrieben, ein Entwurf für ihr Testament. Faltet die Hände am weißen Tischtuch, ihr Daumen ist noch fleckig von blauer Tinte, mit dem Zeigefinger hat sie sich am Papier geschnitten. Ihr sei schon klar, dass ich ja eigentlich nicht mitreden könne, aber uneigentlich könne das sonst auch niemand, ach, und ich solle doch bitte mein Knie mit dem Kleid bedecken. Ich frage, wieso. Ob ich sonst noch eine Frau sähe, die ihre Beine so überschlägt, will sie wissen. Nein, dann bin ich eben die erste. Kellner: mischt sich ein. Die Diskussion könne andere Leute stören, ich solle auf meine Großmutter hören, so sitze man als Dame nicht. «Als Dame?!» «Fräulein, ich ersuche um Mäßigung.» Oma meint, das unbedeckte Knie sei irritierend. Dann solle sie doch nicht hinschauen. Der Kellner entfernt sich langsam, rückt seine Fliege zurecht, Oma meint immer, es sei schrecklich, dass mittlerweile alle Kellner Schürzen tragen. Fragt mich, ob ich der Meinung sei, dass sie da «auch einfach nicht hinschauen» solle. Ich nicke. Sie murmelt etwas von Rebellion, von Phasen, Hormonen, dass sie sich mit ihren Notizen so viel Mühe 147 gegeben habe und das Gespräch zu einem Ende bringen wolle. Ein anderer Kellner nimmt Gabel und Teller, mit denen ich die Schokoladenbilder gemalt habe – das macht man ja auch nicht, aber ist das nicht der Punkt am Jung-sein? Genau das zu tun, was bisher niemandem eingefallen ist? Der Preis dafür sei zu groß, meint Oma. Respekt, Zuneigung, Vertrauen, Liebe. Oder eben Rebellion. Ich müsse mich entscheiden. Jede Generation muss sich aufs Neue entscheiden. So wie Oma sich mit ihrem Haus entscheiden muss. Aber um das zu verstehen, sei ich zu jung, sagt Oma, bevor sie wieder nach ihren Oma-Notizen greift und mit einer eleganten Oma-Handbewegung ihren Oma-Kaffee umstößt, der kalt und mandelbraun, erst langsam und dann immer schneller das weiße Tischtuch dunkel färbt, sich dann auf das noch weißere Papier ausbreitet und eins wird mit der blauen Tinte auf Omas Block, bis sich jedes einzelne Wort, von der Überschrift bis zum letzten Punkt, im Vorzeigeprodukt der Kaffeehauskultur auflöst, genau wie die Chance, dass mir heute die eine unbezahlbare Frage gestellt wird, auf die ich seit dem ersten Bissen Schokotorte warte: «Was ist denn deine Meinung?» WIE KÖNNTE UNSERE WELT IN 40 JAHREN AUSSEHEN? Ein Experiment von Maria Gazarjan V1 Der schrille Ton meines Weckers durchdringt meinen Schlaf und zieht mich zurück in die Wirklichkeit. Wie üblich will ich nicht aufstehen, will stattdessen wieder in meinen Traum eintauchen, doch der Wecker wird mich nicht in Ruhe lassen, solange ich im Bett liegenbleibe. Der Wandlautsprecher verstummt, nachdem die Sensoren mein Aufstehen registriert haben. Ich gähne, strecke mich. Trinke das Glas Wasser leer, das wie jeden Morgen auf meinem Nachttisch wartet. In einer Stunde wird es sich wieder gefüllt haben. Ein Blick durch das Fenster verrät mir, dass das Wetter 148 angenehm zu sein scheint. Die Sonne sendet ihre sanften Strahlen durch die Glasoberfläche. Ich öffne meinen Kleiderschrank. Siv, unser Haushaltsroboter, berechnet den heutigen Temperaturverlauf und stellt mir darauf basierend ein paar Kombinationen zusammen. Ich entscheide mich für eine bequeme, elastische Jeans und ein kurzärmeliges Top aus lockerem Kunststoff. Die langen Haare binde ich mir zu einem Zopf. Bevor ich nach unten gehe, streife ich mein Armband über. Meine Eltern sitzen schon am Frühstückstisch und unterhalten sich. Mein kleiner Bruder ist nicht dabei; wahrscheinlich ist er noch oben in seinem Zimmer. Durch ein verschlafenes «Guten Morgen» kündige ich meine Anwesenheit an. «Guten Morgen, Schatz. Gut geschlafen?», fragt meine Mutter. «M-hm.» Ich nicke und setze mich auf einen der freien Stühle. Die frischen Brote liegen auf dem Tisch bereit. «Siv», sage ich. «Einen Kaffee, bitte. Nummer Drei.» Nummer Drei, das bedeutet Standardmischung mit zwei Löffeln Milch und einem Löffel Zucker. In der Küche ertönt die Kaffeemaschine. Ich bin noch etwas müde, aber das wird sich gleich ändern. Siv hat den Fernseher bereits aktiviert. Auf der Wand gegenüber dem Esstisch wechseln sich die Bilder ab: Eine Nachrichtensendung. Ich hole meinen Kaffee und verfolge, ihn trinkend, das Geschehen auf dem projizierten Bildschirm. In Chile hat es wieder eine Überschwemmung gegeben. Die Überlebenden sind verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Bleibe und nach ihren Angehörigen, die seit der Katastrophe vermisst werden. So oft, denke ich bedauernd. Das passiert viel zu oft. Nächstes Bild: In Tokio droht zunehmend die Überbevölkerung. «Kein Wunder», kommentiert mein Vater, während er sich ein Brot belegt. «Bei 36 Millionen auf so engem Raum. Das sind allein schon halb so viele wie in ganz Deutschland.» Immerhin gibt es gute Nachrichten: Forscher haben einen Planeten entdeckt, der der Erde ähnlicher sein soll als alle anderen Funde dieser Art, die bisher gemacht worden sind. Diesmal könnte es ein Erfolg sein – das klingt nach Hoffnung. Lange werden unsere Ressourcen jedenfalls nicht mehr ausreichen. Das erzählen sie uns jedenfalls in der Schule. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, kommt mein Bru- 149 der Kai die Treppe hinuntergestürmt. Er hat seine Bettdecke um die Schultern gehüllt und sieht ziemlich blass aus. «Ich glaub‘, ich bin krank», nuschelt er und schnieft zur Bestätigung. «Oje, du Armer. Komm mal her.» Meine Mutter steht auf, um sich um ihren elfjährigen Sohn zu kümmern. Sie lässt Siv seine Werte messen und die passenden Medikamente bereitstellen. «Ist nur eine Grippe», sagt sie schließlich. «Heute bleibst du daheim. Nimm deine Medizin, dann kannst du wieder hoch auf dein Zimmer.» Nach dem Essen machen sich meine Eltern auf zur Arbeit. Ich schalte mein Armband ein, um die Uhrzeit zu prüfen. Das Hologramm zeigt 7:48. Um 8:00 beginnt der Unterricht. Schnell rufe ich noch meinen Stundenplan auf und sehe nach, welche Kurse mich heute erwarten: Wirtschaft, Computertechnik und Chinesisch. Die Hausarbeiten habe ich auf dem Armband gespeichert. Alles klar, ich kann gehen. Die Haltestelle ist gleich um die Ecke. Ich steige in die Bahn. Wie immer bin ich umringt von älteren Menschen. Jemanden in meinem Alter anzutreffen, ist heutzutage gar nicht so einfach. Meine Augen leuchten auf, als ich ein bekanntes Gesicht in der Menge ausmache: Eine Klassenkameradin. Zusammen fahren wir zur Schule. Zu Fuß bräuchten wir eine halbe Stunde; so sind wir in drei Minuten da. V2 Ich erwache langsam. Das Erste, was ich spüre, ist die Kälte, die hartnäckig versucht, sich einen Weg durch die Decke bis zu meinem Körper zu bahnen. Geräusche dringen von draußen in mein Zimmer: Der Wind, der durch die Baumkronen und über die Felder weht sowie dessen Pfeifen, während er durch die Ritzen und Spalten des undichten Hauses schleicht; Die tierischen Laute der Kühe und Hühner, die über den Hof hallen; der ratternde Motor einer Erntemaschine – meine Eltern sind anscheinend schon früh aufgestanden, um die tägliche Arbeit zu erledigen, die nicht auf sich warten lässt. Meine Sinne sträuben sich dagegen, das Bett zu verlassen, doch ich weiß, dass ich nicht liegenbleiben kann. Es ist meine Pflicht, meiner Familie bei der Arbeit zu helfen. Fröstelnd schlage ich die Decke zur Seite und erhebe mich, 150 mich duckend, da die Dachschräge meines Zimmers nicht viel Freiraum nach oben zulässt. Ich öffne meinen Kleiderschrank und überlege, welche Kleidung für den heutigen Tag am praktischsten ist. Das Wetter scheint trotz des Windes ganz angenehm zu sein, was mir ein Blick durch das Fenster verrät. Die Sonne sendet ihre sanften Strahlen durch die Glasoberfläche. Ich entscheide mich für eine grobe, robuste Jeans und eine kurzärmelige Bluse aus Leinen. Die langen Haare binde ich mir zu einem Zopf. Der Frühstückstisch ist leer, als ich unten ankomme. Mein kleiner Bruder ist ebenfalls nicht da; Entweder er hilft meinem Vater mit der Maschine oder er schläft noch in seinem Zimmer. Meine Mutter kommt gerade mit frisch gefüllten Obstkörben durch die Haustür. «Guten Morgen, Schatz. Gut geschlafen?», fragt sie und stellt die Körbe auf dem Boden ab. «M-hm.» Ich nicke und nehme mir ein Messer, um ein Stück vom Brotlaib zu schneiden. Es ist nicht mehr viel übrig, aber für das Frühstück wird es reichen. Dazu schenke ich mir ein Glas Milch ein und nehme mir einen Apfel aus einem der Körbe. «Wenn du fertig bist, komm doch bitte zu mir, ja? Ich brauche dich draußen auf dem Hof», sagt meine Mutter, bevor sie das Haus wieder verlässt. «Ja, ist in Ordnung», rufe ich ihr hinterher und setze mich auf einen der freien Stühle. Ich wüsste gern, was es Neues in der Welt gibt, aber einen Fernseher können wir uns nicht leisten; Vermutlich hätten wir hier ohnehin keinen Empfang. Ich hoffe, dass der Postbote sich heute noch bei uns blicken lässt, um die Wochenzeitung vorbeizubringen. Darauf freue ich mich immer am meisten, denn es bedeutet eine Verbindung zur Gesellschaft. Ich wäre gerne auf die weiterführende Schule gegangen, jedoch sehen meine Eltern darin wenig Sinn. Alles, was ich zu wissen bräuchte, hätte ich ihrer Überzeugung nach in den ersten Schuljahren gelernt – außerdem ist der Schulweg zu lang und aufwändig, um ihn zu bestreiten. Vor allem, da mein Vater das Auto für den Handel braucht. Dass wir eines besitzen, sei überhaupt schon ein Luxus, sagt er. Die Kosten für den Antrieb sind so enorm in die Höhe gestiegen, dass nur noch wenige Personen einen Wagen ihr Eigen nennen 151 können. Wenn ich nicht den Hof übernehmen müsste, würde ich Ingenieurin werden. Ich würde die Solar- und Windkraftenergien weiterentwickeln und mich für den Wiederaufbau unserer Gesellschaft einsetzen. Gegen die Isolation kämpfen. Aber Landwirtschaft ist auch wichtig, das weiß ich von meinen Eltern. Wir bekommen unsere Produkte nicht mehr aus aller Welt. Wir müssen sie selbst anbauen. Ganz gleich, welchen Weg mir das Leben ebnet, sage ich mir, es wird schon der Richtige sein. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, kommt mein Bruder Kai die Treppe hinuntergestürmt. Er hat seine Bettdecke um die Schultern gehüllt und sieht ziemlich blass aus. «Ich glaub‘, ich bin krank», nuschelt er und schnieft zur Bestätigung. «Oje, du Armer. Komm mal her.» Ich stehe auf, um mich um den elfjährigen Jungen zu kümmern. Versuche herauszufinden, was ihn erwischt hat. Lege meine Hand an seine vor Wärme glühende Stirn. Ich schlucke. «Ich glaube, es ist eine Grippe», sage ich. Im Schrank ist nicht mehr viel Medizin. Sie ist teurer und seltener geworden, und um sie zu holen, müssen wir in die nächste Stadt fahren. Mit unserem Auto. Aber vielleicht haben wir noch Kräuter zu Hause. Ein warmer Tee würde meinem Bruder fürs Erste guttun. «Warte hier. Ich komme gleich», flüstere ich Kai zu und laufe hinaus in den Hof, um meine Mutter zu rufen. Jetzt gibt es Wichtigeres zu tun als die täglich anstehende Arbeit. 152 153 5. REPORTAGEN - REFLEXIONEN ICH BIN ICH, MIT UND OHNE RASIERTE BEINE. ODER NICHT? Sarah Ouředníčková, freie Seele aus Tschechien Ich bin ein Mädchen, das seine Beine nicht rasiert. Ja, das gibt es wirklich. Jahr 2016. Dunkle, lange Haare auf beiden Beinen. Und nein, es ist nicht, weil wir im Osten keine Rasiergeräte haben oder weil postkommunistische Kulturen im Mittelalter stecken geblieben sind (ich bin ja – übrigens – eine halbe Schweizerin). Nein, es ist auch nicht, weil meine Mutter eine verrückte Feministin ist, die alle Rasierer im Haus sofort zerstören würde (sie rasiert sich ihre Beine, falls das hier wichtig ist). Nein, ich bin nicht transgender. Es ist etwas viel banaleres. Manchmal sind es ja die einfachsten Antworten, die am schwierigsten zum finden sind. Da dachte ich, ich könnte mal fragen, was die Menschen um mich herum über meine Beine zu sagen haben. Und was für eine bessere Gelegenheit dazu als eljub E-Book-Woche. Ich bin also herumgegangen und habe Gespräche mit insgesamt 13 Menschen aus verschiedenen Ländern geführt. Ich habe jedem die fünf gleichen Frage gestellt, und zwar: 1. Hast du bemerkt, dass ich meine Beine nicht rasiere? 2. Was hältst du davon? Wie findest du das? 3. Was denkst du, dass es über meine Persönlichkeit aussagt? 4. Warum denkst du, dass ich das mache, oder eben: nicht mache? 5. Rasierst du deine Beine? Wenn ja, warum? Wichtig zu sagen ist, dass ich nicht wissenschaftlich vorgehen wollte. Keine Studie. Deshalb erwähne ich bei den Aussagen das Alter, das Land und das Geschlecht der Person nicht, weil die Anzahl der Befragten viel zu niedrig ist, um einen Vergleich zu ermöglichen. Es ging mir um etwas anderes. Es kamen sehr spannende Antworten. Nur drei Menschen (von dreizehn) haben gesagt, dass es ihnen nicht aufgefallen ist. Die meisten haben gesagt, dass es ihnen zwar aufgefallen ist, aber es völlig meine Sache sei und es störe sie nicht. Manche haben sogar gesagt, dass sie es cool, gut, originell oder mutig fänden. Einmal ist auch das Wort provokativ 154 gefallen. Nur einmal kam die direkte Antwort: «Sie gefallen mir nicht.» Vielleicht wollten die anderen nur höflich sein. Anhand meiner haarigen Beine wurde ich als selbstbewusst, zentriert, mutig oder revolutionär beschrieben, es kamen aber auch Begriffe wie Hippie, Künstlerin oder eine freie Seele vor. Ich wurde oft als jemand eingeschätzt, die nicht auf Mode und von der Gesellschaft erstellte Schönheitsideale achtet. Als meine möglichen Gründe wurden genannt: — symbolischer Wert (gegen das jetzige Schönheitsideal, gegen diesen Mode-Trend), — geringerer Aufwand, — andere Prioritäten, — gesundheitliche Gründe, — feministische Gründe (gegen das jetzige Frauenbild), oder — einfach anders sein wollen. Die lustigste Idee war sicher die, dass ich nicht wüsste, wie man sich rasiert. Erstaunlich war, dass manche Mädchen sagten, sie fanden es gut, dass ich mich nicht anpasse, aber sie selbst fühlten sich nicht stark genug dafür. Warum rasieren sich dann die Leute ihre Beine? Oft wurden «ein gutes Gefühl» oder «ästhetischer Wert» erwähnt. Dann Mode, die vor allem durch Modezeitschriften verbreitet wird. Mehrere Mädchen haben gesagt, sie würden es nicht aushalten, mit dem Gefühl zu leben, dass sie beobachtet werden und etwas über sie geflüstert wird. Interessant war, dass die Mädchen den Anspruch sowohl von der Seite der Männer, sowie auch von anderen Mädchen erlebt haben. Zwei haben gesagt, sie rasieren sich im Winter nicht, weil es keinen Sinn macht. Zweimal war die einzige Antwort tiefe Stille. Hier vier ausgewählte Aussagen: «Das Aussehen ist wirklich nicht so wichtig, das Wichtige ist, was drinnen ist.» «Ich bin ich, mit und ohne rasierte Beine.» «Es ist fast ein gesellschaftlicher Wert geworden.» «Würden wir jetzt im Dschungel leben zum Beispiel und würde ich Wachs haben, dann würde ich das weiter machen.» Es ist interessant, wie schnell sich die Mode-Trends in unserer Gesellschaft verändern. Als Beweis kann die Geschichte dienen, die mir (beim Gespräch) ein rumänisches Mädchen erzählt hat. Ihre Mutter ist in den 60er-Jahren in einer 155 kleinen rumänischen Stadt aufgewachsen. Die einzigen, die sich schminkten und rasierten, waren die Prostituierten. Es ist auch eine Identitätsfrage, nicht? Was definiert eine Frau? Was bedeutet weiblich? Bin ich weniger Frau, wenn ich meine Beine nicht rasiere? HEIßT DAS JETZT KULTUR-EXIT? von Diana Dehelean Ich habe eine Frage im Kopf, die sich schon seit längerer Zeit hineinbohrt und mich zwingt, immer neue Meinungen zu erkunden. Liegt die Kultur auf dem Sterbebett? Werden die Mitschüler unserer Kinder überhaupt von Richard Wagner, Gustav Klimt, Friedrich Dürrenmatt, Antonio Gaudí, Mihai Eminescu, Alfons Mucha oder Gerhard Haderer noch hören? Oder werden alle kulturellen Werte, die die Menschheit in einigen Jahrtausenden geschaffen und gesammelt hat, plötzlich bis zum Nicht-Mehr-Erkennen verblassen? Für mich ist Kultur extrem wichtig. Ich glaube, ich würde ohne Kultur nicht überleben können, denn immer, wenn etwas Unangenehmes oder Unerwartetes passiert, ist die Kultur meine Rettung: Ich höre oder spiele Musik, ich schaue mir Bilder an oder male sie selbst, ich rede einfach mit jemandem und denke darüber nach, was Kultur für die Menschheit bedeutet. Ich bin in einer Familie groß geworden, in der Musik und Malerei und gute Bücher und Filme ganz wichtige Teile des Alltags waren und sind. Sie definieren mich als Mensch. Das Schicksal der Kultur liegt in unseren Händen. Nur als vereinigte Gemeinschaft kann man entscheiden, ob Werte vom Vergessen gerettet werden, oder ob sie aussterben. Ein gutes Beispiel dafür sind die antiken Zivilisationen, die trotz ihres Untergangs immer noch bekannt sind. Jedoch, was ist Kultur? eljub bietet neben viel Spaß auch die Gelegenheit, sich mit Jugendlichen aus dem europäischen Kulturraum auszutauschen. Für mich ist es sehr interessant gewesen, mit möglichst vielen über Kultur und Kunst zu diskutieren und ein Stück ihres kulturellen Erbes kennenzulernen. Ich habe Unerwartetes erfahren, wie zum Beispiel, dass der Begriff Kultur von verschiedenen Leuten sehr unterschiedlich verstanden wird. 156 Erstens: Für manche bedeutet Kultur Bildung, Erweiterung des Horizonts. Es geht um die Gelegenheit, Interessantes und Weiterführendes zu erfahren, es geht um Wissensdurst und Humanismus. Zweitens, bedeutet Kultur Länderkultur: alles was im Inneren einer bestimmten Region entsteht und diese von anderen unterscheidet. Sprachen, Traditionen, Bräuche, Werte, aber auch geschichtliche, soziale und politische Einflüsse prägen. Europa ist ein außergewöhnlicher Kulturraum, der eine große Vielfalt von sehr unterschiedlichen Länderkulturen auf einer relativ kleinen Fläche versammelt. Es ist bemerkenswert, wie unterschiedlich beispielsweise die Deutschsprachigen sind: aus Deutschland, Österreich, der Schweiz (wie hier bei eljub). Auf der anderen Seite sind im Laufe der Zeit als Folge des Zusammenlebens viele Mischkulturen entstanden. In Europa werden Sprachen der romanischen, germanischen, slawischen, fino-ugrischen und semitischen Sprachfamilien gesprochen, und wenn man alle Dialekte dazuzählt, sprechen etwa 750 Millionen Menschen mehr als 200 Sprachen. Ziemlich viel, oder? Keine Rede von den Einflüssen der Globalisierung, der nach Europa Flüchtenden und der relativ jungen Bewegungsfreiheit in den EU Ländern: das ist Vielfalt. Drittens: Nicht zuletzt muss man erwähnen, dass Kultur auch Kunstkultur bedeutet. De gustibus non discutandum. Es hat mich wahnsinnig gefreut, dass ich zu der Frage, ob das Wort «Kultur» langweilig ist, gar keine affirmative Antwort bekommen habe. Einige bevorzugen das Theater, andere wählen sich Kulturfilme aus. Einige besuchen Kunstausstellungen, für andere hat Musik eine besonders wichtige Rolle. Ich habe dazu ein paar Jugendliche befragt. Das ist die Antwort, die mir von allen am besten gefällt: «Kultur ist das Bemühen der Menschen, etwas Positives und zugleich Kritisches zu schaffen: einen Spiegel für uns alle.» (Sarah, 18) Kunst ist kein fertiger Gegenstand: ein Bild alleine ist für mich keine Kunst. Auch nicht ein einzelner Film oder ein Buch. Kunst ist für mich, wenn jemand, also ich, oder jemand anderer, das Buch liest oder das Bild oder den Film sieht. Und dann geschieht etwas im Kopf: DAS ist Kunst. Das Kunstwerk ist für mich nur ein Kommunikationsmittel zwischen 157 zwei Menschen: den Kunstschaffenden und jenen, die das Werk erleben. Kunst muss man erleben, sie ist nichts Statisches. Kunst erreicht ihre Vollkommenheit in dem Augenblick, wo Künstler und Betrachter mittels des Kunstwerkes eine Botschaft austauschen. Unser Alltag ist von anderen Dingen geprägt. Es geht zu wenig um echtes Sich-Begegnen. Die Gesellschaft formt uns zu Einzelkämpfern. Heute hast du einen Weg, und du gehst ihn im Wesentlichen allein. In einer Zeit, die vom Extremismus, Wettbewerb und Virtualisierung immer mehr geprägt ist, frage ich mich, ob die Kunst überleben wird... Wenn ich je den Fernseher aufdrehe, sehe ich künstlichen Trash, gefakte Ratings und allerlei Skandalgeschichten. Legen wir heute wirklich Wert auf Kunst und Kultur? Oder ist der Brexit Großbritanniens eines der Signale für den Sturz der europäischen Kultur? Ich glaube, dass neben den finanziellen Krisen auch die Kultur schwere Momente erleben muss und dass sie für uns alle von einer großen Bedeutung sind. Oder beginnt gerade der Kultur-Exit? REPORTAGE ELJUB E-BOOK-WOCHE: VON E-BOOKS UND ESSBAREM von Susanne Schmalwieser «So viel zu interkulturellen Differenzen», denke ich, als mir in der Wein- und Obstbauschule Krems heute schon das zweite Mädchen begegnet, dass die selbe Hose trägt wie ich. Eine Rumänin. Wir begrüßen uns, wechseln ein paar Worte und machen uns auf den Weg in unsere Workshop-Gruppen. Tatsächlich ist eines der vielen Dinge, die ich im Laufe der E-Book-Woche 2016 lernen durfte, wie viele Gemeinsamkeiten wir mit anderen EuropäerInnen teilen – begonnen bei einer Liebe zu Shorts von H&M. Aber es ist nicht unser Kleidungsgeschmack, der uns alle in die österreichische Donaustadt geführt hat – nein, es ist die Liebe zur Sprache, das Interesse an unseren Mitmenschen und am Weltgeschehen und, vielleicht am allerwichtigsten: Der Drang, nachzudenken, sich bemerkbar zu machen. Der Wunsch nach Gleichgesinnten und der Wunsch nach einem Recht zur Mitbestimmung. Um diese Wünsche zu erfüllen, und uns, als Jugendliche, vor 158 Augen zu führen, welche Möglichkeiten wir in unserem Alter haben und dennoch häufig übersehen, organisieren der Verein «pilgern & surfen melk», das NÖ Landesjugendreferat, die Europäischen Literaturtage und die Arbeitsgemeinschaft der Donauländer schon zum vierten Mal die eljub E-Book-Woche. «E-Book-Woche» bedeutet aber nicht nur tagelanges Schreiben – auch wenn ich persönlich kein Problem damit hätte. Es bedeutet auch nicht, nur Vorträge und Ansprachen – nein – hinter der E-Book-Woche steckt eine ganze Menge mehr, als ihr Name vermuten lässt. Als ich am 2. Juli 2016 im Quartier in Krems ankomme, ist es mein erstes Mal bei eljub, und mich überrascht die Professionalität. Gedruckte Namensschilder, gestaffelte Ankunft und fließendes Wasser in allen Zimmern – die Leiter des Projekts, Veronika Trubel und Ernst Sachs, ersparen uns eine Rede und nach einem kurzen Spielenachmittag sind wir bei der Suche nach ersten Bekanntschaften auf uns alleine gestellt, auch, weil wir unsere Betreuerin, die mehr als die Hälfte der 60 Teilnehmer zu kennen scheint, schnell im Getümmel aus den Augen verlieren. Gut für sie, gut für uns, am nächsten Morgen können wir schon die Namen unserer Zimmernachbarinnen aussprechen. Als Veganerin bemerke ich hier schnell, wie viele Kulturen noch nicht verstanden haben, dass nicht jedes Gericht Eier und Milch enthalten muss – auch mein eigenes Team fällt mir mit Marillenknödeln in den Rücken, nur eine ungarische Gruppe erweist sich als mitleidig und bietet zum traditionellen Gulasch nicht nur ein Gegengulasch, sondern auch Salzkartoffeln an, damit auch die herbivoren Mitglieder der Runde ein wenig über den eigenen Tellerrand hinausblicken können – im wahrsten Sinne des Wortes. Tatsächlich erweisen sich einige Nationen als überaus motiviert, wenn es darum geht, anderen die Kulinarik des eigenen Landes näher zu bringen – während wir Österreicher in einer zehn-minütigen Präsentation über Kängurus und Dialekte sprechen, teilen Rumänen und Ungarn Süßigkeiten aus und verunsichern sämtliche Hobby-Sänger mit ihrem musikalischen Talent. Wir befinden uns zweifellos an einem Ort, an dem jegliches Talent gefordert und gefördert wird – sei es beim Fußball, beim Kistenklettern, oder aber direkt in den WorkshopStunden, in denen wir uns auf die unterschiedlichsten Weisen mit noch unterschiedlicheren Themen – von Technik über 159 Geschichte bis hin zu Literatur – beschäftigen und Menschen kennen lernen, die verschiedener nicht sein könnten. Wer denkt, «E-Book-Woche» würde bedeuten, dass ein paar schreibaffine Teenager in der Kremser Hitze gemeinsam ein E-Book verfassen, liegt falsch. «E-Book Woche» bedeutet, seine eigenen Vorstellungen und Grundsätze zu hinterfragen, zu lernen, peinliches Schweigen zu brechen, in der Sommersonne auch einmal den «inneren Schweinehund» zu überwinden, herauszufinden, dass die gute Schreibfreundin eine noch bessere Singstimme hat; sich auf Ungarisch ein Glas Wasser zu bestellen und am Ende sogar neue Begriffe in der eigenen Sprache zu lernen. WERBUNG Eine kurze Umfrage von Ylva Hagmair Jeden Tag begegnen wir ihr. Sie ist störend und doch überall. Werbung. Ich habe eine Umfrage mit Jugendlichen gemacht um zu sehen, was eine Jugendliche ansprechende Werbung ausmacht. Bei meiner Befragung machten 15 Jugendliche aus vielen verschiedenen Ländern der EU mit. Die Ergebnisse waren sehr ähnlich, doch bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass Deutsche und Österreicher sich humorvolle Werbung wünschen. Einig waren sich aber alle, dass Werbung im Fernsehen nervt. 16- bis 18-Jährige können Werbung an Öffentlichen Flächen nicht leiden. Der Rest er Was ist der Grund? Sind wir alle nur mehr vor unseren Bildschirmen oder ist es für uns einfach normal? Wir mögen nicht lange Werbung sehen, aber trotzdem von dem Produkt etwas erfahren. Wie funktioniert das? Durch originelle Werbung! Sie sollte eine Möglichst positive Stimmung verbreiten und auch eine gewisse sprachliche Qualität sollte geboten werden. Werbung im Fernsehen ist ok, aber sie sollte nicht während Filmen vorkommen oder zu mindestens kürzer sein. 160 (FIKTIVER) LESERBRIEF von Bernadette Sarman Zum Artikel «Hach, die Frauen» von Franz Fichtenbauer über ein Fussballmatch zwischen zwei berühmten Frauenfußballmannschaften. Am 7.7.2016 veröffentlichte Franz Fichtenbauer den Artikel «Hach, die Frauen!» direkt nach dem Match der zwei besten Frauenfußballmannschaften der Region. Er erläuterte in diesem seine persönliche Ansicht darüber und stellte sie – um es freundlich auszudrücken – recht frauenfeindlich dar. Hier ein Leserbrief von Frau Tannendorf/Clausenheim. Um es gleich vorweg zu sagen: Ich gebe zu, Frauen sind nicht unbedingt Ronaldos oder Messis des Fußballs. Trotzdem: zu behaupten, ich zitiere wortwörtlich, sie seien «unsportliche Kreaturen, selbst Bisons bewegen sich auf dem Feld besser als sie» ist etwas sehr wagemutig von Ihnen, Herr Fichtenbauer, sehr wagemutig, wenn nicht sogar sexistisch. Es gibt sehr viele athletische Frauen auf der Welt, die viele Rekorde gebrochen und bei harten Wettkämpfen gewonnen haben, auch im Fußball! Ja, heutzutage gibt es so etwas wie Gleichberechtigung der Geschlechter, Herr Fichtenbauer, willkommen im 21. Jahrhundert! Und haben Sie schon einmal einen ausgewachsenen Bison gesehen? Der Bison latifrons hat eine Größe von stolzen 2,5m, sieht also doch ziemlich anders aus als eine durchschnittliche Frau. Meine Fußballfreundinnen und ich grübeln, wie eigentlich Herr Fichtenbauer selbst aussieht. Von der Bewegung und Geschwindigkeit der Bisons hat er anscheinend genau so wenig Ahnung wie vom Frauenfußball. Aber wir hier wollen doch sachlich bleiben. Franz Fichtenbauer schrieb außerdem in seinem Artikel, Frauen sollten «hinter der Küchentheke bleiben, anstatt das Fußballfeld zu betreten», und wenn sie einen Fuß daraufsetzen sollten, dann «nur um den Rasen zu mähen». Das ist ja wohl extrem sexistisch. Dieses mittelalterliche Bild der Frau sollte nicht in den Köpfen der Männer sein, sondern gehört allenfalls ins Museum. Die Frauen der heutigen Zeit dürfen und können jeden Beruf und auch jeden Sport ausüben. Also warum sollten Frauen nicht Fußball spielen dürfen? Ich bin jedenfalls als langjährige 161 treue Leserin und Abonnentin entsetzt, in Ihrem Blatt so einen sexistischen Schrott lesen zu müssen, wie die völlig überflüssigen Äußerungen des Herrn Fichtenbauer. Auf Antwort wartet gespannt Ihre schockierte Leserin N. Tannendorf BUNT GEMISCHTE EUROPATEAMS Europafußballmeisterschaft in Krems von unserem Korrespondenten Viktor Klochko Am 3. Juli 2016 fand in Krems die kleine Europafußballmeisterschaft statt. Die Teams sind sich nicht in Stadions in Frankreich begegnet, sondern im Areal der Wein- & Obstbauschule Krems. Ihr Hauptziel war auch kein goldener Pokal, sondern Spaß, internationale Zusammenarbeit auf dem Beach Soccer Platz und ein Sportwettbewerb in bestem Fair-PlayGeist. Jeder, der Interesse und Lust hatte, konnte sich anmelden. Insgesamt 7 Frauen- und Männerteams nahmen am Turnier teil und zeigten den Zuschauer ihre Fußfertigkeiten. Laut Turnierregeln wurde 3 gegen 3 auf dem Beachfußballplatz gespielt. Alle Teams spielten gegeneinander nach einem Tabellensystem, was bedeutet, dass das beste Team nach der Zahl der Punkte festgestellt wurde. Die ersten 3 Plätze wurden sehr dicht von den Jungenteams besetzt, die alle anderen Teams mit großem Torunterschied besiegt hatten. Der Kampf zwischen den zwei größten Favoriten war so ausgeglichen, dass sie die einzigen Punkte, die ihnen zur vollen Zahl fehlten, im gegenseitigem Wettkampf verloren. Die Teams hatten sehr kreative Namen. Mit Gleichstand von 16 Punkten und 9 erhaltenen Toren auf dem Konto haben die «Diabolischen Zauberfeen» den ersten Preis nur dank 55 geschossener Tore gewonnen. Ihre Rivalen, «Ropostralia», hatten bloß 3 Tore weniger hineingeschossen und besetzten den 2. Platz. «Anfangs war der Spaßfaktor unsere große Motivation beim Spielen. Erst im Laufe des Turniers entwickelten wir mehr Wettbewerbsgeist, was uns natürlich unter Druck setzte, jedoch den Sieg gegen unseren 162 Hauptkonkurrenten noch schöner machte,» erzählt ein Mitglied des Siegerteams. Mit etwas weniger, und zwar 12 Punkten haben «Two and a Half Men» den letzten Platz des Siegerpodests besetzt. Sie haben gegen alle Frauenteams problemlos gewonnen, doch gegen die Favoriten hatten sie keine Chance. Das Team mit dem sehr ambitionierten Namen «Die Gewinner» war wirklich das beste von allen Frauenkollektiven, also das vierte mit 9 Punkten. Laut Lena Haiden gab es zwischen den Teams Unterschiede: «Ich fand das Turnier sehr lustig, aber es war klar, dass manche Teams mitgespielt haben, weil sie Fußball spielen wollten und andere, weil sie Fußball spielen können, aber das macht nichts, weil alle Spaß hatten.» Weitere Plätze wurden von den «Powerpuff Girls» mit 6 Punkten und dem «Gemischten Satz» mit 3 Punkten besetzt. Die «Chesire Cats» haben leider keinen Wettkampf gewonnen und haben die Tabelle beendet. «Die männlichen Gruppen waren in den meisten Spielen führend und hielten sich aber vor allem gegen Ende des Turniers zurück, um auch ungeübteren Teilnehmer eine Chance zu geben,» so Susanne Schmalwieser, die Torfrau der Chesire Cats. «Hauptproblem unseres Teams war unsere fehlende Übung im Beach Soccer. Trotzdem haben wir unser Bestes gegeben und ich bin zufrieden mit unserer Leistung.» Zum Glück wurden alle Spiele ganz konfliktlos und ohne ernsthafte Verletzungen gespielt, obwohl die Wettkämpfe manchmal ziemlich hart aussahen. Außer Fußball standen Spielern sowie Zuschauern verschiedene Unterhaltungswettbewerbe zur Verfügung. Es war möglich zum Beispiel das Segwayfahren, Kistenklettern oder einen Sicherheitsparcour auszuprobieren. Danach gab es ein buntes und spannendes Unterhaltungsprogramm mit einer Band und Grill. 163 164 165 DIE PRÄSENZ DER NATO IN OSTEUROPA Eine kurze Betrachtung von Anže Mediževec Wenn wir uns mit der Frage «In welchem Europa werde ich erwachen?» beschäftigen, ist die NATO eine Organisation, die wir unbedingt in Betracht nehmen müssen, insbesondere im Rahmen einer Betrachtung, wie deren Präsenz auf Osteuropa wirkt. Eine der ersten Fragen, die uns im Kopf einfallen, ist wahrscheinlich: Wieso ist die NATO überhaupt da und was sind dessen Pläne für die Region?» Die NATO verteidigt ihre Anwesenheit mit der Hilfe von Warnungen vor der sogenannten russischen Gefahr in diesem Teil Europas. In der letzten Zeit aber haben viele Europäer angefangen sich zu fragen, ob das tatsächlich eine gute Erklärung ist. Nehmen wir zum Beispiel die letzte Militärübung, die die NATO durchgeführt hat. Die Übung geschah in diesem Jahr in Polen mit rund 31’000 Soldaten aus verschiedenen Staaten. Der Anlass dieser Übung war, die Reaktionszeit der NATO-Truppen in Osteuropa im Falle eines Angriffes auf diese Region auf die Probe zu stellen. Es ist interessant, dass das grösste Manöver seit Ende des Kalten Krieges gerade in dieser Region ablief, so nah an der russischen Grenze. Die darauf folgende russische Rhetorik ist keine Überraschung. In den Augen vieler Menschen sind solche Manöver die schlimmste Gefahr für die internationale Sicherheit heutzutage. Viele meinen sogar, dass solche Aktionen die ganze Region destabilisieren. In Deutschland zum Beispiel stimmen nur 9% der Einwohner einer zum Teil geplanten Truppenvergrößerung zu, so hat YouGov herausgefunden. Von einem geopolitischen Standpunkt aus gesehen ist die Kooperation der EU mit der NATO nichts überraschendes, denn die Union hat an Recht darauf, ihre Grenzen zu schützen. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen strategischer Verteidigung und Kriegstreiberei. Es geht dabei nicht nur um Manöver, sondern auf um die Errichtung von Militärbasen überall in Europa. Manche könnten jetzt argumentieren, dass auch Russland solche Basen in der Welt errichtet hat, aber die Anzahl ist im 166 Vergleich mit der NATO sehr gering. Es geht also darum, wer den Einfluss in Osteuropa besitzt und wer ihn auch in der Zukunft besitzen wird. Worauf wir und besonders die Personen hinter dem Steuerbord jetzt achten bzw. aufpassen müssen ist, dass wir uns genug Mühe geben, um die jetzige Situation in Osteuropa zu verstehen und lieber diplomatische als militärische Lösungen für Probleme zu finden, auch wenn der Krieg oftmals als die verlängerte Hand der Diplomatie bezeichnet wird. 167 EINDRÜCKE EINES PEER-BETREUERS von Michal Strnad Ich schreibe nun schon zum vierten Mal einen Beitrag für das eljub E-Book. Für ein Medium, das ideal für dieses Projekt ist und vor allem dazu dient, die Gedanken und Gespräche von Jugendlichen während der eljub E-book-Woche schriftlich festzuhalten. Die Rede ist hier von jugendlichen Teilnehmern an eljub, zu denen ich vor 2 Jahren noch selbst gehört habe. 2015, im Alter von 21 Jahren, wechselte ich die Rolle und wurde Peer, also Betreuer der tschechischen Gruppe. Für diese Ebook-Woche, aber auch andere eljub-Projekte, werden mir von tschechischen Kreisämtern Jugendliche nach einem spezifischen Auswahlverfahren zugeordnet, die dann unter meiner Leitung zur E-Book-Woche fahren. Das eljub-Jahr 2016 schließt für mich eine merkwürdige fünfjährige Etappe ab. Mit 18 kam ich als Fremdsprachenkandidat von meiner Mittelschule in Südmähren zum ersten Mal zum Sprachwettbewerb nach Niederösterreich. Ich kann mich an diese Spracholympiade in St. Pölten ganz gut erinnern. An zwei Wochentagen Ende März repräsentierte dort jeweils der beste Schüller in Deutsch seine Partnerschule, in meinem Fall ein achtjähriges Gymnasium. Obwohl ich mir damals in Deutsch ziemlich fit vorkam, erwartete ich nicht, angesichts der großen Konkurrenz aus lauter bilingualen Schulen einen guten Platz belegen zu können. Ich erinnere mich gut. Während sich alle anderen Teilnehmer am Vortag des Wettbewerbs in einem Café auf Deutsch gemütlich unterhielten, analysierte ich im Hinterkopf die Sprachkenntisse aller anderen Konkurrenten und nahm die größte Konkurrenz ins Visier, und die war damals wirklich groß. Für die ersten vier Plätze war wie seit langem ein Gutschein für die Teilnahme an einem internationalen Jugendcamp in Niederösterreich als Preis vorgesehen. Als bei der Siegerehrung beim vierten Platz mein Name als Michael Strand, wie er von Deutschsprachigen oft falsch ausgeprochen wird, ausgerufen wurde, war ich einigermaßen überrascht. So bin ich zum ersten Mal zum Niederösterreichischen Jugendcamp gekommen, einem Vorläufer der jetzigen eljub E-book-Woche. Damals hat das Projekt noch wesentlich anders ausgeschaut. 168 Ich werde hier jetzt nicht in Einzelheiten gehen. Prinzipiell war es eine tolle Woche, wo man Kontakte mit Jugendlichen aus ganz Europa knüpfen konnte, nur war das Programm auf Sport und Freizeitaktivitäten ausgerichtet. Wir waren damals noch in Tulln an der Donau stationiert, von diesem Ort aus unternahmen wir verschiedene Ausflüge kreuz und quer durch Niederösterreich. Am meisten ist mir das Rollerfahren auf dem Zauberberg am Semmering in Erinnerung geblieben. Während dieser Woche bildete sich ein fantastischer Freundeskreis um mich herum. Mit diesen Menschen hatte ich 3 Jahre danach noch Kontakt und sah sie oft an verschiedenen Orten wieder. Als diese tollen sieben Tage zu Ende gingen, war für mich das Jugendcamp in NÖ eigentlich ein abgeschlossenes Kapitel, und ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich noch mal herkommen würde. Eine der Regeln beim Sprachwettbewerb in St. Pölten ist es nämlich, dass dieser Gutschein-Preis nicht mehr als einmal an dieselbe Person verliehen werden darf. Es gab z. B. viele Teilnehmer aus Ungarn und aus der Slowakei, die schon einmal irgendwann zum Jugendcamp gefahren waren. Sie durften zwar ohne Probleme weiter am Sprachwettbewerb teilnehmen, hatten jedoch keine Chance und kein Recht auf Wiederholung. Dieser Regel war ich mir bewusst. Trotzdem beschloss im Abiturjahr die Schulleitung, mich wieder als den besten Fremdsprachenkandidaten nach St. Pölten zu schicken. Andere Kandidaten aus meiner Schule hatten einfach zu schwache Sprachkenntnisse, um sich mit der Jury auf Deutsch unterhalten zu können, deswegen war ihre gute Platzierung äußerst unwahrscheinlich. Mit keiner Aussicht auf eine weitere Teilnahme am Jugendcamp nahm ich also ein zweites Mal am Sprachwettbewerb teil und gab trotzdem vor der Jury mein Bestes zum Thema Kunst und Technologien. Wie erwartet, wurde mein Name bei der Siegerehrung unter den ersten vier nicht ausgerufen. Zu meiner Überraschung bekam ich aber zum zweiten Mal die Einladung, im Sommer zum niederösterreichischen Jugendcamp zu fahren. Ich war so gut, dass die Organisatoren es nicht über sich bringen konnten, mir keinen Preis zu geben, so meine Deutschlehrerin wortwörtlich. Ok, ich bleibe gerne bei dieser Version. Das Komplizierte beim zweiten Jugendcamp war, dass sich dieses Projekt in einer Umbauphase befand. Es ging um 169 einen größeren inhaltlichen Input, der den Jugendlichen geboten werden sollte, und zugleich um mehr Output der Ergebnisse für die interessierte Öffentlichkeit. Das Selbstverständnis der europäischen Austauschprogramme hatte sich verändert. Es ging weiterhin um das Schließen von Freundschaften, aber eben auch um Auseinandersetzung mit der europäischen Idee. Es war ein bisschen problematisch, denn großteils kamen Jugendliche, die auf das alte Sport-FreizeitModell eingestellt waren, und plötzlich standen Veronika, Beat und Walter da und wollten, dass die Jugendlichen zusammen ein E-book schreiben. In meiner Workshopgruppe hat das nur sehr mühsam funktioniert. Ich persönlich habe die neuen Impulse und Inputs sehr geschätzt, die meisten Teilnehmer wussten aber nicht, wie sie an das neue Arbeits-Modell herangehen sollten. Darüber habe ich später auch einen Text geschrieben. Ich habe auch gemerkt, dass es mir großen Spaß machte, zu beobachten, wie das ganze Projekt organisatorisch abläuft, wie Ernst und sein Team vom Niederösterreichischen Landesjugendreferat die Organisation im Griff hatten, wie sie die Teilnehmer koordinierten, wie souverän immer alles zur Verfügung stand und wie operativ sie laufend neu auftauchende Probleme zu bewältigen in der Lage waren. Schon damals begann ich, mir von ihnen einiges abzuschauen. Alle Länder-Gruppen (das Modell funktioniert bis heute so) hatten eine Betreuerin oder einen Betreuer, meistens Lehrerinnen oder Lehrer von Beruf, die sich die ganze Woche um ihre Jugendlichen kümmerten (von Schulstimmung ist in diesem außerschulischen Projekt aber deswegen nichts zu spüren). Die Sprachwettbewerbsieger von St. Pölten waren hingegen als Einzelpersonen dabei. Ich wurde durch einen Zufall zu einem quasi improvisierten Betreuer von uns vier Sprachwettbewerbsiegern, weil ich zum Organisationsleiter Ernst den besten Draht hatte, als er uns vor dem Buseinstieg nach Semmering abzählen wollte. Am Ende der Woche sagte er mir vor der Abreise, dass ich mich in meiner Betreuerrolle bewährt hätte und meinte, dass wir in Kontakt bleiben sollten, vielleicht könnte ich mich inhaltlich und organisatorisch am Projekt beteiligen. Das war ein einmaliges Angebot für mich. Die Frage war nur wie. Um zu zeigen, dass ich mein Engagement ernst meine, habe ich Veronika, Walter und Ernst im Januar 2014 mit einem zehnseitigen Text names «Teamarbeit» via E-Mail angespro- 170 chen. Das Faszinierende an westlichen Ländern allgemein ist, dass einem sofort zugehört wird, wenn man Engegement und Interesse zeigt. In Tschechien hätte ich ein Vielfaches an Aufwand aufbringen müssen, um gehört zu werden. Das folgende bilaterale Treffen im April 2014 in Jihlava schien eine gute Gelegenheit zu sein, miteinander zu reden und meinen Text gemeinsam zu besprechen. Für eine kleine Gruppe aus Österreich war dort ein dreitägiges Programm organisiert worden, während dessen sie Jihlava erkunden und etwas über neue Trends in der tschechischen Literaturwelt erfahren sollte. Es brauchte Dolmetschdienste. Aus Verlegenheit habe ich drei Tage lang für die Österreicher aus dem Tschechischen ins Deutsche gedolmetscht. Diese Rolle ist mir bis heute geblieben. Das ganze Jahr 2014 hatte ich eigentlich eine Doppelrolle. Beim Vorbereitungstreffen zur E-Book-Woche (die damals Europäische Literatur-Jugendbegegnung hieß) im Frühjahr war ich Betreuer eines Mädchens, das um 3 Jahre älter war als ich. Während der Projekt-Woche im Juli war ich zwar jugendlicher Teilnehmer, habe aber der damaligen tschechischen Betreuerin Ivana bei der Teamführung geholfen. Nach jedem Treffen bekamen die eljub Organisatoren einen detaillierten Feedback-Text von mir mit Kritik und Ratschlägen, über die sie sich immer gefreut haben. Zumindest haben sie es behauptet. Diese Feedback-Texte sind dann fast zu einer Tradition geworden. Obwohl wir nicht immer einer Meinung waren, was verschiedene Aspekte des Programms und Ablaufes betrifft, fanden wir schnell eine gemeinsame Sprache, und es wurden viele meiner Ratschläge dann auch wirklich umgesetzt. Auf der anderen Seite musste ich auch oft zugeben, dass manche meiner Vorstellungen nicht machbar und nicht im Sinne der Begegnung waren. Es war ein wirklicher Dialog. So wurde ich langsam an Bord genommen und wurde Schritt für Schritt in die ziemlich komplizierte, aber für mich auch faszinierende Projektproblematik eingeweiht. Die jetzige Betreuerrolle, die ich seit 2015 inne habe, genieße ich extrem. Zum einen bin ich Altersgenosse meiner jugendlichen Teilnehmer aus Tschechien, wodurch es keine Hemmungen in der Kommunikation gibt – man ist einander gegenüber sehr ehrlich und offen. Zum anderen bin ich der Chef, der für die Jugendlichen verantwortlich ist – vor allem wenn sie noch minderjährig sind, muss das Wort des Betreu- 171 ers ein bestimmtes Gewicht haben. Ich hatte schon circa 30 verschiedene Jugendliche unter meiner Führung und muss sagen, dass sie immer problemlos waren. Am besten finde ich die gemeinsamen Gruppenan- und -abreisen mit dem Zug. Da die tschechischen Teilnehmer immer von verschiedenen Orten Tschechiens kommen und sich nur von einer FacebookGruppe kennen, lernt sich die Gruppe erst am Anreisetag kennen, und das hat natürlich seine Dynamik, die im Zug entsprechend zum Ausdruck gebracht wird. Bleiben wir noch kurz bei den Jugendlichen. Mit 23 und nach drei Jahren Uni leide ich oft unter dem Eindruck, dass ich mich von den Jugendlichen um 16 und 17 ziemlich entfernt habe. Nach drei Jahren Uniunterricht über Weltpolitik und Diplomatie weiß ich, wie schwer es ist, ohne eine gründliche Analysie und Berücksichtigung aller Faktoren einen Schluss zu ziehen. Deswegen war ich auch ein bisschen skeptisch, dass sich Jugendliche in der eljub E-Book-Woche darum bemühen sollen, z. B. über Migration, Eurokrise, globale Erwärmung usw. zu schreiben. Meine Meinung hat sich jedoch wesentlich geändert, als sich die Jugendlichen beim Brainstorming des diesjährigen Vorbereitungstreffens im Mai 2016 zu Wort meldeten. Die Breite an Themen, die sie interessierten und die verschiedensten Zugänge, mit denen sie an die Themen herangingen, waren einfach genial. Da haben alle und auch ich gestaunt. In diesem Moment verstand ich, dass die Tiefe der Analyse bei dieser Jugend-Begegnung eigentlich gar nicht entscheidend ist. Schließlich geht es um den Austausch, und der ist dieses Jahr während der eljub E-Book-Woche wirklich gelungen. Die Jugendlichen haben sich von allein so bunt durchmischt, dass wir als Organisatoren und Betreuer fast nicht intervenieren mussten. Die letzten zwei eljub-Jahre waren sehr intensiv. Die Übernahme der Betreuerrolle, eine Reihe von bilateralen Treffen, eine eljub Think Tank-Konferenz, Poetry Slam und unzählige Arbeitsgruppen- und Vorbereitungstreffen: All diese Veranstaltungen waren für mich eine einmalige Chance zu lernen, wie grenzüberschreitende Projekte geplant, organisiert, finanziert und abgerechnet werden. Ich habe in diesem eljub-Netzwerk von Projekten als Ansprechpartner, Betreuer, Dolmetscher, Organisator und sogar manchmal als Schlichtungstelle gewirkt, als ein bilaterales Projekt aus verschiedenen Gründen gefährdet zu sein schien. Hier konnte ich auch meine Diploma- 172 tiekenntisse zur Geltung bringen. Ich bin dafür sehr dankbar, dass ich die eljub-Franchise, die heutzutage schon drei Projektschienen beinhaltet, von Anfang an mitgestalten durfte, und dass ich einer internationalen Projektfamilie angehören darf. Nach vier Jahren gemeinsamer Abstimmung von Ideen, Ratschlägen, Kritik und Evaluierung durch alle Beteiligten ist das Projekt in meinen Augen ausgereift. Workshoparbeit, Freizeit, Austausch und Rahmenprogramm sind ideal ausgewogen. Ich freue mich sehr darüber, dass man mit mir auch weiter rechnet. Für mich ist das keine Selbstverständlichkeit und werde mich auch weiterhin bemühen, meinen verschiedenen Rollen gerecht zu werden. 173 175 6. REZEPTE VORSPEISE POLEN Pierogi (Gefüllte Teigtaschen) Zutaten: 3–4 kg Weizenmehl 6 Eier 1/2 Tasse Öl Wasser Pierogi gibt es in den verschiedenen Varianten: – salzig als Vorspeise mit Fleisch- Füllung oder Kartoffel/ Topfen-Füllung – als Dessert mit Früchten Für die sauren Füllungen werden benötigt: 1 kg Hackfleisch (Schweinefleisch geht am besten) 100 g getrocknete Pilze (Steinpilze am besten) 0,5 kg Sauerkraut 2 kg Kartoffel 1 kg Topfen 2 Zwiebeln Knoblauch Zubereitung: Hackfleisch anbraten, Kartoffeln kochen und pürieren, Pilze einweiche, Zwiebel und Knoblauch hacken – alles mit dem Topfen zu einer festen Füllung verrühren. Der Teig wird ausgewallt und in Kreise zugeschnitten. In die Mitte der Teigstücke wird die Füllung gelegt und der Teig überschlagen, dass es ein Halbrund ergibt. Im Wasser kurz kochen, bis die Pierogi obenauf schwimmen. 176 HAUPTSPEISE BULGARIEN Schopska-Salat In Bulgarien gehört dieser Salat im Sommer auf jeden Tisch. Er gelingt sehr leicht und beinhaltet keine exotischen Zutaten, schmeckt aber durch die geröstete Paprika ausgezeichnet. Zutaten: 400 g Tomaten 125 g Schafskäse 1 Gurke 1 Paprikaschote 4 Frühlingszwiebeln 1 Knoblauchzehe 1/2 Bund Petersilie 4 EL Olivenöl 2 EL Essig Salz und Pfeffer Zubereitung: 1. Schälen Sie die Gurke, waschen Sie die Tomaten und schneiden Sie beides in mundgerechte Stücke. 2. Auch die Frühlingszwiebeln müssen gewaschen, geputzt und dann in feine Ringe geschnitten werden. 3. Waschen Sie die Paprika, entfernen Sie Kerne und Trennwände und schneiden Sie sie in grobe Streifen. Mit ein wenig Öl werden die Streifen entweder in der Pfanne oder etwa 15 Minuten im Backofen geröstet. Danach wird die Paprika in Stücke geschnitten und mit Gurke, Tomaten und Frühlingszwiebeln in eine Schüssel gegeben. 4. Vermengen Sie Olivenöl, Essig, Salz und Pfeffer miteinander und pressen Sie die geschälte Knoblauchzehe ebenfalls in das Dressing hinein. Die Petersilie wird gewaschen, trockengeschüttelt und fein gehackt. 5. Marinieren Sie den Salat mit dem Dressing und der Petersilie und stellen Sie ihn etwa zwei Stunden lang kühl. Danach können Sie den Schafskäse über den Salat zerbröckeln. 177 UNGARN Ungarische Gulaschsuppe mit Nokedli (Reginas Rezept) Für das Gulasch für 10 Personen benötigt man: 20 dkg Schweineschmalz 1,5 kg Rinderwade 1 Kilo rote Zwiebel (drei große Stücke) 2 2 Tomaten 2 grüne Paprika 1 dl roter Wein 500 g Sauerrahm 1 Glas Gurke Zutaten für die Nokedli: 1 kg Mehl 2 Eier Salz Wasser Das Butterschmalz in einer tiefen Pfanne erhitzen. Die Zwiebel so lange braten, bis sie eine gelbe Farbe hat, dann reichlich Paprika dazu geben. Das zerteilte Fleisch unter dem Deckel 2 Stunden lang kochen. Dazwischen ein paar Löffel Wein und Wasser hineingeben und warten, bis das Fleisch weich wird. Am Ende muss man die aufgeschnittene Paprika und Tomaten dazugeben und mit Gurke und Sauerrahm servieren. Nokedli: In einer tiefen Pfanne muss man Wasser aufheizen. Das Mehl mit den Eiern, Wasser und Salz mischen und ins Wasser geben, bis sie gar sind. 178 RUMÄNIEN Polenta/Maisbrei Grundrezept Zutaten: 750 g Maismehl, 3 l Wasser, Salz Zubereitung: Das Maismehl rührt man mit dem Schneebesen in das kochende Salzwasser. Das Mehl wird in kleinen Mengen eingestreut, damit es gut durchkocht und keine Knöllchen bildet. Hat man das letzte Mehl eingerührt, wird der Maisbrei noch mit einem Kochlöffel gerührt, bis er ganz glatt ist und nicht mehr feucht aussieht. Rezept für den Maisbrei mit Schafskäse und/oder Quark Zutaten: Schafskäse und/oder Quark/Topfen, saure Sahne, Hartkäse (Die Menge hängt von der Sorte des Käses/Quarks ab und ist Geschmackssache.) Man streicht ein Backblech mit Butter aus und füllt es lagenweise mit Maisbrei und Schafskäse oder Quark. Obenauf reibt man Hartkäse und gießt etwas Rahm (saure Sahne) darüber. Dann stellt man den Maisbrei für etwa 30 Minuten in die Backröhre, bis der Hartkäse schön knusprig ist. Man kann das Gericht «verfeinern», indem man auch eine Lage gerösteten Speck oder Schinken dazugibt. Eine andere Möglichkeit für die letzte Schicht: Man drückt mit dem Löffel Vertiefungen in den Maisbrei, schlägt je ein Ei hinein und gibt ein Flöckchen Butter darauf. Der Maisbrei bleibt in der Röhre, bis das Ei gestockt ist. 179 UNGARN Pörkölt (Gulasch) mit Salzkartoffeln Zutaten: Schweinefleisch Zwiebeln Schmalz Gewürzpaprika Salz und Schmalz Saltzkartoffeln Schweinefleisch wird in 2–3 cm grobe Würfel geschnitten.Die Zwiebel wird in Schmalz angeschwitzt. Dann Gewürzpaprika in die nicht zu heiße Zwiebelschwitze schnell einrühren, das Fleisch dazugeben, salzen und rösten.Dann etwas Wasser aufgießen, die Gewürze zufügen und zugedeckt, bei mäßiger Hitze rösten. Beginnt das Fleisch weich zu werden, in Würfel geschnittene Paprikaschoten und Tomaten zufügen und fertig schmoren. Als Beilage Salzkartoffeln reichen. 180 NACHSPEISE TSCHECHIEN Palatschinken Zutaten: Weizenmehl – 1 Kg Milch – 2,5 Liter Staubzucker- 1 Kg Vanillezucker 2 Stück (kleine Tüte) Eier 10 Stück Marillenmarmelade, Nutella, Schalgobers je nach Lust und Bedarf Zubereitung: Als erstes verrührt man Eier mit ein paar Esslöffeln Zucker in einer Schüssel. Dann fügt man Mehl und Milch hinzu. Nach Bedarf mehr oder weniger Milch, je nachdem ob man einen dünneren oder dickeren Teig haben möchte. Den fertigen Teig gießt man dann auf eine erhitzte Pfanne mit einem Schuss Öl. Die fertigen Palatschinken je nach Bedarf mit Marmelade oder Nutella beschmieren und mit Schlagobers oder Schokoladenguss verzieren. Man kann sie warm oder auch kalt servieren. *** NIEDERÖSTERREICH Einfacher Topfenteig (Sophies Rezept) Zutaten: 10 Marillen 250g Topfen 250g Mehl 9dag Butter 1 Ei, Salz, Brösel und Staubzucker Zubereitung: Mehl mit Salz vermischen, Butter in kleinen Stücken hinzugeben und durchmischen, anschließend Topfen und Ei 181 hinzufügen und alles gut verkneten. Teig für ca. halbe Stunde im Kühlschrank ruhen lassen. Teig hervor nehmen: ist er zu weich, gibt man Mehl hinzu, ist er zu fest, gibt man Butter hinzu. Teig in zwei Hälften teilen, eine Hälfte auf bemehlter Arbeitsfläche dünn auswalken und in Quadrate teilen. Den Marillenkern kann man durch einen Würfelzucker ersetzen. Marillen mit dem Teig umhüllen und diesen gut festdrücken. In leicht gesalzenem Wasser kochen bis der Knödel oben schwimmt. Brösel in zerlassener Butter leicht anrösten, Staubzucker hinzufügen, Knödel darin rollen. Einfacher Topfenteig (Ylvas Rezept) Zutaten für 4 Personen: Marillen 25–30 dag Topfen 20 dag griffiges Mehl 5 dag Brösel 3 dag Butter und eine Prise Salz Zubereitung: Rasch zu einem Teig vermengen, eine Rolle formen, Scheiben abschneiden, sie etwas auseinander drücken, Marillen (mit Würfelzucker statt Kern) reinlegen und zu einem Knödel formen. 10 min in leicht gesalzenem Wasser kochen und anschließend in gerösteten, leicht gezuckerten Bröseln wälzen. 182 DIE AUTORINNEN UND AUTOREN • BULGARIEN Elitsa Kyulyan, Anna Ganeva, Plamena Kasurova, Gabriela Kostadinova, Ivan Ivanov, Saner Sadak, Dayana Yordanova • DEUTSCHLAND David Seuferlein, Rosa Degenhardt, Katharina Franz, Maria Gazarjan, Karla Greve, Friederike Ortmann, Johanna Schabik • FRANKREICH Marie de Lavergne de Cerval • ÖSTERREICH Lena Haiden, Ylva Hagmair, Sophie Hochenauer, Jakob Pugel, Bernadette Sarman, Susanne Schmalwieser, Yasmin Schubert • POLEN Magdalena Musial, Mateusz Durski, Aimee Jeluk, Joanna Maczkowska, Alexander Ney, Pamela Witkowska, Ewa Wyganowska • RUMÄNIEN Gabriela-Simona Matieu, Andreas-Eduard Bausche, Diana Dehelean, Aurora-Doris Frăt, ilă, Jacqueline Kohl, Alexandra-Dragana Nesici, Elena-Mira Târa • SLOWAKEI Michaela Čavargová 183 • SLOWENIEN Anže Mediževec • TSCHECHIEN Michal Strnad, Viktor Klochko, Anna Koláčková, Eva Mlčochová, Sarah Ouředníčková, Kristýna Sedláčková, Viktor Škopan • UNGARN Karl Lajosné (Zsóka), Hadfi Szilvia, Bányai Klaudia, Benkó Sándor, Herzog Anna Katharina, Kovács Timea, Klausz Adrienn, Orbán Klaudia, Orbán Réka, Rózsahegyi Regina, Stoll Ricky Rudi 184 DANK Die HerausgeberInnen und die AutorInnen danken dem Organisationsteam der «eljub Europäische Jugendbegegnungen» dafür, dass sie für Arbeit und Freizeit so gute Bedingungen geboten haben; das sind namentlich Wolfgang Juterschnig, Ernst Sachs, Maria Huber und Anita Stadler vom Jugendreferat NÖ und Regina Stierschneider von der Geschäftsstelle für AuslandsniederösterreicherInnen. Ein Dank geht auch an Gottfried Gusenbauer vom Karikaturmusuem Krems, an Lucia Täubler von der Kunstvermittlung der Kunstmeile Krems und ihrem Team, Katharina Kreutzer und dem Team vom Kino im Kesselhaus Krems, und an Christiane Krejs und dem Team vom Kunstraum Niederösterreich in Wien. 185 INDEX Čavargová, Michaela . 125, 183 Škopan, Viktor . . . . . 10, 14, 184 Bányai, Klaudia . . . . . . . . 93, 184 Bausche, Andreas-Eduard . . 75, 183 Benkó, Sándor . . . . . . . . . . 61, 184 de Lavergne de Cerval, Marie 24, 183 Degenhardt, Rosa . . . . . . 53, 183 Dehelean, Diana . . 81, 136, 156, 183 Durski, Mateusz. . . . . . . .75, 183 Frăt, ilă, Aurora-Doris . . 61, 183 Franz, Katharina . . . . . . . 48, 183 Ganeva, Anna . . . . . . . . 135, 183 Gazarjan, Maria. . .81, 148, 183 Greve, Karla . . . . . . . . . . . . 75, 183 Hadfi, Szilvia . . . . . . . . . . . . . . . 184 Hagmair, Ylva57, 160, 182, 183 Haiden, Lena10, 13, 17, 21, 183 Herzog, Anna Katharina10, 12, 31, 184 Hochenauer, Sophie . . 108, 109, 181, 183 Ivanov, Ivan . . . . . . . . 24, 86, 183 Jeluk, Aimee . . . . . . . . . . . 75, 183 Karl Lajosné (Zsóka) . . . . . . . 184 Kasurova, Joanna . . . . . . . . . . 183 Kasurova, Plamena . . . . . . . . . 133 Klausz, Adrienn . . . . . . . . 33, 184 Klochko, Viktor . . . 72, 162, 184 Kohl, Jacqueline . . . . . . . 93, 183 Koláčková, Anna . . . . . . . 69, 184 Kostadinova, Gabriela . . 29, 81, 183 Kovács, Timea . . . . . . . . . . 33, 184 Kyulan, Elitsa . . . . . . . . . . . . . . 183 Maczkowska, Joanna . . 24, 183 Mateu, Gabriela-Simona89, 183 Mediževec, Anže . 72, 166, 184 Mlčochová, Eva . . . . . . . . 65, 184 Musial, Magdalena . . . . . . . . . 183 Nesici, Alexandra-Dragana . 10, 15, 183 Ney, Alexander 10, 18, 24, 183 Orbán, Klaudia . 10, 11, 95, 184 Orbán, Réka . . . . . . . . 24, 95, 184 Ortmann, Friederike . . . . . . . 183 Ouředníčková, Sarah . 46, 154, 184 Pugel, Jakob . . . . . . . . . . . 38, 183 Rózsahegyi, Regina86, 178, 184 Sadak, Saner . . . . . . . . . . . 86, 183 Sarman, Bernadette . . . 91, 109, 161, 183 Schabik, Johanna . . . . . . 81, 183 Schmalwieser, Susanne. . . .109, 145, 158, 183 Schubert, Yasmin . . . . . 119, 183 Sedláčková, Kristýna. 106, 184 Seuferlein, David . . . . . . . 61, 183 Stoll, Ricky Rudi . . . . . . . 61, 184 Strnad, Michal . . . . . . . . 168, 184 Târa, Elena-Mira . . . . . . . 75, 183 Witkowska, Pamela . . . . 33, 183 Wyganowska, Ewa. . . . .24, 183 Yordanova, Dayana . . . . 75, 183 ROKFOR Neugier 123 ROKFOR Kompetenzen ist eine Software, die Bücher und andere Drucksachen produzieren kann. Hinter Rokfor stehen Gina Bucher , Redaktion, Urs Hofer , Programmierung, und Rafael Koch, Gestaltung. THEMA 123 ROKFOR Interessen 123 MATERIALSAMMLUNG METHODE suchen Insbesondere möglichst große und heterogene Datenmengen sind für Rokfor interessant – unabhängig davon, ob es sich um Text oder Bild oder beides handelt. Wir analysieren das Material auf explizite als auch implizite Zusammenhänge. Zentral sind dabei Fragen wie: Welche Ordnung führt zu Wissensgewinn? Wie kann via Struktur eine Narration aufgebaut werden? Welche Stichwörter verbinden den Text? Ziel ist es, dem Leser mehrere Zugänge zum Inhalt zu verschaffen. Das Material fließt in eine Datenbank, die online gesteuert wird. Inhaltliche und formale Strukturen werden als Regeln formuliert, die logisch nachvollziehbar sind und Algorithmen entsprechen. Um Inhalte zu kategorisieren, können verschiedene Tools eingesetzt werden, z.B. Listen, Stichwortmasken oder Selektoren. Rokfor besitzt auch die Fähigkeit, semantische Zusammenhänge als Netzstrukturen darzustellen, um komplexe Abhängigkeiten zwischen Materialien abzubilden. 123 MATERIALSAMMLUNG 123 analysieren 123 Konzept IDEE 13 Methode 123 123 1 Verlag 1 Datenbank Geldgeber Inhalt 1 1 Algorithmus 3 1 3 Form 23 Layout-Templates 2 Gestaltungsregeln formulieren 123 INHALT, ALGORITHMUS, FORM ERGEBNIS testing testing testing Rokfor betrachtet automatisiertes Design als einen alternativen Zugang zu Gestaltung. Durch automatisierte Prozesse ergeben sich neue Begründungen für gestalterische Entscheidungen. Ideen für Regeln, auf denen automatisiertes Design basiert, beinhalten unter anderem Zufälle und Unschärfen durch algorithmische Positionierung und Skalierung einzelner Elemente. Zusätzlich beeinflussen klassische Raster- und Layout-Systeme die Entwicklung von Algorithmen. Im Zusammenspiel von Gestaltung und Programmierung werden die LayoutTemplates entwickelt. Das letztlich maschinell hergestellte Dokument kann so immer wieder neu generiert werden – mit unterschiedlichen Inhalten und veränderten Regeln. Rokfor stellt die Arbeit des Gestalters nicht infrage, sondern gewichtet den Arbeitsprozess anders. Die Arbeit verschiebt sich von der Gestaltung einzelner Dokumente zur Gestaltung eines einzigen Regelwerks für das komplette Ergebnis. 123 13 Inhalt Form 123 PRODUKTION Ein Klick auf Vorschau oder Document Export erzeugt ein PDF. Die modulare Struktur erlaubt es auch andere Formate, beispielsweise Webseiten, zu produzieren. ERGEBNIS 3 Produktion 123 NEU START Hg. v. W. Grond, V. Trubel, G. Kögl & B. Mazenauer zusammen leben eljub Europäische Jugendbegegnungen 2016 B5.117 nach denken vor sehen