Peking Express
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Maik Platzen / Qin Hu Peking Express Das junge Kino aus China Peking Express.indd 3 07.09.2009 12:02:52 Inhalt Vorwort: Peking im Frühling 6 Texte Geheimagenten des Tao (von Maik Platzen) Gespalten in Peking, vereint in Berlin (von Qin Hu) Interviews «Sanft wie ein Rasiermesser...» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei TUYAS HOCHZEIT (China 2006) Wang Quan’an, Regisseur Interview mit Wang Quan’an Lutz Reitemeier, Kameramann Interview mit Lutz Reitemeier Yu Nan, Schauspielerin Interview mit Yu Nan «Ein schweres Thema leicht erzählt...» LOST IN BEIJING oder: Film ist kein Sprachrohr der Politik LOST IN BEIJING (China 2007) Li Yu, Regisseurin Interview mit Li Yu Fan Bingbing, Schauspielerin Interview mit Fan Bingbing Fang Li, Produzent und Drehbuchautor Interview mit Fang Li «Wir leben in einer Übergangszeit...» BLIND MOUNTAIN oder: Von der Kunst Umwege zu finden BLIND MOUNTAIN (China 2007) Li Yang, Regisseur Interview mit Li Yang Peking Express.indd 5 15 33 58 57 58 59 71 72 88 89 97 98 99 100 112 113 119 120 124 125 126 127 07.09.2009 11:20:12 6 Inhalt «Ich konnte spüren, dass sie weiblich waren...» TEETH OF LOVE oder: Verliebt in den Schmerz TEETH OF LOVE (China 2006) Zhuang Yuxin, Regisseur Interview mit Zhuang Yuxin «Peking ist nur noch die Idee einer Stadt...» IN LOVE WE TRUST oder: Von links nach rechts und wieder zurück IN LOVE WE TRUST (China 2008) Wang Xiaoshuai, Regisseur Interview mit Wang Xiaoshuai Liu Weiwei, Schauspielerin Interview mit Liu Weiwei «Das Erfundene ist Teil des Authentischen...» 24 CITY oder: Von der Notwendigkeit, zu sprechen 24 CITY (China 2008) Jia Zhangke, Regisseur Interview mit Jia Zhangke, Teil 1 Interview mit Jia Zhangke, Teil 2 Interview mit Jia Zhangke, Teil 3 Joan Chen, Schauspielerin und Regisseurin Interview mit Joan Chen Tao Zhao, Schauspielerin Interview mit Tao Zhao «In jedem Nicht-Außenseiter steckt etwas Abseitiges...» SPRING FEVER oder: Ein Traum von öffentlichem Glück 137 138 139 140 150 151 152 153 164 165 167 168 169 171 175 180 183 185 189 190 SPRING FEVER (China 2009) Lou Ye, Regisseur Interview mit Lou Ye 193 194 195 196 Anhang Filmografie Dank 202 204 Peking Express.indd 6 07.09.2009 11:20:12 56 «Sanft wie ein Rasiermesser…» Tuyas Hochzeit oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei «Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei ഴ䳻Ⲻ႐Ӂ Peking Express.indd 56 07.09.2009 11:20:25 TUYAS HOCHZEIT (2006) TUYAS HOCHZEIT (China 2006) 57 ഴ䳻Ⲻ႐Ӂ In der chinesischen Provinz der Inneren Mongolei lebt die Hirtin Tuya mit ihrem Mann Bater und zwei kleinen Kindern. Seit einem Sprengstoff-Unfall beim Bau eines Brunnens ist Bater Invalide und kann keine schwere Arbeit mehr verrichten. Jeden Tag reitet Tuya mehrere Kilometer durch die karge Gegend, um Wasser zu holen und hütet mit großer Mühe eine Schafherde, die das Überleben der Familie in der Steppe sichert. Zu allem Überfluss muss sich Tuya auch noch um ihren herzlichen, aber ungeschickten Nachbarn Sen’ge kümmern, dessen Frau regelmäßig mit einem Anderen durchbrennt, wenn Sen’ge ihren materiellen Wünschen nicht nachkommt. Als Tuya eines Tages unter der Arbeitslast zusammenbricht, steht die Zukunft der Familie auf der Kippe. Damit die Kinder versorgt werden können, schlägt Bater die Scheidung vor, was Tuya zuerst ablehnt. Bald willigt sie jedoch ein, einen neuen Mann zu heiraten. Doch nur unter der Bedingung, dass der neue Ehemann auch Bater und die Kinder bei sich aufnimmt. Zahlreiche Anwärter reisen an, doch jedes Mal scheitern die Gespräche an Tuyas Bedingung. Die Suche scheint ein Ende zu finden, als ein früherer Klassenkamerad namens Baolier, der in der Stadt durch Ölgeschäfte zu Wohlstand gekommen ist, um Tuyas Hand anhält. Für Bater findet Baolier einen Platz in einem gut ausgestatteten Heim, in dem die Verwandten zahlungskräftiger Kunden residieren. Am Abend der Trennung verübt Bater, der den Verlust seiner Familie nicht verkraftet, einen Selbstmordversuch und wird von Sen’ge gerettet. Baolier bereut, Sen’ges Notruf aus egoistischen Gründen ignoriert zu haben, und übernimmt die Kosten für Baters medizinische Behandlung. Wieder vereint macht sich Tuyas Familie auf den Weg zurück in ihre Jurte. Da Tuya und ihre Familie dort zurückgeworfen sind auf den alten Status Quo, schickt sich Sen’ge an, in der Nähe von Tuyas Haus einen Brunnen zu graben – eine Geste der Hilfsbereitschaft und der persönlichen Zuneigung, wie Tuya richtig versteht. Als Sen’ge später seinen Heiratsantrag ausspricht, willigt Tuya ein. Tags darauf verschwindet Sen’ge jedoch spurlos. In ihrer Enttäuschung beschließt Tuya, einen anderen Bewerber zu heiraten, den sie bereits abgelehnt hat. Kurz vor dem Hochzeitstermin taucht der frisch geschiedene Sen’ge mit einem Lastwagen mit Bohrgerätschaften auf… Mit Baters Zustimmung heiratet Tuya ihren Nachbarn Sen’ge. Während der feierlichen Zeremonie kommt es jedoch zu einem Streit der beiden Männer. Bater ist dabei sich zu betrinken. Tuyas Versuch, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, bleibt erfolglos. Sie stürmt aus dem Zelt und zieht sich in eine leere Jurte zurück. Tränen rinnen über ihre Wange. Peking Express.indd 57 07.09.2009 11:20:25 58 «Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei ⧁ޞᆿ Wang Quan’an Regisseur Geboren 1965 in Yan’an, Provinz Shanxi. Als Kind liebt Wang Quan’an die Malerei und arbeitet als Tänzer in einem bekannten VolkstanzEnsemble, bevor er von 1987 bis 1991 an der Beijing Film Academy ein Schauspielstudium absolviert. 1989 schreibt Wang das erste eigene Drehbuch. Nach dem Studienabschluss findet er eine Anstellung beim Xi’an Film Studio als Regisseur und schreibt in der Zeit mehrere Drehbücher. Spielfilme 1999 LUNAR ECLIPSE / YUE SHI. Wangs der erster Spielfilm hat auf dem Internationalen Forum der Berlinale 2000 Premiere. 2004 THE STORY OF ERMEI / JING ZHE. Der zweite Spielfilm Wangs läuft 2004 im Panorama der Berlinale. 2006 mit dem dritten Spielfilm TUYAS HOCHZEIT / TUYA DE HUN SHI (Buch zusammen mit Lu Wei) gewinnt Wang Quan’an 2007 den Goldenen Bären und den Preis der ökumenischen Jury auf der Berlinale und den Silver Hugo Award auf dem Chicago International Film Festival. 2008 Spielfilm WEAVING GIRL / FANG ZHI GU NIANg. In Produktion: REUNION / TUAN YUAN. Der Spielfilm handelt von einer Familienzusammenführung zwischen der Volksrepublik China und Taiwan und spielt in Shanghai. Peking Express.indd 58 07.09.2009 11:20:25 Interview mit Wang Quan’an 59 Interview mit Wang Quan’an 3. Mai 2008: Wang Quan’an empfängt uns in seiner Wohnung im 20. Stock eines Hochhauses im Nordwesten Pekings, nahe des Großen Glockentempels. Das Hochhaus gehört zu einer Hochhaussiedlung, wie sie typisch ist für Peking. Bei aller Modernisierung besteht hier ein Rest von dörflicher Struktur fort: Die umzäunten Anlagen bilden kleine Einheiten mir eigener Verwaltung. Aus dem Fenster von Wang Quan‘ans Wohnzimmers hat man eine weite Sicht: Im Norden zeichnen sich die Umrisse des Jundu Shan-Gebirges ab. *** Was ist deine erste Erinnerung an das Kino? Wann bist du mit dem Kino in Berührung gekommen? Wang Quan’an: Ich denke, fast jeder in meinem Alter war als Kind be- geistert vom Film. Denn damals gab es nicht so viele andere Unterhaltungsmöglichkeiten. Kino war daher sehr wichtig, die Hauptfreizeitbeschäftigung. Ich mag Filme seit meiner Kindheit sehr. Das war damals wie ein Traum – sehr weit entfernt, mysteriös und faszinierend. In meinen Erinnerungen sind es damals fast ausschließlich Open Air Kinos gewesen und die Filme haben nichts gekostet. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass jene Zeit das goldene Zeitalter des chinesischen Films war. Stimmt es, dass du zwischendurch auch mal als Tänzer gearbeitet hast? Wie bist du von da aus zum Film gekommen? Das mit dem Tanzen war ein Zufall. Davor habe ich mehrere Jahre lang gemalt. Ich hatte damals die Wahl: ich hätte zur Arbeit aufs Land gehen müssen oder ich konnte rasch noch eine andere Stelle annehmen. Daher haben meine Eltern gesagt, ich solle doch das Tanzen zum Job machen. Obwohl es eine passive Entscheidung war, habe ich recht gut getanzt (lacht). Vielleicht ist mein Kontakt zum Film letztlich sogar durch das Tanzen zustande gekommen. Wir waren damals für einige Zeit in Europa auf Tour. In Frankreich gastierten wir an einem Ort, wo ein Film mit dem Titel THE OLD GUN (FRA 1975) gedreht worden war, der zu der Zeit gerade in China lief. Plötzlich wollte ich auch Filme machen. Diese Idee ist dort entstanden. Und wie bist du auf die Idee zu TUYAS HOCHZEIT gekommen? In meiner Studienzeit haben wir zur Drehbuchübung einige ähnliche Geschichten bearbeitet. Diese zwei, drei Geschichten handelten davon, dass eine Frau durch das Heiraten mit einem zweiten Mann für ihren ExMann sorgt. In China nennt man das Jia Fu Yang Fu – das heißt, man heiratet einen Mann, um den ehemaligen zu ernähren. Diese Geschichte hat meine Aufmerksamkeit erregt, weil die Beziehungen zwischen den Figuren sehr kompliziert sind. Das Schicksal eines Menschen ist in eine sehr komplizierte Konstellation eingebettet. Die Innere Mongolei habe ich hauptsächlich deshalb als Schauplatz gewählt, weil ich die mongolische Musik mag. Außerdem kenne ich die Menschen dort auch relativ Peking Express.indd 59 07.09.2009 11:20:25 60 «Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei gut. Der Ort, den wir ausgesucht haben, liegt im Grenzgebiet zwischen Han-Chinesen und Muslimen, wo ich mich ganz gut auskenne. Die Wahl der Inneren Mongolei hat also weniger mit einem dokumentarischen Interesse zu tun? Während chinesische Kunstfilme normalerweise die gesellschaftliche Realität und die soziale Umgebung reflektieren wollen, möchte ich mit diesem Film in erster Linie eine Liebesgeschichte erzählen, eine besondere Liebesgeschichte. Dass die Geschichte in der Inneren Mongolei angesiedelt ist, schafft mir mehr Freiheit, weil ich mich dadurch nicht so sehr danach richten muss, DIE gesellschaftliche Realität zu thematisieren. Ich merke, dass ich immer mehr Wert auf die Darstellung menschlicher Emotionen lege. Das ist auch der Grund, warum Tuya leichter von verschiedenen Menschen verstanden werden konnte. Das ist die Richtung für mein zukünftiges Filmschaffen. Alle deine bisherigen Filme haben eine weibliche Protagonistin. Was fasziniert dich so an weiblichen Hauptfiguren? Der wichtigste Grund, warum ich eine Protagonistin in TUYAS HOCHZEIT habe, ist meine Zusammenarbeit mit Yu Nan. Unter den chinesischen Schauspielern, mit denen ich gearbeitet habe, ist Yu Nan eine der sehr wenigen, deren Spiel sowohl sehr authentisch ist, als auch die explosive Kraft des Dramas besitzt. Das ist gerade die Eigenschaft, um die sich mein Film bemüht. Daher konnte der ganze Film prinzipiell um die Schauspielerin Yu Nan und ihre Rolle herum entwickelt werden. Ein anderer Grund ist, dass man – wie ich schon immer fand – durch die Perspektive und die Geschichte einer Frau mehr über das gesellschaftliche Umfeld, die Familie usw. erzählen kann. Natürlich kommt noch ein einfacher Grund dazu: Denn als Mann mag ich Frauen lieber. Daher drehe ich lieber Filme über Frauen. Was ist denn so unterschiedlich daran, ob man aus der Perspektive einer Frau oder der eines Mannes etwas über die Gesellschaft erzählt? Ich finde, Männer und Frauen sind in der Tat verschieden. Männer sind immer mit «großen Sachen» – einer sehr wichtigen, großen und glorreichen Kariere, Dingen von großer Bedeutung und so weiter – beschäftigt. Davon sind die Männer auch selbst überzeugt. Aber das Leben besteht nicht nur aus diesen Dingen und wir wollen das alltägliche Leben zeigen. Tuya kurz nach der vorübergehenden Trennung von ihrem Mann Bater. Peking Express.indd 60 07.09.2009 11:20:26 Interview mit Wang Quan’an Frauen scheinen sich dagegen mehr um konkrete Sachen zu kümmern. Wenn ein Mann sagt: «Ich will etwas Weltbewegendes machen», antwortet die Frau: «Ja, klar. Aber wovon leben wir dann?» Das ist auch ein Grund, warum ich lieber Frauen filme. Ich finde, sie sind mehr auf das Wesentliche bei einer Sache fixiert. 61 Das Ehepaar Tuya und Bater (mit Tochter). Wie würdest du den Charakter von Tuya beschreiben? Was ist sie für eine Frau? Sie ist vor allem eine liebende Frau. Man kann in ihr sicher verschiedene Dinge sehen. Mein ursprünglicher Wunsch war allerdings, dass Tuya eine Frau ist, die ihren Mann sehr liebt. Indem sie einen bestimmten Weg geht, und dabei auch einen anderen Mann heiratet, möchte sie letztendlich ihre Bindung und Liebe zu ihrem Mann bewahren. Das ist mir auch erst klar geworden, nachdem wir fertig gedreht hatten. Nachdem ich den fertigen Film gesehen hatte, habe ich zu Yu Nan gesagt, dass TUYAS HOCHZEIT eine Liebesgeschichte sei und Tuya ihren Mann wirklich sehr liebe. Das bringt mich auf den Gedanken an einen deutschen Film, DIE EHE DER MARIA BRAUN, der eine ähnliche Geschichte erzählt und so ein ähnliches Gefühl transportiert. Das berührt mich, denn ich möchte auch ein liebender Mensch sein. Ich habe auch Liebe in mir. Ich denke, Frauen können das eher mitteilen, während es Männern sehr schwer fällt. Das macht mich traurig, gleichzeitig bewegt es mich. Ein Film, der von den Menschen, ihren Gefühlen und der Liebe handelt, berührt mich tief. Man könnte fast sagen, dass Tuya immer mehr aufblüht, je stärker der Druck wird, der auf ihr lastet, oder? Das stimmt, das ist uns auch aufgefallen. Je schwieriger die Situation, desto deutlicher merkt man die Verhaltensunterschiede zwischen beiden Geschlechtern. Oft zeigen Frauen unter den härtesten Bedingungen größere Ausdauer und Elastizität. Männer – weil ihr Charakter dem des Stahls gleicht – lassen sich, wie andere harte Gegenstände, leichter brechen. Frauen sind weicher, weshalb sie es überleben können. Es war ein verbreitetes Phänomen während der Kulturrevolution, dass Männer, die eigentlich Selbstmord begehen wollten, als sie das Ganze nicht mehr ertragen konnten, deshalb überlebt haben, weil sie ständig von ihren Frauen damit getröstet wurden, dass sie weiter leben sollten und das Leben allem anderen überlegen sei. Wie hast du eigentlich die Filme von Rainer Werner Fassbinder kennengelernt? Und was bedeutet dir speziell der Film DIE EHE DER MARIA BRAUN? Den Film habe ich sehr früh an der Akademie gesehen. Ich finde, dass Peking Express.indd 61 07.09.2009 11:20:26 62 «Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei Tuyas Leben ist von körperlicher Mühsal geprägt. er von allen Filmen Fassbinders seinen persönlichen Stil am reifsten reflektiert. Zwischen Unterhaltungswert und individueller Handschrift ist er sehr ausgewogen. Was ich noch unbedingt sagen wollte, ist, dass wir in TUYAS HOCHZEIT und in DIE EHE DER MARIA BRAUN eigentlich die gleichen Dinge sehen können – nicht, weil sich die Filme, sondern weil sich die Menschen darin ähneln, sowohl die Männer als auch die Frauen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass während eines Interviews nach der Preisverleihung auf der Berlinale ein Journalist zu mir gesagt hat, dass man im Westen früher chinesische Filme dafür geschätzt habe, dass sie so anders seien und man sie auch nicht ganz verstanden habe. Die Andersartigkeit hat wohl eine enorme Faszination ausgeübt. Bei meinem Film aber habe man zum ersten Mal vergessen, in einem chinesischen Film zu sitzen. Man sei einfach von den Emotionen der Figuren mitgerissen worden. Er hat mich gefragt, ob ich das für einen Fortschritt oder Rückschritt halte. Ich habe ihm gesagt, dass ich diesen Moment, in dem man nicht mehr von den östlichen Besonderheiten spricht, sogar lange herbei gesehnt habe. Ich finde, das Wichtigste am Film ist der emotionale Austausch und nicht die Einzigartigkeit oder die Unterscheidung. Ich mag verbindende Elemente lieber als trennende. Noch mal zu Fassbinder: ich mag ihn wirklich sehr. Seine Filme und sein Blick sind sehr scharfsinnig, wie ein Rasiermesser, wenn er die menschliche Natur enthüllt. Aber ganz ehrlich, womit er mich wahrhaft berührt hat, ist seine Zärtlichkeit gegenüber den Menschen, die sich hinter seiner Schärfe verbirgt. Er pflegt in seinem Inneren etwas sehr Zartes und das wird oft übersehen. Willst du mit Tuyas Dilemma auch den Wandel der Gesellschaft und ein moralische Dilemma aufzeigen, dass die Modernisierung für viele Menschen mit sich bringt? Ich finde, dass das Problem, vor dem Tuya steht, noch kein Problem der modernen Gesellschaft ist. Es geht hauptsächlich darum, welche Bedeutung die Moral hat – in einer Situation, in der die Lebensbedingungen extrem schlecht geworden sind. Worin besteht die Moral der Ehe, wenn das Überleben bereits gefährdet ist? Was ist wertvoller: zu überleben, oder «moralisch» und «ehrenhaft» zu sein? Ich finde, das Liebenswürdige an Tuya liegt eben darin, dass sie offensichtlich gemerkt hat, Peking Express.indd 62 07.09.2009 11:20:27 Interview mit Wang Quan’an 63 dass das Überleben vorgeht. Es ist hauptsächlich der Konflikt zwischen Überleben und Moral. Natürlich ist das auch eine Herausforderung für die bestehenden moralischen und ethischen Vorstellungen einer sogenannten zivilisierten Gesellschaft. Man sollte es aber an konkreten Umständen messen. Es gibt eine einfache Geschichte: In einer Wüste ist ein Mann am Verdursten. Jemand bietet ihm viel Gold an, ein anderer Wasser. Tuya hat sich eindeutig für das Wasser entschieden. In dieser Situation gleicht die Moral dem Gold – es ist wertlos. Daher stellen wir die Frage, was eigentlich moralischer ist. Das ist der Punkt. Eigentlich entspricht Tuyas Verhalten einer höheren Moral, weil es menschlicher ist. Was weiß man in Peking eigentlich über die Innere Mongolei und die Menschen dort? Dafür, dass die Pekinger bestens über die Umweltzerstörung in der Mongolei Bescheid wissen, spricht der Sand, die jedes Jahr aus der Steppe nach Peking herein geblasen wird… Dass Menschen nach einem besseren Leben streben, entspricht, denke ich, einem elementaren Wunsch. Natürlich wollen auch die Mongolen bessere Lebensverhältnisse. Und ihre Lebensweise wird sich bald ändern, weil die Regierung sie nun umsiedelt. Sie werden in der Stadt landen, aber dort sind sie sehr verwirrt. In der Stadt ist es eigentlich gemütlicher und in vielerlei Hinsicht besser, ohne die Gefährdungen durch eine erbarmungslose Natur. Aber während wir dem Reichtum nachrennen, ist es für uns normale Menschen sehr schwer zu begreifen, welche ernsten Probleme und Konsequenzen solch ein Verlust der Lebensweise mit sich bringen kann. Können die Menschen in der derzeitigen städtischen Konsumgesellschaft denn dann überhaupt etwas mit Tuyas Aufopferung anfangen? Wir wissen alle, dass das chinesische Kino heute sehr von der Kommerzialisierung geschüttelt wird. Man sieht viele Kung-Fu-Filme. Im chinesischen Fernsehen sieht man auf vierzig von fünfzig Sendern Menschen im antiken Kostüm durch die Luft fliegen. Die moralischen, ethischen und kulturellen Konflikte, die die derzeitige starke wirtschaftliche Entwicklung Chinas mit sich bringt, werden in den chinesischen Filmen nicht sehr klar reflektiert. Während dieses Wandels sind aber auch viele Chinesen einem enormen Druck ausgesetzt und für viele ist es unheimlich schmerzhaft. Warum hast Du bis auf Yu Nan ausschließlich mit Laiendarstellern gearbeitet? Alle chinesischen Regisseure kennen die Probleme der chinesischen Schauspieler. Sie entsprechen meistens nicht den Anforderungen der heutigen Filme, die mehr Authentizität und ein realistischeres Spiel verlangen. Sich für Laiendarsteller zu entscheiden, ist ein Bedürfnis und eine Notwendigkeit, weil das Spiel von professionellen Schauspielern oft recht falsch wirkt. Der Vorteil bei Laiendarstellern ist in erster Linie, dass sie den Figuren persönlich nahe stehen. Der Rest, die Spieltechnik, kann durch die Arbeit des Regisseurs erledigt werden. Meiner Meinung nach können zwei Drittel der Menschen in einer Menge schauspielern. Insofern habe ich zumindest ein paar Millionen Schauspieler zur Auswahl. Peking Express.indd 63 07.09.2009 11:20:27 64 «Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei «Meiner Meinung nach können zwei Drittel der Menschen in einer Menge schauspielern.» (Wang Quan’an) Verschiedene Laiendarsteller aus TUYAS HOCHZEIT. Peking Express.indd 64 Wie hast du die Darsteller für die beiden männlichen Hauptrollen «Bater» und «Sen’ge» gefunden? Das Problem des chinesischen Kinos, von dem ich gerade gesprochen habe, liegt vor allem in der Künstlichkeit. Daher muss man die Suche im realen Leben starten. Ein Ziel unseres Films ist es, die chinesischen Zuschauer zurück zu authentischen Figuren und authentischem Leben zu bringen und dabei können uns Laiendarsteller helfen. Den Schauspieler für Sen’ge, der im realen Leben auch Sen’ge heißt, habe ich bei einem Reitwettbewerb entdeckt. Er ist Reiter. Wie sein Charakter im Film, so ist auch er lebhaft, romantisch und beliebt. Insbesondere weiß er sehr gut, wie er sich bei den Frauen richtig anstellt. Das habe ich an ihm beobachtet. Kaum war seine Ehefrau weg, fing er an, mit anderen Frauen zu flirten. Kam die Frau zurück, verhielt er sich auf einmal unauffällig. Daher war ich davon überzeugt, dass er die Rolle würde spielen können. Als wir uns dann kennenlernten, wurde er von seiner Ehefrau begleitet und verhielt sich wieder total ordentlich und seriös. Ich nahm ihn zur Seite und erinnerte ihn daran, was ich an jenem ersten Tag in ihm gesehen hatte und dass ich ihn nicht so wie heute, sondern wie an jenem Tag haben wollte. Er sagte: «okay, okay». Ich muss dazu sagen: Seine Frau ist eine sehr dominante Ehefrau, wie man es nur selten erlebt. Sie überwacht ihn ganz streng. Egal wo er hin geht, sie folgte ihm. Ein Erlebnis während unserer Zusammenarbeit war besonders einprägsam: Es gibt eine Szene mit Sen’ge und Tuya, in der Tuya einen Brunnen herunter klettert und ihm sagt, dass er sich von seiner Frau (im Film) scheiden lassen soll. Sen’ges reale Frau – sie ist sehr clever – hatte vorher das Drehbuch studiert und ahnte, dass da unten im Brunnen bestimmt etwas passiert wird. Am Tag des Drehs ist sie dann frühzeitig zum Set gekommen und hat neben dem Brunnen gewartet, um Dinge wie Küssen zwischen Sen’ge 07.09.2009 11:20:28 65 Interview mit Wang Quan’an Sen’ge baut einen Brunnen für Tuya. Tuya erklärt sich einverstanden, Sen’ge zu heiraten. und Yu Nan zu verhindern. Sie wollte unbedingt in meinen Kontrollmonitor schauen. Als ich das dann irgendwann als störend für die Arbeit der Schauspieler empfand, habe ich behauptet, der Monitor sei kaputt… Sen’ge war in dieser Szene besonders gut, weil er wusste, dass seine Frau draußen stand. Er war sehr aufgeregt. Als Tuya ihn (im Film) fragt, ob er Angst vor seiner Frau habe, hat er gesagt: «Nein, ich habe keine Angst!» Er wusste, dass ihm seine wirkliche Frau in diesem Augenblick gerade zuhörte. Interessanterweise hat Sen’ges Ehefrau später, kurz bevor wir mit dem Dreh fertig waren, angefangen, ein eigenes Drehbuch zu schreiben. Das tut sie vielleicht auch, um ihrem Mann Aufmerksamkeit zu schenken. Denn Sen’ge sollte ja wahrscheinlich in ihrer Geschichte mitspielen. Spielt sie dann auch selber seine Ehefrau in ihrem Buch? Das müsste sie dann selber organisieren (lacht)! Und wie war es bei «Bater»? Bater, der in echt auch Bater heißt! Mein Produzent hat ihn gefunden, als er für die Setsuche sehr weit in die östliche Mongolei gereist war, etwa 5000 Kilometer. Er hat dort einige Fotos geschossen, darunter eines mit Bater am Wegrand. Als ich das Foto gesehen habe, wusste ich sofort, das ist der Mann, den ich gesucht hatte! Ich habe zu meinem Produzenten gesagt, er solle diesen Mann finden, denn er wird mein Hauptdarsteller sein. Mein Produzent hat geantwortet: «Das kann doch nicht wahr sein! Wir wissen nicht einmal, wer er ist». Dann habe ich gesagt, dass das Allerwichtigste sei, dass dieser Mann etwas in seinen Augen habe, das ich suche. Bater ist ein typischer mongolischer Mann, sehr maskulin. In seinem Blick gibt es aber etwas sehr Trauriges. Als mir mein Produzent weiter erklären wollte, dass er diesen Mann aber nicht kenne, habe ich gesagt: «Aber du weißt bestimmt, wo du das Foto gemacht hast. Jemand mit so einem melancholischen Peking Express.indd 65 «In seinem Blick gibt es etwas Trauriges.» Tuyas Ehemann Bater. 07.09.2009 11:20:29 66 «Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei Blick muss einen Grund haben.» Später haben sie Bater tatsächlich gefunden. Das Lustige war, dass Bater sogar zehn Tage, nachdem wir ihn gefunden hatten, immer noch nicht dran glauben konnte, dass wir einen Film mit ihm machen wollten. Er dachte, wir würden ihm nur einen Streich spielen. Er hatte noch nie seinen Heimatort verlassen. Nicht einmal war er weiter als 50 Kilometer weggereist. Er konnte sich eine Verbindung zwischen sich und einem Film nicht vorstellen. Wir haben einen halben Monat gebraucht, um ihn zu überzeugen. Als wir später mit ihm am Drehort angekommen sind, habe ich zu ihm gesagt, wenn wir tatsächlich Menschhändler wären, würden wir sicher keinen wie ihn entführen... Denn Bater ist tatsächlich ein bisschen behindert, er hinkt. Er war früher Reiter. Nachdem er dreimal vom Pferd gestürzt war, wurde er tatsächlich zum Krüppel. Nachdem sich Bater uns angeschlossen hatte, erkannten wir, dass seine Lebenssituation der seiner Figur im Film tatsächlich sehr ähnelte. Auch seine Familie steckte in großen finanziellen Schwierigkeiten. Es gibt bei TUYAS HOCHZEIT ein paar Szenen, die nicht in der Endfassung sind, in denen es um die Schule geht: Tuya und Bater fällt es schwer, ihren Sohn zur Schule zu schicken, weil sie das Geld nicht haben. Eigentlich ist Zhaya schon im Schulalter, aber Tuya erzählt ihm, dass er es mit Schule nicht so eilig haben muss. Jedes Mal, als wir diese Szenen gedreht haben, war Bater sehr mitgenommen. Er sagte mir, dass er die Gebühren für die Mittelschule seines Kindes noch nicht zurückbezahlt habe, obwohl sein Kind mittlerweile schon studiert. Wir mögen Bater alle sehr und vermissen ihn auch. Deswegen hat Yu Nan auch später ihre Katze nach ihm benannt (lacht). Suchst du aus Prinzip Leute, die sich selber spielen? In gewisser Weise schon. Aber ich gebe mich nicht damit zufrieden, lediglich zu dokumentieren bzw. realistisch zu sein. Ich bin eben nicht davon überzeugt, dass ein Film wirklich realistisch sein kann. Denn Film ist subjektiv, nicht objektiv. Film ist dramatisch und von seinem Wesen her eine Kreation. Wir können sehen, dass durch die Teilnahme von Yu Nan beispielsweise das ganze Spiel an Dramatik gewonnen hat. Denn sie ist eine professionelle Schauspielerin. Daher besitzt ihr Spiel eine dramatische Intensität und eine explosive, dramatische Kraft, die den Film kraftvoller wirken lassen. Erst dadurch war vollbracht, was mir vorschwebte. Ich habe eine Vorliebe für Filme, die sowohl auf authentischen Gefühlen basieren, als auch einen starken dramatischen Charakter ausstrahlen. Das ist die neue Richtung meiner Filme. Ich finde, dass das Kino eine Form annehmen sollte, die beides ist: sowohl realistisch, als auch unterhaltsam und visuell ansprechend. Es sollte eine Balance zwischen beiden geben. Ich bevorzuge Filme, die kategorisch nicht klar zuzuordnen sind. Stimmt es, dass die Filmteams in China viel größer sind als im Westen? Wie kommuniziert man mit so vielen Leuten und wie hält man sie bei Laune? Meiner Ansicht nach ist ein Regisseur in erster Linie jemand, der eine Gruppe von Leuten dahin bringt, gemeinsam etwas für ihn zu erledigen. Ich drehe gewöhnlich sehr schnell. Selbst wenn ich es langsamer Peking Express.indd 66 07.09.2009 11:20:29 Interview mit Wang Quan’an 67 machen wollte, könnte ich es nicht. Für meine Filme brauche ich höchstens zwei Monate Drehzeit. TUYAS HOCHZEIT hat um die vierzig und mein neuster Film nur etwas mehr als dreißig Drehtage benötigt. Ich bin auch kein Kontrollfreak am Set. Aber alle wissen, was sie tun. Ich denke, das Wichtigste ist vielleicht die Kommunikation mit den Leuten im Vorfeld, damit sie deine Absichten verstehen. Ich versuche dabei, meine eigenen Gedanken zu denen meiner Mitarbeiter zu machen. Wir haben beim Dreh oft den Eindruck, dass wir die Szenen, die wir uns vorgenommen haben, sehr locker hinbekommen. Der Grund dafür ist, dass man bereits alles abgelehnt hat, was abgelehnt werden muss. Ich mag diese sehr mühsame Drehweise nicht. Manche Regisseure wiederholen eine Einstellung gerne mehrmals. Wenn ich nach vier, fünf Versuchen immer noch keinen Erfolg sehe, dann werde ich «Stopp» sagen. Denn irgendwo muss es dann einen Haken geben. Vielleicht liegt das Problem auch bei mir. Etwas, das aus dem Leben gegriffen ist, müsste eigentlich einfach und leicht darzustellen sein. Ich liebe die spielerische Leichtigkeit, bei der man gleichzeitig ziemlich schnell das bekommt, was man will. Ich bin kein Regisseur um des Regieführens willen, d.h. um mich wie ein Regisseur aufzuführen. Am Set merkt man oft nicht, dass ich da bin. Insgesamt bin ich einer, der gerne aus einer komplizierten eine einfache Sache macht. Daher geht es bei mir oft sehr entspannt zu. Wie hast du die Berlinale erlebt, bevor du am Ende den Goldenen Bären gewonnen hast? Filmfestivals sind immer voller Überraschungen. Chinesische Regisseure schenken den drei großen Filmfestivals in Europa viel Aufmerksamkeit. Sie sind für China wichtig, weil die Entstehung der «fünften Generation» hauptsächlich diesen Festivals zu verdanken ist. Am Anfang stand die Vorführung von Zhang Yimous DAS ROTE KORNFELD auf der Berlinale 1988. Das hat den neuen chinesischen Film stark beeinflusst und eine Art Bewegung in Gang gesetzt. Als ich davon erfahren habe, dass TUYAS HOCHZEIT für den Wettbewerb der Berlinale ausgewählt worden sei, war ich natürlich sehr aufgeregt. Ich habe auch geahnt, dass dies eine Chance für die neue Generation chinesischer Regisseure, die sogenannte «sechste Generation», sein könnte. Bevor ich nach Berlin gegangen bin, war ich also relativ zuversichtlich. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass mein Film so einen wichtigen Preis gewinnen wird. Ich war vor allem sehr überzeugt hinsichtlich der schauspielerischen Leistungen, insbesondere der von Yu Nan. Ich habe gedacht, wenn der Film einen Preis bekommt, dann kriegen ihn die Schauspieler. Das waren meine Gedanken vor der Abreise. Ich erinnere mich besonders gut an die Publikumsreaktion nach der ersten Vorführung. Auf einmal war ich entspannt! TUYAS HOCHZEIT wurde dann auf der Berlinale von Kritikern zwar konstant gut bewertet, aber der Goldene Bär hat mich trotzdem sehr überrascht und überwältigt. Ich weiß noch ganz genau, dass mir in diesem Moment schlagartig klar wurde, dass dieser Preis das chinesische Kino ein zweites Mal nachhaltig beeinflussen könnte – nicht nur mich, sondern die gesamte Filmszene des Landes. Sie wird sich dadurch vielleicht tiefgehend verändern. Peking Express.indd 67 07.09.2009 11:20:29 68 «Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei Wang Quan’an und Yu Nan auf der Berlinale 2007. Wie bei der «fünften Generation» rücken durch diesen Preis erneut die Filme einer neuen Generation stärker ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Für das chinesische Kino ist das wirklich ein historischer Moment. Natürlich sind auch die persönlichen Veränderungen, die mir die Berlinale gebracht hat, ziemlich groß. In erster Linie bedeutet es Freiheit. Früher hatte ich mehr oder weniger den Einschränkungen des Budgets zu gehorchen. Jetzt würde dieses Problem vielleicht nie wieder auftauchen. Das waren meine Gedanken. Man findet immer finanzielle Mittel, um die Filme zu machen, die man machen will. Nach dem Goldenen Bären sah ich mich aber auch mit der Wahl konfrontiert, welche Art von Filmen ich nun machen wollte. Denn ich hätte jetzt auch sehr große Produktionen drehen können. Nach einiger Zeit, einem halben Jahr ungefähr, – der erste Stoß war überaus stark für mich und mein Umfeld –, habe ich realisiert, dass ich meiner Art von Film treu bleiben sollte. Denn sie gefällt mir am besten. Insofern hat die Freiheit zwei Ebenen: Zum einen kann man etwas Großes machen, zum anderen auch «nein» sagen. Man ist nicht gezwungen, etwas zu tun. Man kann sowohl Dinge machen, die einem gefallen, als auch sie nicht tun, wenn man sie nicht mag. Unter den chinesischen Regisseuren gehöre ich zu den Glückpilzen. Die Art meiner Filme ist, insbesondere im Vergleich mit anderen jungen Regisseuren, speziell. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich mehr auf den Film selbst konzentriere, auf das Drama. Ich hoffe daher, dass ich weitere Filme machen werde, die sowohl realistisch sind und vom realen Leben der Chinesen und ihren Gefühlen berichten, als auch dramatisch; die ansehnlich und elegant sind. Hattest du bei TUYAS HOCHZEIT Konflikte mit der Zensurbehörde? Haben sich deine Erfahrungen mit der Zensur über die Jahre verändert? Es gibt in China die Filmzensur. Aber im Vergleich zu früher entsteht in den letzten Jahren ein immer offeneres Bild. Ich finde persönlich, dass man unter dem heutigen Stand der Filmzensur grundsätzlich frei drehen kann. Das kann weitgehend gewährleistet werden. In meinen persönlichen Erfahrungen mit der Zensurbehörde habe ich nichts wirklich Schlimmes erlebt. TUYAS HOCHZEIT wurde an keiner einzigen Stelle geändert. Bei meinem zweiten Film JING ZHE – THE STORY OF ER MEI wurden zwar drei Änderungsvorschläge gemacht, die ich aber, glaube ich, nicht umgesetzt habe. Einige Zeit später haben sie mich darauf angesprochen, ob ich die Veränderungen vorgenommen hätte. Ich habe Peking Express.indd 68 07.09.2009 11:20:29 Interview mit Wang Quan’an 69 gesagt, doch, doch, die Änderungen seien ihnen nur nicht aufgefallen. Meine Einstellung zu dieser Sache ist vielleicht ein bisschen anders als bei anderen Regisseuren. Ich finde, wenn man locker damit umgeht, ist die Zensur eigentlich nichts Besonderes, weil sie keine Frage des Prinzips darstellt. Sie betrifft einerseits das staatliche System, andererseits auch die grundsätzliche Offenheit eines Landes. Ich glaube, dass es in dieser Hinsicht immer besser wird. Das Allerwichtigste ist, so etwas wie ein Gesetz für die Filmzensur zu schaffen. Das bräuchten wir im Moment am dringendsten, um das Problem zu lösen. Meiner Meinung nach bestehen die Hindernisse für das chinesische Kino nicht nur in der Filmzensur, sondern auch in der Art des Filmemachens selbst. Denn die Einschränkung der Filmschaffenden durch das System und die Regierung ist zwar ein wahres Problem, aber nicht mehr tödlich. Die wahre Schwierigkeit besteht darin, zwischen Kommerz und Kunst eine Entscheidung zu fällen. Die Zensoren haben ihre Gewohnheiten, und auch die Regisseure, die ihre Arbeiten einreichen. Alle sind nervös. Meine Erfahrungen waren allerdings, dass ich nicht so nervös bin. Denn ich halte die Zensur nicht für etwas Großes. Für mich ist der Film an sich schwieriger – wie ich einen Film besser machen kann. Das mit der Zensur lässt sich noch regeln. Daher erzähle ich den Leuten aus meiner Umgebung immer, dass sie sich dessen unbedingt bewusst sein sollten, dass das Schwierigste eigentlich die Kunst selbst ist. Das sieht man ja auch daran, dass, obwohl Amerika, Deutschland, Frankreich und so weiter keine Filmzensur haben, es wahre Meister allezeit und überall nur sehr wenige gibt. Auch wenn alles frei wäre, würde die Anzahl guter Regisseure immer übersichtlich bleiben. Man sollte sich nicht hinter der Zensur verstecken. Bist du denn zufrieden damit, wie viele Leute TUYAS HOCHZEIT im Kino gesehen haben? Das ist tatsächlich ein Problem. TUYAS HOCHZEIT ist in China gezeigt worden, aber bei weitem nicht so erfolgreich gelaufen wie in Europa und anderen Ländern. Das ist das Dilemma chinesischer Arthaus-Filme. Im Vergleich zu seinesgleichen gehört TUYAS HOCHZEIT zu den erfolgreichen Filmen auf dem chinesischen Markt. Wir chinesischen Regisseure sollten uns fragen, warum sich Menschen Filme anschauen. Wie wir am Anfang besprochen haben, ist mein Interesse darauf gerichtet, Filme möglichst filmisch aussehen zu lassen. Du hast vorhin von der «sechsten Generation» gesprochen. Stehst du im Austausch mit anderen Regisseuren? Gibt es vielleicht inzwischen auch schon die siebte oder achte Generation? In China redet man gewöhnlich von Generationen, wenn man Filmregisseure bezeichnet. Alle zehn Jahre sind sozusagen eine Generation. Wenn sich das auf professionelle Regisseure bezieht, dann sind wir heute in der sechsten Generation. In der Vergangenheit Chinas, insbesondere nach der Gründung der Volksrepublik, war die Gesellschaft durch ein einheitliches Bildungssystem geprägt. Daher hatten alle die gleiche Denkweise. Die Aufteilung in Generationen dient insofern der Unterscheidung. Die Regisseure der vierten und fünften Generation Peking Express.indd 69 07.09.2009 11:20:29 70 «Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei haben jeweils eine Besonderheit: Ihre Themen und ihre filmischen Stile weisen große Gemeinsamkeiten untereinander auf. Das vielleicht wichtigste Merkmal der sechsten, also meiner Generation, liegt darin, dass wir die Gemeinsamkeit nicht verloren haben und doch jeder seine eigenen Filme macht, seinen Stil entwickelt und seine Geschichten erzählt. Häufig sind es auch autobiographische Geschichten. Meiner Ansicht nach ist es bei Filmen und bei Kunst unbedingt wichtig, dass sie vom Individuum ausgehen. Daher hat das chinesische Kino in gewissem Sinne erst mit der sechsten Generation einen guten Anfang gefunden. Natürlich wird man sich mit der Zeit überlegen, ob es eine siebte oder achte Generation gibt. Aber ich denke, dass diese Art der Aufteilung in Zukunft immer schwieriger wird, weil das Kino immer vielfältiger wird. Film wird sich als individuelles Image und persönlicher Stil präsentieren. Es ist unmöglich, das alles mit einem zehnjährigen Abstand zu bemessen. Jederzeit könnte eine neue Generation auftauchen. Peking Express.indd 70 07.09.2009 11:20:30