Peking Express

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Peking Express
Maik Platzen / Qin Hu
Peking Express
Das junge Kino aus China
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Inhalt
Vorwort: Peking im Frühling
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Texte
Geheimagenten des Tao (von Maik Platzen)
Gespalten in Peking, vereint in Berlin (von Qin Hu)
Interviews
«Sanft wie ein Rasiermesser...»
TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei
TUYAS HOCHZEIT (China 2006)
Wang Quan’an, Regisseur
Interview mit Wang Quan’an
Lutz Reitemeier, Kameramann
Interview mit Lutz Reitemeier
Yu Nan, Schauspielerin
Interview mit Yu Nan
«Ein schweres Thema leicht erzählt...»
LOST IN BEIJING oder: Film ist kein Sprachrohr der Politik
LOST IN BEIJING (China 2007)
Li Yu, Regisseurin
Interview mit Li Yu
Fan Bingbing, Schauspielerin
Interview mit Fan Bingbing
Fang Li, Produzent und Drehbuchautor
Interview mit Fang Li
«Wir leben in einer Übergangszeit...»
BLIND MOUNTAIN oder: Von der Kunst Umwege zu finden
BLIND MOUNTAIN (China 2007)
Li Yang, Regisseur
Interview mit Li Yang
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Inhalt
«Ich konnte spüren, dass sie weiblich waren...»
TEETH OF LOVE oder: Verliebt in den Schmerz
TEETH OF LOVE (China 2006)
Zhuang Yuxin, Regisseur
Interview mit Zhuang Yuxin
«Peking ist nur noch die Idee einer Stadt...»
IN LOVE WE TRUST oder: Von links nach rechts und wieder zurück
IN LOVE WE TRUST (China 2008)
Wang Xiaoshuai, Regisseur
Interview mit Wang Xiaoshuai
Liu Weiwei, Schauspielerin
Interview mit Liu Weiwei
«Das Erfundene ist Teil des Authentischen...»
24 CITY oder: Von der Notwendigkeit, zu sprechen
24 CITY (China 2008)
Jia Zhangke, Regisseur
Interview mit Jia Zhangke, Teil 1
Interview mit Jia Zhangke, Teil 2
Interview mit Jia Zhangke, Teil 3
Joan Chen, Schauspielerin und Regisseurin
Interview mit Joan Chen
Tao Zhao, Schauspielerin
Interview mit Tao Zhao
«In jedem Nicht-Außenseiter steckt etwas Abseitiges...»
SPRING FEVER oder: Ein Traum von öffentlichem Glück
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SPRING FEVER (China 2009)
Lou Ye, Regisseur
Interview mit Lou Ye
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Anhang
Filmografie
Dank
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«Sanft wie ein Rasiermesser…» Tuyas Hochzeit oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei
«Sanft wie ein Rasiermesser…»
TUYAS HOCHZEIT
oder:
Maria Braun in der Inneren Mongolei
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TUYAS HOCHZEIT (2006)
TUYAS HOCHZEIT (China 2006)
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In der chinesischen Provinz der Inneren Mongolei lebt die Hirtin Tuya mit
ihrem Mann Bater und zwei kleinen Kindern. Seit einem Sprengstoff-Unfall beim Bau eines Brunnens ist Bater Invalide und kann keine schwere
Arbeit mehr verrichten. Jeden Tag reitet Tuya mehrere Kilometer durch
die karge Gegend, um Wasser zu holen und hütet mit großer Mühe eine
Schafherde, die das Überleben der Familie in der Steppe sichert. Zu allem Überfluss muss sich Tuya auch noch um ihren herzlichen, aber ungeschickten Nachbarn Sen’ge kümmern, dessen Frau regelmäßig mit
einem Anderen durchbrennt, wenn Sen’ge ihren materiellen Wünschen
nicht nachkommt.
Als Tuya eines Tages unter der Arbeitslast zusammenbricht, steht die
Zukunft der Familie auf der Kippe. Damit die Kinder versorgt werden
können, schlägt Bater die Scheidung vor, was Tuya zuerst ablehnt. Bald
willigt sie jedoch ein, einen neuen Mann zu heiraten. Doch nur unter
der Bedingung, dass der neue Ehemann auch Bater und die Kinder bei
sich aufnimmt.
Zahlreiche Anwärter reisen an, doch jedes Mal scheitern die Gespräche
an Tuyas Bedingung. Die Suche scheint ein Ende zu finden, als ein früherer
Klassenkamerad namens Baolier, der in der Stadt durch Ölgeschäfte zu
Wohlstand gekommen ist, um Tuyas Hand anhält. Für Bater findet Baolier
einen Platz in einem gut ausgestatteten Heim, in dem die Verwandten zahlungskräftiger Kunden residieren. Am Abend der Trennung verübt Bater,
der den Verlust seiner Familie nicht verkraftet, einen Selbstmordversuch
und wird von Sen’ge gerettet. Baolier bereut, Sen’ges Notruf aus egoistischen Gründen ignoriert zu haben, und übernimmt die Kosten für Baters medizinische Behandlung. Wieder vereint macht sich Tuyas Familie
auf den Weg zurück in ihre Jurte.
Da Tuya und ihre Familie dort zurückgeworfen sind auf den alten
Status Quo, schickt sich Sen’ge an, in der Nähe von Tuyas Haus einen
Brunnen zu graben – eine Geste der Hilfsbereitschaft und der persönlichen Zuneigung, wie Tuya richtig versteht. Als Sen’ge später seinen
Heiratsantrag ausspricht, willigt Tuya ein. Tags darauf verschwindet
Sen’ge jedoch spurlos. In ihrer Enttäuschung beschließt Tuya, einen
anderen Bewerber zu heiraten, den sie bereits abgelehnt hat. Kurz vor
dem Hochzeitstermin taucht der frisch geschiedene Sen’ge mit einem
Lastwagen mit Bohrgerätschaften auf…
Mit Baters Zustimmung heiratet Tuya ihren Nachbarn Sen’ge. Während der feierlichen Zeremonie kommt es jedoch zu einem Streit der
beiden Männer. Bater ist dabei sich zu betrinken. Tuyas Versuch, die
Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, bleibt erfolglos. Sie stürmt
aus dem Zelt und zieht sich in eine leere Jurte zurück. Tränen rinnen
über ihre Wange.
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«Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei
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Wang Quan’an Regisseur
Geboren 1965 in Yan’an, Provinz Shanxi.
Als Kind liebt Wang Quan’an die Malerei und arbeitet als Tänzer in einem bekannten VolkstanzEnsemble, bevor er von 1987 bis 1991 an der Beijing Film Academy ein Schauspielstudium absolviert. 1989 schreibt Wang das erste eigene Drehbuch. Nach dem Studienabschluss findet er eine
Anstellung beim Xi’an Film Studio als Regisseur
und schreibt in der Zeit mehrere Drehbücher.
Spielfilme
1999 LUNAR ECLIPSE / YUE SHI. Wangs der erster
Spielfilm hat auf dem Internationalen Forum der
Berlinale 2000 Premiere.
2004 THE STORY OF ERMEI / JING ZHE. Der zweite Spielfilm Wangs läuft 2004 im Panorama der
Berlinale.
2006 mit dem dritten Spielfilm TUYAS HOCHZEIT /
TUYA DE HUN SHI (Buch zusammen mit Lu Wei) gewinnt Wang Quan’an 2007 den Goldenen Bären und den Preis der ökumenischen Jury auf der Berlinale und den Silver Hugo Award auf dem
Chicago International Film Festival.
2008 Spielfilm WEAVING GIRL / FANG ZHI GU NIANg.
In Produktion: REUNION / TUAN YUAN. Der Spielfilm handelt von einer Familienzusammenführung zwischen der Volksrepublik China und Taiwan
und spielt in Shanghai.
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Interview mit Wang Quan’an
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Interview mit Wang Quan’an
3. Mai 2008: Wang Quan’an empfängt uns in seiner Wohnung im 20.
Stock eines Hochhauses im Nordwesten Pekings, nahe des Großen
Glockentempels. Das Hochhaus gehört zu einer Hochhaussiedlung, wie
sie typisch ist für Peking. Bei aller Modernisierung besteht hier ein Rest
von dörflicher Struktur fort: Die umzäunten Anlagen bilden kleine Einheiten mir eigener Verwaltung. Aus dem Fenster von Wang Quan‘ans
Wohnzimmers hat man eine weite Sicht: Im Norden zeichnen sich die
Umrisse des Jundu Shan-Gebirges ab.
***
Was ist deine erste Erinnerung an das Kino? Wann bist du mit dem Kino
in Berührung gekommen?
Wang Quan’an: Ich denke, fast jeder in meinem Alter war als Kind be-
geistert vom Film. Denn damals gab es nicht so viele andere Unterhaltungsmöglichkeiten. Kino war daher sehr wichtig, die Hauptfreizeitbeschäftigung. Ich mag Filme seit meiner Kindheit sehr. Das war damals
wie ein Traum – sehr weit entfernt, mysteriös und faszinierend. In
meinen Erinnerungen sind es damals fast ausschließlich Open Air Kinos gewesen und die Filme haben nichts gekostet. Ich habe immer das
Gefühl gehabt, dass jene Zeit das goldene Zeitalter des chinesischen
Films war.
Stimmt es, dass du zwischendurch auch mal als Tänzer gearbeitet hast?
Wie bist du von da aus zum Film gekommen?
Das mit dem Tanzen war ein Zufall. Davor habe ich mehrere Jahre lang
gemalt. Ich hatte damals die Wahl: ich hätte zur Arbeit aufs Land gehen müssen oder ich konnte rasch noch eine andere Stelle annehmen.
Daher haben meine Eltern gesagt, ich solle doch das Tanzen zum Job
machen. Obwohl es eine passive Entscheidung war, habe ich recht gut
getanzt (lacht). Vielleicht ist mein Kontakt zum Film letztlich sogar
durch das Tanzen zustande gekommen. Wir waren damals für einige
Zeit in Europa auf Tour. In Frankreich gastierten wir an einem Ort, wo
ein Film mit dem Titel THE OLD GUN (FRA 1975) gedreht worden war, der
zu der Zeit gerade in China lief. Plötzlich wollte ich auch Filme machen.
Diese Idee ist dort entstanden.
Und wie bist du auf die Idee zu TUYAS HOCHZEIT gekommen?
In meiner Studienzeit haben wir zur Drehbuchübung einige ähnliche
Geschichten bearbeitet. Diese zwei, drei Geschichten handelten davon,
dass eine Frau durch das Heiraten mit einem zweiten Mann für ihren ExMann sorgt. In China nennt man das Jia Fu Yang Fu – das heißt, man heiratet einen Mann, um den ehemaligen zu ernähren. Diese Geschichte
hat meine Aufmerksamkeit erregt, weil die Beziehungen zwischen den
Figuren sehr kompliziert sind. Das Schicksal eines Menschen ist in eine
sehr komplizierte Konstellation eingebettet. Die Innere Mongolei habe
ich hauptsächlich deshalb als Schauplatz gewählt, weil ich die mongolische Musik mag. Außerdem kenne ich die Menschen dort auch relativ
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«Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei
gut. Der Ort, den wir ausgesucht haben, liegt im Grenzgebiet zwischen
Han-Chinesen und Muslimen, wo ich mich ganz gut auskenne.
Die Wahl der Inneren Mongolei hat also weniger mit einem dokumentarischen Interesse zu tun?
Während chinesische Kunstfilme normalerweise die gesellschaftliche
Realität und die soziale Umgebung reflektieren wollen, möchte ich mit
diesem Film in erster Linie eine Liebesgeschichte erzählen, eine besondere Liebesgeschichte. Dass die Geschichte in der Inneren Mongolei angesiedelt ist, schafft mir mehr Freiheit, weil ich mich dadurch nicht so
sehr danach richten muss, DIE gesellschaftliche Realität zu thematisieren. Ich merke, dass ich immer mehr Wert auf die Darstellung menschlicher Emotionen lege. Das ist auch der Grund, warum Tuya leichter von
verschiedenen Menschen verstanden werden konnte. Das ist die Richtung für mein zukünftiges Filmschaffen.
Alle deine bisherigen Filme haben eine weibliche Protagonistin. Was fasziniert dich so an weiblichen Hauptfiguren?
Der wichtigste Grund, warum ich eine Protagonistin in TUYAS HOCHZEIT
habe, ist meine Zusammenarbeit mit Yu Nan. Unter den chinesischen
Schauspielern, mit denen ich gearbeitet habe, ist Yu Nan eine der sehr
wenigen, deren Spiel sowohl sehr authentisch ist, als auch die explosive Kraft des Dramas besitzt. Das ist gerade die Eigenschaft, um die
sich mein Film bemüht. Daher konnte der ganze Film prinzipiell um die
Schauspielerin Yu Nan und ihre Rolle herum entwickelt werden.
Ein anderer Grund ist, dass man – wie ich schon immer fand – durch
die Perspektive und die Geschichte einer Frau mehr über das gesellschaftliche Umfeld, die Familie usw. erzählen kann. Natürlich kommt
noch ein einfacher Grund dazu: Denn als Mann mag ich Frauen lieber.
Daher drehe ich lieber Filme über Frauen.
Was ist denn so unterschiedlich daran, ob man aus der Perspektive einer
Frau oder der eines Mannes etwas über die Gesellschaft erzählt?
Ich finde, Männer und Frauen sind in der Tat verschieden. Männer sind
immer mit «großen Sachen» – einer sehr wichtigen, großen und glorreichen Kariere, Dingen von großer Bedeutung und so weiter – beschäftigt.
Davon sind die Männer auch selbst überzeugt. Aber das Leben besteht
nicht nur aus diesen Dingen und wir wollen das alltägliche Leben zeigen.
Tuya kurz nach der
vorübergehenden
Trennung von ihrem Mann
Bater.
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Interview mit Wang Quan’an
Frauen scheinen sich dagegen mehr um konkrete Sachen zu kümmern.
Wenn ein Mann sagt: «Ich will etwas Weltbewegendes machen», antwortet die Frau: «Ja, klar. Aber wovon leben wir dann?» Das ist auch ein
Grund, warum ich lieber Frauen filme. Ich finde, sie sind mehr auf das Wesentliche bei einer Sache fixiert.
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Das Ehepaar Tuya und Bater
(mit Tochter).
Wie würdest du den Charakter von Tuya beschreiben? Was ist sie für eine
Frau?
Sie ist vor allem eine liebende Frau. Man kann in ihr sicher verschiedene Dinge sehen. Mein ursprünglicher Wunsch war allerdings, dass Tuya
eine Frau ist, die ihren Mann sehr liebt. Indem sie einen bestimmten
Weg geht, und dabei auch einen anderen Mann heiratet, möchte sie
letztendlich ihre Bindung und Liebe zu ihrem Mann bewahren. Das ist
mir auch erst klar geworden, nachdem wir fertig gedreht hatten.
Nachdem ich den fertigen Film gesehen hatte, habe ich zu Yu Nan
gesagt, dass TUYAS HOCHZEIT eine Liebesgeschichte sei und Tuya ihren
Mann wirklich sehr liebe. Das bringt mich auf den Gedanken an einen
deutschen Film, DIE EHE DER MARIA BRAUN, der eine ähnliche Geschichte erzählt und so ein ähnliches Gefühl transportiert. Das berührt mich,
denn ich möchte auch ein liebender Mensch sein. Ich habe auch Liebe in
mir. Ich denke, Frauen können das eher mitteilen, während es Männern
sehr schwer fällt. Das macht mich traurig, gleichzeitig bewegt es mich.
Ein Film, der von den Menschen, ihren Gefühlen und der Liebe handelt,
berührt mich tief.
Man könnte fast sagen, dass Tuya immer mehr aufblüht, je stärker der
Druck wird, der auf ihr lastet, oder?
Das stimmt, das ist uns auch aufgefallen. Je schwieriger die Situation,
desto deutlicher merkt man die Verhaltensunterschiede zwischen beiden Geschlechtern. Oft zeigen Frauen unter den härtesten Bedingungen größere Ausdauer und Elastizität. Männer – weil ihr Charakter dem
des Stahls gleicht – lassen sich, wie andere harte Gegenstände, leichter
brechen. Frauen sind weicher, weshalb sie es überleben können. Es war
ein verbreitetes Phänomen während der Kulturrevolution, dass Männer, die eigentlich Selbstmord begehen wollten, als sie das Ganze nicht
mehr ertragen konnten, deshalb überlebt haben, weil sie ständig von
ihren Frauen damit getröstet wurden, dass sie weiter leben sollten und
das Leben allem anderen überlegen sei.
Wie hast du eigentlich die Filme von Rainer Werner Fassbinder kennengelernt? Und was bedeutet dir speziell der Film DIE EHE DER MARIA BRAUN?
Den Film habe ich sehr früh an der Akademie gesehen. Ich finde, dass
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«Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei
Tuyas Leben ist von
körperlicher Mühsal geprägt.
er von allen Filmen Fassbinders seinen persönlichen Stil am reifsten
reflektiert. Zwischen Unterhaltungswert und individueller Handschrift
ist er sehr ausgewogen. Was ich noch unbedingt sagen wollte, ist, dass
wir in TUYAS HOCHZEIT und in DIE EHE DER MARIA BRAUN eigentlich die
gleichen Dinge sehen können – nicht, weil sich die Filme, sondern weil
sich die Menschen darin ähneln, sowohl die Männer als auch die Frauen.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass während eines Interviews
nach der Preisverleihung auf der Berlinale ein Journalist zu mir gesagt
hat, dass man im Westen früher chinesische Filme dafür geschätzt
habe, dass sie so anders seien und man sie auch nicht ganz verstanden
habe. Die Andersartigkeit hat wohl eine enorme Faszination ausgeübt.
Bei meinem Film aber habe man zum ersten Mal vergessen, in einem
chinesischen Film zu sitzen. Man sei einfach von den Emotionen der
Figuren mitgerissen worden. Er hat mich gefragt, ob ich das für einen
Fortschritt oder Rückschritt halte. Ich habe ihm gesagt, dass ich diesen
Moment, in dem man nicht mehr von den östlichen Besonderheiten
spricht, sogar lange herbei gesehnt habe. Ich finde, das Wichtigste am
Film ist der emotionale Austausch und nicht die Einzigartigkeit oder die
Unterscheidung. Ich mag verbindende Elemente lieber als trennende.
Noch mal zu Fassbinder: ich mag ihn wirklich sehr. Seine Filme und
sein Blick sind sehr scharfsinnig, wie ein Rasiermesser, wenn er die
menschliche Natur enthüllt. Aber ganz ehrlich, womit er mich wahrhaft
berührt hat, ist seine Zärtlichkeit gegenüber den Menschen, die sich
hinter seiner Schärfe verbirgt. Er pflegt in seinem Inneren etwas sehr
Zartes und das wird oft übersehen.
Willst du mit Tuyas Dilemma auch den Wandel der Gesellschaft und ein
moralische Dilemma aufzeigen, dass die Modernisierung für viele Menschen mit sich bringt?
Ich finde, dass das Problem, vor dem Tuya steht, noch kein Problem der
modernen Gesellschaft ist. Es geht hauptsächlich darum, welche Bedeutung die Moral hat – in einer Situation, in der die Lebensbedingungen extrem schlecht geworden sind. Worin besteht die Moral der Ehe,
wenn das Überleben bereits gefährdet ist? Was ist wertvoller: zu überleben, oder «moralisch» und «ehrenhaft» zu sein? Ich finde, das Liebenswürdige an Tuya liegt eben darin, dass sie offensichtlich gemerkt hat,
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dass das Überleben vorgeht. Es ist hauptsächlich der Konflikt zwischen
Überleben und Moral. Natürlich ist das auch eine Herausforderung für
die bestehenden moralischen und ethischen Vorstellungen einer sogenannten zivilisierten Gesellschaft. Man sollte es aber an konkreten
Umständen messen. Es gibt eine einfache Geschichte: In einer Wüste ist
ein Mann am Verdursten. Jemand bietet ihm viel Gold an, ein anderer
Wasser. Tuya hat sich eindeutig für das Wasser entschieden. In dieser Situation gleicht die Moral dem Gold – es ist wertlos. Daher stellen wir die
Frage, was eigentlich moralischer ist. Das ist der Punkt. Eigentlich entspricht Tuyas Verhalten einer höheren Moral, weil es menschlicher ist.
Was weiß man in Peking eigentlich über die Innere Mongolei und die
Menschen dort?
Dafür, dass die Pekinger bestens über die Umweltzerstörung in der Mongolei Bescheid wissen, spricht der Sand, die jedes Jahr aus der Steppe
nach Peking herein geblasen wird… Dass Menschen nach einem besseren Leben streben, entspricht, denke ich, einem elementaren Wunsch.
Natürlich wollen auch die Mongolen bessere Lebensverhältnisse. Und
ihre Lebensweise wird sich bald ändern, weil die Regierung sie nun umsiedelt. Sie werden in der Stadt landen, aber dort sind sie sehr verwirrt.
In der Stadt ist es eigentlich gemütlicher und in vielerlei Hinsicht besser,
ohne die Gefährdungen durch eine erbarmungslose Natur. Aber während wir dem Reichtum nachrennen, ist es für uns normale Menschen
sehr schwer zu begreifen, welche ernsten Probleme und Konsequenzen solch ein Verlust der Lebensweise mit sich bringen kann.
Können die Menschen in der derzeitigen städtischen Konsumgesellschaft
denn dann überhaupt etwas mit Tuyas Aufopferung anfangen?
Wir wissen alle, dass das chinesische Kino heute sehr von der Kommerzialisierung geschüttelt wird. Man sieht viele Kung-Fu-Filme. Im chinesischen Fernsehen sieht man auf vierzig von fünfzig Sendern Menschen
im antiken Kostüm durch die Luft fliegen. Die moralischen, ethischen
und kulturellen Konflikte, die die derzeitige starke wirtschaftliche Entwicklung Chinas mit sich bringt, werden in den chinesischen Filmen
nicht sehr klar reflektiert. Während dieses Wandels sind aber auch viele
Chinesen einem enormen Druck ausgesetzt und für viele ist es unheimlich schmerzhaft.
Warum hast Du bis auf Yu Nan ausschließlich mit Laiendarstellern gearbeitet?
Alle chinesischen Regisseure kennen die Probleme der chinesischen
Schauspieler. Sie entsprechen meistens nicht den Anforderungen der
heutigen Filme, die mehr Authentizität und ein realistischeres Spiel verlangen. Sich für Laiendarsteller zu entscheiden, ist ein Bedürfnis und
eine Notwendigkeit, weil das Spiel von professionellen Schauspielern
oft recht falsch wirkt. Der Vorteil bei Laiendarstellern ist in erster Linie,
dass sie den Figuren persönlich nahe stehen. Der Rest, die Spieltechnik,
kann durch die Arbeit des Regisseurs erledigt werden. Meiner Meinung
nach können zwei Drittel der Menschen in einer Menge schauspielern.
Insofern habe ich zumindest ein paar Millionen Schauspieler zur Auswahl.
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«Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei
«Meiner Meinung nach
können zwei Drittel der
Menschen in einer Menge
schauspielern.» (Wang
Quan’an)
Verschiedene Laiendarsteller
aus TUYAS HOCHZEIT.
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Wie hast du die Darsteller für die beiden männlichen Hauptrollen «Bater»
und «Sen’ge» gefunden?
Das Problem des chinesischen Kinos, von dem ich gerade gesprochen
habe, liegt vor allem in der Künstlichkeit. Daher muss man die Suche
im realen Leben starten. Ein Ziel unseres Films ist es, die chinesischen
Zuschauer zurück zu authentischen Figuren und authentischem Leben
zu bringen und dabei können uns Laiendarsteller helfen. Den Schauspieler für Sen’ge, der im realen Leben auch Sen’ge heißt, habe ich bei
einem Reitwettbewerb entdeckt. Er ist Reiter. Wie sein Charakter im
Film, so ist auch er lebhaft, romantisch und beliebt. Insbesondere weiß
er sehr gut, wie er sich bei den Frauen richtig anstellt. Das habe ich an
ihm beobachtet. Kaum war seine Ehefrau weg, fing er an, mit anderen
Frauen zu flirten. Kam die Frau zurück, verhielt er sich auf einmal unauffällig. Daher war ich davon überzeugt, dass er die Rolle würde spielen
können. Als wir uns dann kennenlernten, wurde er von seiner Ehefrau
begleitet und verhielt sich wieder total ordentlich und seriös. Ich nahm
ihn zur Seite und erinnerte ihn daran, was ich an jenem ersten Tag in
ihm gesehen hatte und dass ich ihn nicht so wie heute, sondern wie an
jenem Tag haben wollte. Er sagte: «okay, okay». Ich muss dazu sagen:
Seine Frau ist eine sehr dominante Ehefrau, wie man es nur selten erlebt. Sie überwacht ihn ganz streng. Egal wo er hin geht, sie folgte ihm.
Ein Erlebnis während unserer Zusammenarbeit war besonders einprägsam: Es gibt eine Szene mit Sen’ge und Tuya, in der Tuya einen Brunnen
herunter klettert und ihm sagt, dass er sich von seiner Frau (im Film)
scheiden lassen soll. Sen’ges reale Frau – sie ist sehr clever – hatte vorher das Drehbuch studiert und ahnte, dass da unten im Brunnen bestimmt etwas passiert wird.
Am Tag des Drehs ist sie dann frühzeitig zum Set gekommen und hat
neben dem Brunnen gewartet, um Dinge wie Küssen zwischen Sen’ge
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Interview mit Wang Quan’an
Sen’ge baut einen Brunnen
für Tuya. Tuya erklärt sich
einverstanden, Sen’ge zu
heiraten.
und Yu Nan zu verhindern. Sie wollte unbedingt in meinen Kontrollmonitor schauen. Als ich das dann irgendwann als störend für die Arbeit
der Schauspieler empfand, habe ich behauptet, der Monitor sei kaputt… Sen’ge war in dieser Szene besonders gut, weil er wusste, dass
seine Frau draußen stand. Er war sehr aufgeregt. Als Tuya ihn (im Film)
fragt, ob er Angst vor seiner Frau habe, hat er gesagt: «Nein, ich habe
keine Angst!» Er wusste, dass ihm seine wirkliche Frau in diesem Augenblick gerade zuhörte. Interessanterweise hat Sen’ges Ehefrau später,
kurz bevor wir mit dem Dreh fertig waren, angefangen, ein eigenes
Drehbuch zu schreiben. Das tut sie vielleicht auch, um ihrem Mann Aufmerksamkeit zu schenken. Denn Sen’ge sollte ja wahrscheinlich in ihrer
Geschichte mitspielen.
Spielt sie dann auch selber seine Ehefrau in ihrem Buch?
Das müsste sie dann selber organisieren (lacht)!
Und wie war es bei «Bater»?
Bater, der in echt auch Bater heißt! Mein Produzent hat ihn gefunden,
als er für die Setsuche sehr weit in die östliche
Mongolei gereist war, etwa 5000 Kilometer. Er
hat dort einige Fotos geschossen, darunter eines
mit Bater am Wegrand. Als ich das Foto gesehen
habe, wusste ich sofort, das ist der Mann, den
ich gesucht hatte! Ich habe zu meinem Produzenten gesagt, er solle diesen Mann finden, denn er
wird mein Hauptdarsteller sein. Mein Produzent
hat geantwortet: «Das kann doch nicht wahr
sein! Wir wissen nicht einmal, wer er ist». Dann
habe ich gesagt, dass das Allerwichtigste sei,
dass dieser Mann etwas in seinen Augen habe,
das ich suche. Bater ist ein typischer mongolischer Mann, sehr maskulin. In seinem Blick gibt
es aber etwas sehr Trauriges. Als mir mein Produzent weiter erklären wollte, dass er diesen
Mann aber nicht kenne, habe ich gesagt: «Aber
du weißt bestimmt, wo du das Foto gemacht
hast. Jemand mit so einem melancholischen
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«In seinem Blick gibt es
etwas Trauriges.»
Tuyas Ehemann Bater.
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«Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei
Blick muss einen Grund haben.» Später haben sie Bater tatsächlich
gefunden. Das Lustige war, dass Bater sogar zehn Tage, nachdem wir
ihn gefunden hatten, immer noch nicht dran glauben konnte, dass wir
einen Film mit ihm machen wollten. Er dachte, wir würden ihm nur einen Streich spielen. Er hatte noch nie seinen Heimatort verlassen. Nicht
einmal war er weiter als 50 Kilometer weggereist. Er konnte sich eine
Verbindung zwischen sich und einem Film nicht vorstellen. Wir haben
einen halben Monat gebraucht, um ihn zu überzeugen. Als wir später
mit ihm am Drehort angekommen sind, habe ich zu ihm gesagt, wenn
wir tatsächlich Menschhändler wären, würden wir sicher keinen wie ihn
entführen... Denn Bater ist tatsächlich ein bisschen behindert, er hinkt.
Er war früher Reiter. Nachdem er dreimal vom Pferd gestürzt war, wurde er tatsächlich zum Krüppel. Nachdem sich Bater uns angeschlossen
hatte, erkannten wir, dass seine Lebenssituation der seiner Figur im
Film tatsächlich sehr ähnelte. Auch seine Familie steckte in großen finanziellen Schwierigkeiten. Es gibt bei TUYAS HOCHZEIT ein paar Szenen,
die nicht in der Endfassung sind, in denen es um die Schule geht: Tuya
und Bater fällt es schwer, ihren Sohn zur Schule zu schicken, weil sie das
Geld nicht haben. Eigentlich ist Zhaya schon im Schulalter, aber Tuya
erzählt ihm, dass er es mit Schule nicht so eilig haben muss. Jedes Mal,
als wir diese Szenen gedreht haben, war Bater sehr mitgenommen.
Er sagte mir, dass er die Gebühren für die Mittelschule seines Kindes
noch nicht zurückbezahlt habe, obwohl sein Kind mittlerweile schon
studiert. Wir mögen Bater alle sehr und vermissen ihn auch. Deswegen
hat Yu Nan auch später ihre Katze nach ihm benannt (lacht).
Suchst du aus Prinzip Leute, die sich selber spielen?
In gewisser Weise schon. Aber ich gebe mich nicht damit zufrieden, lediglich zu dokumentieren bzw. realistisch zu sein. Ich bin eben nicht
davon überzeugt, dass ein Film wirklich realistisch sein kann. Denn Film
ist subjektiv, nicht objektiv. Film ist dramatisch und von seinem Wesen
her eine Kreation. Wir können sehen, dass durch die Teilnahme von Yu
Nan beispielsweise das ganze Spiel an Dramatik gewonnen hat. Denn
sie ist eine professionelle Schauspielerin. Daher besitzt ihr Spiel eine
dramatische Intensität und eine explosive, dramatische Kraft, die den
Film kraftvoller wirken lassen. Erst dadurch war vollbracht, was mir
vorschwebte. Ich habe eine Vorliebe für Filme, die sowohl auf authentischen Gefühlen basieren, als auch einen starken dramatischen Charakter ausstrahlen. Das ist die neue Richtung meiner Filme. Ich finde, dass
das Kino eine Form annehmen sollte, die beides ist: sowohl realistisch,
als auch unterhaltsam und visuell ansprechend. Es sollte eine Balance
zwischen beiden geben. Ich bevorzuge Filme, die kategorisch nicht klar
zuzuordnen sind.
Stimmt es, dass die Filmteams in China viel größer sind als im Westen?
Wie kommuniziert man mit so vielen Leuten und wie hält man sie bei
Laune?
Meiner Ansicht nach ist ein Regisseur in erster Linie jemand, der eine
Gruppe von Leuten dahin bringt, gemeinsam etwas für ihn zu erledigen. Ich drehe gewöhnlich sehr schnell. Selbst wenn ich es langsamer
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machen wollte, könnte ich es nicht. Für meine Filme brauche ich höchstens zwei Monate Drehzeit. TUYAS HOCHZEIT hat um die vierzig und
mein neuster Film nur etwas mehr als dreißig Drehtage benötigt. Ich
bin auch kein Kontrollfreak am Set. Aber alle wissen, was sie tun. Ich
denke, das Wichtigste ist vielleicht die Kommunikation mit den Leuten
im Vorfeld, damit sie deine Absichten verstehen. Ich versuche dabei,
meine eigenen Gedanken zu denen meiner Mitarbeiter zu machen. Wir
haben beim Dreh oft den Eindruck, dass wir die Szenen, die wir uns vorgenommen haben, sehr locker hinbekommen. Der Grund dafür ist, dass
man bereits alles abgelehnt hat, was abgelehnt werden muss. Ich mag
diese sehr mühsame Drehweise nicht. Manche Regisseure wiederholen
eine Einstellung gerne mehrmals. Wenn ich nach vier, fünf Versuchen
immer noch keinen Erfolg sehe, dann werde ich «Stopp» sagen. Denn
irgendwo muss es dann einen Haken geben. Vielleicht liegt das Problem
auch bei mir. Etwas, das aus dem Leben gegriffen ist, müsste eigentlich
einfach und leicht darzustellen sein. Ich liebe die spielerische Leichtigkeit, bei der man gleichzeitig ziemlich schnell das bekommt, was man
will. Ich bin kein Regisseur um des Regieführens willen, d.h. um mich
wie ein Regisseur aufzuführen. Am Set merkt man oft nicht, dass ich
da bin. Insgesamt bin ich einer, der gerne aus einer komplizierten eine
einfache Sache macht. Daher geht es bei mir oft sehr entspannt zu.
Wie hast du die Berlinale erlebt, bevor du am Ende den Goldenen Bären
gewonnen hast?
Filmfestivals sind immer voller Überraschungen. Chinesische Regisseure schenken den drei großen Filmfestivals in Europa viel Aufmerksamkeit. Sie sind für China wichtig, weil die Entstehung der «fünften Generation» hauptsächlich diesen Festivals zu verdanken ist. Am Anfang
stand die Vorführung von Zhang Yimous DAS ROTE KORNFELD auf der
Berlinale 1988. Das hat den neuen chinesischen Film stark beeinflusst
und eine Art Bewegung in Gang gesetzt. Als ich davon erfahren habe,
dass TUYAS HOCHZEIT für den Wettbewerb der Berlinale ausgewählt
worden sei, war ich natürlich sehr aufgeregt. Ich habe auch geahnt,
dass dies eine Chance für die neue Generation chinesischer Regisseure,
die sogenannte «sechste Generation», sein könnte.
Bevor ich nach Berlin gegangen bin, war ich also relativ zuversichtlich. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass mein Film so einen wichtigen Preis gewinnen wird. Ich war vor allem sehr überzeugt hinsichtlich der schauspielerischen Leistungen, insbesondere der von Yu Nan.
Ich habe gedacht, wenn der Film einen Preis bekommt, dann kriegen
ihn die Schauspieler. Das waren meine Gedanken vor der Abreise. Ich
erinnere mich besonders gut an die Publikumsreaktion nach der ersten Vorführung. Auf einmal war ich entspannt! TUYAS HOCHZEIT wurde
dann auf der Berlinale von Kritikern zwar konstant gut bewertet, aber
der Goldene Bär hat mich trotzdem sehr überrascht und überwältigt.
Ich weiß noch ganz genau, dass mir in diesem Moment schlagartig klar
wurde, dass dieser Preis das chinesische Kino ein zweites Mal nachhaltig beeinflussen könnte – nicht nur mich, sondern die gesamte Filmszene des Landes. Sie wird sich dadurch vielleicht tiefgehend verändern.
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«Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei
Wang Quan’an und Yu Nan
auf der Berlinale 2007.
Wie bei der «fünften Generation» rücken durch diesen Preis erneut
die Filme einer neuen Generation stärker ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit.
Für das chinesische Kino ist das wirklich ein historischer Moment.
Natürlich sind auch die persönlichen Veränderungen, die mir die Berlinale gebracht hat, ziemlich groß. In erster Linie bedeutet es Freiheit.
Früher hatte ich mehr oder weniger den Einschränkungen des Budgets
zu gehorchen. Jetzt würde dieses Problem vielleicht nie wieder auftauchen. Das waren meine Gedanken. Man findet immer finanzielle Mittel,
um die Filme zu machen, die man machen will. Nach dem Goldenen Bären sah ich mich aber auch mit der Wahl konfrontiert, welche Art von
Filmen ich nun machen wollte. Denn ich hätte jetzt auch sehr große
Produktionen drehen können. Nach einiger Zeit, einem halben Jahr ungefähr, – der erste Stoß war überaus stark für mich und mein Umfeld
–, habe ich realisiert, dass ich meiner Art von Film treu bleiben sollte.
Denn sie gefällt mir am besten. Insofern hat die Freiheit zwei Ebenen:
Zum einen kann man etwas Großes machen, zum anderen auch «nein»
sagen. Man ist nicht gezwungen, etwas zu tun. Man kann sowohl Dinge
machen, die einem gefallen, als auch sie nicht tun, wenn man sie nicht
mag. Unter den chinesischen Regisseuren gehöre ich zu den Glückpilzen. Die Art meiner Filme ist, insbesondere im Vergleich mit anderen
jungen Regisseuren, speziell. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich
mehr auf den Film selbst konzentriere, auf das Drama. Ich hoffe daher,
dass ich weitere Filme machen werde, die sowohl realistisch sind und
vom realen Leben der Chinesen und ihren Gefühlen berichten, als auch
dramatisch; die ansehnlich und elegant sind.
Hattest du bei TUYAS HOCHZEIT Konflikte mit der Zensurbehörde? Haben sich
deine Erfahrungen mit der Zensur über die Jahre verändert?
Es gibt in China die Filmzensur. Aber im Vergleich zu früher entsteht
in den letzten Jahren ein immer offeneres Bild. Ich finde persönlich,
dass man unter dem heutigen Stand der Filmzensur grundsätzlich frei
drehen kann. Das kann weitgehend gewährleistet werden. In meinen
persönlichen Erfahrungen mit der Zensurbehörde habe ich nichts wirklich Schlimmes erlebt. TUYAS HOCHZEIT wurde an keiner einzigen Stelle geändert. Bei meinem zweiten Film JING ZHE – THE STORY OF ER MEI
wurden zwar drei Änderungsvorschläge gemacht, die ich aber, glaube
ich, nicht umgesetzt habe. Einige Zeit später haben sie mich darauf angesprochen, ob ich die Veränderungen vorgenommen hätte. Ich habe
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Interview mit Wang Quan’an
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gesagt, doch, doch, die Änderungen seien ihnen nur nicht aufgefallen.
Meine Einstellung zu dieser Sache ist vielleicht ein bisschen anders als
bei anderen Regisseuren. Ich finde, wenn man locker damit umgeht,
ist die Zensur eigentlich nichts Besonderes, weil sie keine Frage des
Prinzips darstellt. Sie betrifft einerseits das staatliche System, andererseits auch die grundsätzliche Offenheit eines Landes. Ich glaube, dass
es in dieser Hinsicht immer besser wird. Das Allerwichtigste ist, so etwas wie ein Gesetz für die Filmzensur zu schaffen. Das bräuchten wir
im Moment am dringendsten, um das Problem zu lösen. Meiner Meinung nach bestehen die Hindernisse für das chinesische Kino nicht nur
in der Filmzensur, sondern auch in der Art des Filmemachens selbst.
Denn die Einschränkung der Filmschaffenden durch das System und
die Regierung ist zwar ein wahres Problem, aber nicht mehr tödlich.
Die wahre Schwierigkeit besteht darin, zwischen Kommerz und Kunst
eine Entscheidung zu fällen. Die Zensoren haben ihre Gewohnheiten,
und auch die Regisseure, die ihre Arbeiten einreichen. Alle sind nervös.
Meine Erfahrungen waren allerdings, dass ich nicht so nervös bin. Denn
ich halte die Zensur nicht für etwas Großes. Für mich ist der Film an
sich schwieriger – wie ich einen Film besser machen kann. Das mit der
Zensur lässt sich noch regeln. Daher erzähle ich den Leuten aus meiner
Umgebung immer, dass sie sich dessen unbedingt bewusst sein sollten, dass das Schwierigste eigentlich die Kunst selbst ist. Das sieht man
ja auch daran, dass, obwohl Amerika, Deutschland, Frankreich und so
weiter keine Filmzensur haben, es wahre Meister allezeit und überall
nur sehr wenige gibt. Auch wenn alles frei wäre, würde die Anzahl guter Regisseure immer übersichtlich bleiben. Man sollte sich nicht hinter
der Zensur verstecken.
Bist du denn zufrieden damit, wie viele Leute TUYAS HOCHZEIT im Kino gesehen haben?
Das ist tatsächlich ein Problem. TUYAS HOCHZEIT ist in China gezeigt
worden, aber bei weitem nicht so erfolgreich gelaufen wie in Europa
und anderen Ländern. Das ist das Dilemma chinesischer Arthaus-Filme.
Im Vergleich zu seinesgleichen gehört TUYAS HOCHZEIT zu den erfolgreichen Filmen auf dem chinesischen Markt. Wir chinesischen Regisseure
sollten uns fragen, warum sich Menschen Filme anschauen. Wie wir am
Anfang besprochen haben, ist mein Interesse darauf gerichtet, Filme
möglichst filmisch aussehen zu lassen.
Du hast vorhin von der «sechsten Generation» gesprochen. Stehst du im
Austausch mit anderen Regisseuren? Gibt es vielleicht inzwischen auch
schon die siebte oder achte Generation?
In China redet man gewöhnlich von Generationen, wenn man Filmregisseure bezeichnet. Alle zehn Jahre sind sozusagen eine Generation.
Wenn sich das auf professionelle Regisseure bezieht, dann sind wir
heute in der sechsten Generation. In der Vergangenheit Chinas, insbesondere nach der Gründung der Volksrepublik, war die Gesellschaft
durch ein einheitliches Bildungssystem geprägt. Daher hatten alle die
gleiche Denkweise. Die Aufteilung in Generationen dient insofern der
Unterscheidung. Die Regisseure der vierten und fünften Generation
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«Sanft wie ein Rasiermesser…» TUYAS HOCHZEIT oder: Maria Braun in der Inneren Mongolei
haben jeweils eine Besonderheit: Ihre Themen und ihre filmischen Stile weisen große Gemeinsamkeiten untereinander auf. Das vielleicht
wichtigste Merkmal der sechsten, also meiner Generation, liegt darin,
dass wir die Gemeinsamkeit nicht verloren haben und doch jeder seine eigenen Filme macht, seinen Stil entwickelt und seine Geschichten
erzählt. Häufig sind es auch autobiographische Geschichten. Meiner
Ansicht nach ist es bei Filmen und bei Kunst unbedingt wichtig, dass sie
vom Individuum ausgehen. Daher hat das chinesische Kino in gewissem
Sinne erst mit der sechsten Generation einen guten Anfang gefunden.
Natürlich wird man sich mit der Zeit überlegen, ob es eine siebte oder
achte Generation gibt. Aber ich denke, dass diese Art der Aufteilung in
Zukunft immer schwieriger wird, weil das Kino immer vielfältiger wird.
Film wird sich als individuelles Image und persönlicher Stil präsentieren. Es ist unmöglich, das alles mit einem zehnjährigen Abstand zu bemessen. Jederzeit könnte eine neue Generation auftauchen.
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