Tätigkeitsbericht 2009

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Tätigkeitsbericht 2009
C h a n ce n sch a ffe n
Zukunft Denken
Einblicke. Ausblicke.
Vodafone Stiftung Deutschland
Inhalt
S t i f t u n g s a k t i v i tät e n
F ö r d e r b e r e i c h B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Förderbereich Gesundheit
F ö r d e r b e r e i c h K u n s t u n d K u lt u r
S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n
Au f e i n e n B l i c k
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Vorwort
Erkennen. Fördern. Bewegen. Die Vodafone Stiftung Deutschland
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Endlich auf dem Weg zu einer besseren Schule.
Prof. Dr. Rita Süssmuth über die Zukunft der Schule in Deutschland
Experten in eigener Sache. Das Buddy-Projekt
Soziales Lernen im Kontext des Buddy-Projekts für die gelingende Entwicklung junger Menschen.
Von Prof. Dr. Herbert Scheithauer
Vom Kopf auf die Füße gestellt. Ein Porträt der Geschäftsführerin von Teach First Deutschland, Kaija Landsberg
Eine Frage der (L)Ehre. Der Deutsche Lehrerpreis
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Ein Stück des Weges. Die Off Road Kids Stiftung hilft Straßenkindern in Deutschland
„Wir wollen den Erfolg!“ Im Gespräch mit Markus Seidel, Off Road Kids Stiftung
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hancen geben. Studiumschancen für junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
C
Die Welt so richtig verändern – Ein Porträt der Stipendiatin Nikolina Milunovic
Vertrauen in die Zukunft – Ein Porträt des Stipendiaten Jakob Henning
Zwei Herzen in einer Brust – Ein Porträt der Stipendiatin Suna Turhan
We are the world – Ein Porträt des Stipendiaten Nawid Ali-Abbassi
Viele deutsche Freunde. Im Gespräch mit Cem Özdemir
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ie schafft man erfolgreiche Lehr- und Lernumgebungen? Erste Ergebnisse der TALIS-Studie. W
Von Prof. Dr. Barbara Ischinger
Integration über alles! Im Gespräch mit Thomas Ellerbeck
Gegenseitige Hilfe. Botschaftsseminare
Die Lücke schließen. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration
Qualifikation und Migration: Potenziale und Personalpolitik in der „Firma“ Deutschland. Von Dr. Gunilla Fincke
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em Schmerz das Leben abtrotzen. Das Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerztherapie D
und Pädiatrische Palliativmedizin
106 Weimarer Aschebücher
110 Flügel stärken, Schätze heben. Der Jugendkunstwettbewerb „Düsseldorf ist ARTig“
116 Das Gegenteil von Unterlassen. Von Prof. Dr. Stephan A. Jansen und Tim Göbel
120 Philanthropie und Kreativität – Bildungsinitiativen zwischen Qualität und Veränderung. Von Dr. Mark Speich
126 Herkunft und Talent: Neue Wege zur Bildungsgerechtigkeit. Von Dr. David Deißner
130 Ausblick. Die Vodafone Stiftung Deutschland im Jahre 2012
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Stiftungsporträt
Beirat
Team
Das Vodafone Stiftungsnetzwerk. International in 23 Ländern
Finanzstatus
Impressum
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Vorwort
Vorwort
Die Vodafone Stiftung Deutschland versteht sich als aktiver Partner einer
lebendigen Zivilgesellschaft. Wir glauben an die Kraft dieser Zivilgesellschaft,
in der Bürgerinnen und Bürger, Politik, Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaft gemeinsam die langfristigen gesellschaftlichen Herausforderungen angehen, Chancen erkennen, handeln und damit Zukunft
gestalten. Dieser Gestaltungswille treibt uns an, den Beirat der Stiftung, die
Geschäftsführung und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie unsere
ehrenamtlichen und hauptamtlichen Projektpartner. Und er verbindet uns
mit Schwesterstiftungen in 23 weiteren Ländern.
Wir blicken gemeinsam auf ein sehr aktives Jahr in der Stiftung zurück. Mit
diesem Bericht wollen wir Einblick geben und Ausblick wagen – Transparenz
schaffen und Zukunft denken. Der vorliegende Tätigkeitsbericht ist damit
zugleich Ausdruck eines grundlegenden Wandels unserer Stiftungsarbeit.
Er zeigt Beispiele erfolgreicher Projekte der letzten Jahre ebenso wie das
künftige Profil.
Während unser Schwerpunkt heute auf den drei Säulen „Bildung, Integration
und soziale Mobilität“, „Gesundheit“ sowie „Kunst und Kultur“ liegt, stellen
wir in Zukunft noch deutlicher den Bildungsbezug in den Mittelpunkt unserer Arbeit. Bildung ist der wichtigste Rohstoff einer Wissensgesellschaft.
Die Vodafone Stiftung Deutschland will innovative Wege erkunden und in
den Schulen begleiten, um der jungen Generation bessere Chancen in einer
global vernetzten Welt zu bieten.
Denn Herkunft entscheidet nach allen Untersuchungen immer noch über berufliche Chancen, Karriere und damit über die persönliche Zukunft. Menschen
sind unterschiedlich; deshalb ist echte Chancengleichheit eine Illusion. Ent-
scheidend ist es, jedem Menschen die Chance zu geben, die in ihm angelegten individuellen Talente zu verwirklichen, also Chancengerechtigkeit zu
schaffen. Dabei geht es auch um die Frage: Wie ermöglichen wir mehr Kindern,
Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus sozial schwächeren oder aus so
genannten „bildungsfernen“ Familien einen sozialen Aufstieg in unserem
Land? Dieser Weg beginnt sehr früh. Mit dem Erlernen von Sprache, der Entdeckung und Förderung von Talenten, der richtigen Wahl der weiterführenden
Schule und der Stärkung sozialer Kompetenzen – im persönlichen Lebensumfeld wie auf dem Schulhof. Es gilt aber auch Lehrerinnen und Lehrer zu
unterstützen, sie zu stärken und ihre großartige Leistung anzuerkennen.
Die Förderung sozialer Mobilität und die Realisierung von Aufstiegschancen
sind für die Vodafone Stiftung Deutschland eine zentrale Herausforderung, um
aus Potenzialen echte Chancen für den Einzelnen werden zu lassen. Dies gilt
umso mehr für viele jungen Menschen mit einer ­Zuwanderungsgeschichte.
Deutschland ist ein Zuwanderungsland. Wir wissen inzwischen, gelungene
Integration wird entscheidend sein für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, aber sie ist ebenso wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft in
vielen Städten. Wir wollen deshalb „Leuchtturm-Projekte“ wie unser Hochschulprogramm „Vodafone Chancen“ stärken und mit „Vodafone Talente“ in
Nordrhein-Westfalen, Hessen und Berlin innovative Modelle für die Breite auf
ihre Praxistauglichkeit untersuchen.
Operativ tätige Stiftungen verstehen sich grundsätzlich als „Ermöglicher“ des
Neuen – wir leisten auf vielen Feldern Laborarbeit. Und wir haben das besondere Privileg – und zwar viel stärker, als es dem Staat möglich ist – , „soziales Risikokapital“ einzusetzen, um neue Wege zu erkunden, die Erkenntnisse mit
anderen zu teilen und im besten Fall dann mit anderen Akteuren der Zivilge-
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S t i f t u n g s a k t i v i tät e n
sellschaft als Lösung in der Breite anzubieten. Wir sind uns dieses besonderen
Privilegs langfristiger Orientierung sehr bewusst und werden alles daransetzen, dieses Privileg auch künftig zum Wohle unserer Gesellschaft zu nutzen. Dieses Verständnis teilen wir mit vielen anderen Stiftungen in Deutschland.
Wir glauben an die aktive Verantwortungsgemeinschaft einer modernen
­Zivilgesellschaft und wir fühlen uns verantwortlich!
Ihr
Thomas Ellerbeck
Vorsitzender des Beirats Vodafone Stiftung Deutschland
Erkennen. Fördern. Bewegen.
Die Vodafone Stiftung Deutschland
Von Thomas Holtmanns und Dr. Mark Speich
Förderbereich Bildung,
Integration und soziale Mobilität
Förderbereich Kunst und Kultur
Förderbereich Gesundheit
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S t i f t u n g s a k t i v i tät e n
Die Stiftungslandschaft in Deutschland blickt in den letzten beiden Jahren
auf eine rasante Entwicklung zurück. Es gab einen wahren Gründungsboom.
Die Zahl neuer Stiftungen ist kontinuierlich gestiegen. Allein 2008 wurden
mehr als 1.000 Gründungen eingetragen. Seit dem Einbruch der Finanzmärkte ist die Zahl zwar leicht zurückgegangen – trotzdem wird in diesem Jahr mit
weiteren Initiativen gerechnet. Etwa 15 Prozent der rund 16.500 Stiftungen
in Deutschland haben sich auf den Bereich Bildung spezialisiert.
Mit einem Jahresbudget von sechs Millionen Euro nimmt die Vodafone Stiftung Deutschland gGmbH einen Platz im Mittelfeld ein. Die Stiftung will sich
aber vor allem an der Effizienz ihrer Projekte messen lassen und einen Beitrag
zum gesellschaftlichen Fortschritt in Deutschland leisten. Die herausragenden Projekte der Stiftung stellen wir im vorliegenden Tätigkeitsbericht näher
vor. Dieser Bericht soll Einblicke geben und Ausblick zugleich sein. Die Projekte der Stiftung lassen sich in einer 3-Säulen-Struktur abbilden.
Säule 1: Förderbereich Bildung, Integration und soziale Mobilität
buddY E.V. – Buddy-Projekt
Off Road Kids Stiftung
Vodafone Chancen – Stipendienprogramm
Teach First Deutschland
Internationales Integrationssymposium
Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration
Botschaftsseminare Soziale Mobilität – Integration durch Aufstieg
Säule 2: Förderbereich Gesundheit
Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin
Vodafone Stiftungslehrstuhl für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin
Säule 3: Förderbereich Kunst und Kultur
Unterstützung der Restaurierung des Buchbestandes der Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Kunst- und Kulturwettbewerb „Düsseldorf ist ARTig“
Unser Leitmotiv bei der Auswahl unserer Projekte in allen drei Bereichen
­lautet: Erkennen. Fördern. Bewegen.
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S t i f t u n g s a k t i v i tät e n
Im Förderbereich Gesundheit unterstützen wir Forschung und innovative
Therapiemethoden, die „das Leid von Kindern mit lindern“ können. Überdies
haben wir an der Universität Witten/Herdecke den weltweit ersten Lehrstuhl
für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin eingerichtet.
Kurzum: Verantwortung erkennen. Benachteiligte fördern. Prozesse be­
wegen. Lesen Sie hier unsere Reportage auf den Seiten 96–103.
Im Förderbereich Kunst und Kultur geht es bei der Wiederbeschaffung und
­Restaurierung des Buchbestandes der Herzogin Anna Amalia Bibliothek um
den Erhalt eines wertvollen Weltkulturerbes. Darüber hinaus wollen wir mit
dem Kulturwettbewerb „Düsseldorf ist ARTig“ junge Menschen ermutigen,
sich mit Kunst und Kultur auseinanderzusetzen. Kurzum: Wertvolles erkennen. Kreativität fördern. Jugendliche bewegen. Lesen Sie hier unsere Berichte auf den Seiten 106–113.
Im Förderbereich Bildung stehen die Entwicklungschancen junger Menschen
im Vordergrund. Die Bandbreite reicht vom „Buddy-Projekt“, das Verantwortungsbewusstsein und soziales Miteinander unter Schülern stärken soll, über
Off Road Kids – die einzige bundesweit tätige Hilfsorganisation für Straßenkinder – bis hin zum Vodafone Chancen Stipendienprogramm und dem weltweiten Förderprogramm der Vodafone Stiftungsfamilie „World of Difference“.
Kurzum: Chancen erkennen. Begabung fördern. Bildung bewegen. Lesen
Sie hier unsere Berichte und Reportagen auf den Seiten 14–93.
Ziel der Vodafone Stiftung Deutschland ist es im Berichtszeitraum 2008/2009
gewesen, Impulse für den gesellschaftlichen Fortschritt zu geben, die Entwicklungen einer aktiven Bürgergesellschaft zu unterstützen und gesellschaftspolitische Verantwortung zu übernehmen. Dabei geht es uns vor
allem darum, benachteiligten Kindern und Jugendlichen sozialen Aufstieg
zu ermöglichen.
Jetzt aber beginnt in der Vodafone Stiftung Deutschland der Transformationsprozess, der in dieser Publikation ebenfalls dargestellt werden soll. Im Kapitel
„Strategische Perspektiven“ erfahren Sie mehr über unsere neue thematische
Fokussierung auf die Segmente „Bildung, soziale Mobilität und Integration“.
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Endlich auf dem Weg
zu einer besseren Schule
Im Gespräch mit Prof. Dr. Rita Süssmuth
über die Zukunft der Schule in Deutschland
Sehr geehrte Frau Professor Süssmuth,
Unser Schulsystem muss endlich so aufgestellt werden, dass
Sie ­gelten als ausgewiesene Bildungs­
wir stärker die individuellen Potenziale unserer Kinder statt ihre
expertin und haben sich immer wieder
in öffentliche Debatten eingemischt.
Defizite im Blick haben. Wir brauchen mehr individuelle Förde-
Vor welchen konkreten Herausfor­
rung und müssen daher Formen des Lernens und des Lehrens
derungen steht Deutschlands Bildungslandschaft in den kommenden Jahren?
Raum geben, die dieses Ziel unterstützen. Mehr Sensibilität
für den Einzelnen in der Schule ist gefragt, schließlich müssen
Bildungseinrichtungen viel mehr leisten als bloße Wissensvermittlung: Schule muss zu einem Lebensraum werden, der die
Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen erfüllt. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir, dass Lernen nur dann
erfolgreich ist, wenn es auf sozialer, kognitiver und emotionaler
Ebene stattfindet und für den Lernenden konkret nutzbar ist.
Frontalunterricht hat sich dazu nur bedingt als probates Mittel
erwiesen. Zu viele Schüler verlassen die Schule ohne Schulabschluss, jährlich 80.000. Hunderttausende warten auf einen
Ausbildungsplatz. Mehr als 20 Prozent gelten als nur bedingt
ausbildungsfähig (PISA 2003).
Die Durchlässigkeitschancen bestehen auf dem Papier, in der
Praxis liegen sie statistisch bei 15 Prozent. Die Zahl der Absteiger vom Gymnasium auf Real- und Hauptschulen ist weitaus
größer als die der Aufsteiger. Das dreigliedrige Schulsystem leistet nicht, was es zu leisten beansprucht. Grundschüler bereits
nach der vierten Klasse auf Haupt-, Realschulen und Gymnasien
aufzuteilen, ist viel zu früh. Im europäischen Vergleich sehen
wir, dass nur im deutschsprachigen Raum an dieser Tradition
festgehalten wird, während sich unsere Nachbarn längst von
„Schüler, die sich als Buddys engagieren, stehen ihren
jüngeren Mitschülern als Paten zur Seite oder helfen
anderen dabei, Konflikte und Streit zu lösen.“
diesem Konzept verabschiedet haben. Fakt ist, dass Schüler
enorm davon profitieren, dass sie länger gemeinsam und vor
allem altersübergreifend lernen. In Deutschland setzt sich diese Erkenntnis immer stärker durch, jedoch fehlt bei uns noch
der Schritt vom Sehen zum Handeln. Wir brauchen eine „neue
Schule“, die gerecht und leistungsstark ist.
Welche Kompetenzen und Fähigkeiten
Um in der Welt von morgen erfolgreich zu sein, ist es ­wichtig,
müssen die Erwachsenen von morgen
dass die Kinder von heute persönliche Kompetenzen auf emo­
mitbringen, um in der Arbeitswelt
­bestehen zu können?
tio­naler, sozialer und kognitiver Ebene entwickeln. Das bedeutet, dass sie zu wissens- und charakterstarken Menschen
heran­wachsen können und auf Grundlage ihres gesunden Menschenverstandes in der Lage sind, eigenverantwortlich zu handeln. Zu oft wird in unserer Gesellschaft gerade die Ausbildung
emotionaler und sozialer Kompetenzen vernachlässigt und zu
einseitig Wert auf den kognitiven Erwerb von Wissen gelegt. Aber
um in einer Gemeinschaft leben zu können, sind Empathie und
ein Gespür für die eigenen Bedürfnisse und die unserer Mitmenschen unablässig. Erwachsene von morgen müssen in der Lage
und willens sein, zeit ihres Lebens weiter zu lernen und sich
weiterzuentwickeln.
In einer global vernetzten Welt brauchen wir Mehrsprachigkeit,
Vertrautheit im Umgang mit den modernen digitalen Medien,
Allgemeinbildung kombiniert mit guten ausbaufähigen Fachkenntnissen. Die alte Unterscheidung von „Hard“ und „Soft
Skills“ gehört der Vergangenheit an. Gerade die sozialen und
interkulturellen Kompetenzen zählen international zu den
„Hard Skills“. Sie sind nicht weniger wichtig als Sprachen und
Naturwissenschaften. Nun ist es Aufgabe von uns Erwachsenen,
unseren Kindern die Möglichkeit zu geben, diese Fähigkeiten
auch zu erwerben.
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Welche Rolle spielt in diesem Zusammen-
Das Buddy-Projekt ist ein Programm zum sozialen und zugleich
hang das Buddy-Projekt?
kognitiven Lernen, das primär auf die Potenziale der Kinder, auf
ihre spezifischen Stärken und Fähigkeiten setzt. Kinder und Jugendliche sollen in und außerhalb der Schule ihre wichtigen
persönlichen Kompetenzen ausbilden. Schüler, die sich als Buddys engagieren, stehen ihren jüngeren Mitschülern als Paten zur
Seite oder helfen anderen dabei, Konflikte und Streit zu lösen.
Dadurch lernen sie, Konflikte auf eine gewaltfreie und konstruktive Weise zu lösen und füreinander da zu sein, aufeinander
zu achten. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Buddy-Projekts ist
sein Beitrag für die individuelle Förderung von Schülern auf der
Basis von „Schüler für Schüler“. Unterricht nach dem BuddyPrinzip bedeutet, dass Schüler gemeinsam lernen und sich gegenseitig mit dem Unterrichtsstoff helfen. Lernstärkere Schüler
unterstützen ihre lernschwächeren Mitschüler. Der Lehrer ist
dabei ein Lernbegleiter im Sinne eines Coachs. An Buddy-Schulen findet Unterricht häufig altersübergreifend statt, was zu einem wechselseitigen Kompetenzerwerb zwischen Älteren und
Jüngeren führt, von dem beide profitieren. Auch die Trennung
zwischen den einzelnen Schulformen brechen Buddys häufig
auf: Hauptschüler kümmern sich als Lernhelfer um Kinder aus
Förderschulen, üben mit ihnen Lesen und Schreiben oder helfen
ihnen, wenn sie körperlich benachteiligt sind. Das Buddy-Prinzip
geht sogar über die Schule hinaus: Wir wissen, dass zahlreiche
Buddys in Seniorenheime gehen und für die älteren Mitbürger
Computerkurse veranstalten oder ihnen erklären, wie man mit
einem Handy SMS verschickt. Das Buddy-Projekt hat eine stark
integrative Wirkung, da es Menschen miteinander verbindet
und eine zwischenmenschliche Beziehung zwischen ihnen
herstellt.
Zuletzt ist von Ihnen das Buch er­
Wir haben gerade erst begonnen, ernsthaft die Integration der
schienen „Migration und Integration:
besonders sozial und ökonomisch benachteiligten Migranten-
Testfall für unsere Gesellschaft“.
Warum will uns die Integration von
kinder vorschulisch und schulisch voranzubringen. Jahrzehn-
­Migrantenkindern nicht gelingen?
telang wurde davon ausgegangen, dass die Migrantenfamilien
sich nur befristet in Deutschland aufhalten und danach in ihre
„Entscheidend ist, möglichst früh zu beginnen
und soziale Zugehörigkeit zu ermöglichen.“
Herkunftsländer zurückkehren. Die Realität sieht anders aus.
Viele sind nach dem Anwerbestopp 1973 zurückgewandert,
aber Millionen sind geblieben. In Deutschland leben laut Mikrozensus 15,7 Millionen Migranten, das heißt fast 20 Prozent.
Immer wieder wurde öffentlich behauptet, dass Integration von
Menschen aus anderen Kulturen nicht gelingen könne. Zu verschieden seien die Lebensstile, die Bildungsvoraussetzungen
und die religiösen Bindungen.
Inzwischen haben uns gute Schulen gezeigt, welche Potenziale Migrantinnen und Migranten mitbringen, wie sehr viele von
ihnen motiviert sind, mit größten Anstrengungen wirtschaftlich und sozial aufzusteigen. Entscheidend ist, möglichst früh
zu beginnen und soziale Zugehörigkeit zu ermöglichen. Frühe
Sprachförderung, Verbesserung der Bildungschancen durch individuelle Förderung, mehr Gelegenheit zur Integration durch
entsprechende Angebote in Ganztagsschulen erhöhen Beteiligung und verringern Ausgrenzung.
Bildungschancen hängen nicht primär von der ethnischen Zugehörigkeit, sondern vom sozioökonomischen Status ab.
Es fehlte bislang an Wertschätzung, bestimmend waren die Defizite, nicht die Potenziale. Die Förderung begabter und hochbegabter Schüler und Studierender gibt es erst wenige Jahre. Angesichts unserer demografischen Lage und unserer humanen
und demokratischen Überzeugungen haben wir in Deutschland
zu beweisen, dass Integration der Migranten wie die Teilhabe
aller in Deutschland lebenden Angehörigen anderer Kulturen
und sozial benachteiligten Gruppen gelingen kann.
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B i l d u n g , I n t eg r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Sie sind selbst Mutter einer Tochter. Wie
Unsere Tochter ging gerne zur Schule, sie nahm sie vielleicht
haben Sie den Schulalltag Ihres Kindes
manchmal zu ernst. Da sie sehr selbstständig war, haben wir uns
erlebt? Was schätzen Sie am deutschen
Schulsystem, was weniger?
um die Schulaufgaben wenig kümmern brauchen. Sie hat gute,
engagierte Pädagogen gehabt, aber auch solche, die nur ihren
Fachunterricht abhielten und sich wenig um das einzelne Kind
und seine Nöte kümmerten. Entscheidend im Gymnasium war
stets das Fachliche. Geschätzt habe ich die beeindruckenden
Lehrerpersönlichkeiten, die zugleich fachlich kompetent und
beziehungsstark waren. Geschätzt habe ich auch die Kombination von reproduktivem und problemlösendem kreativen
Lernen.
Negativ stößt bei mir bis heute auf, wie sehr die Schulchancen
eines Kindes vom Elternhaus abhängen, besser gesagt von den
Möglichkeiten, ihre Kinder emotional und fachlich zu unter­
stützen.
Milliarden werden in der Bundesrepublik für Nachhilfestunden
von den Eltern gezahlt. Zu viele junge Menschen bleiben auf
der Strecke. Unser Schulsystem ist stärker auslesend als fördernd. Die erzieherischen Probleme haben in jüngster Zeit zu
einer Öffnung der Schule geführt. Sozialarbeiter arbeiten mit
Fachlehrkräften zusammen, vor allem in den Haupt- und Förderschulen. Sport- und Musikvereine haben ebenso Zugang wie die
Wirtschaft. Und endlich wird der Stellenwert der Lehrerbildung,
der didaktisch-pädagogischen Ausbildung wiederentdeckt. Wir
sind endlich auf dem Weg zu einer besseren Schule.
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Experten in eigener Sache
In Schulen muss sich viel ändern, heißt es oft in Feiertagsreden und Leitartikeln.
Der buddY E.V. hat wegweisende Konzepte für die Praxis entwickelt. Immer mehr
Schulen und Lehrer sind davon überzeugt.
Es ist eine kurze, aber eindringliche Episode aus dem Alltag des Familienvaters Roman R. Rüdiger. Eine Mutter aus der Schule seiner Tochter Lilli ist
verzweifelt, rauft sich die Haare. Denn egal, wie sehr sie sich bemüht – der
Sohn ist und bleibt in Englisch eine Niete. Sie lernt mit ihm Vokabeln, sie ist
streng, dann wieder milde. Sie versucht es mit allen Tricks. Vergebens. „Das
Schlimmste war für mich“, sagt sie eines Tages zu Rüdiger, „da fahren wir in
den Urlaub, er lernt ein nettes Mädchen kennen und fängt an, Englisch mit
ihr zu sprechen.“
„Es war eine schöne Erfahrung für mich, meinem ‚Patenkind’ am ersten Tag die
Schule zu zeigen und zu sehen, wie sehr es sich freut. Es ist ein gutes Gefühl,
jemandem helfen zu können.“ Wiebke, 14, Buddy-Schülerin aus Willingshausen
„Das ist einfach ein Problem“ – nicht nur von Eltern, sondern besonders von
Lehrern. Sie vermitteln Wissen auf einer sehr abstrakten Ebene, anstatt an
real existierenden Problemen Schulstoff zugänglich zu machen. „Was viel
effektiver ist“, sagt der 42 Jahre alte Familienvater und Geschäftsführende
Vorstand von buddY E.V. Seit 2005 trägt Rüdiger die Verantwortung für die
Entwicklung dieses Vereins, der einen grundsätzlichen Wandel an Deutschlands Schulen anstrebt: Weg vom Frontalunterricht für alle, hin zur individuellen Förderung der Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler. Neu ist dieser Weg
keineswegs. Längst haben Lern- und Hirnforschung bestätigt, dass Schüler
umso erfolgreicher lernen, je mehr sie zu Akteuren ihres Lernens werden.
Oder anders gesagt: „Wenn Schüler nicht bloß zu beschulende Objekte sind,
sondern handelnde Subjekte.“
„Mit der Einführung des Buddy-Programms ‚Aufeinander achten. Füreinander
da sein. Miteinander lernen’ in Thüringen konnte den weiterführenden Schulen
ein hervor­ragendes Instrument zur Schulentwicklung angeboten werden.
Die Schulen k­ önnen im Rahmen ihrer Eigenverantwortlichkeit, unter Nutzung
des pädagogischen Konzepts des Buddy-­Programms, welches auf den vier
Säulen: Peergroup Education, Selbstwirksamkeit, ­Lebensweltorientierung und
Parti­zipation beruht, den für ­Thüringer Schulen definierten ­Qualitätsrahmen
­gestalten. Die reibungslose Zusam­menarbeit mit dem buddY E.V. e­ rleichtert
­unsere Arbeit sehr.“ Marion Dörfler, Oberamtsrätin, Thüringer Kultusministerium, Erfurt
In der Pädagogik nennt man diesen Ansatz „Peergroup Education“ – eine Idee,
die das erste Mal mit der einsetzenden Industrialisierung zu Beginn des 19.
Jahrhunderts auftaucht. Arbeitern sollte damals flächendeckend Lesen und
Schreiben beigebracht werden. Das Prinzip: Man vermittelte einigen wenigen
die notwendigen Sprachwerkzeuge, die sie wiederum an Freunde weitergeben konnten. Und vertraute auf das Wissen, die Erfahrung und die Fähigkeiten
der Peers, also der „Gleichaltrigen“ und „Gleichgesinnten“. Genau diesen Ansatz verfolgt auch der buddY E.V.: „Schüler sind Experten in eigener Sache“:
Sie achten aufeinander, sind füreinander da und lernen miteinander. Das ist
das Motto, das gleichzeitig im Namen des Vereins steckt: Buddy bedeutet so
viel wie Kumpel, Kamerad und enger Freund.
Ziel des Vereins ist es, dass Schüler „alle rechtlich möglichen Bereiche selbst
gestalten, um so selbstverantwortlich zu handeln. Das fängt an bei der Schülermitverwaltung, bei grundsätzlichen Fragen der Schulentwicklung und geht
bis zum täglichen Umgang miteinander.“ Beispielsweise übernehmen ältere
Schüler Patenschaften für jüngere, sie unterstützen diese bei Lese- oder Lernschwierigkeiten, machen mit ihnen Hausaufgaben, treten als Streitschlichter
auf oder leisten bei Verletzungen von Mitschülern Erste Hilfe. Andere Buddys
wiederum engagieren sich außerhalb der Schule in Kindergärten oder Seniorenheimen. Kurzum: Schüler handeln eigenverantwortlich und erleben damit
ihre eigene Selbstwirksamkeit, die Erfahrung, mit dem eigenen Können und
Engagement etwas zu bewirken. Daraus resultiere ein gesundes Selbstwertgefühl, das heute so vielen Kindern und Jugendlichen abhandengekommen
sei, meint Rüdiger. Überdies würden sich Schüler durch das Buddy-Prinzip
eine Reihe anderer sozialer Kompetenzen aneignen.
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Beispielsweise die kommunikative Kompetenz, also die Fähigkeit, einen kon­
trollierten Dialog zu führen. Einerseits um die eigenen Interessen zu vertreten,
andererseits um auch auf die Wünsche und Bedürfnisse der Kommunikationspartner eingehen zu können. Genauso lernen Schüler, partnerschaftlich mit
anderen bei der Lösung einer Aufgabe zusammenzuarbeiten. Und damit notwendigerweise auch, wo die eigenen und die fremden Fähigkeiten liegen.
Allerdings bedarf das Buddy-Prinzip einer „komplett veränderten Umgangs-,
Lehr- und Lernkultur“, sagt Rüdiger. Und meint zuallererst eine erweiterte
Lehrerrolle: „Es geht nur, wenn sich der Lehrer sukzessive zurücknimmt und
als Coach oder Lernbegleiter fungiert. Das ist für die Buddy-Idee die notwendige Voraussetzung.“ Und gleichzeitig das Hauptproblem, mit dem die Mitarbeiter und Trainer des buddY E.V. kämpfen. Denn die deutschen Lehrer sind
nicht als Coachs ausgebildet. Sie sind Einzelkämpfer, die alleine vor der Klasse
stehen, alles selbst organisieren und gewohnt sind, immer recht zu haben.
Aus diesem Grund sei es sinnlos, das Buddy-Prinzip einzeln an Schulen zu
verankern, sondern notwendig, „systemrelevant hineinzugehen“ – also mit
der Rückendeckung der Kultusministerien in den Bundesländern.
„Ich mag es, wenn die Kinder nach dem Streit wieder ordentlich miteinander
­umgehen. Dann weiß ich, dass ich etwas Gutes gemacht habe.“ Luise, 10, Buddy-Schülerin aus Berlin
Das politische Parkett ist kein Neuland für Rüdiger. Bevor er bei buddY E.V.
die Geschäftsführung übernommen hat, war er in unterschiedlichen Funktionen als Sozialmanager in Jugend- und Wohlfahrtsverbänden tätig. Bisher
hat Rüdiger mit den Ministerien gute Erfahrungen gemacht – den Impuls,
das eigene System schützen zu wollen, spürt er dort nicht. Im Gegenteil:
„Sie stehen unserem Bildungskonzept sehr offen gegenüber.“ Tatsächlich
arbeiten bereits 820 Schulen mit 410.000 Schülern in fünf Bundesländern mit
dem Buddy-Prinzip: Berlin, Niedersachsen, Thüringen, Hessen und NordrheinWestfalen. Damit gibt es kein anderes Bildungsprojekt in Deutschland, das
sich in so kurzer Zeit so weit verbreitet hat. Überdies wurde das Buddy-Projekt
als ausgewählter Ort im Land der Ideen 2009 geehrt, einer bundesweiten
Initiative unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Horst Köhler.
„Ich engagiere mich als Buddy-Coach, weil die Schülerinnen und Schüler in den
­Projekten Kompetenzen zeigen können, die im Schulalltag nicht im M
­ ittel­punkt ­stehen. Sie bringen ihre kreativen Ideen ein, erleben sich selbst in neuen
­Rollen und stellen fest, dass sie durch ihr Engagement etwas an der ­Schule
bewirken ­können. Für das tägliche Miteinander gibt es kaum etwas ­Besseres.“ Ingo Malkemper, Schulsozialarbeiter und Buddy-Coach
an der Hauptschule Heidenoldendorf, Detmold
Seit 1999 existiert das Buddy-Projekt. Entstanden ist es als Idee eines ande­-
ren langjährigen Stiftungspartners, der Off Road Kids Stiftung. Ziel war es, einen Weg zu finden, Straßenkinder-Schicksale zu verhindern. Seither macht die
Vodafone Stiftung Deutschland Schulen und Lehrer mit den pädagogischen
Grundlagen des Projekts vertraut: Sie stellt Materialien zur Verfügung und
bildet Lehrer zu Buddy-Coachs aus. 2005 wurde dazu eigens der Verein buddY
gegründet, nachdem der Erfolg professionellere Strukturen ­verlangte.
Die Vodafone Stiftung Deutschland ist Initiator und Hauptförderer des Projekts. Von Anfang an dabei ist Andrea Zinnenlauf, die in der Stiftung für das
Projekt verantwortlich zeichnet. „Wir sind stolz, dass aus dem Buddy-Projekt
mittlerweile ein bundesweit erfolgreiches Bildungsprogramm geworden ist,
das auf die Etablierung nachhaltiger Strukturen setzt.“ Im größeren Kontext,
so Zinnenlauf, vermittle buddY die Haltung, nicht nur für sich selbst, sondern
auch für andere verantwortlich zu sein.
Kein Wunder, dass Roman R. Rüdiger das Ziel formuliert, das Buddy-Prinzip
künftig an mindestens 1.000 Schulen „nachhaltig“ zu verankern. Das bedeutet, dass der Verein die Schulen über die Grundphase hinaus mehrere Jahre
begleiten will, um eine „Qualitätssteigerung der einzelnen Projekte“ zu ermöglichen. Außerdem will Rüdiger den Fokus der Arbeit von der Sekundarstufe 1 auf den Grundschulbereich ausdehnen. Dazu laufen erste Pilotprojekte.
Ende 2009 sind sie abgeschlossen und dem Roll-out 2010 steht nichts mehr
im Weg. Das Land Niedersachsen will schon heute das Programm landesweit
übernehmen, freut sich Rüdiger. Den Erfolg erklärt er sich unter anderem
auch damit, dass das Buddy-Prinzip Lehrer immens entlastet. „Das ist ein
großer Hebel. Aber nur dort, wo es die Schulen tatsächlich wollen. Halbherzig
hat es keinen Sinn.“
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
„Ich mag an meiner Buddy-Tätigkeit besonders, den Kleineren
bei Problemen mit Größeren zu helfen. Das ist eine Aufgabe
für verantwortungsbewusste Kinder.“ Nora, 10, Buddy-Schülerin aus Berlin
„Ich habe als Lehrer am Training zum Buddy-Coach teilgenommen,
um Werkzeuge und Methoden zu erlernen, wie ich mit Störfaktoren
in der Schule konstruktiver umgehen kann. Mein Ziel ist es, in der
Schule ein Klima zu erzeugen, das die Last von einem einzigen
Lehrer als Einzelkämpfer abnimmt. Es geht mir darum, Aufgaben
auf mehrere Schultern zu verteilen und Verantwortung in die Hände
der Schüler zu legen. Gleichzeitig möchte ich neue Wege finden,
um Kinder für den Unterrichtsstoff zu motivieren: Ich möchte sie
in die Lage versetzen, sich auf die Unterrichtssituation einlassen
zu können, also Präsenz erzeugen.“ Ulrich Gosebruch, Buddy-Coach
an der Städtischen Gemeinschaftsgrundschule Knittkuhl in Düsseldorf
„Es ist ein gutes Gefühl, zu sehen, wie zufrieden meine Mitschüler
wieder sind, nachdem wir einen Streit unter ihnen geschlichtet haben.“ Jenny Nadine, 12, Buddy-Schülerin aus Frankfurt am Main
Der Vorstand des buddY E.V.
(von links nach rechts):
Wolfgang R. Assmann
Winfried Kneip
Prof. Dr. Rita Süssmuth
Michael Hein
Anke Kliewe
Roman R. Rüdiger
G a s t b e i t r ag v o n P r o f. D r . H e r b e r t Sc h e i t h au e r
Soziales Lernen im Kontext des
Buddy-Projekts für die gelingende
Entwicklung junger Menschen
Prozesse des sozialen Lernens tragen wesentlich dazu bei, dass Kinder und
Jugendliche wichtige Entwicklungsaufgaben erfolgreich bewältigen, wie
zum Beispiel im Kindesalter die Entwicklung von Gewissen und Moral oder
der Aufbau positiver Gleichaltrigen- und Freundschaftsbeziehungen sowie
im Jugendalter der Aufbau reiferer Beziehungen, sozial verantwortliches
Verhalten oder der Aufbau eines Wertekanons. Soziales Lernen ist zudem
Grundlage für handlungsorientiertes, problemlösendes Lernen, für Empathie
und Antizipationsfähigkeit. Soziales Lernen nutzt dabei Mechanismen der
Gruppendynamik zur Herausbildung dieser wichtigen Schlüsselkompetenzen, für die Interaktionen in sozialen Gruppen zentral sind. Das Aushandeln
und Balancieren unterschiedlicher Positionen und Ansichten unter Gleichaltrigen stellt geradezu einen Motor dar für die sozial-kognitive Entwicklung
von Kindern und Jugendlichen und fördert das Einnehmen der Perspektiven
sowie das Einfühlen in die Situation anderer.
Soziales Lernen im Buddy-Projekt bedarf somit weniger der konkreten Un­
terstützung durch Erwachsene (zum Beispiel durch Lehrer). Vielmehr müssen
Kinder und Jugendliche in ihren Gleichaltrigengruppen eigenständig die Prozesse des sozialen Lernens erleben, während die Erwachsenen und Pädagogen ihnen diese Freiräume und die Strukturen schaffen, die soziales Lernen
ermöglichen. Im Zuge der mit dem Buddy-Projekt umgesetzten Methoden
und pädagogischen Prinzipien finden zudem (Aus-)Handlungsprozesse statt,
die Kinder und Jugendliche darin unterstützen, ihr selbstverantwortliches
Verhalten wahrzunehmen, Selbstbestätigung und Selbstwirksamkeit zu
erlangen sowie die Übernahme von Verantwortung als etwas Positives zu
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
erleben. Insgesamt trägt das Buddy-Projekt somit zum Aufbau wesentlicher
sozialer, moralischer und Konfliktlösekompetenzen bei, die eine weiterhin
positive Sozialentwicklung – bis ins Heranwachsenden- und Erwachsenenalter hinein, wie Längsschnittstudien belegen – fördern.
Langfristig tragen die positiven Erfahrungen der Verantwortungsübernahme,
positive Erfahrungen und die Einbindung in der Gleichaltrigengruppe, die
erlebte Selbstwirksamkeit sowie das Erleben von Mitwirkungsmöglichkeiten
dazu bei, dass über diese sozialen Lernprozesse sowohl die notwendigen
Kompetenzen als auch die wichtige motivationale Basis geschaffen wird,
sich über das Erleben sozialen Lernens im Rahmen des Buddy-Projektes im
Schulumfeld hinaus einzusetzen für Partizipation und Demokratie. Es trägt
dazu bei, eine Grundhaltung zu fördern, die im Wesentlichen über moralische
Verpflichtungen und Verantwortungsübernahme die Jugendlichen darin bestärken wird, sich auch als Erwachsene für diese positiv erlebten und gelebten
Grundpfeiler unserer Gesellschaft starkzumachen und sich zu engagieren.
Soziales Lernen, wie es im Buddy-Projekt erfahren wird, stellt somit einen
wichtigen Baustein in der gelingenden Entwicklung junger Menschen und für
eine spätere Verantwortungsübernahme in unserer offenen, demokratischen
Gesellschaft dar. Mit Projekten wie Buddy kann direkt in das Wohlergehen
der zukünftigen Generationen unseres Landes und damit in unsere Zukunft
investiert werden.
Prof. Dr. Herbert Scheithauer
ist Juniorprofessor für Pädagogische und Entwicklungs­
psychologie an der Freien Universität Berlin sowie Mitglied
im Beirat des buddY E.V.
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Vom Kopf auf die Füße gestellt
Kaija Landsberg will die Schieflagen im deutschen Bildungssystem dort ausbessern,
wo sie am schlimmsten sind: an den Brennpunktschulen. Die Gründerin von Teach
First Deutschland schickt engagierte und ambitionierte Absolventen von den Hochschulen für zwei Jahre in die Klassenzimmer am Rande der Gesellschaft.
Die junge Frau mit den kieselgrauen Augen lässt sich nicht die Butter vom
Brot nehmen. Scharf pariert sie die Argumente ihrer Gegner auf der Podiumsdiskussion. Interessiert nimmt sie jeden Einwand auf. Offen, souverän,
stets ein unbefangenes Lächeln in den Mundwinkeln. Ihr Projekt entprofessionalisiere den Lehrerberuf. „Nein, Lehrer sind unersetzlich. Trauen Sie den
Schulen zu, selbst zu entscheiden.“ Ihre Initiative sei Billigkonkurrenz für die
Pädagogen. „Halten Sie Lehrer für ersetzbar? Unsere Hochschulabsolventen
sind Unterstützer auf Zeit, die mehr verdienen als Referendare, aber weniger
als fertige Pädagogen.“ Ihre Organisation sei nur eine Suppenküche für Bildungsverlierer, es ändere nichts an der Benachteiligung dieser Kinder. „In
Deutschland diskutieren wir seit 30 Jahren erfolglos über diese Missstände.
Es wird Zeit, dass Bildung ein Thema für die ganze Gesellschaft wird. Dafür
wollen wir junge Leute mit Herz und Verstand in die Schulen schicken. Damit
sie denen unter die Arme greifen, die schlechte Startchancen haben. Damit
sie sehen, welche Potenziale dort brachliegen. Damit sie später, wenn sie
selbst an den Schaltstellen in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft sitzen,
wissen: Wir müssen handeln.“ Applaus.
Kaija Landsberg schüttelt die blonden Locken in den Nacken und lacht. Skepsis in Zustimmung verwandeln, das ist längst ihr Metier. Wie oft hat sie das
schon erlebt, wenn sie auf den Podien der Republik für ihr Projekt kämpfte,
wie neulich vor Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tübingen. „Machen Sie sich auf heiße Debatten gefasst“, hatten ihr die Veranstalter schon
per Mail angekündigt. „Das Publikum ist hier sehr kritisch.“ Macht nichts.
Oder vielmehr: Umso besser. Denn dann kommt die 30-Jährige erst richtig
in Fahrt. Begeistert nimmt sie Menschen für sich ein, mit ihrem erfrischenden
Mix aus Mädchenhaftigkeit, Sachverstand und konsequenter Professionalität.
So ist es ihr gelungen, innerhalb von zwei Jahren aus einer kleinen Absolventeninitiative ein millionenschweres Programm zu machen, das seine Fühler
über die ganze Republik ausstreckt: Teach First Deutschland.
Dort hingehen, wo es wehtut­ Berlin Friedrichstraße, Mittwochnachmittag. In der Teach-First-Zentrale steht die Luft. Die Sonnenstrahlen streichen
über den grauen Nadelfilz im dritten Stock des stattlichen Altbaublocks, die
roten Jalousien sind zur Hälfte heruntergelassen. Durch die gekippten Fenster zur Straßenseite strömt das Rauschen der Großstadt. Telefone klingeln,
die Finger der Mitarbeiter fliegen über die Computertasten. Die Arbeit des
Organisationsteams läuft auf Hochtouren. Die Zeit drängt, im Hochsommer
startet das Training der ersten Kandidaten. Im neuen Schuljahr werden sie in
die Schulen gehen. Parallel müssen die Bewerber für den nächsten Jahrgang
ausgewählt werden. Ein Kurvendiagramm an der Wand gibt einen Überblick:
Online-Bewerbung bestanden, Telefoninterview geschafft, Auswahltag bewältigt. Gegenüber hängen die Organigramme deutscher Bildungsministerien.
Geschäftsführer Arist von Hehn versucht bereits weitere Bildungsverwaltungen zu überzeugen: Macht mit bei uns! „Ich bin mal gerade in einem Termin“,
ruft Kaija Landsberg.
Drei Jahre ist es her, dass Landsberg bei einer Online-Recherche auf diese
Idee aus den USA stieß, die sie seitdem nicht mehr losgelassen hat: Hochschulabsolventen mit Top-Abschlüssen gehen als Lehrer auf Zeit an Brennpunktschulen. Zwei Jahre lang unterstützen sie Kinder und Jugendliche mit
schlechten Startbedingungen bei Mathe und Chemie, Deutsch, Geschichte
und Englisch, gründen mit den Kids Schülerfirmen, machen Bewerbungstrainings, schieben Sport-, Kunst- oder Musikprojekte an, machen ihnen
Mut, und verhelfen ihnen so im Idealfall zu besseren Noten, weiterführenden Abschlüssen, vielleicht einer Lehrstelle. „Teach For America“ nennt
sich der Ansatz, der sich in den USA längst bewährt und inzwischen auch
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
nach Großbritannien ausgebreitet hat. „Die Idee hat mich sofort berührt“,
sagt Landsberg. „In der Schule habe ich selbst erlebt, wie viel mehr man unter guten Bedingungen und mit toller Förderung erreichen kann. An vielen
Brennpunktschulen bleibt dafür gar nicht die Zeit.“ Und hatte sie nicht selbst
einmal im New Yorker Stadtteil Harlem gesehen, wie eine Stanford-Absolventin die Drittklässler einer Ghetto-Schule für „Romeo und Julia“ begeisterte?
„Beeindruckend.“
Landsberg, damals Studentin an der Hertie School of Governance, macht
„Teach For America“ zum Thema ihrer Masterarbeit. Fragestellung: Wie funktionieren die Organisationen in den USA und Großbritannien und wie könnte
man sie auf Deutschland übertragen? Und, wer weiß, vielleicht würde sie es
eines Tages sogar selbst tun. Denn diese Idee packt sie so, wie nie zuvor etwas in ihrem Leben. Sie ist so etwas wie der Endpunkt einer Entwicklung, auf
den sie ihr bisheriges Leben zugesteuert zu haben scheint.
Was kann ich tun, damit sich etwas ändert? Es war ein Zickzackkurs,
der die geborene Freiburgerin dahin führte. Nach dem Abitur geht sie für
ein Jahr nach Bremen, jobbt an einem „jungen, freien Theater“. Probiert sich
aus in Lichttechnik, Regieassistenz, Kostümbildnerei. Träumt den Traum
vom Schauspielerleben. Bis sie merkt: Das ist es nicht. Studiert Theaterwissenschaften an der Universität München. Bis sie sich klar wird: Ich will die
Faszination Bühne nicht bis zur Bedeutungslosigkeit zerlegen. Landsberg
schwenkt um, besinnt sich auf das andere große Thema, das sie fasziniert:
Politik und Menschenrechte. Seit ihrem Schüleraustausch in Los Angeles, wo
sie die Probleme der schwarzen Minderheit und mexikanischen Einwanderer
hautnah erlebt, treiben sie diese Fragen um. Wie können wir Menschenrechte durchsetzen? Wie im Konflikt zwischen eigenem Vorteil und ethischen
Grundsätzen bestehen?
Landsberg studiert Politik, Völkerrecht und Amerikanistik, mischt begeistert
mit bei den studentischen UNO-Simulationen (NMUN), die am Münchener
Politiklehrstuhl stattfinden, ist beeindruckt von dieser Organisation, in der
alle Länder zusammensitzen, um die großen Probleme der Welt zu lösen,
diskutiert mit den internationalen Studentendelegationen im echten UNGebäude in New York, träumt von einer beruflichen Zukunft in Politik oder
Diplomatie. Bis ihr auch hier bewusst wird: Das ist es auch nicht. Die internationale Politik ist viel zu sperrig, zu sehr vom permanenten Austarieren
widerstreitender Interessen bestimmt, als dass sie als Einzelne irgendwas
bewegen könnte.
Etwas bewegen – das ist Kaija Landsberg wichtig. Wie sehr, das merkt sie in
ihrem Auslandssemester im spanischen Granada, wo sie jeden Tag die Ungleichheiten der Welt aus nächster Nähe beobachten kann. Kompromisslos
werden die Boat People aus Afrika am Hafen abgewiesen. Europa ist geschlossen für solche wie euch! Landsberg schreibt ihren Magister über Migration
und Menschenrechte, bewirbt sich an der Hertie School of Governance in
Berlin. Diskutiert zwei Jahre lang mit 28 Menschen aus 17 Ländern über Poli­
tik und Soziologie, Wirtschaft und Jura. Vielleicht erfährt sie dort, was sie
herausfinden möchte: Was kann ich tun, damit sich etwas ändert? Bei ihrem
Praktikum im Grundsatzreferat des Bundesinnenministeriums, Schwerpunkt
Migration, erfährt sie zumindest, woran es hakt: Bei allem Goodwill der Institution ist sie zu langsam, zu zentralisiert, zu weit weg von der Realität. „Man
müsste die Leute mal einen Tag ins Ausländeramt schicken.“
„Es ist doch Wahnsinn, dass zehn Prozent unserer Kinder
ohne Abschluss von der Schule gehen. Und dass der
Bildungserfolg in unserem Land so stark vom familiären
Hintergrund der Schüler abhängt.“
Es ist die Zeit der Pisa-Debatten, der Reformen und Reförmchen, die in hektischer Aktivität über das Land rollen. Die Debatten liefern der Mittzwanzigerin
das letzte Steinchen in dem Mosaik, das ihr den Weg weist. „Mir wurde klar,
dass sich die Probleme der Integration nur über gesellschaftliche Teilhabe
­lösen lassen. Und die gelingt nicht ohne genug Bildung im Gepäck.“ Sie erkennt: Die Chance auf gute Bildung fehlt fast allen Kindern aus bildungsfernen Familien in Deutschland, nicht nur denen mit Migrationshintergrund. „Es
ist doch Wahnsinn, dass zehn Prozent unserer Kinder ohne Abschluss von der
Schule gehen. Und dass der Bildungserfolg in unserem Land so stark vom
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
familiären Hintergrund der Schüler abhängt“, sagt Landsberg. Sie beschließt:
„Hier will ich ansetzen, um etwas zu verändern.“
Jetzt oder nie! Ein Frühstück im Juni. Die Sonne kitzelt auf den Armen,
Kaffee dampft auf dem Tisch, es duftet nach Schrippen, Croissants und Frühstücksei. Kaija Landsberg sitzt mit Freunden beisammen. Die Masterarbeiten
an der Hertie School sind geschafft, das Gespräch kreist um Karriere und
Zukunft. Plötzlich wird die Idee konkret: Wir machen Teach First Deutschland.
Jetzt. Michael Okrob, Arist von Hehn, Elisabeth Heid, Caspar von Schoeler
und Kaija Landsberg schlagen ein. Der Deal: Wer einen Job in Aussicht hat,
lässt sich zurückstellen oder sagt ab. Die Ersparnisse reichen bis Ende des
Sommers, so lange geben wir Gas. „Wir hatten keine Wahl – jetzt oder nie“,
sagt Landsberg. „Denn nur wenn wir selbst bereit waren, ein Risiko zu übernehmen, würden uns Förderer abnehmen, dass wir wirklich an unser Projekt
glauben – und sie gewinnen können.“ Ein paar Tage später bezieht das Quartett in den Seminarräumen der Hertie School of Governance Quartier.
Programmpunkt eins: Geld beschaffen, um bis Weihnachten über die Runden
zu kommen. Ein Projekt, hervorgegangen aus der Hertie School, was liegt da
näher, als die Hertie-Stiftung vom Unternehmen zu überzeugen? Wochenlang tragen die Gründer Informationen zusammen, nächtelang feilen sie an
der Präsentation, nehmen sich gegenseitig ins Kreuzfeuer. Mit schlotternden
Knien steigt Landsberg mit ihrem Kollegen Arist von Hehn in den Zug zur Präsentation nach Frankfurt. Abends knallen die Sektkorken. Mit den 45.000 Euro
der Hertie-Stiftung kann sie Teach First Deutschland aus der Taufe heben.
Programmpunkt zwei: Das Konzept ausarbeiten und ausschwärmen. „Wir
konnten nur gewinnen, wenn wir alles gleichzeitig anschieben würden“, sagt
Landsberg. „Finanzierung sicherstellen, Schulen gewinnen, die Verwaltung
überzeugen, Kandidaten gewinnen, das Qualifizierungskonzept ausfeilen.“
Mit Volldampf machen sich Landsberg und ihre Mitstreiter an die Arbeit. Sie
versuchen Unternehmen ins Boot zu holen, tingeln durch die Begabtenstiftungen, halten Vorträge über ihr Programm an den Universitäten, basteln an
ihrer Homepage. Sie suchen Studenten an den Hochschulen, die als „Campus
Captains“ ihre Idee an der Uni verbreiten, Plakate für Werbeveranstaltungen
aufhängen, Räume und Equipment organisieren.
Sie recherchieren nach innovativen Ansprechpartnern in den Bildungsverwaltungen, die Teach First die Tür zu den Ministerien öffnen würden. Sie
finden Profis im Landesinstitut für Lehrerbildung Hamburg, später bei der
Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, die sie pädagogisch beraten: Wie
müssen wir die „Fellows“ qualifizieren, damit sie vor den Schülern bestehen
können, nicht zerrieben werden im harten Klima der Brennpunkte, damit sie
schulmüden Kids sowohl den Dreisatz schmackhaft, als auch kreative Projekte nahebringen könnten? Anschließend erarbeitet das Teach-First-Team ein
Stufenkonzept: erst Online-Fortbildung, dann Intensivtraining von Schulrecht
bis zu Fachdidaktik in einer Sommerakademie.
Sie ziehen durch die Schulen, versuchen die Lehrer zu überzeugen: „Sagt,
was ihr braucht. Überlegt, wo ihr Fellows einsetzen könnt.“ Nachmittags oder
im Unterricht? In Physik oder für Deutsch als Zweitsprache? Für Schülerfirmen oder Sportprojekte? Wolfgang Lüdtke erinnert sich noch allzu gut an
die junge Frau, die mit flammenden Reden neben ihm auf dem Podium einer Begabtenstiftung für ihre Initiative warb. Das Erstaunliche: Im Auditorium
gab es tatsächlich Interessenten, die ihm Löcher in den Bauch fragten – was
können wir für euch tun? „Ich war perplex. Da wollten junge Menschen mit
glänzenden Berufsperspektiven wirklich an unsere Schule im tiefsten Neukölln kommen“, sagt der Direktor der Berliner Kepler-Oberschule. 90 Prozent
seiner Schüler haben einen Migrationshintergrund, die meisten Eltern sind
arbeitslos, die Anzahl derer, die sich Schulbücher selbst kaufen, geht „gegen null“. Lüdtke war begeistert: „Ich habe mich sofort mit unserer Schule
beworben.“
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Durchbruch! Kaija Landsberg nimmt einen Schluck Wasser. Die Erinnerung
an diese ersten Monate treibt ihr noch heute den Schweiß auf die Stirn. Ob
tatsächlich genug sozial engagierte Top-Absolventen bereit sein würden,
sich mit „schier endloser Energie, Enthusiasmus und Optimismus“ als Fellows
für 1.700 Euro im Monat zwei Jahre lang an die harten Schulen in den Ballungszentren der Republik zu stürzen, konnte damals niemand mit Sicherheit
sagen. „Da bewirbt sich doch keiner“, hörte sie oft. „Lange haben wir uns im
Kreis gedreht.“ Die Ministerien fragten nach den Sponsoren, die Sponsoren
nach den Ministerien, die Schulen nach den Fellows. „First-Mover-Dilemma“
nennt das Kaija Landsberg. Niemand will den ersten Schritt tun. Im Juni 2008
steht Teach First vor dem Aus.
„Ihr unternehmerischer Geist, die ergebnisorientierte
Arbeitsweise und ihr persönliches Auftreten haben mich
sehr überzeugt.“ Dr. Mark Speich, Geschäftsführer der Vodafone Stiftung Deutschland
Da trifft die Gründerin auf Mark Speich. Der Geschäftsführer der Vodafone
Stiftung Deutschland ist beeindruckt. „Ihr unternehmerischer Geist, die ergebnisorientierte Arbeitsweise und ihr persönliches Auftreten haben mich
sehr überzeugt.“ Speich gibt das Go für die Förderung. Im Rahmen des „World
of Difference“-Programms zahlt die Stiftung nun die Gehälter für das Aufbauteam. „Das war der Durchbruch“, sagt Kaija Landsberg. Nach und nach sagen
die Bildungsministerien von Hamburg, Berlin und Nordrhein-Westfalen zu. Sie
werden die Gehälter der Fellows zahlen. Robert Bosch Stiftung und Deutsche
Post, Lufthansa und McKinsey klinken sich ein. Die Berliner Anwaltskanzlei
Hogan & Hartson Raue verspricht, pro bono die komplette Rechtsberatung
zu übernehmen.
Heute ist Teach First Deutschland ein richtiges Unternehmen mit 17 Vollzeitstellen. 140 Schulen haben sich beworben, 68 bekamen den Zuschlag. Auch
beim Nachwuchs zieht der Slogan „Einsatz für andere + Karriere für Dich“ auf
der Teach-First-Website. Auf die erste Ausschreibungsrunde bewarben sich
mehr als 700 Kandidaten. 70 werden im Herbst ihre Arbeit aufnehmen.
„Ich habe selbst viel Bildung in meinem Leben
­mitgenommen, jetzt würde ich gerne ein wenig davon
an jene zurückgeben, die nicht so viel Glück hatten.“
simon Turschner, Molekularbiologe und Fellow im Teach-first-Programm
Menschen wie Simon Turschner. Auf der Sommerakademie der Studienstiftung des Deutschen Volkes hörte der frisch diplomierte Molekularbiologe
von der Bildungsinitiative. Sozial engagierte Kandidaten mit hervorragenden
Noten und „schier endloser Energie, Enthusiasmus und Optimismus“ gesucht, die benachteiligte Schüler unterstützen? Der 26-Jährige nickt. ­Damit
traf Teach First bei ihm ins Schwarze. „Ich habe selbst viel Bildung in meinem
Leben mitgenommen, jetzt würde ich gerne ein wenig davon an jene zurückgeben, die nicht so viel Glück hatten.“ Zwei Jahre Basisarbeit im Klassenzimmer sind dafür nicht zu viel. In die Wirtschaft gehen oder ein Unternehmen
gründen kann er danach immer noch.
Turschner hat den Auswahlmarathon geschafft und ein Schnupperpraktikum
in Berlin-Wedding hinter sich. Er war beeindruckt, „wie viel die Kinder draufhaben“, und überrascht, „wie unterschiedlich die Lehrer ihre Klassen unter
Kontrolle haben“. Ein bisschen Bammel hat er schon. Er weiß, dass er noch
dazulernen muss, um sich Respekt vor den Schülern zu erarbeiten. Vor allem
aber will er sie motivieren, ihnen zeigen, dass sie etwas wert sind, etwas erreichen können. „Das wird für mich eine persönliche Herausforderung.“ Und
vielleicht lassen sie sich begeistern für das, was er so liebt: Musik und Schach
und naturwissenschaftliches Experimentieren.
Schulleiter Lüdtke von der Kepler-Oberschule in Berlin-Neukölln hat bereits
Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Externen. Gezielt holt er seit Jahren
Theaterleute, Handwerker oder Musiker in seine Schule am harten Ende der
Realität. Vergangene Woche stellte er seinen Fellow dem Kollegium vor. Ein
Betriebswirt, Sportfreak, spricht fließend Englisch, spielt in einer Band und
soll die Lehrer ab Herbst im Teamteaching unterstützen, mit einzelnen Schülern Stoff nacharbeiten und nachmittags eine Sport-AG betreuen. „Menschen
von außen eröffnen unseren Schülern ganz neue Perspektiven. Sie bekommen Einblick in neue Berufsfelder und andere Lebensbereiche“, sagt Lüdtke.
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„Ich denke, auch für die Fellows ist die Arbeit an einer Brennpunktschule
eine wichtige Erfahrung. Wenn sie später mal in einer Führungsposition sind,
werden sie sich an unsere Welt sicher erinnern.“
Kaija Landsberg räumt das Geschirr zusammen. Es ist 18.30 Uhr, aber ihr Tag
ist noch lange nicht zu Ende. Bald beginnt das Sommercamp, die nächsten
Bewerbungen liegen auf dem Tisch, neue Schulen klopfen an. 2010 sollten
150 Fellows an den Start gehen, 210 will sie 2011 in die Schulen schicken.
Die 30-Jährige möchte neue Bundesländer ins Boot holen und ihr Netzwerk
an den Hochschulen enger flechten. Dringend notwendig ist die wissenschaftliche Evaluation des Projekts: Was bringt die Arbeit der Fellows konkret?
Wie ändert sich das Klima in den Schulen, wie verbessern sich die Schulleistungen der Schüler? Längst ist die Crew dafür in Gesprächen mit Experten an
den Universitäten Lüneburg und Berlin.
Kaija Landsberg lacht. Stimmt schon, manchmal bleibt kaum Zeit für ein Brötchen zwischendurch. Wie gut, dass sie ihren Freund hat, der auf den Tisch
haut, wenn sie kein Ende mehr findet. Wie gut, dass das Team beschlossen
hat: Ab jetzt ist das Wochenende frei, professionell sein heißt auch Regenerationszeit einplanen. Manchmal träumt die 30-Jährige dann von jenen
fernen Tagen, in denen Teach First zu den begehrtesten Arbeitgebern für
gute Uniabsolventen zählt. In denen ihre Fellows Jahr für Jahr zu Hunderten
die Schulen verlassen, um zurück in ihre eigene Welt zu gehen. In die Welt
der High Performer, Unternehmenslenker, Macher und Meinungsbildner, egal
ob in Politik oder Wirtschaft, Journalismus oder Verwaltung. Und dort als Bildungsbotschafter die Welt zu verändern beginnen.
„Menschen von außen eröffnen unseren Schülern
ganz neue Perspektiven. Sie bekommen Einblick in
neue Berufsfelder und andere Lebensbereiche.“
Wolfgang Lüdtke, Schulleiter an der Kepler-Oberschule in Berlin-Neukölln
Eine Frage der (L)Ehre
Zu Recht wird in den bildungspolitischen Diskussionen dieser Tage
immer wieder eine einfache Wahrheit geäußert: Die Qualität von
Schule steht und fällt mit ihren Lehrerinnen und Lehrern in ­unserem
Land. Dennoch bleibt ihr Ruf beschädigt. Mit dem „Deutschen
­Lehrerpreis – Unterricht innovativ“ will ihn die Vodafone Stiftung
Deutschland befördern: den längst überfälligen Imagewechsel.
Prof. Susanne Porsche,
Initiatorin „Deutscher Lehrerpreis“
und Mitglied im Beirat der Vodafone Stiftung Deutschland
„Lehrer“ – spottet der Volksmund – „haben vormittags recht und nachmittags frei.“ Kalauer auf Kosten dieser Berufsgruppe sind seit jeher billig zu
haben: Jeder war einmal in der Schule, jeder wähnt sich urteilsfähig, viele
stimmen ein – und wer weiß, vielleicht ist die unausrottbare Lehrerschelte,
das höhnische Herabschauen auf den vermeintlich lauen Lehrerjob nicht
selten die späte Rache für ein einstmals unrühmliches Schülerdasein. Dabei
sollte eigentlich allen klar sein: Auf dem Weg zur modernen Informationsund Wissensgesellschaft tragen die Lehrerinnen und Lehrer in unserem Land
größte Verantwortung. Wachsende soziale Ungleichheit und ein verändertes
Mediennutzungsverhalten der Jugendlichen stellen sie zudem vor große pädagogische und psychologische Herausforderungen. Zu Recht wird in den
bildungspolitischen Diskussionen dieser Tage daher immer wieder die einfache Wahrheit geäußert, dass die Qualität von Schule mit ihren Lehrerinnen
und Lehrern steht und fällt.
Seit der Veröffentlichung der Pisa-Studien stehen folglich nicht nur die Neugestaltung der Schulformen oder der Ausbau der Ganztagsschulangebote
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auf der politischen Agenda – auch die Ausbildung, Fortbildungsbereitschaft,
zusätzliche Leistungsanreize sowie die Bezahlung und der Beamtenstatus
der Lehrer sorgen für Diskussionen. Doch obwohl das Thema Bildung auf der
politischen Erregungskurve spätestens seit der Einführung des achtjährigen
Gymnasiums (G8) einen Höhepunkt erreicht hat und allerorts über die „Schule der Zukunft“ sinniert wird, hat sich das Image der Lehrer kaum fühlbar
verbessert. Stattdessen wurden in den vergangenen Jahren gleich mehrere
Studien veröffentlicht, die belegen sollen, dass Lehramtsanwärter schwache
Kandidaten mit mäßigen Abiturnoten seien, die auch im Studium den Wettbewerb scheuen und an ihrem zukünftigen Beruf vor allem das Beamtendasein schätzen. Nicht nur die Versuchsanordnung dieser Studien, vor allem die
mediale Aufmerksamkeit, die sie auslösten, zeigt einmal mehr, dass sich das
Bild des Lehrers als eines überbezahlten „Low Performers“ mit unangemessener Jobsicherheit noch immer öffentlichkeitswirksam vermarkten lässt.
Demoralisierendes Meinungsklima Ein solches Meinungsklima wirkt
indes nicht nur demoralisierend auf diejenigen Lehrer, die ihrem Beruf mit
Engagement und Hingabe nachgehen, es blockiert zudem paradoxerweise
gerade die mögliche Behebung des beklagten Missstands. Denn der Lehrerberuf wird für hoch motivierte Spitzenabsolventen kaum attraktiver, wenn
ihnen allenthalben gesagt wird, sie seien in Studium und Beruf nicht unter
ihresgleichen. Stattdessen bedarf es authentischer Geschichten des guten
Gelingens, es bedarf der öffentlichen Anerkennung dessen, was Lehrer tagtäglich leisten und wie sie zur Persönlichkeitsbildung von Kindern und Jugendlichen beitragen. Denn gegen Klischees und eingefahrene Denkmuster
gibt es bekanntlich kein besseres Heilmittel als besseres Wissen. Den empirischen Beweis für diese Einsicht lieferte eine im März 2009 von der Vodafone
Stiftung Deutschland in Auftrag gegebene repräsentative Allensbach-Umfrage mit dem Titel „Schule und Lehrer aus Sicht der Bevölkerung“.
Demnach hält sich das negative Image vor allem dann, wenn die Menschen
schlechterdings wenig oder gar nichts über die Lehrer und ihre Arbeit wissen. So sind 54 Prozent der Bürger der Meinung, Lehrer klagten häufig über
ihre berufliche Belastung und bedienen damit jenes Lehrerbild vom „ewigen
Nörgler“. In der Gruppe der Eltern mit Kindern im schulpflichtigen Alter sind
dagegen nur 23 Prozent dieser Meinung. Das Fern- und das Erfahrungsbild
fallen deutlich auseinander. Während nur 29 Prozent der Befragten der Meinung sind, Lehrer würden sich um gerechte Noten bemühen, urteilen die
Eltern von Schulkindern wiederum deutlich positiver. 53 Prozent von ihnen
meinen, die Lehrer ihrer eigenen Kinder bemühten sich durchaus um Gerechtigkeit bei der Zensurenvergabe. Noch deutlicher ist die Differenz in puncto
Unterrichtsgestaltung: Während in der Gesamtgruppe der Befragten nur 16
Prozent meinen, Lehrer bemühten sich darum, ihren Unterricht interessant
zu gestalten, sind in der Gruppe der Eltern immerhin 44 Prozent dieser Meinung. 42 Prozent der Eltern meinen, dass Lehrer ihren Beruf lieben – in der
Vorstellungen von dem Berufsstand des Lehrers
Das trifft auf viele Lehrer zu:
Müssen viele Erziehungsfehler ausbügeln,
die im Elternhaus begangen werden
59 %
Tragen große Verantwortung
59 %
Klagen viel über ihre berufliche Belastung
54 %
Haben einen sehr anstrengenden Beruf
52 %
Werden von Eltern oft hart kritisiert
41 %
Können sich nicht richtig durchsetzen
40 %
Können nur schlecht mit Kritik umgehen
40 %
Haben viel Freizeit
37 %
Müssen sich ständig auf neue Lehrpläne einstellen
34 %
Verdienen viel Geld
32 %
Sind oft nicht auf dem neuesten Stand
31 %
Bemühen sich um gerechte Noten
29 %
Können oft schlecht mit Kindern umgehen
29 %
Bekommen nicht die Anerkennung, die sie verdienen
27 %
Haben zu wenig Freiräume bei der Unterrichtsgestaltung
22 %
Bemühen sich, den Unterricht möglichst interessant zu gestalten
16 %
Bilden sich regelmäßig fort
13 %
Lieben ihren Beruf
12 %
Sind neuen Unterrichtsformen gegenüber aufgeschlossen
11%
Sind auch außerhalb der Schule für die Kinder da
7 %
Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre
Quelle: IfD-Umfrage 10035, © IfD-Allensbach
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Gesamtgruppe der Befragten sind durchschnittlich nur zwölf Prozent dieser
Ansicht. Mit anderen Worten: Lehrer sind besser als ihr Ruf. Wer selbst erfährt,
was sie täglich leisten, wird vom „Halbtagsjob“ nicht länger reden. Immer
mehr Bürger erkennen immerhin an, dass die Schule zu einem Austragungsort sozialer Missstände geworden ist. 59 Prozent konstatieren, dass Lehrer
heute mehr denn je Erziehungsfehler ausbügeln müssen, die im Elternhaus
begangen wurden. Die Umfrage zeigt also nicht nur, welche Klischees sich
hartnäckig halten, sie weckt zugleich Hoffnung auf einen mehr als überfälligen Imagewechsel.
Deutlich positiveres Erfahrungsbild:
Das Urteil über Engagement und Unterricht des Lehrers der eigenen Kinder
Trifft auf viele Lehrer zu
Trifft auf Lehrer des eigenen Kindes zu*
Bemüht sich um gerechte Noten
29 %
Bemüht sich, den Unterricht möglichst interessant zu gestalten
16 %
Bildet sich regelmäßig fort
13 %
Liebt seinen Beruf
12 %
Ist neuen Unterrichtsformen gegenüber aufgeschlossen
11 %
Ist auch außerhalb der Schule für die Kinder da
7 %
Klagt viel über berufliche Belastung
54 %
Kann sich nicht richtig durchsetzen
40 %
Kann nur schlecht mit Kritik umgehen
40 %
Hat viel Freizeit
37 %
Ist nicht auf dem neuesten Stand
31 %
Kann schlecht mit Kindern umgehen
29 %
* Aussagen über den Lehrer der eigenen Kinder, den man am besten kennt
53 %
44 %
27 %
42 %
29 %
30 %
23 %
20 %
26 %
19 %
10 %
12 %
Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre
Quelle: IfD-Umfrage 10035, © IfD-Allensbach
In der Projektarbeit der Stiftung steht die Allensbach-Untersuchung nicht
für sich allein. Sie flankiert den neu konzipierten „Deutschen Lehrerpreis –
Unterricht innovativ“, einen Wettbewerb, mit dem die Vodafone Stiftung
Deutschland und der Deutsche Philologenverband gemeinsam mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) kreative Lehrer unterstützen und
fördern wollen. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Lehrerberuf zu den wichtigsten und anspruchsvollsten Tätigkeiten in unserer Gesellschaft zählt – insbesondere in einer Zeit, in der sich Lehrer verstärkt mit der
Herausforderung konfrontiert sehen, immer größere Leistungsunterschiede
und soziale Disparitäten abzufedern. Um ihrem Beruf unter diesen zunehmend schwierigen Bedingungen mit Freude und Motivation nachgehen zu
können, brauchen Pädagogen nicht nur mehr individuelle Leistungsanreize,
sondern vor allem die öffentliche Anerkennung und Wertschätzung, die sie
verdienen.
Vodafone Stiftung Deutschland: Mitinitiator und finanzieller Träger
Aus diesem Grund hat die gemeinnützige Vodafone Stiftung Deutschland die
Trägerschaft für den „Deutschen Lehrerpreis“ übernommen. Ziel dieser Auszeichnung ist es, die öffentliche Wertschätzung der Lehrerarbeit zu erhöhen
und zugleich zur Verbreitung innovativer Unterrichtskonzepte beizutragen.
An dem neu entwickelten Wettbewerbskonzept begrüßt die Stiftung insbesondere, dass Lehrer nicht nur als Wissensvermittler geehrt werden sollen,
sondern als sozial engagierte Persönlichkeiten, die junge Menschen während einer wichtigen und prägenden Lebensphase mit besonderem Einsatz
fördern und unterstützen. Das Konzept verbindet die Bewertung nach pä­
dagogischen Kriterien („Lehrer stellen ihren innovativen Unterricht vor“) mit
dem persönlichen Urteil der Schüler, die ihrem engagierten „Lieblingslehrer“
Danke schön sagen wollen („Schüler zeichnen Lehrer aus“).
Die Vodafone Stiftung Deutschland ermöglicht diesen bundesweiten Wettbewerb als alleiniger finanzieller Träger und ist gemeinsam mit dem Deutschen
Philologenverband (DPhV) für die Organisation und Ausrichtung des Preises
verantwortlich. Die Kommunikation, Ausschreibung und Auszeichnung der
Lehrerinnen und Lehrer erfolgt gemeinschaftlich im Namen der Vodafone
Stiftung Deutschland, des DPhV und des Bundesverbandes der Deutschen
Industrie (BDI). Durch die Kooperation mit dem BDI, für die die Stiftung außer-
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ordentlich dankbar ist, erhofft sie sich unter anderem einen fruchtbaren Dialog zur Frage, wie die Schule die Schülerinnen und Schüler zukünftig besser
auf das Berufs­leben vorbereiten kann. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ und der
Deutschlandfunk unterstützen das Vorhaben als Kooperationspartner. Die
Verantwortung für die operative Durchführung des „Deutschen Lehrerpreises – Unterricht innovativ“ liegt bei den Projektleitern der Vodafone Stiftung
Deutschland und des DPhV.
„Der Lehrerpreis gründet auf der Einsicht, dass Lehrerschelte nicht weiterhilft, wenn
man es mit der Bildungsoffensive ernst meint. Nur ein funktionierendes Zusammenwirken
von ­Schule, Schülerschaft und Elternhaus schafft das Fundament für die Bildung und
­Entwicklung aus allen sozialen Schichten.“ Prof. Susanne Porsche, Mitglied im Beirat der Vodafone Stiftung Deutschland
www.lehrerpreis.de Der Wettbewerb „Deutscher Lehrerpreis – Unterricht
innovativ“ wird in zwei Kategorien vergeben: In der ersten Kategorie nomi­
nieren Schülerinnen und Schüler des Abschlussjahrganges 2008 oder 2009
an weiterführenden Schulen besonders engagierte Lehrer, die das verantwortungsvolle Miteinander von Schülern und Lehrern fördern und deren soziale
Kompetenz sie persönlich erlebt haben. Die zweite Kategorie wendet sich
direkt an die Lehrerinnen und Lehrer aus dem Sekundarbereich deutscher
Schulen, die fächerübergreifend unterrichten sowie im Team zusammen­
arbeiten und damit zur Zukunftsfähigkeit der Schulen in Deutschland beitragen. Die Gewinner werden im Rahmen einer festlichen Preisverleihung
am 30. November 2009 in Berlin geehrt. Für die besten Unterrichtskonzepte
sind Preise im Gesamtwert von 13.000 Euro ausgeschrieben – für Lehre der
Ehre gebührt.
Ein Stück des Weges
Seit 15 Jahren helfen Streetworker der Off Road Kids Stiftung ­Straßenkindern
in Deutschland. Eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die ein engagierter Social
Entrepreneur ins Leben gerufen hat und bis heute nachhaltig prägt.
Sie sind täglich unterwegs in Berlin, Dortmund, Hamburg und Köln: die Straßensozialarbeiter der Off Road Kids Stiftung. Und sie sind erfolgreich: Seit
1994 haben sie mehr als 1.500 Straßenkinder, Ausreißer und junge Obdachlose in Deutschland erfolgreich von der Straße geholt. Doch ohne namhafte
Partner aus der Wirtschaft wäre die einzige überregionale und bundesweit
arbeitende Hilfsorganisation für Straßenkinder in Deutschland nie entstanden. Bis heute erhält Off Road Kids keine staatlichen Gelder. Von Anfang an
als größter Förderer dabei: Die Vodafone Stiftung Deutschland half beim
Aufbau der Streetwork-Stationen und finanziert seither den größten Teil der
Betriebskosten.
„Zu essen gibt es bei Off Road Kids nichts“, stellt Julia Zahidi, Leiterin der Kölner Streetwork-Station von Off Road Kids, unmissverständlich klar: „Bei uns
gibt es nur Perspektiven.“ Straßenkinder, sollte man meinen, haben immer
Hunger. Daher leuchtet es auf den ersten Blick nicht ein, dass die erfahrene
Diplompädagogin kein großes Problem damit hat, dass ein Jugendlicher mit
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ziemlich leerem Magen beim Beratungsgespräch an ihrem Schreibtisch sitzt
und nur ein paar Gummibärchen ergattern kann. Doch Julia Zahidi weiß genau, was sie tut: „Die Straße ist doch keine gute Kinderstube. Wir finden für
jeden jungen Menschen eine gute Lösung. Warum sollten wir den Jugendlichen das Straßenleben durch Essensausgaben auch noch bequem machen?“
Das leuchtet ein.
Geschwindigkeit zählt, betont auch Jens Elberfeld. Er leitet die StreetworkStation von Off Road Kids in Dortmund: „Wenn wir für neue Ausreißer nicht
innerhalb der ersten Tage eine gute Lösung gefunden haben, dann sind die
Kids sofort in Köln oder Berlin.“ „Oder bei uns in Hamburg“, weiß seine Kollegin Benthe Müller aus der Hafenstadt zu berichten: „Und dann geht’s extrem
schnell bergab.“ Wenn Ausreißer zu Straßenkindern werden, weil ihnen nicht
schnell genug geholfen wird, dann führt sie der Weg nicht nur in die dunklen
Ecken deutscher Großstädte, dann stranden sie früher oder später alle in
Berlin – der unangefochtenen Hauptstadt der Straßenkinder.
Doch Ines Fornaçon, Leiterin der Berliner Streetwork-Station von Off Road Kids,
gibt vorsichtig Entwarnung: „Wir haben die Situation weitgehend im Griff. Solange neue Ausreißer meinen Kollegen in Köln, Dortmund und Hamburg nicht
durch die Lappen gehen, können wir hier in Berlin verhindern, dass aus den
restlichen Ausreißern überhaupt Straßenkinder werden.“ Schicksale wie das
von Christiane F. müsse es heute nicht mehr geben, freut sich Ines Fornaçon:
„Off Road Kids ist so erfolgreich, weil wir bundesweit arbeiten und Jugendliche
auch ins tiefste Bayern nach Hause begleiten können. Die würden sich nie­mals
alleine zu Gesprächen mit dem Jugendamt oder den Eltern trauen. Da müssen
wir mit“, sagt Benthe Müller, Leiterin der Hamburger Streetwork-Station.
Was Off Road Kids auch stark mache, sei einerseits das riesige Kooperationsnetz, das die Streetworker mit lokalen Hilfsorganisationen und Behörden
geknüpft haben, und andererseits die hart erarbeitete Berufserfahrung der
Streetworker. Vor allem aber sei die völlige Unabhängigkeit durch die spendenbasierte Finanzierung ein riesiger Vorteil, so Ines Fornaçon: „Die Flexibilität ist sagenhaft. Wir können einem jungen Menschen so intensiv helfen, wie
es nötig ist. Über die benötigten Zeitkontingente entscheiden wir selbst. So
können wir Ziele erreichen und pflegen nicht nur einen Zustand.“
Was Ines Fornaçon über Berlin berichtet, gelte auch für das restliche Bundesgebiet, erklärt der Gründer und Stiftungsvorstand von Off Road Kids
Markus Seidel: „Wir können durchaus davon sprechen, dass aus Ausreißern
in Deutschland keine Straßenkinder mehr werden müssen, solange unsere
Streetworker in Berlin, Dortmund, Hamburg und Köln ihre Arbeit tun können.“ Die hohe Vermittlungsgeschwindigkeit verhindere effektiv, dass neue
Jugendliche auf der Straße überhaupt Gruppen bilden oder aus Not in die Prostitution abrutschen könnten. Der Erfolg gibt dem Vorstandssprecher der Off
Road Kids Stiftung recht: Tatsächlich sind die großen Zusammenrottungen
junger Obdachloser vergangener Jahre etwa am Kölner Dom oder am Berliner
Alexanderplatz nicht mehr existent. Für Seidel ist dies allerdings nur Grund,
tief Luft zu holen: „Die mehr als 1.500 jungen Menschen, die wir seit 1994 von
der Straße geholt haben, sind zwar eine unübersehbare Dimension, aber wir
müssen unsere Straßensozialarbeit ständig anpassen und optimieren.“
Das Tagwerk eines Streetworkers sei normalerweise der Misserfolg. Immerhin
habe man es oft mit den kompliziertesten Jugendhilfefällen Deutschlands zu
tun. Und obendrein steige die Anzahl der gerade erst 18-Jährigen im Obdachlosenmilieu. Denen zu helfen, sei ungleich aufwendiger, da Jugendämter wegen der Volljährigkeit kaum mehr zur Hilfe verpflichtet werden könnten. Dennoch: Auch das ist kein Grund für Off Road Kids, nicht zu helfen. Schließlich
sei die Vermittlung tragfähiger Lebensperspektiven der Urgedanke gewesen,
blickt Markus Seidel 15 Jahre zurück auf die Gründung der Hilfsorganisation
für Straßenkinder in Deutschland. Heute freut sich Seidel über die langjährige
Treue der Förderer, die er längst als Partner betrachtet: „Große Partner wie
die Vodafone Stiftung Deutschland bilden nicht nur das finanzielle Rückgrat
von Off Road Kids. Sie sind wertvolle, unternehmerisch denkende Ratgeber.
Diese Kombination hilft uns enorm.“
Denn eine „pauschale Lösung schlechthin für alle Kinder“ gebe es nicht und
eine individuelle Herangehensweise habe sich als erfolgversprechender erwiesen, sagt auch Andrea Zinnenlauf von der Vodafone Stiftung Deutschland,
die das Projekt seit 1994 begleitet und damit nicht nur die erste Ansprechperson für Seidel ist, sondern auch unabhängige Beraterin – für ihn ein nicht zu
unterschätzender Erfolgsfaktor: „Unser gemeinsames Ziel ist die individuell
bestmögliche Zukunftsperspektive für jeden einzelnen betreuten jungen
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Menschen.“ Und das, so der unternehmerische Rat der Vodafone Stiftung
Deutschland, sei eben besser zu schaffen, wenn Off Road Kids viel näher
an den Kids dran ist: So kam es 2005 zur gemeinsamen Gründung neuer
Streetwork-Stationen in Dortmund, Hamburg und Köln.
Die größte Herausforderung für die Zukunft? „Eine langfristige finanzielle
Sicherung künftiger Jahresetats.“ Das werde noch ein hartes Stück Arbeit, ist
sich Markus Seidel sicher: „Gejammert wird bei uns nicht und Finanzkrisen
haben wir immer. So leicht erschreckt uns nichts mehr. Wir arbeiten weiter.“
Denn die Arbeit gehe seinen Streetworkern bestimmt nicht aus. Weshalb ihn
der Mut nicht verlasse? Weil es ungemein spannend sei, zu beweisen, dass
selbst Jugendliche mit völlig verkorksten Lebensläufen den Sprung auf den
ersten Arbeitsmarkt und damit in die Gesellschaft schaffen könnten: „Gerade
haben wieder zwei Jungs aus unseren Kinderheimen Abitur gemacht. Vor fünf
Jahren hätte darauf bei beiden niemand auch nur einen Pfifferling gewettet.
Unser Einsatz hat sich gelohnt.“
Die Off Road Kids Stiftung …
… wurde 1993 zunächst als Verein aus der Taufe gehoben und ist heute eine rechtlich selbst­
ständige, mildtätige Stiftung, die als freier Träger der Jugendhilfe staatlich anerkannt ist. Die
Stiftung betreibt Streetwork-Stationen in Berlin, Dortmund, Hamburg und Köln, verfügt über zwei
Kinderheime in Bad Dürrheim im Schwarzwald, berät Eltern von Ausreißern und hat gemeinsam
mit der Steinbeis-Hochschule Berlin das „Institut für Pädagogikmanagement“ (IfPM) gegründet. Dort können Erzieherinnen auch ohne Abitur berufsbegleitend einen Bachelor-­Abschluss
­erreichen.
Seit 1994 haben die Streetworker der Stiftung mehr als 1.500 junge Menschen erfolgreich von
der Straße geholt. Zurzeit zählt die Stiftung rund 30 Mitarbeiter, von denen nahezu alle im pädagogischen Bereich tätig sind. Die reinen Verwaltungskosten der Stiftung trägt ein Förderer.
Der Bundespräsident prämierte die Off Road Kids Stiftung gleich zweifach mit der Auszeichnung
„Ort im Land der Ideen“ – einerseits für die überregionale Straßensozialarbeit für Straßenkinder
in Deutschland und andererseits für die Gründung des Hochschulinstituts.
Infos im Internet: www.offroadkids.de und www.steinbeis-ifpm.de
„W ir wollen den Erfolg!“
Im Gespräch mit Markus Seidel (42), dem Gründer
und Vorstandssprecher der Off Road Kids Stiftung.
Für sein Engagement wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und vom Gründer
des Davoser Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab,
zum „Social Entrepreneur“ gekürt.
In diesem Jahr feiern Sie das 15-jährige
Als wir 1994 mit der Arbeit für Straßenkinder begonnen ­haben,
Bestehen der Off Road Kids Stiftung.
gab es erschreckend große Zusammenrottungen. Diese untrag­
Rückblickend: Wie hat sich die Lage
der StraSSenkinder in diesem Zeitraum
bare Situation haben wir zumindest an unseren Streetwork-
verändert?
Standorten Berlin, Hamburg, Dortmund und Köln auflösen kön-
nen. Das heißt auch, dass wir es heute in erster Linie mit Ausreißern zu tun haben, die neu auf der Straße ankommen und dank
unserer Hilfe gar nicht erst zu Straßenkindern werden. Viel größer geworden ist die Anzahl der gerade Volljährigen, die aus der
Jugendhilfe herausfallen und keinen Schulabschluss haben.
Wie reagieren Sie auf diese
Wir investieren ungeheuer viel Zeit und Energie, um diese jun-
­Entwicklung?
gen Leute in Schulen und Ausbildungsverhältnisse zu vermitteln – möglichst in ihrem ursprünglichen Heimatgebiet. Wir
wollen schließlich eine Integration am „Ersten Arbeitsmarkt“
erreichen. Der Aufwand lohnt sich.
Sie verbinden Sozialarbeit ganz stark
Ein Unternehmer möchte einen Gewinn erwirtschaften. Wir
mit unternehmerischem Denken –
auch – wenn auch nicht einen monetären Gewinn: Übersetzt
nicht ohne Grund sind Sie in diesem
Zusammen­hang 2005 mit dem Titel
auf die Sozialarbeit bedeutet dies, dass wir nicht des Betreu-
„Social Entrepreneur“ ausgezeichnet
ens wegen betreuen, sondern ein Ziel vor Augen haben. Der
worden. Warum dieser Zugang?
unternehmerische Gewinn unserer Stiftung definiert sich also
aus Qualität und Anzahl der erarbeiteten Perspektiven für die
Jugendlichen. Diese Denkweise ist sicherlich einer der Gründe,
weshalb Off Road Kids stark aus der Wirtschaft unterstützt wird.
Wir wollen den Erfolg.
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Ist es wahr, dass Off Road Kids für die
Ja, es ist unerträglich: Nüchtern betrachtet wäre es die Mindest-
doch sehr erfolgreiche StraSSen­
aufgabe der staatlichen Jugendhilfe, dafür zu sorgen, dass es in
sozialarbeit noch nie einen Cent vom
Staat bekommen hat?
Deutschland keine Straßenkinder gibt. Das tut der Staat aber
nicht. Dafür, dass wir diese Arbeit des Staates überhaupt tun dürfen, müssen wir ihm auch noch Geld bezahlen: Sozialabgaben,
Lohnsteuer und Mehrwertsteuer brauchen rund die Hälfte unserer Spendeneinnahmen auf. Das ist doch niemals Bürgerwille.
Mir liegt es schwer im Magen, wenn man jemandem Geld dafür
bezahlen muss, dass man seine Arbeit erledigen darf. Etwa die
Hälfte unseres Jahresetats verschwindet so in der Staatskasse.
Geht es Hilfsorganisationen in anderen
Die Antwort liegt auf dem Tisch, seit die renommierte Kanz-
Ländern besser?
lei Linklaters eine Studie zu diesem Thema publiziert hat: Ja,
Deutschland ist das Schlusslicht. Wir dürfen ja noch nicht einmal „Danke“ auf die Spendenbestätigungen schreiben. In England bekommen Hilfsorganisationen zu jeder Spende vom Staat
noch etwas dazu. Das nenne ich stilvolle Förderung. Wir sollten
uns das abschauen.
Kann man sagen, welchen volkswirt-
Durchaus. Wir haben inzwischen mehr als 1.500 junge Men-
schaftlichen Mehrwert eine Spende
schen von der Straße geholt und bei mindestens 1.100 verhin-
an Off Road Kids auslöst?
dert, dass sie jemals zu Sozialhilfeempfängern werden. Wenn
man bedenkt, dass bei vorsichtigster Berechnung ein Sozialhilfeempfänger während seines Lebens knapp eine Million Euro
an staatlichen Zuwendungen erhält, haben wir mit dem Einsatz von rund zwölf Millionen Euro an Spendengeldern einen
volkswirtschaftlichen Return in Höhe von etwa einer Milliarde
Euro erwirtschaftet. Das ist ein Spendenfaktor von 100. Jeder
gespendete Euro spart der Volkswirtschaft also mindestens 100
Euro an Sozialausgaben. Das lohnt sich für die jungen Menschen
und für die Gesellschaft insgesamt.
Chancen geben
Das Chancen-Programm der Vodafone Stiftung Deutschland ermöglicht jungen Menschen
mit Zuwanderungsgeschichte das Studium an einer privaten Hochschule.
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Die Zahlen sind erschreckend: 16 Prozent der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte verlassen die Schule ohne Abschluss, zwei Drittel landen auf der
Hauptschule, gerade mal elf Prozent machen Abitur. Nicht nur an den Schulen werden ihre Talente vergeudet. Auch an den Universitäten bleiben viele
Söhne und Töchter von Einwanderern auf der Strecke – wenn sie überhaupt
so weit kommen. Nur drei Prozent schaffen es auf die Universität, nach den
jüngsten Erhebungen des Hochschulinformationssystems in Hannover brechen 45 Prozent ihr Studium in den ersten drei Jahren wieder ab, doppelt
so viele wie unter deutschen Studenten. Oft fehlt es an Unterstützung im
Elternhaus, an Selbstvertrauen – und an Geld.
„Bildung ist der Schlüssel zur Integration. Aber in kaum einem anderen Land
ist die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft so groß
wie in Deutschland. Das müssen wir ändern“, sagt Staatsministerin Prof. Dr.
Maria Böhmer, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration. „Eine
der größten politischen Aufgaben der kommenden Jahre lautet deshalb: Bildungschancen eröffnen. Das gelingt nur, wenn Staat, Stiftungen, Verbände,
aber auch der Sport und die Wirtschaft an einem Strang ziehen. Die Vodafone
Stiftung Deutschland ist dabei ein wichtiger Partner.“
Seit 2006 ermöglicht das Chancen-Programm jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte das Studium an einer privaten Hochschule. Derzeit
werden 37 Stipendiaten gefördert. „Wir wollen zeigen, dass es junge, äußerst
begabte Menschen aus Einwandererfamilien gibt, die es nach oben schaffen“,
sagt Dr. Mark Speich, Geschäftsführer der Vodafone Stiftung Deutschland,
mittlerweile selbst Mentor einer Stipendiatin. „Sie sind für uns die Leuchttürme, Vorbilder für beispielhafte Karrieren, denen wir mit unserem Programm
den Weg ebnen möchten.“
Das Programm hat in Bündnis 90/Die Grünen-Chef Cem Özdemir und dem
Osnabrücker Migrationsforscher Professor Klaus Bade prominente Fürsprecher gefunden. Staatsministerin Maria Böhmer ist Schirmherrin des Projekts.
„Dank Vodafone Chancen können Jugendliche aus Zuwandererfamilien ihre
Potenziale voll entfalten“, so die Ministerin. „Das ist für sie eine Bereicherung
und für unser Land. Wir brauchen die besten Köpfe und wir brauchen Vorbilder. Hier sind sie.“
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Die Welt so richtig verändern
Nikolina Milunovic will intensiv leben und arbeiten. Die Kroatin
hat an der Zeppelin University in Friedrichshafen das ideale Umfeld
für sich gefunden.
Gerade ist Nikolina Milunovic mittendrin in dieser Welt, die einmal ihre Zu­kunft
sein könnte: der Politik. Aufmerksam steht sie in der letzten Reihe des Vortagssaals. Die Stuhlreihen im ersten Stock der Viadrina School of Governance
sind dicht besetzt. Heute Abend entwerfen die US-Experten John Hulsmann
und Wess Mitchell ihre Vision einer neuen Außenpolitik. Die erstaunlichen
Thesen des Duos, das seine Ideen für das Überleben der Vereinigten Staaten
im 21. Jahrhundert aus einem Mafia-Movie von Francis Ford Coppola ableitet,
entfachen kontroverse Diskussionen im Saal. Nikolina arrangiert noch rasch
Haribo und Cracker für den Empfang danach und schlüpft in ihr Büro zwei
Stockwerke weiter oben. „Spannend so was, nicht?“
Der Blick aus den Räumen der Atlantic Community geht hinaus auf die Berliner Wilhelmstraße. Behörden, Medien, Institutionen haben sich hier seit der
Wende angesiedelt. Durch das Stop and Go des Großstadtverkehrs hasten
Menschen in Anzug und Krawatte, die Aktentasche unterm Arm, das Handy am Ohr. Einen Block weiter tagt das politische Berlin in Parlament und
Kanzleramt. Seit ein paar Wochen macht Nikolina Milunovic ein Praktikum
bei der Atlantic Community, einem Internet-Think-Tank für Außenpolitik. Sie
durchstöbert Pressepublikationen aus aller Welt, fasst die wichtigsten Nachrichten online zusammen, redigiert Beiträge von Gastautoren oder packt bei
der Organisation von Veranstaltungen mit an. „Hier bekommt man ein differenziertes Bild vom großen Ganzen“, sagt Nikolina, „und einen tollen Einblick
in die Praxis der Politik.“ Jetzt aber ab in den Feierabend, auf ein Selters am
Bundespressestrand. Vielleicht hat Nikolina Milunovic' Begeisterung für Politik auch etwas mit
ihrer Herkunft zu tun. Oder besser: der Herkunft ihrer Eltern, die schon seit
Jahren getrennt sind – Kroatien. Wenn sie in den Ferien für ein, zwei Monate
zu den Verwandten südlich von Split fährt, taucht sie ein in eine Welt, die
erfahren hat, wie es sein kann, wenn die Politik nicht mehr weiterweiß.
Zwar tobt der Krieg vor allem durch den Nordosten des Landes, doch überall ist er spürbar. Die Väter von Cousins sind an der Front, Geschichten über
Milošević oft Gesprächsstoff und irgendwann ändern sich bei den Besuchen
die Busrouten, weil Kampfgebiete umfahren werden müssen. „Das hat mich
sehr für politische Konflikte sensibilisiert“, sagt Nikolina. „Wie schnell rutscht
man in schwarz-weiße Bilder.“ Schnelle Urteile, Stigmatisierung, entgleisende
Konflikte – muss das so sein?
Immer wieder hat sich Nikolina das gefragt. Auch später, als sie mit 15 für ein
Jahr in die USA geht. Die Spannungen in diesem Ghetto von Schwarzen und
Hispanics im Nordosten Philadelphias, die brennenden Autos, die Drogendealer auf den Straßen haben sich in ihr Gedächtnis eingegraben. Nikolina
wird Mitglied bei der Umweltorganisation „Down 2 Earth“, engagiert sich bei
einer Obdachloseninitiative.
Dann lässt der Wahlsieg George Bushs alle Hoffnungen der schwarzen Freunde zerplatzen. Über diese Umwege entdeckt Nikolina ihr Interesse an Afrika,
fragt sich: Warum müssen die Menschen dort so leben? In der zwölften Klasse
arbeitet sie für UNICEF, unterstützt Entwicklungsarbeit in Sambia.
Nikolina Milunovic birst vor Energie, auch wenn das ihre feine, leise Art auf
den ersten Blick vielleicht nicht vermuten lässt. Schon als Kind schickte ihre
Mutter sie zum Tanzen, zweimal die Woche. Hier konnte sie Energie ablassen,
sich weiterentwickeln und kam in ein deutsches Umfeld. „Das ist wichtig für
die Integration“, sagte die Mutter, die mit 19 nach Berlin gekommen war und
Jahre später ihre Tochter zur Welt gebracht hatte. Die Liebe zum Tanz hat
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Nikolina nie mehr verlassen, Ballett, Jazzdance, afrikanischer Tanz, Hip-Hop.
Auch in puncto Integration ging das Konzept der Mutter auf. „60 % deutsch,
40 % kroatisch – so fühle ich mich heute“, sagt die 20-Jährige. Ihre Wurzeln
liegen im Süden, in diesem Land der Lebensfreude, der Lässigkeit, des guten
Essens und dieser ungewöhnlichen Literatur, die sie gerade zu entdecken begonnen hat. Ihr Alltag und ihre „intellektuelle Heimat“ sind in Deutschland.
Hier findet sie einen Rahmen auch für die andere Energie, die in ihr steckt:
ihre Lernlust, Begeisterungsfähigkeit, ihre Klugheit. Nach der Grundschule
schickt ihre Mutter sie in die Schnellläuferklasse des Nordberliner HumboldtGymnasiums. „Das war eine Befreiung: Alle haben gerne und viel gelernt, ein
Instrument gespielt und viel Sport gemacht.“
Als sie nach dem Abitur die passende Uni für ihr Politikstudium sucht, stößt
Nikolina im Internet auf eine, die ihr ebenso zu entsprechen scheint, wie es
bisher die Schule tat: die Zeppelin University am Bodensee. Schräg, innovativ,
leistungsorientiert. Begeistert klickt sie sich durch Bilder von Professoren, die
beim Lesen Trampolin springen oder um den See schreiten, freut sich an den
ungewöhnlichen Fragen bei der Bewerbung. „Welchen Unterschied machen
Sie für die Welt aus?“ „Glauben Sie, dass es heute ähnlich bedeutende Irrtümer gibt wie ‚die Erde ist eine Scheibe‘?“ Nikolina: „Und die Studenten hatten
lauter schräge Lebensläufe.“
Nikolina strahlt und nippt an ihrem Selters. Zwei Semester sind um und immer
noch kann sie ihre Begeisterung kaum zügeln. Viel hat sie gelernt, tolle Freunde gefunden. Unterstützer sowieso. Wie Schuldirektor Hinrich Lühmann, den
Humanisten, oder Unigründer Stephan Jansen, der Systemtheoretiker Helmut Willke und Vodafone Stiftungsgeschäftsführer Mark Speich, ihr Mentor,
der ihr auch das Praktikum bei der Atlantic Community vermittelt hat. „Das
sind Menschen, die etwas verändern wollen“, sagt Nikolina. Und das möchte
sie eines Tages auch einmal, ob in der Entwicklungshilfe oder in der Politik –
sicher mit ganzer Energie.
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Vertrauen in die Zukunft
Jakob Henning ist ein ruhiger und bodenständiger Zeitgenosse.
Nur so meisterte er den mühevollen Weg aus Kasachstan an
die European Business School in Oestrich-Winkel.
Als Jakob klein war, brachte ihm die Oma sein erstes Gebet bei. Auf Deutsch.
„Ich bin klein, mein Herz ist rein.“ Russisch konnte die Großmutter kaum,
auch die Eltern sprachen Deutsch miteinander. Wie alle Deutschen hier in
Kasachstan. Die Sprache war das Band, das sie zusammenhielt. Es erinnerte
sie an das Land der Ahnen, aus dem diese im 18. Jahrhundert ausgewandert
waren an die Wolga, bis sie zwangsumgesiedelt und deportiert wurden in die
kargen Weiten Kasachstans. Ihre Namen verrieten noch immer ihre Herkunft.
Schlothauer, Friedrich, Irene oder eben Jakob. Nach dem Zerfall der Sowjetrepubliken flammte der Nationalismus über das Land. Russisch blieb Amtssprache, Kasachisch wurde Pflicht, Deutsch völlig an den Rand gedrängt. Mit
ihren Kindern und der Großmutter machten sich die Eltern auf in die Heimat
ihrer Vorfahren. Da war Jakob Henning sechseinhalb Jahre alt.
Der hochgewachsene junge Mann schlendert durch das Mittelschiff der
­Zionskirche. An den Wänden hängen meterhohe Schwarz-Weiß-Fotografien.
DDR-Opposition, Widerstand im Dritten Reich unter dem evangelischen Pfarrer Dietrich Bonhoeffer. Jakob Henning grinst. „Wir wohnen auch in einer Dietrich-Bonhoeffer-Straße.“ Jakob ist auf Stippvisite in der Hauptstadt. Weil ein
Termin den 22-Jährigen ohnehin hierher führt, schaut er sich gerne ein wenig
um. Jakob ist ein ruhiger, leiser Typ, ein wacher, angenehmer Erzähler, keiner,
der ausschaut, als würde er nachts ständig durch die Clubs ziehen. ­Warum
auch? Das ist nicht seine Welt. Glaube, Kirchengemeinschaft, Geschichte –
das ist ihm wichtig. Seit Jahren engagiert er sich in der Gemeinde. „Kennen Sie
das Bonhoeffer-Gedicht? ,Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten
wir getrost, was kommen mag ...‘ – so fühle ich mich auch.“
Geborgen im Glauben, sicher in der Familie – das hat Jakob Henning in seinem Leben Rückhalt gegeben. Auch in den schweren Zeiten. Wie 1993, als
er mit der Familie nach Deutschland kam. Am 13. August, dem Jahrestag des
Mauerbaus. Neun Monate in Auffanglagern, wie in Dranse, Mecklenburg-Vorpommern, zu zehnt in einem Zimmer mit anderen Aussiedlern. „Ungewohnt
und bedrückend“, sagt Jakob. Ein paar Tage nach der Ankunft wurde er eingeschult. Seine Mitschüler lachten über die Aussprache und den ungewohnten
Akzent des Jungen aus Kasachstan. Dort war er „der Deutsche“ gewesen. Hier
ist er plötzlich „der Russe“. „Dabei habe ich mich immer als Deutscher gefühlt,
als Deutscher mit besonderer Herkunft.“
Richtig heimisch fühlte sich Jakob lange nicht. Nach drei Jahren im mecklenburgischen Tutow, dem Ort mit der höchsten Arbeitslosenquote bundesweit, zieht die Familie zu Verwandten nach Nordrhein-Westfalen. Der Vater, in
Kasachstan Direktor eines Warenlagers, findet hier nach einer Umschulung
Arbeit. Auch die Mutter, eine „Ökonomistin“. Immer hat Jakob die Umzüge
als Chance für einen Neuanfang gesehen.
Endlich, in der Oberstufe, beginnt sich der kluge, angenehm unaufgeregte
Schüler wohlzufühlen. „Ich fand Freunde, der Unterricht machte Spaß, ich
wollte nicht mehr weg.“ Aber was tun mit dem Einser-Abitur? „Ich hätte mir
vieles vorstellen können.“ Sein Rektor und Lehrer rät ihm: „Versuch es mit
Betriebswirtschaft.“
Jakob Henning erinnert sich noch genau an die Zugfahrt an jenem heißen Apriltag 2006. Deutschland hatte in der Fußball-WM gerade das Viertelfinale gegen Argentinien gewonnen. Die Menschen lagen sich in den Armen, singend,
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tanzend. Es roch nach Bier und Schweiß. Fast als wollten sie ihn feiern, ihn,
der gerade mit einem Hochgefühl in den ICE gestiegen war. Glücklich wie ein
Kind, dass die Vorstellungsgespräche bei der renommierten European Business School (EBS) so phantastisch gelaufen waren. Was wäre es für ein Glück,
dort studieren zu können. Aber wie sollte er sich das leisten? Irgendwann fiel
sein Blick auf die Chancen-Broschüre der Vodafone Stiftung Deutschland, die
er als Schmierzettel mit in die Diskussionsrunden genommen hatte. „Ich sah,
dass es gar keine Handywerbung war, sondern eine Stipendien-Ausschreibung für Migrantenkinder. Da wusste ich, dass Gott mich liebt.“
Vor ein paar Wochen lag der Brief der EBS im Briefkasten. „Angenommen zum
Master-Programm.“ Jakob strahlt. „Jetzt kann ich nach dem Bachelor noch
weitermachen.“ Er genießt das Studium, mag seine klaren Strukturen, das
stramme Programm, die kleinen Gruppen, den persönlichen Kontakt zu den
Professoren. Durch das Stipendium kann er sich auf das Studium konzentrieren. Wie auch hätte er es sonst finanzieren sollen? Die ideelle Förderung
eröffnet ihm neue Perspektiven, Europaseminare, Rhetorik, Praktika.
Bis zum Semesterstart im Herbst schaut Jakob vom anderen Rheinufer auf
seine Business School. In der dritten Etage eines Glasbaus feilt er an Präsentationen, Exceltabellen, übernimmt Recherchen. Drei Monate dauert sein
Praktikum beim Pharmakonzern Boehringer Ingelheim. Das Team ist jung,
das Klima gut, die Arbeit in der Finanzabteilung gefällt ihm. Und, wer weiß,
vielleicht wird er mit dem EBS-Master in der Tasche selbst bald in ein Unternehmen wie dieses einsteigen. „Ein Großunternehmen würde mich reizen“,
sagt Jakob. „Hier bekommt man vielfältige Möglichkeiten und wird hervorragend gefördert.“
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P o r t r ät S u n a T u r h a n
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Zwei Herzen in einer Brust
Suna Turhan hat zwei kulturelle Identitäten, deutsch und türkisch.
Diversity macht ihr jedoch keine Angst, sondern spornt sie an, mehr
über sich zu lernen.
Suna Turhan dreht den Schlüssel herum, stößt die Altbautür auf und lacht.
„Willkommen im Ghetto.“ Behände eilt die 21-Jährige ihren Besuchern ­voran
die Stufen hinauf. Einige der alten Wandfliesen im Treppenhaus sind abgeschlagen. „Blöd, nicht?“, sagt Suna. „Die verkaufen die Diebe auf dem Flohmarkt.“ Im ersten Stock duftet es nach türkischem Reis mit Lamm, nach Trockenobst und Ingwertee mit Minze. Die Sonne flimmert durch das ­hellgrüne
Blätterdach der gewaltigen Linde vor dem Haus. Im Wohnzimmer mischen
sich Ölschinken und Familienfotos mit gerahmten Plakaten von August ­
Macke und Paul Gauguin. Herr Turhan bittet lächelnd in die schwere Sitzecke,
Frau Turhan schenkt einen Tee ein. „Suna war immer sehr fleißig und begabt.
Wir sind so stolz auf sie.“ Suna knufft ihre Mutter in die Seite. „Ach anne*.“
Berlin-Reinickendorf, weit oben im Norden der Stadt. Als der Vater vor 36
Jahren aus Ostanatolien nach Deutschland kam, stimmte die Mischung im
Kiez noch. Alt-Berliner, Handwerker, Kaufleute, Arbeiter, Einwandererfamilien.
Kein Ghetto wie Kreuzberg oder der harte Wedding. Doch irgendwann wurde
der Ton rauer. Armut, Elend, immer mehr Migrantenfamilien, in denen Ar­
beitslosigkeit die Regel und fließendes Deutsch die Ausnahme ist. Der Vater
schüttelt den Kopf, das kann er nicht verstehen. „Wir haben mit den Kindern
immer Deutsch gesprochen. Die Sprache ist doch entscheidend, damit sie
vorankommen.“ Gemeinsam besuchten sie die Elternabende in der Schule.
„Unsere Kinder sollten eine gute Bildung haben“, sagt die Mutter. Dass es
Suna bis an die Universität geschafft hat, an eine hervorragende Privathochschule zumal, macht sie ungeheuer glücklich.
Suna springt auf ihr Bett und legt die Beine im Schneidersitz zusammen.
Lässig fallen ihre braunen Locken über die Schultern, der petrolblaue H&MCardigan lässt ihr vergnügtes Lachen doppelt strahlen. „Tut mir leid, ich bin
halt nicht der typische Kopftuchfall.“ Türkisch oder deutsch? In solchen Kategorien hat sie nie gedacht. Sie wuchs hier auf wie andere auch, als Berlinerin,
Deutsche, deren Eltern aus der Türkei kamen. Die mit deutschen Freunden auf
der Straße kickte, sang und tanzte, Zirkus und Theater spielte. Nach der Schule schnell die Hausaufgaben, dann raus auf den Spielplatz im Hinterhof.
Suna reißt die Arme in die Luft. „Boa, das war meine Welt, mein Reich.“ Eine,
die in der Schule von klein auf super Noten hatte, kann sich das locker leisten.
Später gibt sie Nachhilfe für jene, die es nicht so leicht haben. Wie jene türkische Freundin mit sieben Geschwistern, die in der kleinen Wohnung kaum
eine ruhige Minute zum Lernen findet.
Dass es bei ihr anders war, hat Suna immer von Herzen zu schätzen gewusst.
Da sind die Eltern, die ihr alle Freiheiten lassen, mit den Kindern auf Reisen
gehen, ihnen Rückhalt geben. Mit ihrer Schwester teilt sie ein kleines, liebevoll eingerichtetes Zimmer. Kiefernmöbel, Computer, Urlaubsfotos. Ein Ort,
um zu lernen, Musik zu hören, sich zurückzuziehen und sei es nur auf ein
paar Quadratmetern. Da ist die große Schwester, ihr Vorbild. Sie macht vor ihr
Abitur und geht als Hotelfachfrau nach Amerika. Und da ist Ingrid Göbel, die
deutsche Nachbarin und Freundin der Familie, die mit den Kindern von klein
auf deutsch spricht, bei den Hausaufgaben hilft, mit ihnen spazieren geht
und Weihnachten und Ostern feiert, 19 Jahre lang. „Sie ist meine deutsche
Mama“, sagt Suna.
Die Heimat ihrer Eltern kennt Suna Turhan nur aus den Ferien. Bunte Urlaubsfotos hängen über ihrem Schreibtisch. „Total cool“ fand sie ihren ersten
Besuch in Izmir und dem 300-Einwohner-Dorf Mus Varto weit im Osten des
Landes. Einerseits ein „Kulturclash“ mit Plumpsklo, Kühen, Wasser holen vom
Brunnen, Schafe schlachten, andererseits diese voraussetzungslose Wärme
der Familie. „Obwohl sie dich noch nie gesehen haben, bist du als Verwandter
einfach ihr Ein und Alles. Auch wenn du kein Zazaisch sprichst.** “
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P o r t r ät S u n a T u r h a n
B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Wie sehr diese Wurzeln Teil ihrer Identität sind, wird Suna erst im Laufe der Zeit
klar. Als ihre beste Freundin erfährt, dass Suna Alevitin ist, zieht sich die Sunnitin geschockt von ihr zurück. Völlig unverständlich für die weltoffene Suna,
für die Religion immer Privatsache war. „Letztlich stand ich immer irgendwo
zwischen den Kulturen.“ Für die Türken im Kiez ist das quirlige Mädchen eine
Deutsche, die zu schlecht türkisch spricht und zu gut in der Schule ist, um
eine von ihnen zu sein. Die Deutschen sagen in der zehnten Klasse, als sie
Kandidaten für ein Begabtenstipendium für Schüler mit Migrationshintergrund suchten: „Nehmen wir doch Suna.“ „Da hab ich mich schon komisch
gefühlt.“
Bis heute treibt sie das Leben zwischen den Kulturen um. Deshalb sagt sie
offensiv: „Meine Eltern wurden zwangsverheiratet. Es ist mir wichtig, damit
offen umzugehen.“ Deshalb setzt sie sich aktiv mit dem Verständnis zwischen
Okzident und Orient auseinander. In den Semesterferien besucht sie ein Seminar über das Bild des Islam in den westlichen Medien.
Gerne würde Suna Turhan Journalistin werden, Fernsehmoderatorin vielleicht
oder Dokumentarfilmerin. Nach dem Abitur entschied sie sich für ein Studium
der Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaften, wollte unbedingt
raus aus Berlin, um ihren Horizont zu erweitern. Ohne das Stipendium der
Vodafone Stiftung Deutschland wäre es am Geld gescheitert. „Die JacobsUniversität hätte ich mir ebenso wenig leisten können wie ein Studium außer­
halb Berlins“, sagt Suna. „Gerade diese Uni hat mich so begeistert, weil dort
die ganze Welt versammelt ist.“
Suna schlüpft in ihre Ballerinas und wirft die Jacke über. Bald geht es zurück
nach Bremen. Jetzt will sie noch mal durch ihre Stadt ziehen. Um 21 Uhr trifft
sie die Mit-Stipendiaten auf eine Currywurst am Ostbahnhof. „Bis morgen“,
ruft Suna, wirft ihren Eltern einen Kussmund zu und eilt singend die Treppen
hinunter, hinaus ins nächtliche Berlin.
* türkisch für Mama
** Regionalsprache in Ostanatolien
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P o r t r ät N aw i d A l i - A b b a s s i
B i l d u n g , I n t eg r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
We are the world
Nawid Ali-Abbassi hat ehrgeizige Lebensziele. Der Berliner mit
iranischen Wurzeln will die Welt besser machen. Durch persönliches
Engagement an den Schalthebeln der Wirtschaft.
Nawid Ali-Abbassi ist einer, dem man sofort seine Handtasche anvertrauen
würde. Weiche Züge, zuvorkommendes Lächeln, höflich bis in die Spitzen.
Ein modischer junger Mann, die Haare leicht gegelt, lässiges Hemd, Jeans.
Kein Wunder, dass er bei Procter & Gamble überzeugte. Seit ein paar Wochen
arbeitet Nawid in der Schweizer Niederlassung des Konzerns, im Marketing.
Es ist sein erster Job. Nawid konnte nicht nur mit seinem Auftreten punkten,
sondern auch mit einer erstklassigen Ausbildung: einem Bachelor an der
European Business School (EBS) in Oestrich-Winkel, noch dazu mit einem
Begabtenstipendium.
Ein Samstag im Juni. In dem kleinen Café am Kurfürstendamm ist nicht viel
los. Nawid nimmt einen kleinen Schluck Tee und kneift leicht die Augen zusammen. Die Abendsonne blendet. Leise rauscht der Verkehr vorbei. Lange
hat Nawid dahin wollen: nach ganz oben, in die Welt der Konzerne, der Macht
und des Geldes. „Mit 50 will ich zu den zehn reichsten Leuten des Landes
zählen“, schrieb er noch augenzwinkernd ins Abiturbuch. Heute ist ihm längst
anderes wichtig: Verantwortung übernehmen. Das Soziale in den Mittelpunkt
rücken. Die Welt ein kleines bisschen besser machen. Und das hat mit seiner
wechselvollen Geschichte, seiner Herkunft und seinem Glauben zu tun.
30 Jahre ist es jetzt her, dass sein Vater zum Architekturstudium aus dem
Iran nach Berlin kam. Im Heimaturlaub lernte er seine Mutter kennen, eine
Lehrerin, die ihn bald heiratete und nach Deutschland folgte. Es war in jenen
stürmischen Wochen, in denen Chomeini im Iran das Ruder an sich riss. Die
Eltern entschieden: Wir gehen nicht zurück. Nawid grinst. „Ich bin glücklich
darüber. Hier hatte ich ein Stipendium, im Iran hätte ich nicht mal studieren
dürfen.“
Eine Rückkehr in den Iran war für die Eltern schon wegen ihres Glaubens
undenkbar: Sie sind Bahai eine Glaubensgemeinschaft, die im Iran bis heute
verfolgt wird. Der Bahai Glaube ist ein moderner, sozial und humanitär orientierter, monotheistischer Glaube, der von der Einheit der Religionen und
der Einheit der Menschheit überzeugt ist. Seine Wurzeln gehen bis ins 19.
Jahrhundert zurück, auf den aus Persien stammenden Bahá’u’lláh. Dieser
Glaube hat Nawid geprägt, die mit ihm verbundene Bildungsorientierung, seine Weltoffenheit, die individuelle Suche nach Wahrheit und Barmherzigkeit.
Nawid: „Bahai betrachten den Menschen als Bergwerk, reich an Edelsteinen,
die man zu Tage fördern muss.“ Von klein auf besucht er die Kinderklasse
der Bahai, eine Art Ethikunterricht für den Nachwuchs, engagiert sich in den
Gemeinden, die auch hierzulande wie Pilze aus dem Boden wachsen.
Das hat ihn stark gemacht, sagt er, auch weil er über die Bahai viele deutsche
Freunde fand. Ohnehin achteten seine Eltern von Anfang an darauf, dass er
aufwächst wie die einheimischen Kinder auch. Kinderturnen, Kita, Schulhort,
Montessoriunterricht. In der Oberschule blieb die Faszination der coolen
harten Jungs, die dieses Spiel von Provokation und Stärke spielten, wie so
viele im Berliner Stadtteil Moabit, mit seinem Ausländeranteil von knapp 30
Prozent, nur eine Episode in seinem Leben. „Aber es hat mich nachdenklich
gemacht, dass da viele wirklich kluge Leute dabei waren, die später nichts
aus sich gemacht haben.“ Nawid wusste: Das will ich nicht. Ich will ganz nach
oben. Dann machte er ein freiwilliges soziales Jahr als Zivilersatzdienst. Im
Peoples Theater. „Es war das größte Glück, das ich je hatte.“
Es ist ein Sprung in eine andere Welt, eine neue Perspektive. Die Aufgabe:
Gewaltprävention an Schulen im Brennpunktgebiet Offenbach. Die Welt ist
ihm nicht unvertraut, der Blick auf sie schon. Mit 15 anderen Jugendlichen
lebt er in einer kleinen Wohngemeinschaft, jeden Tag müssen sie aufs Neue
die Regeln für das Zusammenleben aushandeln, müssen sich einigen, abgrenzen, gemeinsam einen Weg finden. Tagsüber gehen sie in die Klassen und
inszenieren mit den Kids kritische Theaterstücke zu Themen, die sie selbst
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P o r t r ät N aw i d A l i - A b b a s s i
B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
einmal umgetrieben haben. Cool sein oder Freunde im Stich lassen. Lästern
oder Zivilcourage. Sie helfen den Schülern, sich damit auseinanderzusetzen,
in die Rolle des Gegenübers zu schlüpfen, Lösungen zu finden. Wie fühlt sich
der andere, wenn ich ihn niedermache? Wie kommt er da raus, wenn er als
uncool verschrien ist? Eine unglaublich intensive Zeit und ein Prozess, der
zunehmend beginnt, Nawid selbst gehörig umzukrempeln. „Ich habe noch
nie so viel über mein Leben und meine Werte nachgedacht, alles in Frage gestellt“, sagt der 23-Jährige. „Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden.“ Ein
Mensch, der nach neuen Blickwinkeln dürstet und neugierig fragt: Welches
Paradigma steht dahinter, was kann ich daraus lernen, statt vorschnell zu
urteilen? „Viel Geld, ein dickes Auto, Ansehen, das war plötzlich nicht mehr
so wichtig für mich.“
In dem kleinen Zimmer zum Hinterhof liegt eine Stille in der Luft, die sich
weich wie Watte anfühlt. 16 Menschen haben es sich auf Sofas, Stühlen und
auf dem Boden bequem gemacht. Leise beginnen zwei Frauen zu singen.
Dann beginnt der Vortrag. Es geht um die Gründe für die Finanzkrise und
Moral in der Wirtschaft, um Motoren der Ökonomie, die Verführung des Geldes, gierige Manager und die Frage: Wie verhalte ich mich eigentlich selbst
in diesem System, egal ob als Konsument bei Kaisers, Aldi oder Joop? Fragen
wie diese treiben die Bahai und ihre Freunde um, die hier versammelt sind,
deshalb kommen sie zusammen, um ihre Position zu finden, jeder für sich.
Nawid ist so oft es geht dabei, mal hier in Berlin, mal in Wiesbaden, wo er
bis zum Sommer studiert hat. Er hat seinen Weg gefunden und weiß, wie es
hilft, weiter zu hinterfragen, im kritischen Gespräch zu bleiben. Gerade als
Absolvent der Managerschmiede EBS.
Oft wird er gefragt: Wie verträgt sich das – soziales und nachhaltiges, ethisches
Handeln ganz oben auf die Agenda setzen und in der knallharten Wirtschafts­
elite mitmischen? Die Antwort: „Ich will gerade deshalb an die Schaltstellen
der Wirtschaft, denn das ist der Ort, an dem Veränderung beginnt.“ Wo könnte
er dafür ein besseres Handwerkszeug bekommen als an der EBS?
Viele deutsche Freunde
Im Gespräch mit Cem Özdemir,
Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Özdemir, Sie sind als Sohn
Na ja, Vorzeigemigrant ... Sagen wir, mein Weg war für die dama-
­t ürkischer Einwanderer aus ­Anato­lien
ligen Verhältnisse in Schwaben eher ungewöhnlich. Es kamen
aufgewachsen, ohne Bücherwand und
Brockhaus im Regal. Heute sind Sie der
mehrere Faktoren zusammen. Erstens haben mich einige Lehrer
deutsch-türkische Vorzeige­migrant
ziemlich motiviert und mein Selbstbewusstsein gestärkt. Dar-
schlechthin. Wie haben Sie das geschafft?
über hinaus erkannten meine Eltern sehr früh, dass ich es aus
eigener Kraft nicht schaffe. In der fünften Klasse, in der Hauptschule, besorgten sie mir eine Nachhilfelehrerin. Sie hat mir
mein erstes Buch geschenkt. Schließlich schaffte ich es auf die
Realschule. Nicht zu vergessen, ich hatte immer viele deutsche
Freunde und habe viel Zeit mit ihnen verbracht. Heute frage ich
mich öfters: Wo sind die Leute türkischer Herkunft geblieben,
mit denen ich aufgewachsen bin? Einige waren mir haushoch
überlegen. Aber sie hatten vielleicht nicht dasselbe Glück mit
dem Elternhaus und der Schule, oder insgesamt eine widrige
Umgebung – und so fehlte ihnen vielleicht an der ein oder anderen Weggabelung die Unterstützung, die ich hatte.
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Viel Potenzial liegt also brach?
Absolut. Das ist humanitär eine Tragödie und für die Gesellschaft
ein Debakel. Welches Kreativpotenzial entgeht uns da? Es ist unglaublich, dass sich unsere Gesellschaft diesen Luxus leistet.
41 Prozent der Deutschen mit Migra­
Weil sich nichts geändert hat. Ich kenne Hebammen, die schon
tionshintergrund bleiben ohne beruf-
im Kreißsaal Wetten abschließen, welches Neugeborene auf
lichen Bildungsabschluss, nur zehn
Prozent machen Abitur, gerade mal drei
welcher Schule landet. Was in der Wiege beginnt, setzt sich in
Prozent schaffen es an die Universität.
Kindergarten und Schule fort: soziale Ungleichheit. In keinem
Wieso?
anderen OECD-Land bestimmt die Herkunft so sehr darüber, wie
es anschließend weitergeht. Das ist ein unerträglicher Zustand,
der niemandem eine ruhige Nacht lassen sollte.
Mit dem Projekt „Vodafone Chancen“
Ich finde das Projekt beispielhaft. Viele junge Menschen mit
will die Vodafone Stiftung Deutschland
Migrationshintergrund müssen auf dem Weg zum Abitur mehr
Einwandererkindern den Hochschulzugang erleichtern. 37 Studenten an
Hürden überwinden als andere. Oft scheuen sie anschließend
hervorragenden Privathochschulen
den Weg an die Universität oder an eine teuere Privathochschu-
werden gefördert. Sie sind Fürsprecher
des Programms. Warum?
le. Hier setzt das Programm an. Auch wenn es zwei berechtigte
Kritikpunkte gibt. Der eine lautet, es sei nur ein Tropfen auf den
heißen Stein. Der zweite fragt: Was ist mit denen, die schon vor
dem Abitur herausgekickt worden sind? Da sage ich: Stimmt,
aber rechtfertigt das, diesen 37 diese Chance zu verweigern?
Natürlich müssen wir fragen: Wo sind die anderen Einrichtungen und Organisationen, die sich der anderen Kinder annehmen?
Überdies könnte man die Förderung auf staatliche Universitäten
ausweiten.
Was kann das Projekt bewirken?
Das Vodafone Chancen-Programm hilft jungen Menschen, die
sonst ungleich größere Schwierigkeiten hätten, ihren Weg zu gehen. Und glauben Sie mir, diese Kids werden der Gesellschaft eines Tages viel zurückgeben. Vielleicht werden sie Produkte erfinden, die uns helfen, aus der Wirtschaftskrise herauszukommen.
Da ist jeder Cent gut angelegt. Natürlich müssen wir uns über eines im Klaren sein: Selbst das beste Engagement von Stiftungen
ersetzt nicht die Bildungspolitik des Staates. Es kann höchstens
ergänzen, aber niemals auffangen, was Staat und Gesellschaft
nicht leisten. Hier macht die Stiftung eine tolle Arbeit.
„D iese Leute sind hochintelligent,
­leistungsbereit und wollen Verantwortung
für die Gemeinschaft übernehmen.“
Bei den Jahrestreffen nehmen Sie an
Ja, und das sind alles andere als Pflichttermine. Ich profitiere
den Abendessen mit den ­Stipendiaten
selbst viel davon, weil ich junge Leute kennenlerne, die mich
teil und lernen die Studenten
­persönlich kennen ...
jedes Mal vor Neid erblassen lassen. Diese Menschen haben
keine Inselbegabungen, sondern sind zum Teil erstaunliche Allrounder. Sprachlich und naturwissenschaftlich hervorragend
und obendrein in Sport klasse. Als ob das nicht reichen würde,
kümmern sie sich in ihrer Freizeit um ihre Geschwister, sind aktiv
in sozialen Einrichtungen oder engagieren sich für alte und behinderte Menschen. Es sind Leute, bei denen man denkt: Wenn
sie unsere Zukunft repräsentieren, muss man sich um unser
Land keine Sorgen machen.
Also keine leistungsfixierten
Ganz im Gegenteil. Und das ist bemerkenswert in Zeiten, in de-
Karrieristen?
nen wir über Master, Bachelor und verkürzte Schulzeit debattieren, in denen alle nur noch Stress haben und selbst Jugendliche Terminkalender führen. Diese Leute sind hochintelligent,
leistungsbereit und wollen Verantwortung für die Gemeinschaft
übernehmen, schon weil sie ihre eigene Herkunft nicht vergessen haben. Sie fragen: Wie kann ich das zurückgeben, was mir
mitgegeben wurde? Wie kann ich mich um die kümmern, die auf
der Strecke geblieben sind? Leider gibt es bisher wenige, die so
weit kommen wie diese Studenten. Aber die, die es schaffen,
sind richtig gut. Ich würde sie sofort einstellen.
Was muss geschehen, damit es mehr
Erstens: Wir müssen die frühkindliche Bildung – nicht etwa Be-
junge Menschen mit Migrationshinter-
treuung – ausbauen. Alle Kinder sollten ab drei Jahren in den
grund schaffen?
Kindergarten gehen, denn dort geht die Schere auseinander.
Zumindest für das letzte Kitajahr sollten wir ganz ideologiefrei
über die Kitapflicht nachdenken. Entscheidend ist das Kindeswohl. Diese Zeit muss genutzt werden, um Defizite aufzuarbeiten – Sprache, Sozialverhalten und so weiter. Dafür brauchen wir
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
gut qualifizierte und angemessen bezahlte Erzieher. Zweitens
plädiere ich für Ganztagsschulen. Kein Kind darf die Schule verlassen, ohne seine Hausaufgaben gemacht zu haben. Ob ich den
Brockhaus zu Hause stehen habe oder nicht, spielt keine Rolle
mehr. Drittens muss die schulische Selektion der Kinder nach
der vierten Klasse wegfallen. Wenn sich so früh entscheidet,
wohin die Reise geht, haben nicht alle die gleichen Chancen.
Bei vielen Mittelschichtseltern ­werden
Die Sorgen der Mittelschichtsfamilien sind legitim. Aufgabe des
sie auf wenig Begeisterung stoSSen.
Staates ist es, beide Interessen zusammenzubringen, indem
Sie streben aus Sorge um die Bildung
ihrer Kinder seit den PISA-Debatten erst
er für eine gute Mischung der Schüler und für hervorragen-
recht aufs Gymnasium ...
de Unterrichtsqualität sorgt. Deshalb müssen unsere Kinder
nicht nur länger gemeinsam lernen, sondern auch individuell
gefördert werden. Damit die Kinder einer alleinerziehenden
Krankenschwester, eines türkischstämmigen Arbeiters und einer Oberärztin dieselbe Schule besuchen und vielleicht auch
Freunde werden. Davon sind wir noch weit entfernt. De facto
lebt im dreigliedrigen Schulsystem die alte ständische Gesellschaft Europas fort.
Welche Rolle spielt Bildung für die
Die entscheidende Rolle. Sie bestimmt darüber, welche Chan-
Integration?
cen meine Kinder später in der Gesellschaft haben werden.
Wenn wir wollen, dass es endlich mehr Kinder mit Migrationshintergrund bis zum Abitur schaffen, ein Studium wagen und
später in guten Berufen unsere Gesellschaft mitgestalten,
müssen wir so früh wie möglich ihre Eltern mit ins Boot holen. Viele von ihnen sind in der Schule gescheitert und fühlen
sich überfordert. Oft kommen sie vom Land, haben vielleicht
nur fünf Jahre eine Schule besucht. Diesen Eltern müssen wir
klarmachen, wie wichtig Bildung ist. Über Elterncafés, Medien,
Konsulate oder Vereine. Alles kann der Staat nicht richten. Ich
wünsche mir, dass türkische Väter eines Tages im Café nicht
nur darüber sprechen, welche Fußballmannschaft Pokalsieger
wird, sondern auch, auf welche Schule ihre Kinder gehen. Und
dass sie, wenn einer sagt: „Ist mir egal, ob mein Sohn auf die
Hauptschule geht oder aufs Gymnasium“, ihm empört ins Wort
fallen: „Was bist du denn für einer?“
G a s t b e i t r ag v o n P ROF. D r . BARBARA IS C HINGER
Wie schafft man erfolgreiche
Lehr- und Lernumgebungen?
Erste Ergebnisse der Talis-Studie.
Die Entwicklung der neuen OECD-TALIS-Studie (Teaching and Learning International Survey) ist ein wesentlicher Beitrag zur OECD-Forschung im Bildungsbereich. Nie zuvor hatten wir die Möglichkeit, derartige Einblicke in
Lehr- und Lernumgebungen in Schulen und deren Unterschiede zwischen
und innerhalb einzelner Länder zu gewinnen.
Einerseits wissen wir heute sehr viel über die jeweilige Bildungspolitik einzelner Regierungen, andererseits erhalten wir regelmäßig aus der PISA-Studie der OECD Momentaufnahmen zu den konkreten Erfolgen auf Basis des
Wissens, das sich Schüler und Studenten erwerben. TALIS bietet uns nun
erstmalig Einblick in die Umsetzung der jeweiligen Bildungspolitik aus Sicht
der Menschen, die in der ersten Reihe des Unterrichts stehen – Lehrer und
Schulleiter. Die Berichte der Lehrer bieten natürlich nur eine Perspektive von
Unterrichtsrealität, eine Perspektive, die wir in Bezug zu anderen Datenquellen setzen müssen, um ein vollständiges Bild erhalten zu können. Die Sichtweise der Lehrer ist jedoch sehr bedeutungsvoll, weil die besten politischen
Absichten nur dann Früchte tragen können, wenn sie wirkungsvoll umgesetzt
werden. Die Schlussfolgerung lautet, dass die Qualität eines Bildungssystems
nicht besser als die Qualität der Lehrer sein kann.
23 Länder1 haben in der TALIS-Studie mitgewirkt und Pionierarbeit geleistet
sowie wertvolle Einblicke in die Bedingungen von Lehren und Lernen, die
1 Australien, Belgien (Fl.), Brasilien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Irland, Island, Italien, Korea, Litauen, Malaysia,
Malta, Mexiko, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, Türkei und
Ungarn.
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Ausbildung und fachliche Weiterentwicklung von Lehrern sowie in die Beurteilung der Lehrer und deren Schulleitungen geliefert. In diesem Beitrag
möchte ich einige der Schlüsselergebnisse der TALIS-Studie und die daraus
abgeleiteten Schlussfolgerungen näher betrachten. Deutschland hat zwar
an der ersten TALIS-Runde nicht teilgenommen, besitzt aber die Möglichkeit,
sich in einer späteren Phase noch zu beteiligen.
Im Durchschnitt der 23 Länder (siehe1 ) arbeitet mehr als eine von drei Lehrkräften in einer Schule, deren Schulleitung berichtet, an der Schule herrsche
ein Mangel an qualifizierten Lehrern. Mängel an der Ausstattung und unterrichtlicher Unterstützung seien weitere Hindernisse für einen erfolgreichen Unterricht. Hinzu kommen schwere disziplinarische Probleme in vielen
Ländern. Überdies beklagen im Durchschnitt 26 Prozent der Schulleitungen
Absentismus von Lehrkräften und 24 Prozent ungenügende pädagogische
Voraussetzungen zum Unterrichten als Beeinträchtigung erfolgreichen Lernens in ihren Schulen.
Aber TALIS liefert auch sehr ermutigende Ergebnisse. Nicht nur signalisieren
die positiven Ergebnisse einiger Länder den übrigen, dass die Herausforderungen erfolgreich bewältigt werden können, sondern sie geben auch Hinweise,
dass Lehrer die Herausforderungen aktiv annehmen. So ist in den meisten
Ländern die große Mehrheit der Lehrer mit ihrer Stelle zufrieden und der
Ansicht, dass sie für die Ausbildung ihrer Schüler etwas Bedeutendes beitragen. Lehrer investieren Zeit und Geld in ihre berufliche Fortbildung. Damit
erhalten sie ein größeres Repertoire an pädagogischen Strategien, die sie im
Unterricht einsetzen können.
G a s t b e i t r ag v o n P ROF. D r . BARBARA IS C HINGER
Was lernen wir aus den Ergebnissen und was können wir mit ihnen anfan­­
gen? In erster Linie weist die TALIS-Studie darauf hin, dass eine zielgerichtete
­berufliche Weiterbildung ein wesentlicher Ansatz für Verbesserungen ist.
Die zielgerichtete Fortbildung kann eine wichtige Determinante für Verbesserungen sein. Die Daten von TALIS belegen: Die Fortbildung von Lehrkräften
geht Hand in Hand mit der Beherrschung eines breiten Methodenrepertoires
im Unterricht – obwohl nicht klar ist, in welchem Ausmaß die professionelle Weiterbildung die Übernahme von neuen Techniken auslöst oder darauf
antwortet. Die Daten zeigen auch einen engen Zusammenhang auf zwischen
Weiterbildung auf der einen Seite und einem positiven Schulklima, pädagogischen Weltbildern (beliefs), Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften
und Zufriedenheit im Beruf auf der anderen Seite. Allerdings benötigen die
meisten Schulsysteme ein deutlich besseres Zusammenspiel sowohl von
Kosten und Nutzen als auch von Angebot und Nachfrage:
Relativ wenige Lehrkräfte nehmen an Maßnahmen teil, die sie eigentlich
für ihre Arbeit als besonders nützlich einschätzen, nämlich Qualifikationsprogramme und individuelle und kooperative Forschungsprojekte. Dies gilt
auch für jene, die bereit sind, hierfür erhebliche Zeit- und Geldressourcen
einzusetzen, und die von der Effektivität der Maßnahmen überzeugt sind.
Umgekehrt sind relativ hohe Teilnahmequoten bei Maßnahmen festzustellen, die als weniger effektiv eingeschätzt werden, wie einmalige Konferenzen
und Seminare.
Lehrkräfte, die mehr professionelle Fortbildung wünschen, wurden gefragt,
was sie von einer Realisierung abhält. Knapp die Hälfte gab als Grund an,
es gäbe Konflikte mit der Arbeitsbelastung. Aber genauso viele benannten
den Mangel an passenden Angeboten als Hinderungsgrund. Diese Lehrkräfte
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
nahmen auch weniger an Fortbildungsaktivitäten teil. Diejenigen, die Probleme mit der Arbeitszeit angaben, unternahmen stärkere Anstrengungen zur
professionellen Weiterbildung als der Durchschnitt der Lehrkräfte, häufig in
zeitaufwendigen Qualifikationskursen. Die Tatsache, dass Lehrkräfte durchgehend berichten, sie sähen den größten Bedarf an solchen Fortbildungen,
die ihre Fähigkeiten bezüglich des Umgangs mit Heterogenität, dem Schülerverhalten und dem Gebrauch von Informations- und Kommunikations­
technologien verbessern, zeigt eindeutig die Richtung an, wo zukünftige
­Fortbildungsanstrengungen zu fokussieren sind. Zur Ermittlung der konkreten Bedarfe sollten systematische Abfragen vorgenommen werden.
Die Tatsache, dass ein erheblicher Anteil an Lehrkräften bereit ist, die Kosten
ihrer professionellen Weiterbildung selber zu tragen, ist ein Beleg dafür, dass
viele bereit sind, einen eigenen Beitrag zur Entwicklung ihrer Karriere und
­Professionalität zu leisten. Bemerkenswert ist, dass gerade die Lehrkräfte, die
ihre Weiterbildung selber bezahlen, in der Tendenz größere Fortbildungsanstrengungen unternehmen: Sie nehmen doppelt so häufig an Weiterbildungsmaßnahmen teil wie jene, die eine kostenlose Fortbildung besuchen. Lehrkräfte, die selber bezahlen, haben auch stärker das Gefühl, dass sie eigentlich
noch mehr Fortbildung benötigen, als sie zurzeit in Anspruch nehmen. Dies
legt nahe, dass kostenlose Fortbildungsangebote nicht der alleinige Weg
sind, die Teilnahme an Fortbildungen anzuregen.
Ein zweiter politischer Ansatz, der sich aus TALIS ergibt, ist die Notwendigkeit, erfolgreichen Unterricht durch Beurteilungen und Feedback besser zu
unterstützen. Die allgemein positive Einstellung der Lehrer hierzu zeigt die
Bereitschaft, sich weiterentwickeln zu wollen. Und nicht nur im Sinne einer
bürokratischen Pflichterfüllung. TALIS zeigt außerdem, dass die Beurteilungen und das Feedback, das Lehrer erhalten, ihren Glauben an ihre pädagogi-
G a s t b e i t r ag v o n P ROF. D r . BARBARA IS C HINGER
schen Fähigkeiten unterstreichen und dass sie umso mehr Vertrauen in ihre
Fähigkeiten zur Bewältigung der jeweiligen Herausforderungen im Unterricht
haben, je mehr Feedback sie zu konkreten Aspekten ihrer Arbeit erhalten.
So weit die guten Nachrichten. TALIS zeigt aber auch, dass 13 Prozent der
Lehrer in den Teilnehmerländern überhaupt keine Beurteilungen und Feedback zu ihrer Arbeit erhalten. Dies fällt besonders in Irland und Portugal auf,
wo es mehr als ein Viertel der Lehrer betrifft, sowie in Italien und Spanien, wo
dies bei etwa der Hälfte der Lehrer der Fall ist. Ferner arbeiten knapp ein Drittel der Lehrer in den TALIS-Ländern an Schulen, die in den vergangenen fünf
Jahren nicht extern bewertet wurden, und ein Fünftel der Schulen hat nicht
einmal eine Selbstbewertung durchgeführt. Die Folge: Lehrer in Schulen, die
nicht bewertet werden, profitieren wahrscheinlich weniger von Beurteilungen
oder Feedback. In Korea ist zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass ein Lehrer in einer nicht bewerteten Schule keine Beurteilung oder Feedback erhält,
doppelt so groß wie in einer Schule, in der eine Schulbewertung erfolgt ist.
Ebenso beunruhigend ist, dass drei Viertel der Lehrer in allen Ländern angeben, dass eine Steigerung ihrer Arbeitsqualität oder innovativere Lehrmethoden keine Anerkennung finden. So sagen drei Viertel der Lehrer, dass die
effektivsten Lehrer an ihrer Schule nicht unbedingt die meiste Anerkennung
erhalten und dass die Schulleitung keine Maßnahmen unternimmt, die Entlohnung von Lehrern zu ändern, die auf Dauer zu geringe Leistungen bringen.
In gleicher Weise haben Schulbewertungen und Lehrerbeurteilungen nur
geringe finanzielle Auswirkungen. Im Durchschnitt sind in den TALIS-Ländern
die Beurteilung und das Feedback von Lehrern nur zu zehn Prozent mit finanzieller Belohnung und nur zu 16 Prozent mit beruflichem Aufstieg verbunden.
Der Mangel an Anerkennung und Anreizen für Lehrer zur Entwicklung ihrer
Lehrmethoden und Verbesserung deren Effektivität steht im Widerspruch zu
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
den Bemühungen zur Verbesserung der Schulen. Ein Beurteilungssystem
und eine Struktur der beruflichen Laufbahn, die auf Innovation und Effektivität setzt und diese fördert, würden den Schulverbesserungsprogrammen
und den Bemühungen um eine Steigerung der Effektivität der Schulen besser
dienen.
Drittens deutet TALIS darauf hin, dass eine starke Schulleitung eine über­
ragende Rolle im Arbeitsleben der Lehrer hat und einen wesentlichen Beitrag
zur Gestaltung der Weiterbildung von Lehrern leisten kann. Im Managementverhalten und dem Führungsstil der Schulleitungen hat längst ein Umschwung von bürokratischer Verwaltung zu „Leadership for Learning“ stattgefunden. TALIS macht diesen Umschwung und dessen möglichen Nutzen
sichtbar. In Schulen mit starker Führung zeigt TALIS, dass die Schulleitungen
berufliche Fortbildungsmaßnahmen wahrscheinlich eher nutzen, um die bei
Beurteilungen festgestellten Schwächen von Lehrern zu behandeln. Häufig findet man dort auch eine bessere Zusammenarbeit zwischen Lehrern,
bessere Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern, mehr Anerkennung
der Lehrer bei innovativen Lehrmethoden und eine stärkere Betonung der
Ergebnisse von Lehrerbeurteilungen.
Was die Unterrichtspraxis nachhaltig verbessert, lässt sich nur schwer fassen
und ebenso schwer messen. Untersuchungen zeigen aber, dass Lehrer nicht
geben können, was sie nicht besitzen. Der einzige Weg zur Verbesserung
der Resultate ist daher die Verbesserung des Unterrichts. Es muss deshalb
gewährleistet sein, dass die Erwartungen von Lehrern eindeutig sind, dass
Lehrer eine starke berufliche Ethik mit einer beständigen Konzentration auf
die Verbesserung der Unterrichtspraxis verbinden, dass sie anerkennen, dass
gewöhnliche Schüler außergewöhnliche Begabungen besitzen, und dass sie
und das System den Erfolg jedes einzelnen Kindes erwarten. TALIS zeigt uns,
G a s t b e i t r ag v o n P ROF. D r . BARBARA IS C HINGER
dass Lehrer im Allgemeinen wissen, was zählt, und dass sie ähnliche Überzeugungen besitzen, wie gelehrt werden muss. TALIS zeigt aber auch, dass
die heutige Unterrichtspraxis diese Absichten häufig nicht erfüllt. Die Lehrer
in den meisten Ländern berichten weit häufiger über traditionelle Methoden
der Wissensvermittlung als über den Einsatz schülerorientierter Praktiken,
wie zum Beispiel die Anpassung des Unterrichts an individuelle Bedürfnisse.
Und noch weniger verwenden sie Lernmethoden, die eine tiefere kognitive Aktivierung der Schüler erfordern würden. Dies bringt uns zu unserem
Ausgangspunkt zurück, zur Notwendigkeit der Qualitätsverbesserung und
Konzentration auf die berufliche Weiterentwicklung.
Um die Unterrichtspraxis verbessern zu können, muss den Lehrern zunächst
bewusst werden, wie sich ihre eigene Methode verbessern lässt. Es geht dabei nicht nur um die Bewusstmachung ihrer Tätigkeiten, sondern auch um
die zu Grunde liegende geistige Haltung. Danach müssen Lehrer mehr über
die konkret besten Praktiken erfahren, die sich generell nur in einem zuverlässigen Umfeld erwerben lassen. Und nicht zuletzt müssen die einzelnen
Lehrer zu den notwendigen Verbesserungen motiviert werden. Dazu gehören
ein effektives Arbeitsumfeld und materielle Anreize, von denen ich bereits
gesprochen habe. All dies erfordert eine grundlegende Veränderung, die über
materielle Anreize hinausgeht und nur dann zustande kommen kann, wenn
die Lehrer hohe Erwartungen, ein gemeinsames Gefühl für das Ziel und vor
allem einen kollektiven Glauben an ihre allgemeine Fähigkeit haben, in der
Erziehung der Kinder, denen sie dienen, etwas bewegen zu können.
Die engen Verbindungen, die TALIS zwischen Faktoren wie positives Schulklima, Methodensicherheit, Kooperation zwischen Lehrern, Zufriedenheit mit
dem Lehrerberuf, der beruflichen Weiterentwicklung und der Annahme einer
Reihe von Unterrichtstechniken aufzeigt, liefern Hinweise darauf, dass die
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Politik die Bedingungen für erfolgreiches Lernen aktiv gestalten kann. Gleichzeitig unterstreicht die Tatsache, dass es eher an den Unterschieden zwischen
einzelnen Lehrern als zwischen Schulen oder Ländern liegt, den Bedarf an
individualisierten und zielgerichteten Programmen für Lehrer, anstelle von
Maßnahmen für die ganze Schule oder das gesamte System, die traditionell
die Bildungspolitik dominiert haben.
Nochmals: Die Herausforderungen sind hart, aber die Ergebnisse der TALISStudie deuten darauf hin, dass viele Lehrer und Schulleitungen bereit sind,
sich ihnen zu stellen. Die Bildungssysteme können sie dabei unterstützen,
indem sich öffentliche und staatliche Beteiligungen von der reinen Kontrolle
der Ressourcen und der Ausbildungsinhalte zur Konzentration auf Ergebnisse
verlagern: Übergang von einer „Hit and Miss“-Politik zur Etablierung hoher
Universalstandards, von Einheitssystemen zur Annahme von Verschiedenheit
und eines individualisierten Lehrens und Lernens, vom Inputmanagement
und einer bürokratischen Bildungsmethode zur Übertragung von Verantwortung und einer effektiven Schulleitung, die Lehrer durch Unterstützung,
zielgerichtete berufliche Weiterentwicklung, Beurteilung und Feedback befähigt.
Prof. Dr. Barbara Ischinger
ist Bildungsdirektorin der OECD in Paris, wo sie für die PISA-Studien verantwortlich ist. Die international
­renommierte Bildungsexpertin ist außerdem Mitglied des Beirates der Vodafone Stiftung Deutschland.
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Integration über alles!
Im Gespräch mit Thomas Ellerbeck über das internationale Symposium „Chancen
schaffen – Integration, Arbeit und soziale Mobilität: Europäische Erfahrungen
und Gestaltungsperspektiven“. Veranstaltet am 26. Januar 2009 zusammen
mit dem Bundeskanzleramt und der Stiftung Mercator.
Alle westlichen Industriestaaten sehen sich mit dem Problem
wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit konfrontiert. Dies
bedeutet eine große Herausforderung für moderne Gesellschaften: Es müssen individuelle Aufstiegschancen geschaffen
werden, die eine aktive, gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Vor allem der erfolgreiche
Zugang zum Arbeitsmarkt ist eine wesentliche Voraussetzung
für gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg. Gelingt
dieser Zugang nicht, drohen hohe wirtschaftliche und soziale
Kosten sowie Konflikte. Auf dem Symposium wurden gegenwärtige und künftige Potenziale wirtschaftlicher Integrationsstrategien diskutiert.
Herr Ellerbeck, das internationale
Zusammen mit dem Bundeskanzleramt hat die Stiftung im Ok-
Symposium „Chancen schaffen“ widmete
tober 2007 das erste internationale Symposium „Integration
sich insbesondere IntegrationsFragen.
Welche Bedeutung hat dieses Thema für
durch Bildung im 21. Jahrhundert – eine Herausforderung für
die Vodafone Stiftung Deutschland?
Public-Private-Partnerships“ veranstaltet. Die große internationale Resonanz hat gezeigt, wie entscheidend das Thema nicht
nur für Deutschland und Europa ist, sondern wie sehr national
und international Austausch und Kooperation gesucht werden.
Bundeskanzlerin Merkel und EU-Kommissionspräsident Barroso
haben die Relevanz für Europa durch ihre Beiträge eindrucksvoll
unterstrichen – auch die Relevanz für ihre politische Agenda.
2009 haben wir dann sehr praxisnah das Thema „Integration und
Arbeitsmarkt“ in den Mittelpunkt gerückt. Insbesondere war es
allen Partnern wichtig, Integration, Bildungschancen, Arbeits-
markt und sozialen Aufstieg in einem sehr engen Zusammenhang zu beleuchten. Konkret: Wie gelingt es, die Bildungs- und
Berufschancen von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte
deutlich zu verbessern?
Was sind die wichtigsten Ergebnisse des
In den Gesprächen wurde erstens deutlich, dass in Deutschland
Symposiums?
eine einseitige Diskussion vorherrscht, was die Integration in
den Arbeitsmarkt anbelangt. Von den zwei Wegen einer Berufstätigkeit, der abhängigen Beschäftigung und der Selbstständigkeit, wird der letztere in der Öffentlichkeit kaum näher beleuchtet. Diese Tatsache rückte auf dem Symposium besonders in das
Blickfeld. Im europäischen Vergleich ist hingegen auffallend,
dass das Thema Selbstständigkeit in anderen Ländern in der
politischen Diskussion eine sehr viel größere Rolle spielt. Insbesondere im Hinblick auf die Integration in den Arbeitsmarkt
stellt das Modell der Selbstständigkeit eine Entwicklungsmöglichkeit dar. Denn gerade in den Zuwanderungsgesellschaften
findet man häufig kleingewerbliche Strukturen, die eine echte
Beschäftigungsperspektive bieten.
Zweitens zeigte sich auf dem Symposium, dass eine undifferenzierte Beurteilung von Integrationserfolgen wenig erfolgreich
ist. Das bedeutet, dass die Integration von Migranten stärker
herkunftsspezifisch untersucht werden muss. Denn Migrant ist
nicht gleich Migrant. Es gibt Gruppen, die sich integrativ leichter
entwickeln als andere. Diese Entwicklung lässt sich nicht allein
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
sozioökonomisch erklären. Sie auf der anderen Seite allgemein
kulturell begründen zu wollen, wäre zu diffus. Diese Erkenntnis
stellt natürlich noch keine Lösung dar, aber eine Fragestellung,
die größerer Beachtung bedarf und an der die Stiftungen weiter
arbeiten werden.
Welche Aufgaben können Ihrer Meinung
Stiftungen können innerhalb der Gesellschaft eine zentrale
nach Stiftungen in der Gesellschaft
­Rolle einnehmen, als Ideengeber, Laborbetrieb und Vermittler.
übernehmen?
Aus einer Nähe zu Forschung und Wissenschaft auf der einen
Seite und einer Nähe zur Politik auf der anderen Seite haben sie
die Möglichkeit, als Mediatoren und Makler zu wirken, indem sie
zwischen den Erkenntnissen wissenschaftlicher Forschung und
politischer Umsetzung vermitteln. Ich sehe in diesem Bereich
weiter einen großen Bedarf. Häufig produzieren Stiftungen und
Forschungseinrichtungen Berichte mit Handlungsempfehlungen, die dann mit der Hoffnung auf Umsetzung an Entscheidungsträger weitergeleitet werden. Lösungen für gesellschaftliche Probleme können aber viel effizienter erarbeitet werden,
wenn Stiftungen in einem sehr frühen Stadium Wissenschaft,
Politik und Administration zusammenbringen. Durch frühzeitige
Verzahnung lässt sich das Studiendesign viel umsetzungsorientierter konzipieren und durch Modelle in der Praxis begleiten.
Von rechts nach links: Dr. Mark Speich mit den Podiumsteilnehmern Prof. Dr. Klaus J. Bade,
Staatsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer und OECD-Generalsekretär Angel Gurría
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Gegenseitige Hilfe
Die Seminarreihe „Integration und soziale Mobilität von Menschen
mit Zuwanderungsgeschichte“ findet ganz bewusst in Botschaften
verschiedener Länder statt. Experten vermitteln Ansätze erfolgreicher
Integrationspolitik in anderen Ländern.
„Meine Damen und Herren, ich möchte Sie alle in der Botschaft des König­
reichs der Niederlande in Berlin willkommen heißen.“ Es ist eine nicht ganz
gewöhnliche Veranstaltung, die der niederländische Botschafter Peter P.
van Wulfften Palthe an diesem kalten Januarmittag eröffnet. Deutsche Experten sollen mehr darüber erfahren, wie unser Nachbarland Kinder mit
Migrationshintergrund in Bildung und Arbeitsmarkt zu integrieren versucht.
Van Wulfften Palthe formuliert es so: „Ziel ist es, voneinander zu lernen, wie
Bildungsmöglichkeiten geschaffen werden können, die diesen Kindern eine
grundlegende Qualifikation garantieren.“
Das Expertenforum in der niederländischen Botschaft ist Teil einer von der
Vodafone Stiftung Deutschland initiierten Seminarreihe zum Thema „Integration und soziale Mobilität von Menschen mit Migrationshintergrund“. In
Zusammenarbeit mit Botschaften verschiedener Länder bietet diese Seminarreihe eine internationale Plattform des Austauschs von Erfolgsstrategien
und positiven Politikansätzen.
Vorgestellt werden „Best Practices“ aus den jeweiligen Ländern, um daraus
Impulse für eine Verbesserung der deutschen Integrationspolitik in der Praxis zu erhalten. Es geht um die spezifischen Probleme, Politikansätze und
Erfolgsstrategien. Von diesen Erkenntnissen können deutsche Strategen und
Experten aus Politik, Wirtschaft und dem Stiftungsbereich wiederum hervorragend profitieren. Stattgefunden haben diese Seminare bislang in den Botschaften von Großbritannien, Schweden, Australien und den Niederlanden.
Sonja Gigler, wissenschaftliche Referentin der Vodafone Stiftung Deutschland, ist von der Praxisorientierung des Konzepts überzeugt und beschreibt
die Idee zu den Botschaftsseminaren so: „In der Diskussion mit Integrations-
experten besteht kein Mangel an fortschrittlichen Integrationsmodellen.
Was jedoch in Deutschland fehlt, ist die Verbindung zu den Entscheidungsträgern. Deswegen war unsere Überlegung: Wir führen wichtige Berater von
Entscheidungsträgern aus der Gesellschaft zusammen und bringen sie mit
Experten aus anderen Ländern in einen Dialog, um konkrete Lösungsan­sätze,
aber auch Probleme der Integration zu diskutieren. Gleichzeitig nehmen
deutsche Integrationsexperten an den Seminaren teil, um einen optimalen
Erfahrungstransfer zu ermöglichen.“
Für die Kooperation hat die Vodafone Stiftung Deutschland Länder ausgesucht, die in Integrationsfragen bereits fruchtbare Ansätze verwirklicht haben, oder Länder, die mit vergleichbaren Problemen wie Deutschland konfrontiert sind. Unabhängig vom Fokus des jeweiligen Expertenforums geht
es in der Seminarreihe um folgende Fragen: Welche Probleme gibt es bei
der Integration von Zuwanderern? Welche politischen Ansätze und Gesetzesänderungen hat es in den letzten Jahrzehnten gegeben? Welche lokalen
Initiativen und Projekte gibt es?
In der niederländischen Botschaft sitzen an diesem Mittag fünf niederländische Vertreter der Regierung und des Schulsystems auf dem Podium. Sie
stellen zentrale Ansätze des aktuellen niederländischen Integrationsplans
vor: „Everyone joins in“ etwa fördert die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt. Hierfür arbeiten regionale Jobagenturen mit Firmen zusammen, helfen bei der Arbeitssuche, trainieren „Soft
Skills“ und werben für eine Stärkung der Diversitätspolitik in den Firmen. „District Approach“ wiederum beinhaltet gezielte Maßnahmen zur Verbesserung
von sozialen Brennpunkt-Nachbarschaften, wobei die Jugendförderung im
Mittelpunkt steht. „Opportunities for all children“ ist ein Programm, das insbesondere die Verbesserung von sozialen Einrichtungen und Institutionen
verfolgt, um Menschen in Not besser helfen zu können.
Um die Integration ausländischer Jugendlicher ging es auch im Seminar in
der britischen Botschaft, an dem sogar der britische Thronfolger Prinz Charles
teilnahm. Bei diesem vierten Seminar der Reihe wurden konkrete Ansätze
für die Verbesserung des Erwerbs von Sprachkenntnissen als unverzichbarer
Schritt für eine erfolgreiche Integration entwickelt. Beispielhaft für diesen
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Ansatz ist das Projekt „The Arbour“, das sich unter anderem mit der Förderung der Englischkenntnisse von bengalischen Frauen befasst. Einen wichtigen Beitrag zur Integration in den Arbeitsmarkt leistet das „Employability
Forum“: Diese Organisation betreibt eine Reihe von Projekten mit dem Ziel,
Flüchtlingen die Rückkehr in ihre erlernten Berufe zu ermöglichen. Die Stiftung „Prince’s Trust“ stellt eine Besonderheit dar: Es ermöglicht Jugendlichen
ein zwölfwöchiges Programm zur persönlichen Weiterentwicklung.
Der Thronfolger Prinz Charles war über den Ansatz der Botschaftsseminare
und das Zustandekommen der Veranstaltung erfreut: „Ein Austausch über
erfolgsbewährte Strategien ist von großem Nutzen.“ So hätten die von ihm
selbst ins Leben gerufenen Organisationen bereits viel von den Vereinigten
Staaten und anderen Ländern lernen können.
Um die Diskussionen der einzelnen Botschaftsseminare für die Praxis nutzbar
zu machen, werden die Ergebnisse natürlich detailliert dokumentiert und
nach Abschluss der Seminarreihe publiziert. Für die nähere Zukunft sind
Seminare in den Botschaften Spaniens, Kanadas und der USA geplant. „Die
beteiligten Botschaften waren vom neuen Ansatz der ‚Botschaftsseminare‘
angetan“, sagt Gigler. „Wir hoffen, dass wir diesen gegenseitigen Austausch
zur Verbesserung der Integrationspolitik erfolgreich fortsetzen können.“
Die Lücke schließen
Mit sieben weiteren deutschen Stiftungen hat die Vodafone Stiftung Deutschland
­einen Sachverständigenrat für Integration und Migration gegründet. Das von der
­Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung initiierte Expertengremium ­entwickelt
neue Ideen und Lösungen für das Einwanderungsland Deutschland.
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
Es ist ein Novum in der deutschen Stiftungslandschaft: Acht deutsche Stiftungen ziehen am gemeinsamen Strang und gründen den „Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) GmbH“. Das
Ziel: Lösungen für das gesellschaftspolitische Thema Integration und Migration finden. Das Expertengremium will künftig die Politik in Bund, Ländern
und Gemeinden sowie die Zivilgesellschaft mit wissenschaftlich fundierten
und handlungsorientierten Empfehlungen begleiten. Hierzu stellen die acht
Stiftungen in den kommenden drei Jahren insgesamt rund 1,8 Millionen Euro
für den Aufbau des Sachverständigenrates zur Verfügung.
Hintergrund: Deutschland ist längst ein Einwanderungsland mit starker
transnationaler Fluktuation. Integration und Migration stellen zentrale Herausforderungen der Gesellschaft dar. Doch bislang ist dieses Themenfeld
ohne systematische, kontinuierliche und unabhängige Begleitung durch die
Wissenschaft geblieben. Vor diesem Hintergrund haben die Stiftung Mercator
und die VolkswagenStiftung die Gründung des Sachverständigenrates initiiert, um die Lücke zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischer
Umsetzung zu schließen. Der SVR soll dabei einerseits die bestehenden,
oftmals an Ministerien oder andere staatliche Institutionen gekoppelten
und damit nicht oder nur bedingt unabhängig tätigen Forschungseinheiten
ergänzen.
Auf diese Weise ist der Rat politisch unabhängig und ausschließlich wissenschaftlichen Kriterien verpflichtet. Ein Umstand, den Rüdiger Frohn, Vorsitzender des Kuratoriums und Beiratsvorsitzender der Stiftung Mercator, besonders hervorhebt: „Anders als die existierenden Sachverständigenräte ist
dieser nicht von der Politik, sondern von der Zivilgesellschaft berufen. Das
verleiht ihm als unabhängigem Gremium ein besonderes Gewicht.“ StaatsmiMitglieder des SVR nisterin Prof. Dr. Maria Böhmer begrüßt die Gründung des SVR ebenfalls: „Der
(von links nach rechts):
Sachverständigenrat deutscher Stiftungen kann der Politik wichtige Hinweise
Prof. Dr. Michael Bommes
geben und entscheidend dazu beitragen, dass wir gemeinsam die Herausfor-
Prof. Dr. Thomas Straubhaar
Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu
derungen von Integration und Migration meistern.“ Neben den Initiatoren
Prof. Dr. Ursula Neumann
und der Vodafone Stiftung Deutschland wird der Sachverständigenrat mit
Prof. Dr. Werner Schiffauer
Prof. Dr. Klaus J. Bade
Sitz in Berlin durch die Bertelsmann Stiftung, die Freudenberg Stiftung, die
Prof. Dr. Christine Langenfeld
Gemeinnützige Hertie-Stiftung, die Körber-Stiftung, die ZEIT-Stiftung und
Prof. Dr. Heinz Faßmann
Prof. Dr. Steven Vertovec
durch die Robert Bosch Stiftung unterstützt.
Die Arbeitsweise des SVR basiert auf kontinuierlicher Auswertung des neuesten Forschungsstandes, eigener empirischer Forschung und einem doppelten Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis: einerseits interdisziplinär
zwischen Experten der Wissenschaft, andererseits zwischen ihnen und Experten aus der Praxis. Um den selbst gesetzten hohen Ansprüchen gerecht
zu werden, wurde eine unabhängige Findungskommission mit der Auswahl
von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen beauftragt. Prof. Dr. Rita
Süssmuth, Bundestagspräsidentin a. D., die als Vorsitzende der Findungskommission und als Ehrengast des Kuratoriums den SVR unterstützt, ist von der
Auswahl überzeugt: „Der Sachverständigenrat ist ein einzigartiges Projekt
der Zivilgesellschaft, für den wir international ausgewiesene Experten finden
wollten. Das ist uns nach intensiver Recherche und vielen Gesprächen gelungen. Die Mitglieder des Sachverständigenrats werden die integrations- und
migrationspolitischen Entwicklungen in Deutschland künftig unabhängig
begleiten und beurteilen.“
„Integrationspolitik braucht die kontinuierliche ­Beobachtung
ihrer Kontextbedingungen und Wirkungen.“
Der SVR, der seine Arbeit 2009 mit neun Professoren aufgenommen hat, wird
erstmals im Frühjahr 2010, danach im jährlichen Turnus, ein Jahresgutachten
vorlegen. Es soll die Entwicklung von Integration und Migration, die Konzeption und Umsetzung von Integrationsförderung und Zuwanderungspolitik
sowohl auf Bundesebene als auch in ausgewählten Bundesländern und Gemeinden Deutschlands kritisch überblicken und bewerten. Vor dem Hintergrund von Abwanderung und demografischer Alterung beschäftigt sich der
SVR beispielsweise mit Themen wie der Zuwanderungssteuerung im Interesse der Vermeidung von Arbeitskräfte- und insbesondere Fachkräftemangel. Ein weiterer Schwerpunkt betrifft die Integration von Zuwanderern und
Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt. Darüber hinaus
soll sich der SVR mit der Förderung sprachlicher und sozialer Kompetenz und
der Teilhabe an Bildung und Ausbildung von Migranten beschäftigen. Alle
Bemühungen sollen im internationalen Vergleich unternommen werden.
Zusammen mit dem Jahresbericht wird der SVR jährlich ein „Integrationsbarometer“ erstellen. Dieses Erhebungsinstrument soll mit Hilfe einer Re-
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B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät
präsentativbefragung unter Menschen mit und ohne Migrationshintergrund
Aufschluss über deren Einstellungen, Meinungen und Stimmungen im Hinblick auf zentrale Themen von Integration und Migration geben. Migrationsforscher Prof. Dr. Klaus J. Bade, der als Vorsitzender im SVR tätig ist, sieht in
dieser Datenerhebung eine besondere Notwendigkeit: „Integrationspolitik
braucht die kontinuierliche Beobachtung ihrer Kontextbedingungen und Wirkungen. Sie muss wissen, ob das Vertrauen der Menschen sinkt oder steigt,
welche Meinungen und Einstellungen die Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, also beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft dazu
haben.“ Neben dem Barometer verfolgt der SVR kontinuierlich Fragen der
Übertragbarkeit international bewährter integrationspolitischer „Best Practices“ und bezieht dies mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auch in
seinen Jahresbericht ein. Darüber hinaus erstellt, vergibt und publiziert der
SVR Gutachten zu bislang nicht zureichend erforschten integrations- und
migrationspolitischen Fragestellungen und nimmt zu aktuellen Fragen des
Themenfelds Stellung.
Die gewählte Rechtsform einer gemeinnützigen GmbH sowie die unter unabhängiger externer Mitwirkung vollzogene Auswahl der Mitglieder des SVR
garantieren dessen Unabhängigkeit – auch gegenüber den Stiftungen selbst.
Der SVR wird zunächst für drei Jahre gefördert. Vor einer Entscheidung über
seine Anschlussförderung wird seine Arbeit evaluiert.
G a s t b e i t r ag v o n D r . G u n i l l a F i n c k e
Qualifikation und Migration:
Potenziale und Personalpolitik
in der „Firma“ Deutschland
Die „Firma“ Deutschland hat Personalprobleme. Dies zeigt ein Informationspapier des SVR1. Jährlich wandern Zehntausende von oft gut qualifizierten
Deutschen im besten Erwerbsalter ab, nur ein Teil von ihnen kehrt zurück. Seit
2003 hat Deutschland unter Berücksichtigung der Rückwanderung knapp
200.000 Staatsangehörige an andere OECD-Staaten abgegeben. Und auch
unter den qualifizierten Zuwanderern der zweiten Generation spielt ein erheblicher Anteil mit dem Gedanken, Deutschland zu verlassen.
Besonders auffällig ist die Entwicklung bei den Medizinern: Allein 2008 sind
über 3.000 Ärzte ins Ausland abgewandert. Nach einer vom SVR in Auftrag
gegebenen Studie des ifo Instituts betragen die fiskalischen Kosten über eine
Million Euro pro Arzt. Unter der vorsichtigen Annahme, dass nur ein Drittel
der abwandernden Ärzte dauerhaft im Ausland bleibt, entgehen dem deutschen Staat allein für diese Abwanderergruppe des Jahres 2008 knapp 1,1
Milliarden Euro.
Abwanderung wird dann zum Problem, wenn ihr keine qualifizierte Zuwanderung gegenübersteht. Der Anteil Hochqualifizierter an der Zuwandererbevölkerung ist in Deutschland jedoch niedriger als in fast allen anderen OECDStaaten. Migration führt somit nicht zum Anstieg, sondern zur Reduktion des
Qualifikationsniveaus der Bevölkerung.
In der Wirtschaftskrise rückt dieses Problem in den Hintergrund, dabei sollten
gerade jetzt die Weichen richtig gestellt werden, um am Ende der Krise nicht
1 SVR-Informationspapier, Mai 2009, erstellt von Dr. Holger Kolb in Abstimmung mit dem Vorsitzenden des SVR.
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von den Problemen eingeholt zu werden, die schon zuvor Wachstum und
­Beschäftigung gebremst haben. Denn Zuwanderung lässt sich nicht kurz­
fristig ein- oder ausschalten, und Deutschland bedarf grundsätzlich gesteuerter Zuwanderung.
Der SVR ist aufgrund seiner Unabhängigkeit (auch von der Tagespolitik)
für eine kritische Aufarbeitung solcher Themen besonders geeignet. Konkreten „personalpolitischen“ Handlungsbedarf sieht der SVR in folgenden
­Bereichen:
> Schaffung eines flexiblen Steuerungssystems für Zuwanderung und
­offensive Werbung für die schon bestehenden Einwanderungsmöglichkeiten (vor allem für Akademiker);
> Entwicklung einer Willkommenskultur für Neuzuwanderer;
> Bindung von ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen;
> verbesserte Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen
und beruflichen Erfahrungen.
Reformen im Zuwanderungsrecht sind „personalpolitisch notwendig“, aber
nicht hinreichend. Reformbedarf besteht auch jenseits von Zuwanderungsfragen. Bildungspolitisch muss lebenslanges Lernen gefördert und die Selektivität des deutschen Bildungssystems, die zu einer Vererbung sozialer
Startnachteile führt, abgebaut werden. Insgesamt ist damit auch ein kritischer Blick auf die Strukturen Deutschlands nötig. Entsprechen sie den Anforderungen an eine moderne, plurale Gesellschaft, die ihrer Verantwortung
in einer globalisierten Welt gerecht werden und ihre Standards (auch der
sozialen Sicherung) erhalten will?
Dr. Gunilla Fincke
ist Politikwissenschaftlerin und Geschäftsführerin des ­Sach­verständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration.
Förderbereich Gesundheit
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Förderbereich Gesundheit
Dem Schmerz das Leben abtrotzen
Das Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerztherapie
und Pädiatrische Palliativmedizin in Datteln ist einzigartig.
Irgendwann konnte Leon* einfach nicht mehr.
therapie und Pädiatrische Palliativmedizin an der
Fast jeden Tag hämmerten die Schmerzen durch
Vestischen Kinder- und Jugendklinik – Universität
seinen Kopf. Was in der zweiten Klasse begonnen
Witten/Herdecke. Die 44-Jährige nimmt Kind und
hatte, als kleines, leises Pochen, als unangeneh-
Mann mit und fährt ins nordrhein-westfälische
mes Spannungsgefühl, war seit einem Bänderriss
Datteln. Drei Wochen lang besucht Leon die Kin-
im sechsten Schuljahr zu einem Orkan gewachsen,
derschmerzstation. „Es war unglaublich. Danach
der bald Tag und Nacht durch seinen Schädel tob-
bekam ich ein ganz anderes Kind zurück.“
te. Migränetabletten, Antibiotika, Schmerzmittel –
nichts half. Kinder- und Augenärzte, Hals-Nasen-
Kinderklinik Datteln, nahe Dortmund. Der Weg
Ohren-Doktoren, Spezialisten – die Experten wa-
führt durch ein Geflecht von Verkehrsadern, In-
ren ratlos. „Hat der Junge vielleicht einen Tumor?“,
dustriebauten, himmelhohen Schloten und jenen
fragte die Großmutter. Die Befunde zeigten: Nichts.
ineinander verhakten Ortskernen, die so typisch
Verzweifelt zog sich der Elfjährige zurück, ver-
sind für das Ruhrgebiet. Sanft treibt der Morgen-
brachte die Tage im Bett, den Raum abgedunkelt,
wind durch das Grün der Bäume vor der Friedrich-
die Gedanken in depressivem Taumel. Zur Schule
Steiner-Straße 5. Ein weitläufiges Gelände mit
ging er da schon lange nicht mehr. „Wir wussten
Spielplatz, Fußballfeld, Krankenhausschule, El-
nicht mehr ein noch aus“, sagt seine Mutter Karin
ternwohnhaus. In der Lobby grüßen Elefant und
Schmidt*. „Wir wussten nur: Er simuliert nicht.“
Giraffe von den Wänden, summend wiegt ein Vater
Sollten sie ihn mehr schonen? Die Ruhe brachte
sein Kind auf dem Schoß.
* Namen von der Redaktion geändert
keine Linderung. Sollten sie ihn mehr zwingen?
Die Lehrer schickten ihn nach einer halben Stunde
Jürgen Behlert hat alle Hände voll zu tun. Der Pfle-
wieder heim. Die Hochschulforscherin beantragte
geleiter der Station Leuchtturm im weitläufigen
Teilzeit. Geändert hat sich dadurch nichts. „Unser
Dachgeschoss der Kinderklinik organisiert den Ta-
Leben geriet aus den Fugen.“
gesablauf für die 16 Patienten, regelt Zimmerverteilung, Therapiestunden, vergibt Pflichtaufgaben.
Eines Tages erzählt eine Freundin Schmidt von
Weck-, Tisch-, Aufräumdienst, TV- und Getränke-
einem ungewöhnlichen Spezialzentrum: dem
meister. Um 7.30 Uhr ist Morgenkreis. Dann kom-
Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerz-
men die 6- bis 18-Jährigen auf der Kissenlandschaft
in der halbrunden Versammlungshöhle inmitten
redungen mit Freunden. Die Beziehung zu Eltern
des Gemeinschaftszimmers zusammen. Was habt
und Geschwistern, das ganze Familienleben ist
ihr geträumt, wie habt ihr geschlafen, wo hakt es
zunehmend vom Schmerz bestimmt, immer häu-
heute? Danach wird gemeinsam gefrühstückt. „Die
figer fehlen sie in der Schule, einige entwickeln
Kinder genießen das“, sagt Behlert. „Gemeinschaft
Depressionen und psychische Störungen.
und klare Abläufe sind sehr wichtig für sie.“
Lange wurden Schmerzerkrankungen nicht ernst
Der rot-weiße Leuchtturm reicht bis auf den Gang
genommen, schon gar nicht bei Kindern. Es gab
der Schmerzstation. Zwei kleine Stufen führen in
weder Studien noch Therapiekonzepte. Schmerz?
sein Inneres, ein Kuschelraum für Kinder, denen al-
Das galt als etwas Gesundes, ein notwendiges
les über den Kopf wächst. Drei Türen weiter gibt es
Warnsignal des Körpers: Stopp, hier ist etwas nicht
Kicker, Spiele und Malsachen. Im Gemeinschafts-
in Ordnung. Boris Zernikow schüttelt den Kopf. Wie
raum dösen Teddys in den Regalen, daneben sieht
absurd. Wie oft hat der 45-Jährige in seiner langen
man Bücher, eine Musikanlage, kleine Tischgrup-
Karriere als Facharzt für Kinderheilkunde und Arzt
pen. Zwei Mädchen in leichtem Sommerkleid und
in der Kinderonkologie beobachtet, wie sich der
Cargohose sitzen über Bastelarbeiten. Schwes-
Schmerz verselbstständigen kann. So sehr, dass er
tern, Pfleger, Ärzte und Psychologen mit Jeans
eigentlich nichts mehr mit dem akuten Schmerz
und bunten Poloshirts eilen über den Flur. „Kittel
zu tun hat, weder in seiner Entstehung noch in sei-
trägt bei uns niemand.“ Behlert lacht. „Die Kinder
ner Behandlung. „Im Grunde müsste chronischer
sagen immer, das ist wie im Schullandheim hier.“
Schmerz ganz anders heißen.“
Dabei geht es nicht um einen Klassenausflug.
Sondern um Schmerz. Um Kinder wie Leon, den
Der Chef der Schmerzstation in der Kinderklinik
der Kopfschmerz fest in seinen Krallen hält. Kinder
Datteln erklärt den Unterschied so: Ein Patient ist
wie Tom, der sein Bauchweh nicht mehr los wird.
auf der Treppe umgeknickt und hat sich das Au-
Jugendliche wie Ena oder Lisa, die ihrer Migräne
ßenband gezerrt, auf einer Skala von null bis zehn
nicht entrinnen können.
schnellt der Schmerz auf Stufe neun empor, der
Patient ist wütend, verzweifelt, ängstlich vielleicht,
Etwa 200.000 Kinder in Deutschland leiden an
wird das Bein hochlegen, kühlen und schonen, ein
chronischen Schmerzen. Bauch- oder Kopfweh,
Schmerzmittel nehmen, bekommt einen Stützver-
Rücken- oder Gelenkschmerzen. Der Schmerz ist
band. Bald fühlt er sich besser. Nach einer Woche
nicht mehr Symptom einer anderen Erkrankung,
sind die Schmerzen verschwunden. Ganz anders
sondern selbst zur Krankheit geworden. Er ist
beim chronischen Schmerz. Der Patient klagt da-
so stark und allbeherrschend, dass er das ganze
rüber, dass sein Bein seit drei Jahren wehtut, geht
Leben der Kinder und Jugendlichen prägt: Oft
nach Aufforderung auf und ab, lächelt höflich und
können sie sich nur noch schwer konzentrieren,
beschreibt dabei einen Schmerz der Stufe neun.
ziehen sich zurück, vermeiden Sport, Kino, Verab-
Nach einer Woche ist der Schmerz noch genau-
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Förderbereich Gesundheit
so stark, ja, er hat sich sogar verfestigt. Zernikow:
und Gefühle, Stress und körperlicher Anspannung
„Schonung bewirkt beim chronischen Schmerz
bildet sich eine erhöhte Schmerzsensibilität aus,
genau das Gegenteil. Das Gehirn lernt ihn umso
das Gehirn verändert sich, ein Schmerzgedächtnis
schneller.“
zementiert sich, neue Schmerzen werden anders
verarbeitet und der Kreislauf beginnt von neuem.
Schon vor Jahren begab sich Zernikow auf die Spur
Ob es zu einer solchen Schmerzstörung kommt,
des Schmerzes. Er fragte sich: Wie kann es sein,
darüber entscheidet ein ganzes „Biopsychosozi-
dass sich ein Kind mit einem gewaltigen Tumor
ales Ursachenbündel“ – traumatische Erlebnisse,
im Bein, mit Metastasen in Lungen und Becken,
die Reaktion der Umwelt, schulische Über- oder
trotzdem jeden Tag in die Schule zwingt, während
Unterforderung, genetische Disposition. Früh er-
ein anderes bei Kopfweh im Bett liegen bleibt.
kannte Zernikow: „Kinder, die einmal in diesem
Klar war, mit „anstellen“ oder „simulieren“ hat das
Teufelskreis gefangen sind, kommen oft nicht
nichts zu tun. Zernikow suchte nach Ursachen, Er-
mehr von alleine heraus. Chronischer Schmerz ist
klärungsmodellen und Therapien.
ein gelerntes Verhalten, ein in Körper und Geist
abgespeichertes Programm, das erst mit einer
Heute spricht Zernikow von einem „Teufelskreis des
systematischen Schmerztherapie überschrieben
Schmerzes“ und beschreibt damit einen Circulus
werden kann.“ 2001 gründete der Pädiater die
vitiosus komplexer Vorgänge, die zwischen Gehirn
Kinderschmerzambulanz an der Vestischen Kin-
und Körper ablaufen und die Schmerzwahrneh-
der- und Jugendklinik Datteln.
mung verändern: Aus einem einfachen Schmerzsignal, ein Ritz, ein Stoß, ein kaputtes Bein, kann
Die Strahlen der Morgensonne fallen auf das ho-
so ein Dauerschmerz werden. „Entscheidend sind
niggelbe Linoleum der Schmerzambulanz. Vor
die Bewertung und die Gefühle im Kopf, die ent-
dem Sprechzimmer warten die ersten Patienten
scheiden, ob sich das Schmerztor öffnet und wie
mit ihren Eltern. Boris Zernikow und Psychologe
er weiterverarbeitet wird.“ Unter dem Einfluss von
Michael Dobe nehmen sich Zeit. Eine Stunde lang
Aufmerksamkeit, Bewertung, schwarzer Gedanken
befragen sie Eltern und Kind nach der Krankheits-
„D ie Kinder und ihre Familien brauchen über Jahre
­hinweg ein verlässliches Casemanagement, das sich
ihrer aktuellen Situation flexibel anpasst.“
Prof. Dr. Boris Zernikow, Chefarzt, Vodafone Stiftungsinstitut
für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin
geschichte, der Stärke des Schmerzes, dem Alltag
Michael Dobe schiebt seine Unterlagen beiseite
mit dem Schmerz. Machen kleine Tests und las-
und federt auf den Gang, Patienten warten. Es be-
sen sich auf Piktogrammen von Kindern wie Tom,
flügelt ihn immer wieder, wie viel solche Gesprä-
Leon oder Lisa zeigen, wo genau die Schmerzen
che bewirken können. Verbunden mit Tipps zur
sitzen. Dann klären Arzt und Psychologe auf. Was
Schmerzbewältigung und einer zweiten Sitzung
sind chronische Schmerzen, wie entstehen sie,
mit Eltern und Kindern bekommen die meisten
wie beißen sie sich im Patienten fest? „Es hilft viel,
Patienten den Schmerz in den Griff. 1.200 sind es
wenn die Patienten das verstehen“, sagt Dobe. Vie-
jedes Jahr. Für zehn Prozent reicht die ambulante
le Kinder haben eine ernüchternde Ärzteodyssee
Behandlung nicht. Sie müssen länger bleiben. Drei
hinter sich. Psychologen, Neurologen, Chirurgen,
Wochen lang auf der Schmerzstation.
Zahnärzte, Heilpraktiker, ein endloses Auf und Ab
von Hoffnung, Versprechen und Enttäuschung.
Im Gemeinschaftsraum im Dachgeschoss klappert
Allzu oft enden die Fehldiagnosen in falschen
das Geschirr. Zwei Kinder räumen Teller und Be-
Therapien. Irrtümlich entfernte Blinddärme, er-
cher ab. Das Frühstück ist beendet. Um acht Uhr
gebnislos aufgeschnittene Bäuche, nutzlose Auf-
beginnt der Terminmarathon, ein persönlicher
bissschienen, Chiropraktiker, die an vermeintlich
Wochenplan, den jedes Kind abarbeiten muss.
fehlgestellten Halswirbeln herumknacksen.
Zum Beispiel Schwimmen und Sport. Körperliches
Work-out, ein gutes Körpergefühl helfen gegen
In der Schmerzambulanz suchen sie gemeinsam
den Schmerz. Zum Beispiel Ablenkungstechni-
nach Erklärungen, warum der Schmerz so tiefe
ken üben. Wie das Ablenkungs-ABC, bei dem man
Spuren auf der Festplatte im Kopf hinterlassen
sich auf ein Thema wie etwa Tiere oder Automar-
konnte. Verschafft er dem Kind mehr Aufmerk-
ken konzentriert und im Geiste alphabetisch Au-
samkeit in der Familie? Ist er in der Erinnerung mit
tomarken oder Tierarten aufzählt. Zum Beispiel
traumatischen Erlebnissen verbunden? Wie gehen
bunte Gedanken denken. Statt: „Andere haben
die Eltern mit dem Schmerz des Kindes um? „Viele
keine Schmerzen“, sich klarmachen: „Dafür haben
Eltern sagen: Der Schmerz muss weg, egal wie“,
sie andere Probleme.“ Statt „Ich bin schwach“, sich
sagt Dobe. „Wir machen deutlich: Schmerz gehört
bewusst werden: „Ich bin stark, wenn ich das brau-
zum Leben dazu. Vielleicht lässt er sich nicht aus-
che.“ Zum Beispiel den Schmerz provozieren und
löschen, aber das Kind kann trotzdem ein eigen-
beeinflussen lernen. Indem man sich konzentriert
ständiges, normales Leben führen.“
und wieder ablenkt, ihn aktiv hoch- und runterjagt.
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Förderbereich Gesundheit
Zum Beispiel Entspannungsübungen machen. Wie
so sehr unter dem häufigen Schimpfen des Vaters
Tom, der heute Morgen am Computer mit Biofeed-
leidet. Schon gar nicht, dass die chronischen Kopf-
back lernt, sich spielerisch zu entspannen. Träumt
schmerzen ihres Sohnes etwas damit zu tun haben
er sich entspannt an einen Strand, steigt seine
könnten. Und dass ihn in seinem Innersten die Sor-
Handtemperatur, der Temperaturanstieg wird über
ge quälte, die Eltern könnten sich trennen – kaum
Sensoren in der Maus gemessen, dadurch geht im
vorstellbar.
Computerspiel die Sonne auf – Tom merkt, die
entspannenden Gedanken haben etwas in seinem
Der blondgelockte Junge auf der Station Leucht-
Körper verändert.
turm hat heute seinen Stresstag. Drei Seiten muss
er aus einem Buch abschreiben, unter Zeitdruck.
Der Terminstress gehört zum Konzept. Michael
Seit zwei Wochen ist er jetzt auf der Station, bald
Dobe lacht. „Schonung ist auf der Schmerzstation
geht es zurück nach Haus. Höchste Zeit, um die
verboten.“ Denn ausruhen ist kontraproduktiv. Wer
Begegnung mit der Realität zu üben. Dazu gehört:
wegen der Schmerzen die Beine hochlegt, bringt
Stress aushalten, die Schmerzbewältigungsstra-
seinem Kopf bei: Die Schmerzen lohnen sich. Ich
tegien auch unter Stress einsetzen lernen. „Nach
kann mich hängenlassen, ungeliebten Tätigkei-
etwa zwei Wochen führen wir die Patienten Stück
ten entgehen. Also heißt es: Zähne zusammen-
für Stück in den Alltag zurück“, sagt Boris Zernikow.
beißen und mit dem Schmerz alles tun, was man
In der Krankenhausschule auf dem Gelände geht
auch ohne tun würde. Dem Schmerz das Leben
es zum Unterricht, lebensnah wird der Schultag si-
abtrotzen, um dem Gehirn zu zeigen: Ich bin der
muliert. Ein wichtiger Punkt auf dem Weg zurück
Chef. Aktive Schmerzbewältigung nennt Dobe das.
in die Normalität, in der Schulstress oder Probleme
Und sie ist ebenso wichtig, wie zu verstehen, dass
mit Mitschülern allzu oft der Knackpunkt sind.
Schmerz und Gefühl zusammenhängen.
Boris Zernikow lehnt sich zurück und streckt die
Drei- bis viermal die Woche führen die Psycholo-
Beine aus. Er liebt seinen Job und hätte „nie etwas
gen und Ärzte Einzelgespräche mit den Kindern,
anderes machen wollen“. Schon vor 20 Jahren hat
mindestens einmal sind die Eltern dabei, manch-
es ihn gepackt, damals, als er Zivildienst in der Dat-
mal ein wichtiger Freund oder die Großeltern. Die
telner Kinderonkologie machte. Heute behandeln
Konstellation zu Hause, Konflikte innerhalb der
er und sein Team 1.200 Schmerzpatienten im Jahr
Familie spielen eine wichtige Rolle bei der Entste-
ambulant, das sind so viele wie in allen kanadi-
hung und Verfestigung der Schmerzkrankheit. Sie
schen Kinderschmerzambulanzen zusammen. Die
kann Schutz sein vor Auseinandersetzungen, Aus-
Schmerzambulanz, die unter anderem mit Mitteln
druck von Konflikten, Folge von Ängsten. Häufig
der Vodafone Stiftung Deutschland 2005 ausge-
sind diese Zusammenhänge den Beteiligten nicht
baut wurde, ist die einzige ambulante Einrichtung,
bewusst. Wie bei Karin Schmidt, der Mutter des elf-
in der Kinder mit chronischen Schmerzen multidis-
jährigen Leon. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Sohn
ziplinär versorgt werden. Etwa 140 werden jedes
Jahr stationär behandelt. Mit der Gründung des
Lebensphase nicht mehr zu Hause versorgt wer­den
Vodafone Stiftungsinstituts für Kinderschmerz-
können. Farben und Lichtkonzept der Station wer-
therapie und Pädiatrische Palliativmedizin (VIKP)
den von einer Künstlerin komponiert, alle Zimmer
2006 wurde die Förderung gewaltig ausgedehnt.
haben grün umrankte Terrassen, ein Kräuter- und
Die Erfolge sind beachtlich: Auf einer Skala von
ein Sinnesgarten mit kantigen Kieseln und runden
null bis zehn reduzierten sich die Schmerzwerte
Steinen sind geplant, für Geschwisterkinder gibt es
der ambulant behandelten Kinder allein zwischen
Skaterbahn und Basketballplatz, für die Eltern lie-
dem ersten und dem zweiten Behandlungstermin
bevoll eingerichtete Apartments. Im ersten Stock
von durchschnittlich 7,6 auf 4,6 Punkte. Die stati-
finden Fortbildungsseminare für Ärzte, Psycho-
onär behandelten Kinder fühlen sich nach nur drei
logen, Pfleger, Pädagogen, Krankengymnasten,
Wochen auf der Schmerzstation signifikant besser
Kreativtherapeuten aus aller Welt statt. Am Kin-
und fehlen seltener in der Schule. 80 Prozent der
derpalliativzentrum soll intensiviert werden, was
Patienten haben nach drei Jahren den Schmerz
am VIKP begann.
gut im Griff. Zernikow strahlt: „Großartig, nicht?“
Boris Zernikow weiß, wie schwer es ist, diesen KinAndrea Zinnenlauf nickt. Als die Projektleiterin der
dern gerecht zu werden. Was brauchen sie, um
Vodafone Stiftung Deutschland im Herbst 2002
möglichst gut mit ihrer Krankheit zu leben, wie
Boris Zernikow traf, hat er sie gleich überzeugt.
können ihre Schmerzen gelindert, die Symptome
Damals stand die Schmerzambulanz des Dattelner
ihre Krankheit erträglich gemacht, die Familien in
Pädiaters noch am Anfang, mit seinem multidiszip-
der Achterbahn der tödlichen Krankheitsverläufe
linären Team entwickelte er gerade die Therapie in
gestützt, wie kann das Sterben erträglich gemacht
einer kleinen Villa vor den Toren der Klinik. Schnell
werden, so gut es geht?
war Zinnenlauf klar: „Das ist ein außergewöhnliches Team und ein unglaublich wichtiges Thema,
Schon als Kinderonkologe in Datteln hat Zernikow
das wir von klein auf begleiten und vorantreiben
Palliativpatienten begleitet. Kinder mit lebensver-
können.“ Dazu gehört auch der zweite Bereich, der
kürzenden Erkrankungen werden seit jeher auf
am VIKP gerade mit Hochdruck vorangetrieben
den einzelnen Stationen in der Klinik versorgt. In-
wird: die pädiatrische Palliativmedizin.
zwischen hat die 30-köpfige Mannschaft am VIKP
die ambulante Behandlung der kleinen Patienten
Tief graben sich die Bagger in das Erdreich hinter
systematisiert. Ein spezialisiertes Kinderpalliativ-
der Vestischen Kinderklinik. Die Keller sind bereits
team kümmert sich um die verlässliche Betreuung
ausgehoben, der Verbindungsgang zum Klinikbau
zu Hause. Zernikow: „Die Kinder und ihre Famili-
ist in Arbeit. Mitte September 2009 war Richtfest.
en brauchen über Jahre hinweg ein verlässliches
Hier entsteht das erste Kinderpalliativzentrum der
­Casemanagement, das sich ihrer aktuellen Situati-
Welt, eine Station für sterbende Kinder, die an un-
on flexibel anpasst.“ Das für Eltern da ist, wenn sie
heilbaren Erkrankungen leiden und in ihrer letzten
aushalten lernen müssen, dass ihr bisher gesun-
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Förderbereich Gesundheit
des Kind innerhalb von sechs Monaten durch eine
menspiel wie in der Schmerztherapie berücksich-
unerwartete Erkrankung plötzlich alles verlernen
tigen“, sagt Chefarzt Zernikow. „Wir schauen uns
wird, das es je konnte. Das mit der Familie immer
die Symptome immer aus vier Perspektiven an:
wieder neu abwägt, welche Therapien sinnvoll
der biologischen, psychologischen, sozialen und
sind, welche Belastung kein Plus an Lebensqua-
spirituellen.“ „Total pain concept“ nennen das die
lität bringt. Das für die Eltern eine Auszeit organi-
Experten.
siert, wenn sie nach jahrelanger Betreuung ihres
schwermehrfachbehinderten Kindes einfach nicht
Bereits 2004 hat das VIKP ein Curriculum für die
mehr können. Das ständig überprüft, wo sich die
Fortbildung in pädiatrischer Palliativversorgung
Situation zu Hause so stabilisieren lässt, dass ein
entwickelt. Regelmäßig werden Ärzte fortgebil-
Maximum an Lebensqualität herauskommt. Das
det, die Evaluation der Schmerztherapie läuft auf
unkompliziert die Verlegungen auf die Schmerz-
Hochtouren. Im Fokus: Studien zur Diagnostik, zur
station regelt, wenn Krämpfe, Übelkeit, Atemnot
Therapie, Grundlagenforschung. Mehrfach wurde
und Angst zu Hause nicht mehr bewältigt werden
das Forschungsteam bereits ausgezeichnet.
können.
2008 konnte mit Fördermitteln der Vodafone
Mehr als 80 Familien mit sterbenskranken Kindern
Stiftung Deutschland an der Universität Witten/
werden am VIKP ambulant begleitet, 20 Kinder
Herdecke der weltweit erste Lehrstuhl für Kinder-
wurden von Ärzten, Psychologen, Schwestern und
schmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin
Therapeuten auf der Station Leuchtturm in ihren
eingerichtet werden. Den Ruf erhielt Boris Zerni-
letzten Lebenstagen versorgt. „Bei der Kinderpal-
kow. Seitdem hat die Forschung noch mehr Zug-
liativversorgung müssen wir ein ähnliches Zusam-
kraft bekommen. F ö r d e r b e r e i c h K u n s t u n d K u lt u r
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Weimarer Aschebücher
Eine der weltweit wertvollsten Bibliotheken stand vor fünf Jahren
in Flammen. Mit Hilfe von Günter Müller ist mittlerweile fast ein Wunder
geschehen – die Restaurierung der Bücher auf allerhöchstem Niveau.
Nicht viel mehr als eine schlammige, verbrannte Masse ist von den kostbaren
Büchern übrig. „Löschwasser, Asche, Gebälk und Reste vom Mauerwerk“ haben sich zu einer „stinkenden, schwarz-braunen Brühe“ vermischt. Buchrestaurator Günter Müller dreht sich immer noch der Magen um, wenn er daran
denkt. „Fast wie Jauche“, verzieht er sein Gesicht. Das Gros der Bücher ist
vollgesogen. Daher sprechen die Restauratoren von den „Weimarer Aschebüchern“ – Geisteswissenschaftler hingegen von der berühmtesten Sammlung
der deutschen Klassik, die beim Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek
in Weimar 2004 den Flammen zum Opfer fiel.
Zu retten, was noch zu retten ist. Das ist die Aufgabe von Günter Müller, der
in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feiert. 30 Jahre war er an der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena als Buchrestaurator tätig. Zeit
seines Lebens beschäftigte er sich mit der Mengenrestaurierung stark beschädigter Bücher und Archivalien aus den Bombenangriffen im Zweiten
Weltkrieg. ­Darunter auch Goethe-Handschriften. Er gilt als Kapazität seines
Fachs. Hochdekoriert unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz Erster
Klasse. 2004 ging Müller in Pension.
Zu diesem Zeitpunkt ahnt er nicht, vor welcher Herausforderung er noch einmal stehen wird – ausgelöst durch ein durchgeschmortes Kabel hinter einer
Wandvertäfelung der Anna Amalia Bibliothek. In der Nacht des 2. Septembers
2004 steht sie in Flammen. Die Folgen sind katastrophal: 50.000 Bücher sind
zerstört, 65.000 zwar gerettet, aber in einem erbärmlichen Zustand. Beinahe die Hälfte sind „schlammige, verbrannte Masse“. Dass nicht noch mehr
Bücher verbrannten, ist dem waghalsigen Einsatz des Bibliotheksdirektors
Michael Knoche zu verdanken: Er rettet gemeinsam mit Kollegen und freiwilligen Helfern etwa 10.000 Bände, zahlreiche Büsten und etliche Gemälde.
Darunter auch die Luther-Bibel, das berühmteste Exemplar der Bibliothek. Es
ist die erste vollständige Ausgabe des Alten und Neuen Testaments. Andere
Bücher sind hingegen verloren, so scheint es: etwa die Musikaliensammlung
von Anna Amalia oder große Teile der Gelehrtenbibliothek des ersten Bibliotheksdirektors Konrad Samuel Schurzfleisch. Doch möglicherweise ist der
Schaden geringer als bisher angenommen.
„Im Zuge der Restaurierung entdecken wir fast täglich neue Objekte, von denen wir dachten, sie seien verloren.“ Günter Müller hat seine Pension kurzerhand aufgeschoben, nachdem sich abgezeichnet hatte, dass seine Erfahrung
beim Wiederaufbau der Bibliothek dringend benötigt wird. Heute ist die Anna
Amalia Bibliothek sein Lebensprojekt, wie er sagt. Er freut sich, dass er sein
Wissen an die jungen Mitarbeiter und Kollegen der Restaurierungswerkstatt
weitergeben kann. „Die Schäden waren so groß, dass die bisher bekannten
Restaurierungsmethoden nicht anwendbar waren, zumindest nicht bei Millionen von Blättern.“ Das war der Ausgangspunkt seiner Arbeit.
Müller musste ein technisches Verfahren entwickeln, das nicht so aufwendig
und teuer war wie gängige Methoden. „Denn es ist ein Unterschied, ob die
Restaurierung eines Blattes 120 Euro kostet oder nur 2,70 Euro.“ Genau das ist
Müller gelungen. Sein Verfahren kommt ohne die üblichen zeit- und kostenaufwendigen Zwischentrocknungen aus und erlaubt die Mengenrestaurierung
in einem einzigen Arbeitsprozess: Das Verfahren sichert die Reste der Buchseiten, wäscht die „Jauche“ heraus und verfestigt bestehende Papierfasern beziehungsweise füllt fehlende Papierstellen mit neuer Papiermasse aus, sodass
nach der Restaurierung das Buch ohne Weiteres benutzungsfähig ist.
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Zudem schließt dieses Verfahren eine „große Unsicherheitslücke“ in der Restaurierung von Druckschriften: dass wasserempfindliche Marginalien, also
handschriftliche Anmerkungen und Kommentare am Seitenrand der Bücher,
bei der Restaurierung „ausbluten“ oder „herauslaufen“. Das ist ganz entscheidend. Denn Marginalien machen aus einem gedruckten Buch ein Unikat.
Gleichzeitig sind sie Zeugnisse einer vergangenen Zeit und daher besonders
wertvoll. „Wir können pro Tag 500 Blätter restaurieren. Das ist einmalig. Bisher war es in Restaurierungsateliers bei dieser Schadenslage üblich, drei bis
zehn Blätter zu behandeln.“ Das ist die Chance der Anna Amalia Bibliothek.
Insgesamt sind 19.000 der 65.000 teilweise zerstörten Bücher restauriert
und 22.000 von 50.000 gänzlich verlorenen Bänden wiederbeschafft. Das
ist teuer – trotz des innovativen Verfahrens von Müller. Daher besteht eine
wesentliche Aufgabe der Klassik Stiftung Weimar und der Vodafone Stiftung
Deutschland darin, weiterhin Spenden für den Wiederaufbau zu sammeln.
Und das heißt in erster Linie: im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bleiben –
auch nach fünf Jahren und mehr. Denn bis die Bestände wiederhergestellt
sind, werden 30 Jahre vergehen, schätzt Petra Wickenkamp von der Vodafone
Stiftung Deutschland.
Die Düsseldorfer Stiftung beschäftigt sich nicht nur mit der Finanzierung des
Wiederaufbaus und der Restaurierung der Bücher – sie ist mit fünf Millionen
Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren größter Einzelspender –, sondern
fördert auch Projekte in und um Weimar, die darauf ausgerichtet sind, das
Interesse der Bevölkerung weiter auf die Bibliothek zu richten. Beispielsweise
der Kinder und Jugendlichen.
Sie können im Rahmen einer Sommerferienaktion die Bibliothek in Führungen und Workshops hautnah erleben. „Zu Besuch bei Anna Amalia“ (2008)
und „Leben zwischen dem Buchrücken“ (2009) lauten die Aktionen, die Wissenswertes zur Geschichte der Bibliothek und zu einzelnen Elementen des
Buches vermitteln: vom Papier bis zur Illustration. Die Workshops sind „sehr
gut angekommen“, sagt Wickenkamp. So hofft sie, dass die Bibliothek weiter im Zentrum der Aufmerksamkeit bleibt. Wie auch durch das Sommerfest
des Freistaats Thüringen in der Landesvertretung Berlin. Das Highlight dieser
Veranstaltung: natürlich die Werkstatt für brandgeschädigtes Schriftgut von
Günter Müller.
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Flügel stärken, Schätze heben
Seit fünf Jahren veranstaltet die Vodafone Stiftung Deutschland
zusammen mit der Stadt Düsseldorf den ­Jugendkunstwettbewerb
­„Düsseldorf ist ARTig“. Ein Meilenstein in der Entwicklung
­innovativer kultureller Bildungsprojekte!
„Deine Anzeige, sorry, die war echt langweilig. Aber das mit den Kassetten
statt Briefen ist cool. Ich hab’s nicht so mit dem Schreiben.“ Sätze, die von
Stella Volkenand stammen, ihr Hörspiel trägt den Namen „Ik vertrek“. Es hat
die Jury des Jugendkunstwettbewerbs „Düsseldorf ist ARTig“ überzeugt.
Mehr noch: Die Geschichte von den ungleichen Mädchen Maya und Anne,
die sich nie gesehen haben und sich Kassetten schicken, um aus ihrem Leben zu erzählen, hat sie richtig in den Bann gezogen. So erhielt Volkenand in
der Kategorie Literatur den EigenARTig-Award. Neben ihr wurden vier weitere
junge Künstler aus den Kategorien Theater, Film, Bildende Kunst und Tanz
ausgezeichnet. Überreicht wurde der EigenARTig-Award den jungen Künstlern als Höhepunkt des „Düsseldorf ist ARTig“-Festivals, das den gleichnamigen Jugendkunstwettbewerb abschließt.
Auf dem fünftägigen Festival im November 2008 präsentierten 120 Jugendliche 45 künstlerische Projekte, mit denen sie sich im Frühjahr beim Kunstwettbewerb beworben hatten. Nach der Auswahl arbeiteten sie sechs Monate
mit Unterstützung von etablierten Künstlern an ihren Projekten weiter, um
sie auf dem Festival der Öffentlichkeit zu präsentieren. Mit Erfolg: Über 2.000
Menschen besuchten das Festival.
„Am Anfang steht die Neugier“, sagt Petra Wickenkamp von der Vodafone
Stiftung Deutschland, „die der Wettbewerbsteilnehmer, ob ihre Ideen der
Jury gefallen, die der Jury auf die neuen Ideen, die der Mentoren auf die
neuen Teilnehmer. Offenheit ist auf allen Seiten gefragt, wenn es darum
geht, kreative Ideen in konkrete künstlerische Ergebnisse zu verwandeln.
Der intensive Austausch und die enge Zusammenarbeit zwischen Mentoren,
den ARTig-Teilnehmern und dem ARTig-Team sind der Humus, auf dem sich
‚Düsseldorf ist ARTig‘ ständig weiterentwickelt.“ Das bestätigt auch Dr. Petra
Winkelmann vom Kulturamt der Stadt Düsseldorf. Sie kennt die Anfänge und
erinnert sich zurück. Zu Beginn ging es um die Frage, was sich Jugendliche
im kulturellen Bereich wünschten. Das Ergebnis: „Die Jugendlichen hatten
ein großes Interesse, sich selbst kreativ zu betätigen und ihre Arbeiten zu
präsentieren“, sagt Winkelmann.
Der kreative Wettbewerb „Düsseldorf ist ARTig“, den die Vodafone Stiftung
Deutschland zusammen mit der Stadt Düsseldorf seit 2004 veranstaltet, ist
die Umsetzung der Bedürfnisse von Jugendlichen. Das zeigt auch die Resonanz: „Der Wettbewerb spricht sich immer mehr herum und wir erhalten von
Jahr zu Jahr mehr Bewerbungen“, sagt Winkelmann.
Das Procedere ist einfach: Düsseldorfer Jugendliche im Alter von 15 bis 23
Jahren können sich einzeln oder in Gruppen in den Kunstsparten Musik, Theater, Film/Video, Tanz, Fotografie, Literatur und Bildende Kunst mit künstlerischen Projektideen bewerben. Eine Jury trifft aus den eingereichten Beiträgen eine Auswahl. Die ausgewählten Projekte werden dann im Anschluss
ein halbes Jahr von den Jugendlichen weiterbearbeitet. Dabei erhalten sie,
wenn sie möchten, Unterstützung von Künstlern als Mentoren, mit denen sie
diskutieren und die Projektentwicklung vorantreiben können.
Am Ende des halben Jahres findet dann das „Düsseldorf ist ARTig“-Festival
statt, auf dem die jungen Künstler ihre Arbeiten der Öffentlichkeit präsentieren können. Seit 2007 werden fünf der künstlerisch anspruchsvollsten Arbeiten mit dem EigenARTig-Award ausgezeichnet, der den Künstlern zweierlei
garantiert: Zum einen werden sie ein weiteres halbes Jahr bei ihrer künstlerischen Arbeit durch die Mentoren unterstützt, zum anderen werden sie beim
nächsten Ideenwettbewerb mit ihren Arbeiten teilnehmen können.
Das Besondere des Ideenwettbewerbs ist, dass die Jugendlichen nicht nur an
der Konzeption beteiligt werden, sondern dass sie das Projekt auch in größtmöglicher Eigenverantwortung durchführen und weiterentwickeln. „Ich habe
die Jugendlichen immer als engagiert, ernst und eigenverantwortlich erlebt“,
sagt Winkelmann. Die Qualität der Arbeiten ist hoch und Talente scheinen
aus dem Nichts aufzutauchen. So erinnert sich Winkelmann, dass ein Ideen-
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wettbewerbsteilnehmer, der in der Kategorie Theater teilgenommen hatte,
mittlerweile auch beruflich als Schauspieler reüssiert. Doch unabhängig davon, ob sich Teilnehmer nach dem Wettbewerb künstlerisch weiterentwickeln
wollen, steht für Winkelmann etwas anderes im Vordergrund: „Viele haben im
Rahmen des Ideenwettbewerbs ihre eigene Kreativität erlebt.“
Die Resonanz auf den Wettbewerb ist beeindruckend: „Düsseldorf ist ARTig“
hat sich überregional als „Best Practice“ im Kontext kultureller Bildung und
kreativer Jugendkulturarbeit etabliert. Und Winkelmann ist überzeugt: „Der
Wettbewerb ist ein Bildungsprojekt auf höchstem Niveau.“ Überdies wurde
das Projekt 2008 vom Zentrum für Audience Development der FU Berlin als
Best-Practice-Projekt im Bereich Innovationen vorgestellt.
Und die Zukunft von „Düsseldorf ist ARTig“ scheint hinsichtlich personellen Nachwuchses gesichert. Kein Wunder, denn es ist auch ein Beispiel für
gelungenes Kulturmanagement. Mit viel Leidenschaft, die das Projekt auszeichnet und weiterträgt. Natürlich auch bei Petra Winkelmann: „Ich mache
‚Düsseldorf ist ARTig‘ leidenschaftlich gerne, weil ich an die Inhalte glaube,
die wir vermitteln – und bin froh, dass wir das an die Jugendlichen weitergeben können.“
S t r at eg i s c h e P e r s p e k t i v e n
G a s t b e i t r ag v o n P r o f. D r . S t e p h a n A . J a n s e n u n d T i m G ö b e l
Das Gegenteil von Unterlassen
Über den neuen Wettbewerb in der Produktion von Sozialgütern.
Zwei Punkte einer Praxis- und Forschungsagenda für Sozialunternehmer.
Universitäten sind nicht gerade verdächtig, Brutkästen für heutige Gründer zu
sein, aus denen morgen einmal große Unternehmer werden. Entrepreneure,
die Schumpeter'schen „schöpferischen Zerstörer“, die Weber'schen „Berufenen“, die Say'schen Abenteurer, die Casson'schen „großen Entscheider“, die
Würth'schen „Dynamischen“ wurden immer an anderen Orten vermutet als
bei der „nährenden Mutter“, der Alma Mater. Und daher sind Unternehmer, die
große Entwicklungen angestoßen haben, auch so häufig ohne Abschluss –
einen universitären zumindest. Das könnte sich ändern. Das sollte sich ändern. Unternehmer sind das Gegenteil von Unterlassern – und sie stellen
sich nicht an.
Das Phänomen des „Social Entrepreneurship“ besitzt in Zeiten der Elitenkritik,
der Neujustierung des immer fragilen Verhältnisses zwischen Wirtschaft und
Staat, in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession eine besondere Qualität und
Wichtigkeit – auch in studentischen Biografieentscheidungen.
Universitäten und gerade nicht die „Business-School-Idee“ der 1970er/1980er
Jahre könnten sich als wichtige Plattform und Treiber des Diskurses rund um
das „soziale Unternehmertum“ etablieren. Universitäten, die in der Lage sind,
zwischen Wirtschafts-, Medien-, Rechts-, Politik-, Staats- und Verwaltungswissenschaften die Phänomene in dem Spannungsbogen zwischen QuasiMarkets, Markets und Non-Markets, zwischen Regulierung und Unreguliertem, zwischen Philanthropie und Privatunternehmerinteressen, zwischen
Clubgütern und öffentlichen Gütern präziser zu beschreiben.
Zwei Punkte für die Skizze der weiteren Praxis- und Forschungsagenda:
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S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n
Die Praxisagenda: Unternehmertum außerhalb der BWL-Klientel
Geschäftsmodelle von Sozialunternehmern scheinen oftmals komplexer zu
sein als herkömmliche profitorientierte Geschäftsmodelle. Das macht sie für
Hochschulabsolventen interessant, die in die Entwicklung des Geschäftsmodells ihre analytischen, methodischen und kommunikativen Fähigkeiten
einbringen können. Die Gründung eines Sozialunternehmens könnte gerade
für nicht spezifisch BWL- oder technologieaffine Fächergruppen wie Soziologie, Philosophie, Pädagogen, Regionalwissenschaftler, Verwaltungs- oder
Naturwissenschaftler attraktiv sein, die auf die Etablierung inhaltsgetriebener
Geschäftsmodelle setzen, die komplex, skalierbar und schwer imitierbar sind.
Universitäten könnten wiederum in Kooperation mit Stiftungen als (Risiko-)
Kapitalgeber fungieren, die nicht nur wie bisher Initiativen als Pilotprojekte
anfinanzieren, sondern als wirkungsorientierte Philanthropen auf nachhaltige, unternehmerische und risikobereite soziale Entrepreneurs setzen und
diese Ausgründungen unterstützen. Beispiel: Das ZU-Social-Franchise „Rock Your Life!“
Drei Studentinnen der Zeppelin University (ZU), Elisabeth Hahnke und Christine Veldhoen (Master-Studierende der Kommunikations- und Kulturwissenschaften) und Linn Rampl (Master für Wirtschaftswissenschaften), reagieren
auf ein Klassikerproblem: Hauptschüler werden hauptsächlich Hartz-IVEmpfänger. Interessant: Betriebe, die Hauptschüler beschäftigen wollen,
finden keine geeigneten. Die Studierenden bringen in ihrer Initiative „Rock
Your Life!“ Hauptschüler und Unternehmen intelligent zusammen – durch
Studierenden-Coaching. Hahnke, Veldhoen und Rampl entwarfen ein „Einszu-eins-Coaching-Programm“ für Hauptschüler der letzten Klassen, bei dem
sie ein Student über zwölf bis 24 Monate intensiv begleitet und alle Fragen
rund um Berufsorientierung, Bewerbung und auch private Themen mit dem
Hauptschüler behandelt. Dann wird er empfohlen an ein regionales Unternehmensnetzwerk. Der Clou: Beide Seiten lernen etwas voneinander und die
Schüler sind den Studierenden gegenüber viel aufgeschlossener als einem
Lehrer oder sonstigen Berufsberatern. Es geht um Augenhöhe und das Gefühl
des Angenommenseins statt bloßer Defizitperspektive.
G a s t b e i t r ag v o n P r o f. D r . S t e p h a n A . J a n s e n u n d T i m G ö b e l
Die Forschungsagenda: Theorie und Empirie der Sozialunternehmen
Was ist anders am „sozialen Unternehmertum“? Als Begriff in den 1980er Jahren vom ehemaligen McKinsey-Partner William Drayton lanciert; als Ashoka
mit über 160 Mitarbeitern und über 30 Millionen US-Dollar Budget institutionalisiert (Zahlen für 2006); als Phänomen mit zahlreichen „Social Entrepreneurs“ – davon allein knapp 2.000 von Ashoka geförderten – beobachtbar,
steht die wissenschaftliche Forschung zu Sozialunternehmertum nach 30
Jahren noch immer vergleichsweise am Anfang.
In Deutschland hat diese Entwicklung relativ spät – und wohl weitgehend
ursächlich mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Muhammad
Yunus – eingesetzt. „Social Entrepreneurship“ wurde bislang dem Dritten
Sektor zugerechnet – mit all seinen Synonymen wie Nonprofit Sector, ­Civil
Society, Social Economy, Nongovernmental Sector, Charitable Sector, Gemeinnützigkeitssektor, Zivilgesellschaft oder Sozialwirtschaft. Dieser Dik­
tion folgend, können die Daten zum Dritten Sektor in Deutschland aus dem
Jahr 1990 vom Johns Hopkins „Comparative Nonprofit Sector Project (CNP)“
aufgezeigt werden, wobei eine Million Vollzeitstellen, also 3,7 Prozent der
Gesamtbeschäftigung beschäftigt sind. Zwischen 1970 und 1990 hatte sich
die Beschäftigungszahl im Dritten Sektor damit nahezu verdoppelt. Für den
Zeitraum 1997 bis 2005 weist das Institut der deutschen Wirtschaft ein Beschäftigungswachstum von 16 Prozent im Dritten Sektor aus, verglichen mit
vier Prozent Gesamtbeschäftigungszuwachs. Demzufolge beschäftigte der
Sektor 1997 7,7 Millionen Menschen und im Jahr 2005 bereits fast neun Millionen Erwerbstätige, 23 Prozent der Gesamterwerbstätigen. Der Sektor erzielte 11,5 Prozent der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung. Das Problem ist
die fehlende Trennschärfe der Definition eines Sozialunternehmers. So ist der
größte deutsche Arbeitgeber, die Caritas mit 482.000 Mitarbeitern, eben kein
hinreichender Beleg für Sozialunternehmertum, und auch die internationalen
Vergleiche sind irreführend. Das Sozialunternehmertum ist weiterhin nicht
hinreichend aus der Perspektive der Renditedifferenzierung abzuleiten.
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Vielmehr scheint es für eine Forschungsagenda angebracht, dass die Sozialunternehmertum-Forschung sich mit der Theorie der öffentlichen Güter, der
Quasimärkte (in genauer Analyse der Branchen), netzwerkbasierter Philanthropie, der Regulierung und damit der institutionellen Voraussetzungen für
„Social Entrepreneurship“ ebenso auseinandersetzen muss wie mit einer anders gelagerten Betriebswirtschaftslehre mit Blick auf Internationalisierung,
Vertriebsstrategien, Mikrofinanzinstrumente und Wachstumsfinanzierung
von Sozialunternehmern.
Ausblick Die Zeppelin University initiiert derzeit gemeinsam mit dem „Center for Social Innovation and Investment (CSI)“ der Universität Heidelberg,
dem „Center for Entrepreneurial and Financial Studies (CEFS)“ der TU München, der Ashoka, der Schwab Foundation sowie weiteren Projektpartnern
eine größere Forschergruppe. Denn auch für Universitäten gilt: Unternehmen
ist das Gegenteil von Unterlassen – in Praxis wie Forschung.
Prof. Dr. Stephan A. Jansen
ist Präsident und Geschäftsführer der Zeppelin ­University
in Friedrichshafen am Bodensee. Er ist zudem Inhaber des Lehrstuhls für Strategische Organisation und
­Finanzierung (SOFI) und forscht schwerpunktmäßig in den ­Bereichen Management-, Organisations- und Netzwerktheorie sowie in der Bildungssystemforschung.
Tim Göbel
ist Mitglied des Präsidiums der Zeppelin University in Friedrichshafen am Bodensee. Dort verantwortet er
unter anderem das Auswahlverfahren der ZU, das
­Stipendiensystem und die Universitätsveranstaltungen.
Mehr Informationen zur Universität unter:
www.zeppelin-university.de
Wissenschaft
Sozialunternehmer
Politik
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S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n
Philanthropie und Kreativität –
Bildungsinitiativen zwischen Qualität
und Veränderung
Von Dr. Mark Speich
Seit Anfang der 90er Jahre öffnet sich in fast allen OECD-Ländern die Schere
der Einkommens- und Vermögensverteilung. In Deutschland hat man diese
Entwicklung durch erhebliche Umverteilungsanstrengungen zu kompensieren versucht. Aber selbst Deutschland bescheinigen jüngste Studien eine
wachsende Ungleichheit.
Diese Entwicklung wäre weniger bedenklich, wenn wir es mit einer dynamischen Gesellschaft und einem glaubhaften Aufstiegsversprechen zu tun
hätten. Einkommens- und Vermögensunterschiede scheinen jedenfalls
eher vermittelbar, wenn jeder kraft Leistung und Wille in der Lage ist, gesellschaftlich aufzusteigen. In Deutschland aber ist der prägende Faktor für die
individuelle Zukunft oft genug die individuelle Herkunft. Und hier liegt der
eigentliche politische Sprengstoff – denn Gesellschaften, die auf der einen
Seite ungleicher werden, auf der anderen Seite aber nur unzureichende soziale Mobilität ermöglichen, riskieren ihre Akzeptanz.
Wenn demografische und budgetäre Restriktionen es immer unwahrscheinlicher machen, Ungleichheit durch Umverteilung auszugleichen, bleibt als
zentrale politische Handlungsstrategie nur die Ermöglichung und Verbesserung sozialer Mobilität. Und diese Handlungsstrategie stellt wiederum die
Frage der Bildung ganz in den Mittelpunkt. So war Bildung immer ein wichtiges gesellschaftliches Thema, aber die möglichen Gefährdungen unserer
gesellschaftlichen Ordnung machen es zum Schlüsselthema.
Dass ein Thema von so elementarer Bedeutung auch zu einem Thema von
Stiftungsarbeit wird, liegt also auf der Hand. Die Bedeutung, die dem Thema Bildung inzwischen in der politischen Rhetorik zukommt, wirft aber zu­-
gleich die Frage der Möglichkeiten von Bildungsinitiativen aus dem Stif-
tungssektor auf. Im Schatten staatlicher Konjunkturprogramme nehmen
sich die den Stiftungen zu Gebote stehenden Mittel recht kümmerlich aus.
Wenn außerdem der Eindruck vermittelt wird, das Heil unseres Bildungssystems liege in einer Erhöhung der Planstellen, stellt sich erst recht die Frage,
was Stiftungen auf diesem Feld ausrichten können. Die dauerhafte Finanzierung öffentlicher Stellen gehörte jedenfalls bislang nicht zur Domäne von
­Stiftungsarbeit.
An der aufkeimenden Skepsis hinsichtlich ihrer Wirkungsmöglichkeiten
sind Stiftungen selbst nicht unschuldig. Im Stiftungswesen grassierte lange
genug ein Pilotprojektismus, der dem Staat im Kleinen zu beweisen suchte,
wie er flächendeckend zu handeln habe. Oftmals konnten diese Projekte
gerade deshalb einen Erfolg vorweisen, weil sie üppige Stiftungsmittel auf
eine eher kleine Gruppe von Individuen konzentriert haben. Flächendeckend
wären solche Vorhaben nie finanzierbar.
Pilotprojekte, deren flächendeckende Anwendung nicht finanzierbar ist
oder die nur die These von der notwendigen Aufstockung staatlicher Mittel
erhärten, sind erstens völlig verzichtbar, zeugen zweitens von einem verantwortungslosen Umgang mit Stiftungserträgen und unterschätzen drittens
auf fahrlässige Weise die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung.
Denn die öffentliche Verwaltung hat manche dieser in Pilotprojekten angedienten Lösungen nicht deshalb schon selbst umgesetzt, weil sie durch
Blindheit geschlagen ist und der Erleuchtung durch Stiftungshandeln harrt,
sondern weil sie sich verantwortungsbewusst im Rahmen eines öffentlichen
Budgets bewegt.
Was heißt das nun für Stiftungshandeln im Bildungsbereich? Gibt es hier tatsächlich Raum für das bürgerschaftliche Handeln von Stiftungen?
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S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n
Meines Erachtens haben Stiftungen ihre Berechtigung auf diesem Hand­
lungsfeld, wenn sie echte Innovationen entwickeln, die skalierbar sind. Der
große Vorteil von Stiftungen liegt gegenüber politisch-administrativen Struk­
turen darin, nicht der Notwendigkeit tagesaktueller Reaktion und Hektik
­unterworfen zu sein, die Kreativität oft genug erstickt.
Um es auf den Bildungsbereich zu beziehen: Die fehlende Kreativität im
­Umgang mit Fragen der Bildung zeigt sich in Deutschland nicht zuletzt darin, dass jede große Bildungsstudie fast zwingend zu einer Diskussion über
das dreigliedrige Schulsystem führt. Nur leider führen wir diese Diskussion
bereits seit 30 Jahren – ohne dass sich an dem eigentlichen Kardinalprob­-
lem, nämlich der kausalen Verkettung von Bildungserfolg und familiärer
­Herkunft, etwas geändert hätte.
„Beim Ansatz der ‚Think-Tanks‘ geht es darum, einen
­aktiven Geburtshelferdienst für Ideen zu leisten
und dann dazu beizutragen, solche Ideen auch in
die Praxis der Anwendung zu übersetzen.“
Was können nun Stiftungen tun, um diese tiefen Schützengräben der bildungspolitischen Situation zu überwinden? Ich sehe hier vor allem zwei
Ansätze, die zugleich über die nötige Hebelwirkung verfügen; der eine ist
fördernd und verbindet sich mit dem Begriff der Venture Philanthropy, der
andere ist operativ und verbindet sich mit dem Begriff des Think-Tanks.
Der Begriff der Venture Philanthropy lehnt sich konzeptionell an die Risikokapitalgeber an, die junge vielversprechende Start-ups mit Risikokapital und
begleitender Beratung versorgen. Der Begriff der Venture Philanthropy richtet
sich auf „Social Entrepreneurs“ – Individuen, die, um bei unserem Thema zu
bleiben, mit einer überzeugenden Idee antreten, um unser Bildungssystem
zu verbessern. Dazu sind sie auf die Finanzierung einer institutionellen und
personellen Grundausstattung angewiesen, die ihnen den Rücken für die
Startphase ihres schöpferischen Unternehmertums frei hält. Genau hier setzt
der Gedanke der Venture Philanthropy an.
Der Begriff „Venture“ macht deutlich, dass eine solche Investition mit dem
Risiko des Scheiterns verbunden sein kann. Nicht jede unternehmerische
Idee, die sich zunächst faszinierend anhört, hat sich am Markt behaupten
können. Stiftungen, die sich auf diesem Feld bewegen, werden also auch
ertragen müssen, gelegentlich zu scheitern.
Der Ansatz des „Think-Tanks“ bewegt sich auch auf dem Marktplatz der Ideen
und der Kreativität, aber er fordert Stiftungen mehr operative Eigenleistung
ab. Denn hier geht es darum, einen aktiven Geburtshelferdienst für Ideen
zu leisten und dann dazu beizutragen, solche Ideen auch in die Praxis der
Anwendung zu übersetzen. Damit muss nicht zwangsläufig die Forderung
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S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n
nach der Erhöhung staatlicher Budgets verbunden sein. Denn bei den guten
Ideen geht es sehr viel eher darum, durch bessere Regulierung zu besseren
Ergebnissen innerhalb des bestehenden Budgetrahmens zu kommen. Man
könnte auch von „smart regulation“ sprechen. Auch hier gibt es ein Risiko
des Scheiterns. Aber die Hebelwirkung bei erfolgreicher „smart regulation“
kann enorm hoch sein.
Bei beiden Ansätzen müssen Stiftungen Risiken eingehen und wahrscheinlich auch Fehler machen. Sich seiner großen Flexibilität zu rühmen, aber bei
der Mittelvergabe ängstlicher und bürokratischer als die öffentliche Hand
vorzugehen, ist jedenfalls kein Erfolgsrezept. Gerade weil sie ihre Existenz so
oft unternehmerischem Vermögen verdanken, sollten Stiftungen sich die Verpflichtung bewahren, auch unternehmerisch zu handeln – dann erhöht sich
jedenfalls die Chance, dass Philanthropie und Kreativität zusammenfinden.
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S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n
Herkunft und Talent:
Neue Wege zur Bildungsgerechtigkeit
Von Dr. David Deißner
„Sage mir, wo du herkommst, und ich sage dir, was aus dir wird.“ Diese Formel
beschreibt – wenngleich zugespitzt – jenen Defekt des deutschen Bildungssystems, der nach den hitzigen bildungssoziologischen Debatten der 60er
und 70er Jahre mit der Veröffentlichung der PISA-Untersuchungen erneut ins
Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt ist: Bildungserfolg ist hierzulande ganz
wesentlich eine Frage der sozialen Herkunft.
Die Bildungssoziologie fasst die Situation wie folgt zusammen: Insgesamt
erbrachte die Bildungsexpansion seit den 50er Jahren „einen Zuwachs an
Bildungschancen für alle Sozialgruppen, aber keinen umfassenden Abbau der
sozialen Ungleichheit“1. Mit anderen Worten: Es gibt mehr Bildung für viele
und zugleich doch immer noch viel zu wenig Bildung für einige.
So beträgt die Chance eines Jugendlichen aus einem Facharbeiterhaushalt,
ein Gymnasium anstelle einer anderen Schulform zu besuchen 3:17, während
für Jugendliche, die aus einer Familie höherer Beamten stammen, die Chancen, ein Gymnasium statt einer anderen Schulform zu besuchen, bei etwa
1:1 liegen. Der eigentlich alarmierende Befund: Selbst Intelligenz und gute
Noten helfen nicht unbedingt weiter. Auch bei gleicher kognitiver Befähigung
haben Kinder aus Akademikerhaushalten eine 2,5-mal höhere Chance auf
den Besuch des Gymnasiums als ihre Klassenkameraden aus bildungsfernen
Elternhäusern. Mangelndes Bildungsbewusstsein und „kulturelles Kapital“
im Elternhaus, aber auch die unbewusste Diskriminierung der Lehrer bei der
Schulempfehlung spielen hier eine entscheidende Rolle.
1 Rolf Becker, Wolfgang Lauterbach (Hrsg.), „Bildung als Privileg“, Wiesbaden 2008.
„Das Glück des individuellen Talents kreuzt sich nach wie vor mit dem Pech
der sozialen Herkunft“, schreibt Heinz Bude, in seinem Buch „Die Ausgeschlossenen – Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“2. Die
Gefahr, dass ein junger Mensch als einer eben jener „Ausgeschlossenen“ endet, als Minijobber und Transferleistungsempfänger, als einer jener Millionen
Menschen, die allen Mut, alle Perspektiven und schließlich die Möglichkeit
gesellschaftlicher Partizipation verlieren, steigt gefährlich an, wenn ihm in
der Kindheit herkunftsbedingt der Zugang zu Bildung verwehrt bleibt. Dies
ist umso mehr der Fall, als der globalisierte Arbeitsmarkt immer weniger gesicherte Beschäftigung für Geringqualifizierte bereitstellt. Je mehr der Arbeitsmarkt auf Dienstleistung und hochqualifizierte Facharbeit einschrumpft,
desto schwerwiegender das Problem ungleicher Bildungschancen.
Angesichts der Dringlichkeit des Problems muss es erstaunen, dass sich die
bildungspolitische Debatte – kommt die Rede auf Bildungsgerechtigkeit –
geradezu reflexartig auf die Frage der Schulstruktur reduziert. Keine Frage:
Die Reform der Struktur wird und soll uns auch weiter beschäftigen. Doch die
ideologisch verengten Streitigkeiten um die Mehrgliedrigkeit des Systems,
den Zeitpunkt des Schulübergangs und die Zukunft der Hauptschule haben
den Blick auf andere innovative und potenziell flächentaugliche Ansätze zur
Förderung der Bildungsgerechtigkeit verstellt. Mit einer Änderung der Struktur des Bildungswesens sind die Probleme noch nicht gelöst, denn soziale
Ungleichheit entsteht vor allem durch das schichtenspezifische Entscheidungsverhalten der Eltern an Bildungsübergängen. Hier walten komplexe
soziopsychologische Prozesse, die sich durch legislative Handstreiche nicht
von heute auf morgen korrigieren lassen. Gleichwohl gibt es Raum für kreative Ansätze.
Entscheidungen – auch Bildungsentscheidungen – verändern sich je nach
Präsentation der vorliegenden Optionen und vorangegangener Erfahrungen,
sie variieren je nach Informationsstand und geglaubter Erfolgsaussicht. Ein
Schulsystem, welches bildungsferne Eltern durch klassische Eltern- und In2 Heinz Bude, „Die Ausgeschlossenen – Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“, München 2008.
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S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n
formationsabende kaum erreicht, ein Schulsystem, das die Bedeutung des
Bildungsübergangs nach der Grundschule nicht allen Eltern gleichermaßen
verständlich zu machen vermag und nicht selten auf „Amtsdeutsch“ kommuniziert, hat hier erheblichen Nachholbedarf.
Das Think-Tank-Projekt Vodafone Talente, das 2009 ins Leben gerufen wurde,
soll genau hier ansetzen. Es bringt Bildungsforscher, Politiker, Experten aus
Schul- und Kultusverwaltung sowie Praktiker aus Schule und Elternarbeit ins
Gespräch, um Instrumente zu entwickeln, die Eltern „entscheidungsfit“ machen und Lehrer für die Wahrnehmung sozialer Unterschiede sensibilisieren
und bei der Schulempfehlung unterstützen. Wenn wir es mit chancengerechter Bildung ernst meinen, wenn wir unentdeckte Talente bergen wollen,
müssen Entscheidungsarchitektur und -kompetenz ganzheitlich in den Blick
genommen werden. Vor allem wird es darauf ankommen, benachteiligte Familien zielgenau anzusprechen und frühzeitig auf Bildungsübergänge vorzubereiten. Hierzu bedarf es innovativer Formate, einer Informationsvermittlung
neuen Typs und gezielter vertrauensbildender Maßnahmen zwischen Schule
und Elternhaus. Die Botschaft ist klar: „Wo auch immer du herkommst – ich
sage dir, was alles aus dir werden kann!“
Dr. David Deißner
ist Projektleiter für Bildung und Bildungsforschung
bei der Vodafone Stiftung Deutschland.
Ausblick
Die Vodafone Stiftung Deutschland im Jahre 2012
Im Jahre 2012 wollen wir eine Stiftung sein, die im Themenfeld Bildung, Integration und soziale Mobilität sichtbare innovative Akzente setzt und so das
politische und gesellschaftliche Zeitgespräch bereichert sowie soziale Innovationen initiiert. Dafür wollen wir uns in den nächsten Jahren die notwendige
Expertise und Reputation erarbeiten. Vorbild sind Think-Tanks amerikanischer
Prägung, die wirkungsvoll an den gesellschaftlichen Debatten mitwirken. Sie
begreifen sich als Agenturen für notwendige Einmischungen. Ein Selbstbild,
das wir für uns ebenfalls heranziehen wollen.
Der Transformationsprozess hat im Jahr 2009 begonnen. Bis dahin hatte die
Stiftung ein sehr heterogenes Betätigungsfeld: Kunst- und Kulturförderung,
Gesundheit sowie Bildung, Integration und soziale Mobilität. In ihrer strategischen Ausrichtung wird sich die Vodafone Stiftung Deutschland neben
der Fortführung ihrer erfolgreichen Kernprojekte im Bildungsbereich zukünftig noch deutlicher als bisher auf die Themenfelder Bildung, Integration und soziale Mobilität konzentrieren. So wird sich die Stiftung verstärkt
als Risikokapitalgeber engagieren und im Sinne der „Venture Philanthropy“
Anschubfinanzierungen für kreative Projektideen im Bereich Bildung und
soziale Mobilität bereitstellen. Darüber hinaus wird die Stiftung ihre Tätigkeit
im Rahmen der Think-Tank-Arbeit ausweiten. In enger Zusammenarbeit von
Wissenschaft, Politik und Praxis sollen Instrumente entwickelt und Projekte
umgesetzt werden, die das Schulsystem für Kinder benachteiligter Familien durchlässiger gestalten und somit die Bildungsgerechtigkeit und soziale
Mobilität befördern.
Unsere Unterstützung gilt überdies Menschen und Ideen, die mit höchster
Überzeugung und Expertise für einen konstruktiven Wandel in Wirtschaft
und Gesellschaft stehen. Und zwar genau dort, wo der Zusammenhalt in
der Gesellschaft gefährdet ist: bei der drohenden sozialen Ungleichheit, die
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S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n
uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sehr schmerzhaft beschäftigen wird. Dabei geht es letztlich um die Stabilität unserer Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung, mindestens aber um ihre breite Akzeptanz in der Bevölkerung.
Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sieht sich allerdings einer tiefen Akzeptanzkrise gegenüber, die durch die gegenwärtige Finanzkrise noch
verschärft wird. Im Kern geht es darum, dass es immer weniger gelingt, die
sich öffnende Schere in der gesellschaftlichen Einkommens- und Vermögensverteilung durch Umverteilung zu schließen. Wachsende Ungleichheit
ist gesellschaftspolitisch aber nur vermittelbar, wenn damit jeder Einzelne
unabhängig von seiner Herkunft bessere Chancen zu gesellschaftlichem Aufstieg und sozialer Mobilität erhält. Andernfalls führt wachsende Ungleichheit
zur schleichenden Delegitimierung einer Gesellschaftsordnung und zu politischer Instabilität.
Im Interesse der gesellschaftlichen Stabilität können wir es uns nicht länger
erlauben, Talente nicht zu entwickeln und brachliegen zu lassen. Hier liegt die
Kernaufgabe der Vodafone Stiftung Deutschland, die sich auch aus den ordnungspolitischen Interessen des Unternehmens Vodafone ableitet. Wir verdanken unser aller Erfolg der Stabilität von Rahmenbedingungen in diesem
Land. Wir müssen also Zugänge schaffen für Menschen, denen der Zugang
zu Bildung, Arbeit und Qualifikation herkunftsbedingt erschwert wird. Als
bildungspolitischer Think-Tank wollen wir Diskurse anstoßen, die im öffentlichen Raum Gehör finden und eine gedankliche Grundlage für die politische
Willensbildung vermitteln. Wir möchten Denker und Entscheider ins Gespräch
bringen und so den Hebel zum gesellschaftlichen Wandel ansetzen.
Wir sind überzeugt: Die Lösungen, die unser Land voranbringen, müssen
crosssektoral erdacht und realisiert werden. Gefangen im jeweiligen Subsystem wird es nicht gelingen, die richtigen Antworten auf die Zukunftsfragen zu
finden. Die Vodafone Stiftung Deutschland möchte hier Grenzen überschreiten und Menschen aus Wirtschaft, Politik, Medien, Kultur und Gesellschaft
zusammenbringen.
Au f e i n e n B l i c k
Stiftungsporträt
Gründer/Gesellschafter
Vodafone D2 GmbH
Rechtsform
gemeinnützige GmbH
Sitz
Düsseldorf
Handelsregistereintrag
Handelsregister B des Amtsgerichts Düsseldorf, HRB 42767
Beirat
Thomas Ellerbeck (Vorsitzender)
Geschäftsführer
Thomas Holtmanns
Dr. Mark Speich
Förderbereiche
Bildung, Integration, soziale Mobilität, Gesundheit, Kunst und Kultur
134 135
Au f e i n e n B li ck
Beirat
Thomas Ellerbeck
Prof. Dr. Dr. h. c.
Werner F. Ebke
Prof. Dr.
Barbara Ischinger
Mitglied der Geschäfts­leitung
Vodafone Deutschland und Vodafone AG, Ressort Konzernkommunikation,
Politik und Stiftungen
Direktor des Institutes für
deutsches und europäisches Gesellschafts- und
Wirtschaftsrecht an der
Universität Heidelberg,
Herausgeber Neue Osnabrücker Zeitung
Direktorin für Bildung bei der OECD, Paris
Cem Özdemir
Prof. Susanne Porsche
Dr. Helmut Reitze
Bundesvorsitzender von
Bündnis 90/Die Grünen
Geschäftsführerin der
summerset GmbH und
Vorstandsmitglied der
Europäischen Akademie
für Frauen in Politik und
Wirtschaft e. V.
Intendant des Hessischen Rundfunks
Vorsitzender
Team
von links nach rechts:
Manuela Dittmann
Assistentin
manuela.dittmann@vodafone.com
Sonja Gigler
Wissenschaftliche Referentin
sonja.gigler@vodafone.com
Stephan Gesing
Projektassistent
stephan.gesing@vodafone.com
136 137
Au f e i n e n B li ck
Dr. Mark Speich
Dr. David Deißner
Geschäftsführer
mark.speich@vodafone.com
Projektleiter Bildung, Bildungsforschung
david.deissner@vodafone.com
Thomas Holtmanns
Petra Wickenkamp
Geschäftsführer
thomas.holtmanns@vodafone.com
Projektleiterin Kunst und Kultur, Stipendienprogramme
petra.wickenkamp@vodafone.com
Danyal Alaybeyoglu
Andrea Zinnenlauf
Pressesprecher
danyal.alaybeyoglu@vodafone.com
Projektleiterin Bildung, Gesundheit
andrea.zinnenlauf@vodafone.com
Das Vodafone Stiftungsnetzwerk
International in 23 Ländern
So international wie das Unternehmen ist auch die Vodafone Stiftungsfamilie. Neben der Vodafone Foundation in Großbritannien gibt es 23 weitere
Stiftungen, die unabhängig operieren und sich gesellschaftlichen Herausforderungen ihrer Heimatländer stellen. Die Vodafone Foundation hat ihre
Ar­beit im Jahre 2002 aufgenommen. Gegründet wurde sie von der ­Vodafone
Group Plc. Seit ihrer Gründung hat sie mehr als 100 Millionen britische Pfund
für soziale Projekte aufgewendet. Die Stiftung unterstützt weltweit unter
anderem Projekte und Institutionen, die im Katastrophenfall schnell und
unkompliziert Hilfe leisten. Dazu gehören unter anderem United Nations
Foundation, Oxfam, Télécoms Sans Frontières und MapAction. Mit diesem Engagement will die Vodafone Foundation zum Aufbau einer Bürgergesellschaft
beitragen. Darüber hinaus setzt sie sich verstärkt in den Bereichen Sport und
Musik ein und stellt in diesen Bereichen zusätzliche Fördermittel bereit. Davon sollen in erster Linie benachteiligte junge Menschen profitieren. Auf die
besonderen lokalen Bdürfnisse und gesellschaftlichen Herausforderungen
gehen 23 nationale Stiftungen ein. Sie sind Ausdruck dafür, dass Vodafone
ein nachhaltiges Interesse daran hat, sich für die Gesellschaft einzusetzen.
Die lokale Präsenz ermöglicht es den Stiftungen, einfach und nah an den
Menschen aktiv zu werden.
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Au f e i n e n B li ck
So gibt es inzwischen folgende Vodafone Stiftungen:
Weitere unternehmensnahe Stiftungen sind:
Vodafone Stiftung Ägypten
Vodafone Stiftung Albanien
Vodafone Stiftung Australien
Vodafone Stiftung Deutschland
Vodafone Stiftung Großbritannien
Vodafone Stiftung Irland
Vodafone Stiftung Italien
Vodafone Stiftung Malta
Vodafone Stiftung Neuseeland
Vodafone Stiftung Niederlande
Vodafone Stiftung Polen
Vodafone Stiftung Portugal
Vodafone Stiftung Rumänien
Vodafone Stiftung Spanien
Vodafone Stiftung Tschechische Republik
Vodafone Stiftung Türkei
Vodafone Stiftung Ungarn
Vodafone Stiftung USA
Vodafone Foundation
Bharti Stiftung, Indien
Safaricom gemeinnützige Stiftung, Kenia
Vodacom Stiftung, Südafrika
Vodafone ATH Fiji Stiftung
Im Registrierungsprozess für eine ­Stiftung
befindet sich Vodafone Griechenland.
­Gemeinnützige Projekte in diesem Land ­
werden derzeit über die Vodafone Foundation
abgewickelt.
Finanzstatus
Vodafone Stiftung Deutschland gemeinnützige GmbH
Berichtszeitraum 2007/2008 und 2008/2009
Mittelherkunft
Zeitraum
Vodafone Foundation, UK
Vodafone D2 GmbH, Düsseldorf
diverse Kleinspenden / Zinserträge
01.04.2008 –
31.03.2009
01.04.2007 –
31.03.2008
4.446.718,00 €
4.440.000,00 €
0,00 €
1.400.000,00 €
57.375,36 €
92.014,35 €
noch nicht abgeflossene Mittel aus dem Vorjahr
1.378.022,20 €
2.197.967,03 €
Summe
5.882.115,56 €
8.129.981,38 €
14 0 141
Au f e i n e n B li ck
Mittelverwendung
Zeitraum
Verwaltung
01.04.2008 –
31.03.2009
01.04.2007 –
31.03.2008
541.581,53 €
601.252,60 €
Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin, Datteln
985.871,25 €
598.844,37 €
Vodafone Stiftungslehrstuhl für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin, Universität Witten/Herdecke
120.000,00 €
0,00 €
80.705,08 €
0,00 €
Themenfeld Gesundheit
KidSwing – Dietrich Grönemeyer Stiftung gGmbH, Bochum
KidSwing – Deutsche Kinderhilfe e.V., Berlin
0,00 €
65.160,96 €
nestwärme e.V., Trier
0,00 €
150.059,30 €
1.186.576,33 €
814.064,63 €
Summe
Themenfeld Bildung, Integration und Soziale Mobilität
buddY E.V., Düsseldorf
1.001.717,98 €
1.016.701,48 €
Vodafone Chancen
850.619,59 €
585.219,95 €
Off Road Kids Stiftung, Bad Dürrheim
609.413,86 €
652.090,63 €
World of Difference – Teach First e.V., Berlin
295.937,68 €
0,00 €
Internationales Integrationssymposium, Berlin
259.297,29 €
538.905,97 €
Entwicklung Themenfeld Soziale Mobilität
169.532,22 €
51.602,85 €
Deutscher Lehrerpreis
165.789,61 €
0,00 €
START, START-Stiftung gGmbH, Frankfurt
98.000,00 €
0,00 €
impACT -Wettbewerb, Jacobs University, Bremen
85.000,00 €
0,00 €
0,00 €
93.206,70 €
33.400,00 €
0,00 €
3
Vodafone Bucerius LERN-WERK Altmark, ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg
Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration GmbH, Berlin
sonstige Förderungen
103.372,50 €
208.841,25 €
3.672.080,73 €
3.146.568,83 €
1.006.024,30 €
1.016.105,25 €
130.180,00 €
132.549,47 €
1.500,00 €
41.418,40 €
Summe
1.137.704,30 €
1.190.073,12 €
Summe Projekte
5.996.361,36 €
5.150.706,58 €
Summe
Themenfeld Kunst und Kultur
Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Klassik Stiftung Weimar
Düsseldorf ist ARTig, Kulturamt der Stadt Düsseldorf
sonstige Förderungen
Impressum
Herausgeber
Vodafone Stiftung Deutschland
gemeinnützige GmbH
Am Seestern 1
40547 Düsseldorf
www.vodafone-stiftung.de
Telefon +49 211 533-5392
Telefax +49 211 533-1898
Verantwortlich
Dr. Mark Speich
Konzeption und Redaktion
Danyal Alaybeyoglu, Düsseldorf
Peter Felixberger, Erding
Andrea Zinnenlauf, Düsseldorf
Texte
Danyal Alaybeyoglu, Düsseldorf
Dr. David Deißner, Düsseldorf
Anja Dilk, Berlin
Peter Felixberger, Erding
Sascha Hellmann, Wallenhorst
Florian Michl, Wien
Grafische Konzeption und Gestaltung
trafodesign GmbH, Düsseldorf
Druck
fgb freiburger graphische betriebe GmbH & Co. KG, Freiburg
Fotonachweise
Amin Akhtar
David Ausserhofer
Britische Botschaft Berlin
buddY E.V.
Düsseldorf ist ARTig
Daniel Gebauer
David Klammer
Klassik Stiftung Weimar
Off Road Kids Stiftung
Aleksander Perkovic
RTL
Erkennen. Fördern. Bewegen.
Vodafone Stiftung Deutschland
gemeinnützige GmbH
Am Seestern 1
40547 Düsseldorf
Telefon: +49 211 533-5392
Telefax: +49 211 533-1898
info@vodafone-stiftung.de
www.vodafone-stiftung.de