Tätigkeitsbericht 2009
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Tätigkeitsbericht 2009
C h a n ce n sch a ffe n Zukunft Denken Einblicke. Ausblicke. Vodafone Stiftung Deutschland Inhalt S t i f t u n g s a k t i v i tät e n F ö r d e r b e r e i c h B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Förderbereich Gesundheit F ö r d e r b e r e i c h K u n s t u n d K u lt u r S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n Au f e i n e n B l i c k 4 8 Vorwort Erkennen. Fördern. Bewegen. Die Vodafone Stiftung Deutschland 14 38 Endlich auf dem Weg zu einer besseren Schule. Prof. Dr. Rita Süssmuth über die Zukunft der Schule in Deutschland Experten in eigener Sache. Das Buddy-Projekt Soziales Lernen im Kontext des Buddy-Projekts für die gelingende Entwicklung junger Menschen. Von Prof. Dr. Herbert Scheithauer Vom Kopf auf die Füße gestellt. Ein Porträt der Geschäftsführerin von Teach First Deutschland, Kaija Landsberg Eine Frage der (L)Ehre. Der Deutsche Lehrerpreis 44 48 Ein Stück des Weges. Die Off Road Kids Stiftung hilft Straßenkindern in Deutschland „Wir wollen den Erfolg!“ Im Gespräch mit Markus Seidel, Off Road Kids Stiftung 50 52 56 60 64 68 hancen geben. Studiumschancen für junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte C Die Welt so richtig verändern – Ein Porträt der Stipendiatin Nikolina Milunovic Vertrauen in die Zukunft – Ein Porträt des Stipendiaten Jakob Henning Zwei Herzen in einer Brust – Ein Porträt der Stipendiatin Suna Turhan We are the world – Ein Porträt des Stipendiaten Nawid Ali-Abbassi Viele deutsche Freunde. Im Gespräch mit Cem Özdemir 72 ie schafft man erfolgreiche Lehr- und Lernumgebungen? Erste Ergebnisse der TALIS-Studie. W Von Prof. Dr. Barbara Ischinger Integration über alles! Im Gespräch mit Thomas Ellerbeck Gegenseitige Hilfe. Botschaftsseminare Die Lücke schließen. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration Qualifikation und Migration: Potenziale und Personalpolitik in der „Firma“ Deutschland. Von Dr. Gunilla Fincke 20 26 28 80 84 88 92 96 em Schmerz das Leben abtrotzen. Das Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerztherapie D und Pädiatrische Palliativmedizin 106 Weimarer Aschebücher 110 Flügel stärken, Schätze heben. Der Jugendkunstwettbewerb „Düsseldorf ist ARTig“ 116 Das Gegenteil von Unterlassen. Von Prof. Dr. Stephan A. Jansen und Tim Göbel 120 Philanthropie und Kreativität – Bildungsinitiativen zwischen Qualität und Veränderung. Von Dr. Mark Speich 126 Herkunft und Talent: Neue Wege zur Bildungsgerechtigkeit. Von Dr. David Deißner 130 Ausblick. Die Vodafone Stiftung Deutschland im Jahre 2012 134 135 136 138 140 142 Stiftungsporträt Beirat Team Das Vodafone Stiftungsnetzwerk. International in 23 Ländern Finanzstatus Impressum 4 5 Vorwort Vorwort Die Vodafone Stiftung Deutschland versteht sich als aktiver Partner einer lebendigen Zivilgesellschaft. Wir glauben an die Kraft dieser Zivilgesellschaft, in der Bürgerinnen und Bürger, Politik, Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaft gemeinsam die langfristigen gesellschaftlichen Herausforderungen angehen, Chancen erkennen, handeln und damit Zukunft gestalten. Dieser Gestaltungswille treibt uns an, den Beirat der Stiftung, die Geschäftsführung und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie unsere ehrenamtlichen und hauptamtlichen Projektpartner. Und er verbindet uns mit Schwesterstiftungen in 23 weiteren Ländern. Wir blicken gemeinsam auf ein sehr aktives Jahr in der Stiftung zurück. Mit diesem Bericht wollen wir Einblick geben und Ausblick wagen – Transparenz schaffen und Zukunft denken. Der vorliegende Tätigkeitsbericht ist damit zugleich Ausdruck eines grundlegenden Wandels unserer Stiftungsarbeit. Er zeigt Beispiele erfolgreicher Projekte der letzten Jahre ebenso wie das künftige Profil. Während unser Schwerpunkt heute auf den drei Säulen „Bildung, Integration und soziale Mobilität“, „Gesundheit“ sowie „Kunst und Kultur“ liegt, stellen wir in Zukunft noch deutlicher den Bildungsbezug in den Mittelpunkt unserer Arbeit. Bildung ist der wichtigste Rohstoff einer Wissensgesellschaft. Die Vodafone Stiftung Deutschland will innovative Wege erkunden und in den Schulen begleiten, um der jungen Generation bessere Chancen in einer global vernetzten Welt zu bieten. Denn Herkunft entscheidet nach allen Untersuchungen immer noch über berufliche Chancen, Karriere und damit über die persönliche Zukunft. Menschen sind unterschiedlich; deshalb ist echte Chancengleichheit eine Illusion. Ent- scheidend ist es, jedem Menschen die Chance zu geben, die in ihm angelegten individuellen Talente zu verwirklichen, also Chancengerechtigkeit zu schaffen. Dabei geht es auch um die Frage: Wie ermöglichen wir mehr Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus sozial schwächeren oder aus so genannten „bildungsfernen“ Familien einen sozialen Aufstieg in unserem Land? Dieser Weg beginnt sehr früh. Mit dem Erlernen von Sprache, der Entdeckung und Förderung von Talenten, der richtigen Wahl der weiterführenden Schule und der Stärkung sozialer Kompetenzen – im persönlichen Lebensumfeld wie auf dem Schulhof. Es gilt aber auch Lehrerinnen und Lehrer zu unterstützen, sie zu stärken und ihre großartige Leistung anzuerkennen. Die Förderung sozialer Mobilität und die Realisierung von Aufstiegschancen sind für die Vodafone Stiftung Deutschland eine zentrale Herausforderung, um aus Potenzialen echte Chancen für den Einzelnen werden zu lassen. Dies gilt umso mehr für viele jungen Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte. Deutschland ist ein Zuwanderungsland. Wir wissen inzwischen, gelungene Integration wird entscheidend sein für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, aber sie ist ebenso wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft in vielen Städten. Wir wollen deshalb „Leuchtturm-Projekte“ wie unser Hochschulprogramm „Vodafone Chancen“ stärken und mit „Vodafone Talente“ in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Berlin innovative Modelle für die Breite auf ihre Praxistauglichkeit untersuchen. Operativ tätige Stiftungen verstehen sich grundsätzlich als „Ermöglicher“ des Neuen – wir leisten auf vielen Feldern Laborarbeit. Und wir haben das besondere Privileg – und zwar viel stärker, als es dem Staat möglich ist – , „soziales Risikokapital“ einzusetzen, um neue Wege zu erkunden, die Erkenntnisse mit anderen zu teilen und im besten Fall dann mit anderen Akteuren der Zivilge- 6 7 S t i f t u n g s a k t i v i tät e n sellschaft als Lösung in der Breite anzubieten. Wir sind uns dieses besonderen Privilegs langfristiger Orientierung sehr bewusst und werden alles daransetzen, dieses Privileg auch künftig zum Wohle unserer Gesellschaft zu nutzen. Dieses Verständnis teilen wir mit vielen anderen Stiftungen in Deutschland. Wir glauben an die aktive Verantwortungsgemeinschaft einer modernen Zivilgesellschaft und wir fühlen uns verantwortlich! Ihr Thomas Ellerbeck Vorsitzender des Beirats Vodafone Stiftung Deutschland Erkennen. Fördern. Bewegen. Die Vodafone Stiftung Deutschland Von Thomas Holtmanns und Dr. Mark Speich Förderbereich Bildung, Integration und soziale Mobilität Förderbereich Kunst und Kultur Förderbereich Gesundheit 8 9 S t i f t u n g s a k t i v i tät e n Die Stiftungslandschaft in Deutschland blickt in den letzten beiden Jahren auf eine rasante Entwicklung zurück. Es gab einen wahren Gründungsboom. Die Zahl neuer Stiftungen ist kontinuierlich gestiegen. Allein 2008 wurden mehr als 1.000 Gründungen eingetragen. Seit dem Einbruch der Finanzmärkte ist die Zahl zwar leicht zurückgegangen – trotzdem wird in diesem Jahr mit weiteren Initiativen gerechnet. Etwa 15 Prozent der rund 16.500 Stiftungen in Deutschland haben sich auf den Bereich Bildung spezialisiert. Mit einem Jahresbudget von sechs Millionen Euro nimmt die Vodafone Stiftung Deutschland gGmbH einen Platz im Mittelfeld ein. Die Stiftung will sich aber vor allem an der Effizienz ihrer Projekte messen lassen und einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt in Deutschland leisten. Die herausragenden Projekte der Stiftung stellen wir im vorliegenden Tätigkeitsbericht näher vor. Dieser Bericht soll Einblicke geben und Ausblick zugleich sein. Die Projekte der Stiftung lassen sich in einer 3-Säulen-Struktur abbilden. Säule 1: Förderbereich Bildung, Integration und soziale Mobilität buddY E.V. – Buddy-Projekt Off Road Kids Stiftung Vodafone Chancen – Stipendienprogramm Teach First Deutschland Internationales Integrationssymposium Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration Botschaftsseminare Soziale Mobilität – Integration durch Aufstieg Säule 2: Förderbereich Gesundheit Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin Vodafone Stiftungslehrstuhl für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin Säule 3: Förderbereich Kunst und Kultur Unterstützung der Restaurierung des Buchbestandes der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Kunst- und Kulturwettbewerb „Düsseldorf ist ARTig“ Unser Leitmotiv bei der Auswahl unserer Projekte in allen drei Bereichen lautet: Erkennen. Fördern. Bewegen. 10 11 S t i f t u n g s a k t i v i tät e n Im Förderbereich Gesundheit unterstützen wir Forschung und innovative Therapiemethoden, die „das Leid von Kindern mit lindern“ können. Überdies haben wir an der Universität Witten/Herdecke den weltweit ersten Lehrstuhl für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin eingerichtet. Kurzum: Verantwortung erkennen. Benachteiligte fördern. Prozesse be wegen. Lesen Sie hier unsere Reportage auf den Seiten 96–103. Im Förderbereich Kunst und Kultur geht es bei der Wiederbeschaffung und Restaurierung des Buchbestandes der Herzogin Anna Amalia Bibliothek um den Erhalt eines wertvollen Weltkulturerbes. Darüber hinaus wollen wir mit dem Kulturwettbewerb „Düsseldorf ist ARTig“ junge Menschen ermutigen, sich mit Kunst und Kultur auseinanderzusetzen. Kurzum: Wertvolles erkennen. Kreativität fördern. Jugendliche bewegen. Lesen Sie hier unsere Berichte auf den Seiten 106–113. Im Förderbereich Bildung stehen die Entwicklungschancen junger Menschen im Vordergrund. Die Bandbreite reicht vom „Buddy-Projekt“, das Verantwortungsbewusstsein und soziales Miteinander unter Schülern stärken soll, über Off Road Kids – die einzige bundesweit tätige Hilfsorganisation für Straßenkinder – bis hin zum Vodafone Chancen Stipendienprogramm und dem weltweiten Förderprogramm der Vodafone Stiftungsfamilie „World of Difference“. Kurzum: Chancen erkennen. Begabung fördern. Bildung bewegen. Lesen Sie hier unsere Berichte und Reportagen auf den Seiten 14–93. Ziel der Vodafone Stiftung Deutschland ist es im Berichtszeitraum 2008/2009 gewesen, Impulse für den gesellschaftlichen Fortschritt zu geben, die Entwicklungen einer aktiven Bürgergesellschaft zu unterstützen und gesellschaftspolitische Verantwortung zu übernehmen. Dabei geht es uns vor allem darum, benachteiligten Kindern und Jugendlichen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Jetzt aber beginnt in der Vodafone Stiftung Deutschland der Transformationsprozess, der in dieser Publikation ebenfalls dargestellt werden soll. Im Kapitel „Strategische Perspektiven“ erfahren Sie mehr über unsere neue thematische Fokussierung auf die Segmente „Bildung, soziale Mobilität und Integration“. F ö r d e r b e r e i c h B i l d u n g , I n t eg r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät 14 15 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Endlich auf dem Weg zu einer besseren Schule Im Gespräch mit Prof. Dr. Rita Süssmuth über die Zukunft der Schule in Deutschland Sehr geehrte Frau Professor Süssmuth, Unser Schulsystem muss endlich so aufgestellt werden, dass Sie gelten als ausgewiesene Bildungs wir stärker die individuellen Potenziale unserer Kinder statt ihre expertin und haben sich immer wieder in öffentliche Debatten eingemischt. Defizite im Blick haben. Wir brauchen mehr individuelle Förde- Vor welchen konkreten Herausfor rung und müssen daher Formen des Lernens und des Lehrens derungen steht Deutschlands Bildungslandschaft in den kommenden Jahren? Raum geben, die dieses Ziel unterstützen. Mehr Sensibilität für den Einzelnen in der Schule ist gefragt, schließlich müssen Bildungseinrichtungen viel mehr leisten als bloße Wissensvermittlung: Schule muss zu einem Lebensraum werden, der die Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen erfüllt. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir, dass Lernen nur dann erfolgreich ist, wenn es auf sozialer, kognitiver und emotionaler Ebene stattfindet und für den Lernenden konkret nutzbar ist. Frontalunterricht hat sich dazu nur bedingt als probates Mittel erwiesen. Zu viele Schüler verlassen die Schule ohne Schulabschluss, jährlich 80.000. Hunderttausende warten auf einen Ausbildungsplatz. Mehr als 20 Prozent gelten als nur bedingt ausbildungsfähig (PISA 2003). Die Durchlässigkeitschancen bestehen auf dem Papier, in der Praxis liegen sie statistisch bei 15 Prozent. Die Zahl der Absteiger vom Gymnasium auf Real- und Hauptschulen ist weitaus größer als die der Aufsteiger. Das dreigliedrige Schulsystem leistet nicht, was es zu leisten beansprucht. Grundschüler bereits nach der vierten Klasse auf Haupt-, Realschulen und Gymnasien aufzuteilen, ist viel zu früh. Im europäischen Vergleich sehen wir, dass nur im deutschsprachigen Raum an dieser Tradition festgehalten wird, während sich unsere Nachbarn längst von „Schüler, die sich als Buddys engagieren, stehen ihren jüngeren Mitschülern als Paten zur Seite oder helfen anderen dabei, Konflikte und Streit zu lösen.“ diesem Konzept verabschiedet haben. Fakt ist, dass Schüler enorm davon profitieren, dass sie länger gemeinsam und vor allem altersübergreifend lernen. In Deutschland setzt sich diese Erkenntnis immer stärker durch, jedoch fehlt bei uns noch der Schritt vom Sehen zum Handeln. Wir brauchen eine „neue Schule“, die gerecht und leistungsstark ist. Welche Kompetenzen und Fähigkeiten Um in der Welt von morgen erfolgreich zu sein, ist es wichtig, müssen die Erwachsenen von morgen dass die Kinder von heute persönliche Kompetenzen auf emo mitbringen, um in der Arbeitswelt bestehen zu können? tionaler, sozialer und kognitiver Ebene entwickeln. Das bedeutet, dass sie zu wissens- und charakterstarken Menschen heranwachsen können und auf Grundlage ihres gesunden Menschenverstandes in der Lage sind, eigenverantwortlich zu handeln. Zu oft wird in unserer Gesellschaft gerade die Ausbildung emotionaler und sozialer Kompetenzen vernachlässigt und zu einseitig Wert auf den kognitiven Erwerb von Wissen gelegt. Aber um in einer Gemeinschaft leben zu können, sind Empathie und ein Gespür für die eigenen Bedürfnisse und die unserer Mitmenschen unablässig. Erwachsene von morgen müssen in der Lage und willens sein, zeit ihres Lebens weiter zu lernen und sich weiterzuentwickeln. In einer global vernetzten Welt brauchen wir Mehrsprachigkeit, Vertrautheit im Umgang mit den modernen digitalen Medien, Allgemeinbildung kombiniert mit guten ausbaufähigen Fachkenntnissen. Die alte Unterscheidung von „Hard“ und „Soft Skills“ gehört der Vergangenheit an. Gerade die sozialen und interkulturellen Kompetenzen zählen international zu den „Hard Skills“. Sie sind nicht weniger wichtig als Sprachen und Naturwissenschaften. Nun ist es Aufgabe von uns Erwachsenen, unseren Kindern die Möglichkeit zu geben, diese Fähigkeiten auch zu erwerben. 16 17 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Welche Rolle spielt in diesem Zusammen- Das Buddy-Projekt ist ein Programm zum sozialen und zugleich hang das Buddy-Projekt? kognitiven Lernen, das primär auf die Potenziale der Kinder, auf ihre spezifischen Stärken und Fähigkeiten setzt. Kinder und Jugendliche sollen in und außerhalb der Schule ihre wichtigen persönlichen Kompetenzen ausbilden. Schüler, die sich als Buddys engagieren, stehen ihren jüngeren Mitschülern als Paten zur Seite oder helfen anderen dabei, Konflikte und Streit zu lösen. Dadurch lernen sie, Konflikte auf eine gewaltfreie und konstruktive Weise zu lösen und füreinander da zu sein, aufeinander zu achten. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Buddy-Projekts ist sein Beitrag für die individuelle Förderung von Schülern auf der Basis von „Schüler für Schüler“. Unterricht nach dem BuddyPrinzip bedeutet, dass Schüler gemeinsam lernen und sich gegenseitig mit dem Unterrichtsstoff helfen. Lernstärkere Schüler unterstützen ihre lernschwächeren Mitschüler. Der Lehrer ist dabei ein Lernbegleiter im Sinne eines Coachs. An Buddy-Schulen findet Unterricht häufig altersübergreifend statt, was zu einem wechselseitigen Kompetenzerwerb zwischen Älteren und Jüngeren führt, von dem beide profitieren. Auch die Trennung zwischen den einzelnen Schulformen brechen Buddys häufig auf: Hauptschüler kümmern sich als Lernhelfer um Kinder aus Förderschulen, üben mit ihnen Lesen und Schreiben oder helfen ihnen, wenn sie körperlich benachteiligt sind. Das Buddy-Prinzip geht sogar über die Schule hinaus: Wir wissen, dass zahlreiche Buddys in Seniorenheime gehen und für die älteren Mitbürger Computerkurse veranstalten oder ihnen erklären, wie man mit einem Handy SMS verschickt. Das Buddy-Projekt hat eine stark integrative Wirkung, da es Menschen miteinander verbindet und eine zwischenmenschliche Beziehung zwischen ihnen herstellt. Zuletzt ist von Ihnen das Buch er Wir haben gerade erst begonnen, ernsthaft die Integration der schienen „Migration und Integration: besonders sozial und ökonomisch benachteiligten Migranten- Testfall für unsere Gesellschaft“. Warum will uns die Integration von kinder vorschulisch und schulisch voranzubringen. Jahrzehn- Migrantenkindern nicht gelingen? telang wurde davon ausgegangen, dass die Migrantenfamilien sich nur befristet in Deutschland aufhalten und danach in ihre „Entscheidend ist, möglichst früh zu beginnen und soziale Zugehörigkeit zu ermöglichen.“ Herkunftsländer zurückkehren. Die Realität sieht anders aus. Viele sind nach dem Anwerbestopp 1973 zurückgewandert, aber Millionen sind geblieben. In Deutschland leben laut Mikrozensus 15,7 Millionen Migranten, das heißt fast 20 Prozent. Immer wieder wurde öffentlich behauptet, dass Integration von Menschen aus anderen Kulturen nicht gelingen könne. Zu verschieden seien die Lebensstile, die Bildungsvoraussetzungen und die religiösen Bindungen. Inzwischen haben uns gute Schulen gezeigt, welche Potenziale Migrantinnen und Migranten mitbringen, wie sehr viele von ihnen motiviert sind, mit größten Anstrengungen wirtschaftlich und sozial aufzusteigen. Entscheidend ist, möglichst früh zu beginnen und soziale Zugehörigkeit zu ermöglichen. Frühe Sprachförderung, Verbesserung der Bildungschancen durch individuelle Förderung, mehr Gelegenheit zur Integration durch entsprechende Angebote in Ganztagsschulen erhöhen Beteiligung und verringern Ausgrenzung. Bildungschancen hängen nicht primär von der ethnischen Zugehörigkeit, sondern vom sozioökonomischen Status ab. Es fehlte bislang an Wertschätzung, bestimmend waren die Defizite, nicht die Potenziale. Die Förderung begabter und hochbegabter Schüler und Studierender gibt es erst wenige Jahre. Angesichts unserer demografischen Lage und unserer humanen und demokratischen Überzeugungen haben wir in Deutschland zu beweisen, dass Integration der Migranten wie die Teilhabe aller in Deutschland lebenden Angehörigen anderer Kulturen und sozial benachteiligten Gruppen gelingen kann. 18 19 B i l d u n g , I n t eg r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Sie sind selbst Mutter einer Tochter. Wie Unsere Tochter ging gerne zur Schule, sie nahm sie vielleicht haben Sie den Schulalltag Ihres Kindes manchmal zu ernst. Da sie sehr selbstständig war, haben wir uns erlebt? Was schätzen Sie am deutschen Schulsystem, was weniger? um die Schulaufgaben wenig kümmern brauchen. Sie hat gute, engagierte Pädagogen gehabt, aber auch solche, die nur ihren Fachunterricht abhielten und sich wenig um das einzelne Kind und seine Nöte kümmerten. Entscheidend im Gymnasium war stets das Fachliche. Geschätzt habe ich die beeindruckenden Lehrerpersönlichkeiten, die zugleich fachlich kompetent und beziehungsstark waren. Geschätzt habe ich auch die Kombination von reproduktivem und problemlösendem kreativen Lernen. Negativ stößt bei mir bis heute auf, wie sehr die Schulchancen eines Kindes vom Elternhaus abhängen, besser gesagt von den Möglichkeiten, ihre Kinder emotional und fachlich zu unter stützen. Milliarden werden in der Bundesrepublik für Nachhilfestunden von den Eltern gezahlt. Zu viele junge Menschen bleiben auf der Strecke. Unser Schulsystem ist stärker auslesend als fördernd. Die erzieherischen Probleme haben in jüngster Zeit zu einer Öffnung der Schule geführt. Sozialarbeiter arbeiten mit Fachlehrkräften zusammen, vor allem in den Haupt- und Förderschulen. Sport- und Musikvereine haben ebenso Zugang wie die Wirtschaft. Und endlich wird der Stellenwert der Lehrerbildung, der didaktisch-pädagogischen Ausbildung wiederentdeckt. Wir sind endlich auf dem Weg zu einer besseren Schule. 20 21 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Experten in eigener Sache In Schulen muss sich viel ändern, heißt es oft in Feiertagsreden und Leitartikeln. Der buddY E.V. hat wegweisende Konzepte für die Praxis entwickelt. Immer mehr Schulen und Lehrer sind davon überzeugt. Es ist eine kurze, aber eindringliche Episode aus dem Alltag des Familienvaters Roman R. Rüdiger. Eine Mutter aus der Schule seiner Tochter Lilli ist verzweifelt, rauft sich die Haare. Denn egal, wie sehr sie sich bemüht – der Sohn ist und bleibt in Englisch eine Niete. Sie lernt mit ihm Vokabeln, sie ist streng, dann wieder milde. Sie versucht es mit allen Tricks. Vergebens. „Das Schlimmste war für mich“, sagt sie eines Tages zu Rüdiger, „da fahren wir in den Urlaub, er lernt ein nettes Mädchen kennen und fängt an, Englisch mit ihr zu sprechen.“ „Es war eine schöne Erfahrung für mich, meinem ‚Patenkind’ am ersten Tag die Schule zu zeigen und zu sehen, wie sehr es sich freut. Es ist ein gutes Gefühl, jemandem helfen zu können.“ Wiebke, 14, Buddy-Schülerin aus Willingshausen „Das ist einfach ein Problem“ – nicht nur von Eltern, sondern besonders von Lehrern. Sie vermitteln Wissen auf einer sehr abstrakten Ebene, anstatt an real existierenden Problemen Schulstoff zugänglich zu machen. „Was viel effektiver ist“, sagt der 42 Jahre alte Familienvater und Geschäftsführende Vorstand von buddY E.V. Seit 2005 trägt Rüdiger die Verantwortung für die Entwicklung dieses Vereins, der einen grundsätzlichen Wandel an Deutschlands Schulen anstrebt: Weg vom Frontalunterricht für alle, hin zur individuellen Förderung der Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler. Neu ist dieser Weg keineswegs. Längst haben Lern- und Hirnforschung bestätigt, dass Schüler umso erfolgreicher lernen, je mehr sie zu Akteuren ihres Lernens werden. Oder anders gesagt: „Wenn Schüler nicht bloß zu beschulende Objekte sind, sondern handelnde Subjekte.“ „Mit der Einführung des Buddy-Programms ‚Aufeinander achten. Füreinander da sein. Miteinander lernen’ in Thüringen konnte den weiterführenden Schulen ein hervorragendes Instrument zur Schulentwicklung angeboten werden. Die Schulen k önnen im Rahmen ihrer Eigenverantwortlichkeit, unter Nutzung des pädagogischen Konzepts des Buddy-Programms, welches auf den vier Säulen: Peergroup Education, Selbstwirksamkeit, Lebensweltorientierung und Partizipation beruht, den für Thüringer Schulen definierten Qualitätsrahmen gestalten. Die reibungslose Zusammenarbeit mit dem buddY E.V. e rleichtert unsere Arbeit sehr.“ Marion Dörfler, Oberamtsrätin, Thüringer Kultusministerium, Erfurt In der Pädagogik nennt man diesen Ansatz „Peergroup Education“ – eine Idee, die das erste Mal mit der einsetzenden Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftaucht. Arbeitern sollte damals flächendeckend Lesen und Schreiben beigebracht werden. Das Prinzip: Man vermittelte einigen wenigen die notwendigen Sprachwerkzeuge, die sie wiederum an Freunde weitergeben konnten. Und vertraute auf das Wissen, die Erfahrung und die Fähigkeiten der Peers, also der „Gleichaltrigen“ und „Gleichgesinnten“. Genau diesen Ansatz verfolgt auch der buddY E.V.: „Schüler sind Experten in eigener Sache“: Sie achten aufeinander, sind füreinander da und lernen miteinander. Das ist das Motto, das gleichzeitig im Namen des Vereins steckt: Buddy bedeutet so viel wie Kumpel, Kamerad und enger Freund. Ziel des Vereins ist es, dass Schüler „alle rechtlich möglichen Bereiche selbst gestalten, um so selbstverantwortlich zu handeln. Das fängt an bei der Schülermitverwaltung, bei grundsätzlichen Fragen der Schulentwicklung und geht bis zum täglichen Umgang miteinander.“ Beispielsweise übernehmen ältere Schüler Patenschaften für jüngere, sie unterstützen diese bei Lese- oder Lernschwierigkeiten, machen mit ihnen Hausaufgaben, treten als Streitschlichter auf oder leisten bei Verletzungen von Mitschülern Erste Hilfe. Andere Buddys wiederum engagieren sich außerhalb der Schule in Kindergärten oder Seniorenheimen. Kurzum: Schüler handeln eigenverantwortlich und erleben damit ihre eigene Selbstwirksamkeit, die Erfahrung, mit dem eigenen Können und Engagement etwas zu bewirken. Daraus resultiere ein gesundes Selbstwertgefühl, das heute so vielen Kindern und Jugendlichen abhandengekommen sei, meint Rüdiger. Überdies würden sich Schüler durch das Buddy-Prinzip eine Reihe anderer sozialer Kompetenzen aneignen. 22 2 3 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Beispielsweise die kommunikative Kompetenz, also die Fähigkeit, einen kon trollierten Dialog zu führen. Einerseits um die eigenen Interessen zu vertreten, andererseits um auch auf die Wünsche und Bedürfnisse der Kommunikationspartner eingehen zu können. Genauso lernen Schüler, partnerschaftlich mit anderen bei der Lösung einer Aufgabe zusammenzuarbeiten. Und damit notwendigerweise auch, wo die eigenen und die fremden Fähigkeiten liegen. Allerdings bedarf das Buddy-Prinzip einer „komplett veränderten Umgangs-, Lehr- und Lernkultur“, sagt Rüdiger. Und meint zuallererst eine erweiterte Lehrerrolle: „Es geht nur, wenn sich der Lehrer sukzessive zurücknimmt und als Coach oder Lernbegleiter fungiert. Das ist für die Buddy-Idee die notwendige Voraussetzung.“ Und gleichzeitig das Hauptproblem, mit dem die Mitarbeiter und Trainer des buddY E.V. kämpfen. Denn die deutschen Lehrer sind nicht als Coachs ausgebildet. Sie sind Einzelkämpfer, die alleine vor der Klasse stehen, alles selbst organisieren und gewohnt sind, immer recht zu haben. Aus diesem Grund sei es sinnlos, das Buddy-Prinzip einzeln an Schulen zu verankern, sondern notwendig, „systemrelevant hineinzugehen“ – also mit der Rückendeckung der Kultusministerien in den Bundesländern. „Ich mag es, wenn die Kinder nach dem Streit wieder ordentlich miteinander umgehen. Dann weiß ich, dass ich etwas Gutes gemacht habe.“ Luise, 10, Buddy-Schülerin aus Berlin Das politische Parkett ist kein Neuland für Rüdiger. Bevor er bei buddY E.V. die Geschäftsführung übernommen hat, war er in unterschiedlichen Funktionen als Sozialmanager in Jugend- und Wohlfahrtsverbänden tätig. Bisher hat Rüdiger mit den Ministerien gute Erfahrungen gemacht – den Impuls, das eigene System schützen zu wollen, spürt er dort nicht. Im Gegenteil: „Sie stehen unserem Bildungskonzept sehr offen gegenüber.“ Tatsächlich arbeiten bereits 820 Schulen mit 410.000 Schülern in fünf Bundesländern mit dem Buddy-Prinzip: Berlin, Niedersachsen, Thüringen, Hessen und NordrheinWestfalen. Damit gibt es kein anderes Bildungsprojekt in Deutschland, das sich in so kurzer Zeit so weit verbreitet hat. Überdies wurde das Buddy-Projekt als ausgewählter Ort im Land der Ideen 2009 geehrt, einer bundesweiten Initiative unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Horst Köhler. „Ich engagiere mich als Buddy-Coach, weil die Schülerinnen und Schüler in den Projekten Kompetenzen zeigen können, die im Schulalltag nicht im M ittelpunkt stehen. Sie bringen ihre kreativen Ideen ein, erleben sich selbst in neuen Rollen und stellen fest, dass sie durch ihr Engagement etwas an der Schule bewirken können. Für das tägliche Miteinander gibt es kaum etwas Besseres.“ Ingo Malkemper, Schulsozialarbeiter und Buddy-Coach an der Hauptschule Heidenoldendorf, Detmold Seit 1999 existiert das Buddy-Projekt. Entstanden ist es als Idee eines ande- ren langjährigen Stiftungspartners, der Off Road Kids Stiftung. Ziel war es, einen Weg zu finden, Straßenkinder-Schicksale zu verhindern. Seither macht die Vodafone Stiftung Deutschland Schulen und Lehrer mit den pädagogischen Grundlagen des Projekts vertraut: Sie stellt Materialien zur Verfügung und bildet Lehrer zu Buddy-Coachs aus. 2005 wurde dazu eigens der Verein buddY gegründet, nachdem der Erfolg professionellere Strukturen verlangte. Die Vodafone Stiftung Deutschland ist Initiator und Hauptförderer des Projekts. Von Anfang an dabei ist Andrea Zinnenlauf, die in der Stiftung für das Projekt verantwortlich zeichnet. „Wir sind stolz, dass aus dem Buddy-Projekt mittlerweile ein bundesweit erfolgreiches Bildungsprogramm geworden ist, das auf die Etablierung nachhaltiger Strukturen setzt.“ Im größeren Kontext, so Zinnenlauf, vermittle buddY die Haltung, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere verantwortlich zu sein. Kein Wunder, dass Roman R. Rüdiger das Ziel formuliert, das Buddy-Prinzip künftig an mindestens 1.000 Schulen „nachhaltig“ zu verankern. Das bedeutet, dass der Verein die Schulen über die Grundphase hinaus mehrere Jahre begleiten will, um eine „Qualitätssteigerung der einzelnen Projekte“ zu ermöglichen. Außerdem will Rüdiger den Fokus der Arbeit von der Sekundarstufe 1 auf den Grundschulbereich ausdehnen. Dazu laufen erste Pilotprojekte. Ende 2009 sind sie abgeschlossen und dem Roll-out 2010 steht nichts mehr im Weg. Das Land Niedersachsen will schon heute das Programm landesweit übernehmen, freut sich Rüdiger. Den Erfolg erklärt er sich unter anderem auch damit, dass das Buddy-Prinzip Lehrer immens entlastet. „Das ist ein großer Hebel. Aber nur dort, wo es die Schulen tatsächlich wollen. Halbherzig hat es keinen Sinn.“ 24 2 5 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät „Ich mag an meiner Buddy-Tätigkeit besonders, den Kleineren bei Problemen mit Größeren zu helfen. Das ist eine Aufgabe für verantwortungsbewusste Kinder.“ Nora, 10, Buddy-Schülerin aus Berlin „Ich habe als Lehrer am Training zum Buddy-Coach teilgenommen, um Werkzeuge und Methoden zu erlernen, wie ich mit Störfaktoren in der Schule konstruktiver umgehen kann. Mein Ziel ist es, in der Schule ein Klima zu erzeugen, das die Last von einem einzigen Lehrer als Einzelkämpfer abnimmt. Es geht mir darum, Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen und Verantwortung in die Hände der Schüler zu legen. Gleichzeitig möchte ich neue Wege finden, um Kinder für den Unterrichtsstoff zu motivieren: Ich möchte sie in die Lage versetzen, sich auf die Unterrichtssituation einlassen zu können, also Präsenz erzeugen.“ Ulrich Gosebruch, Buddy-Coach an der Städtischen Gemeinschaftsgrundschule Knittkuhl in Düsseldorf „Es ist ein gutes Gefühl, zu sehen, wie zufrieden meine Mitschüler wieder sind, nachdem wir einen Streit unter ihnen geschlichtet haben.“ Jenny Nadine, 12, Buddy-Schülerin aus Frankfurt am Main Der Vorstand des buddY E.V. (von links nach rechts): Wolfgang R. Assmann Winfried Kneip Prof. Dr. Rita Süssmuth Michael Hein Anke Kliewe Roman R. Rüdiger G a s t b e i t r ag v o n P r o f. D r . H e r b e r t Sc h e i t h au e r Soziales Lernen im Kontext des Buddy-Projekts für die gelingende Entwicklung junger Menschen Prozesse des sozialen Lernens tragen wesentlich dazu bei, dass Kinder und Jugendliche wichtige Entwicklungsaufgaben erfolgreich bewältigen, wie zum Beispiel im Kindesalter die Entwicklung von Gewissen und Moral oder der Aufbau positiver Gleichaltrigen- und Freundschaftsbeziehungen sowie im Jugendalter der Aufbau reiferer Beziehungen, sozial verantwortliches Verhalten oder der Aufbau eines Wertekanons. Soziales Lernen ist zudem Grundlage für handlungsorientiertes, problemlösendes Lernen, für Empathie und Antizipationsfähigkeit. Soziales Lernen nutzt dabei Mechanismen der Gruppendynamik zur Herausbildung dieser wichtigen Schlüsselkompetenzen, für die Interaktionen in sozialen Gruppen zentral sind. Das Aushandeln und Balancieren unterschiedlicher Positionen und Ansichten unter Gleichaltrigen stellt geradezu einen Motor dar für die sozial-kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und fördert das Einnehmen der Perspektiven sowie das Einfühlen in die Situation anderer. Soziales Lernen im Buddy-Projekt bedarf somit weniger der konkreten Un terstützung durch Erwachsene (zum Beispiel durch Lehrer). Vielmehr müssen Kinder und Jugendliche in ihren Gleichaltrigengruppen eigenständig die Prozesse des sozialen Lernens erleben, während die Erwachsenen und Pädagogen ihnen diese Freiräume und die Strukturen schaffen, die soziales Lernen ermöglichen. Im Zuge der mit dem Buddy-Projekt umgesetzten Methoden und pädagogischen Prinzipien finden zudem (Aus-)Handlungsprozesse statt, die Kinder und Jugendliche darin unterstützen, ihr selbstverantwortliches Verhalten wahrzunehmen, Selbstbestätigung und Selbstwirksamkeit zu erlangen sowie die Übernahme von Verantwortung als etwas Positives zu 26 27 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät erleben. Insgesamt trägt das Buddy-Projekt somit zum Aufbau wesentlicher sozialer, moralischer und Konfliktlösekompetenzen bei, die eine weiterhin positive Sozialentwicklung – bis ins Heranwachsenden- und Erwachsenenalter hinein, wie Längsschnittstudien belegen – fördern. Langfristig tragen die positiven Erfahrungen der Verantwortungsübernahme, positive Erfahrungen und die Einbindung in der Gleichaltrigengruppe, die erlebte Selbstwirksamkeit sowie das Erleben von Mitwirkungsmöglichkeiten dazu bei, dass über diese sozialen Lernprozesse sowohl die notwendigen Kompetenzen als auch die wichtige motivationale Basis geschaffen wird, sich über das Erleben sozialen Lernens im Rahmen des Buddy-Projektes im Schulumfeld hinaus einzusetzen für Partizipation und Demokratie. Es trägt dazu bei, eine Grundhaltung zu fördern, die im Wesentlichen über moralische Verpflichtungen und Verantwortungsübernahme die Jugendlichen darin bestärken wird, sich auch als Erwachsene für diese positiv erlebten und gelebten Grundpfeiler unserer Gesellschaft starkzumachen und sich zu engagieren. Soziales Lernen, wie es im Buddy-Projekt erfahren wird, stellt somit einen wichtigen Baustein in der gelingenden Entwicklung junger Menschen und für eine spätere Verantwortungsübernahme in unserer offenen, demokratischen Gesellschaft dar. Mit Projekten wie Buddy kann direkt in das Wohlergehen der zukünftigen Generationen unseres Landes und damit in unsere Zukunft investiert werden. Prof. Dr. Herbert Scheithauer ist Juniorprofessor für Pädagogische und Entwicklungs psychologie an der Freien Universität Berlin sowie Mitglied im Beirat des buddY E.V. 28 29 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Vom Kopf auf die Füße gestellt Kaija Landsberg will die Schieflagen im deutschen Bildungssystem dort ausbessern, wo sie am schlimmsten sind: an den Brennpunktschulen. Die Gründerin von Teach First Deutschland schickt engagierte und ambitionierte Absolventen von den Hochschulen für zwei Jahre in die Klassenzimmer am Rande der Gesellschaft. Die junge Frau mit den kieselgrauen Augen lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Scharf pariert sie die Argumente ihrer Gegner auf der Podiumsdiskussion. Interessiert nimmt sie jeden Einwand auf. Offen, souverän, stets ein unbefangenes Lächeln in den Mundwinkeln. Ihr Projekt entprofessionalisiere den Lehrerberuf. „Nein, Lehrer sind unersetzlich. Trauen Sie den Schulen zu, selbst zu entscheiden.“ Ihre Initiative sei Billigkonkurrenz für die Pädagogen. „Halten Sie Lehrer für ersetzbar? Unsere Hochschulabsolventen sind Unterstützer auf Zeit, die mehr verdienen als Referendare, aber weniger als fertige Pädagogen.“ Ihre Organisation sei nur eine Suppenküche für Bildungsverlierer, es ändere nichts an der Benachteiligung dieser Kinder. „In Deutschland diskutieren wir seit 30 Jahren erfolglos über diese Missstände. Es wird Zeit, dass Bildung ein Thema für die ganze Gesellschaft wird. Dafür wollen wir junge Leute mit Herz und Verstand in die Schulen schicken. Damit sie denen unter die Arme greifen, die schlechte Startchancen haben. Damit sie sehen, welche Potenziale dort brachliegen. Damit sie später, wenn sie selbst an den Schaltstellen in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft sitzen, wissen: Wir müssen handeln.“ Applaus. Kaija Landsberg schüttelt die blonden Locken in den Nacken und lacht. Skepsis in Zustimmung verwandeln, das ist längst ihr Metier. Wie oft hat sie das schon erlebt, wenn sie auf den Podien der Republik für ihr Projekt kämpfte, wie neulich vor Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tübingen. „Machen Sie sich auf heiße Debatten gefasst“, hatten ihr die Veranstalter schon per Mail angekündigt. „Das Publikum ist hier sehr kritisch.“ Macht nichts. Oder vielmehr: Umso besser. Denn dann kommt die 30-Jährige erst richtig in Fahrt. Begeistert nimmt sie Menschen für sich ein, mit ihrem erfrischenden Mix aus Mädchenhaftigkeit, Sachverstand und konsequenter Professionalität. So ist es ihr gelungen, innerhalb von zwei Jahren aus einer kleinen Absolventeninitiative ein millionenschweres Programm zu machen, das seine Fühler über die ganze Republik ausstreckt: Teach First Deutschland. Dort hingehen, wo es wehtut Berlin Friedrichstraße, Mittwochnachmittag. In der Teach-First-Zentrale steht die Luft. Die Sonnenstrahlen streichen über den grauen Nadelfilz im dritten Stock des stattlichen Altbaublocks, die roten Jalousien sind zur Hälfte heruntergelassen. Durch die gekippten Fenster zur Straßenseite strömt das Rauschen der Großstadt. Telefone klingeln, die Finger der Mitarbeiter fliegen über die Computertasten. Die Arbeit des Organisationsteams läuft auf Hochtouren. Die Zeit drängt, im Hochsommer startet das Training der ersten Kandidaten. Im neuen Schuljahr werden sie in die Schulen gehen. Parallel müssen die Bewerber für den nächsten Jahrgang ausgewählt werden. Ein Kurvendiagramm an der Wand gibt einen Überblick: Online-Bewerbung bestanden, Telefoninterview geschafft, Auswahltag bewältigt. Gegenüber hängen die Organigramme deutscher Bildungsministerien. Geschäftsführer Arist von Hehn versucht bereits weitere Bildungsverwaltungen zu überzeugen: Macht mit bei uns! „Ich bin mal gerade in einem Termin“, ruft Kaija Landsberg. Drei Jahre ist es her, dass Landsberg bei einer Online-Recherche auf diese Idee aus den USA stieß, die sie seitdem nicht mehr losgelassen hat: Hochschulabsolventen mit Top-Abschlüssen gehen als Lehrer auf Zeit an Brennpunktschulen. Zwei Jahre lang unterstützen sie Kinder und Jugendliche mit schlechten Startbedingungen bei Mathe und Chemie, Deutsch, Geschichte und Englisch, gründen mit den Kids Schülerfirmen, machen Bewerbungstrainings, schieben Sport-, Kunst- oder Musikprojekte an, machen ihnen Mut, und verhelfen ihnen so im Idealfall zu besseren Noten, weiterführenden Abschlüssen, vielleicht einer Lehrstelle. „Teach For America“ nennt sich der Ansatz, der sich in den USA längst bewährt und inzwischen auch 30 31 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät nach Großbritannien ausgebreitet hat. „Die Idee hat mich sofort berührt“, sagt Landsberg. „In der Schule habe ich selbst erlebt, wie viel mehr man unter guten Bedingungen und mit toller Förderung erreichen kann. An vielen Brennpunktschulen bleibt dafür gar nicht die Zeit.“ Und hatte sie nicht selbst einmal im New Yorker Stadtteil Harlem gesehen, wie eine Stanford-Absolventin die Drittklässler einer Ghetto-Schule für „Romeo und Julia“ begeisterte? „Beeindruckend.“ Landsberg, damals Studentin an der Hertie School of Governance, macht „Teach For America“ zum Thema ihrer Masterarbeit. Fragestellung: Wie funktionieren die Organisationen in den USA und Großbritannien und wie könnte man sie auf Deutschland übertragen? Und, wer weiß, vielleicht würde sie es eines Tages sogar selbst tun. Denn diese Idee packt sie so, wie nie zuvor etwas in ihrem Leben. Sie ist so etwas wie der Endpunkt einer Entwicklung, auf den sie ihr bisheriges Leben zugesteuert zu haben scheint. Was kann ich tun, damit sich etwas ändert? Es war ein Zickzackkurs, der die geborene Freiburgerin dahin führte. Nach dem Abitur geht sie für ein Jahr nach Bremen, jobbt an einem „jungen, freien Theater“. Probiert sich aus in Lichttechnik, Regieassistenz, Kostümbildnerei. Träumt den Traum vom Schauspielerleben. Bis sie merkt: Das ist es nicht. Studiert Theaterwissenschaften an der Universität München. Bis sie sich klar wird: Ich will die Faszination Bühne nicht bis zur Bedeutungslosigkeit zerlegen. Landsberg schwenkt um, besinnt sich auf das andere große Thema, das sie fasziniert: Politik und Menschenrechte. Seit ihrem Schüleraustausch in Los Angeles, wo sie die Probleme der schwarzen Minderheit und mexikanischen Einwanderer hautnah erlebt, treiben sie diese Fragen um. Wie können wir Menschenrechte durchsetzen? Wie im Konflikt zwischen eigenem Vorteil und ethischen Grundsätzen bestehen? Landsberg studiert Politik, Völkerrecht und Amerikanistik, mischt begeistert mit bei den studentischen UNO-Simulationen (NMUN), die am Münchener Politiklehrstuhl stattfinden, ist beeindruckt von dieser Organisation, in der alle Länder zusammensitzen, um die großen Probleme der Welt zu lösen, diskutiert mit den internationalen Studentendelegationen im echten UNGebäude in New York, träumt von einer beruflichen Zukunft in Politik oder Diplomatie. Bis ihr auch hier bewusst wird: Das ist es auch nicht. Die internationale Politik ist viel zu sperrig, zu sehr vom permanenten Austarieren widerstreitender Interessen bestimmt, als dass sie als Einzelne irgendwas bewegen könnte. Etwas bewegen – das ist Kaija Landsberg wichtig. Wie sehr, das merkt sie in ihrem Auslandssemester im spanischen Granada, wo sie jeden Tag die Ungleichheiten der Welt aus nächster Nähe beobachten kann. Kompromisslos werden die Boat People aus Afrika am Hafen abgewiesen. Europa ist geschlossen für solche wie euch! Landsberg schreibt ihren Magister über Migration und Menschenrechte, bewirbt sich an der Hertie School of Governance in Berlin. Diskutiert zwei Jahre lang mit 28 Menschen aus 17 Ländern über Poli tik und Soziologie, Wirtschaft und Jura. Vielleicht erfährt sie dort, was sie herausfinden möchte: Was kann ich tun, damit sich etwas ändert? Bei ihrem Praktikum im Grundsatzreferat des Bundesinnenministeriums, Schwerpunkt Migration, erfährt sie zumindest, woran es hakt: Bei allem Goodwill der Institution ist sie zu langsam, zu zentralisiert, zu weit weg von der Realität. „Man müsste die Leute mal einen Tag ins Ausländeramt schicken.“ „Es ist doch Wahnsinn, dass zehn Prozent unserer Kinder ohne Abschluss von der Schule gehen. Und dass der Bildungserfolg in unserem Land so stark vom familiären Hintergrund der Schüler abhängt.“ Es ist die Zeit der Pisa-Debatten, der Reformen und Reförmchen, die in hektischer Aktivität über das Land rollen. Die Debatten liefern der Mittzwanzigerin das letzte Steinchen in dem Mosaik, das ihr den Weg weist. „Mir wurde klar, dass sich die Probleme der Integration nur über gesellschaftliche Teilhabe lösen lassen. Und die gelingt nicht ohne genug Bildung im Gepäck.“ Sie erkennt: Die Chance auf gute Bildung fehlt fast allen Kindern aus bildungsfernen Familien in Deutschland, nicht nur denen mit Migrationshintergrund. „Es ist doch Wahnsinn, dass zehn Prozent unserer Kinder ohne Abschluss von der Schule gehen. Und dass der Bildungserfolg in unserem Land so stark vom 32 33 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät familiären Hintergrund der Schüler abhängt“, sagt Landsberg. Sie beschließt: „Hier will ich ansetzen, um etwas zu verändern.“ Jetzt oder nie! Ein Frühstück im Juni. Die Sonne kitzelt auf den Armen, Kaffee dampft auf dem Tisch, es duftet nach Schrippen, Croissants und Frühstücksei. Kaija Landsberg sitzt mit Freunden beisammen. Die Masterarbeiten an der Hertie School sind geschafft, das Gespräch kreist um Karriere und Zukunft. Plötzlich wird die Idee konkret: Wir machen Teach First Deutschland. Jetzt. Michael Okrob, Arist von Hehn, Elisabeth Heid, Caspar von Schoeler und Kaija Landsberg schlagen ein. Der Deal: Wer einen Job in Aussicht hat, lässt sich zurückstellen oder sagt ab. Die Ersparnisse reichen bis Ende des Sommers, so lange geben wir Gas. „Wir hatten keine Wahl – jetzt oder nie“, sagt Landsberg. „Denn nur wenn wir selbst bereit waren, ein Risiko zu übernehmen, würden uns Förderer abnehmen, dass wir wirklich an unser Projekt glauben – und sie gewinnen können.“ Ein paar Tage später bezieht das Quartett in den Seminarräumen der Hertie School of Governance Quartier. Programmpunkt eins: Geld beschaffen, um bis Weihnachten über die Runden zu kommen. Ein Projekt, hervorgegangen aus der Hertie School, was liegt da näher, als die Hertie-Stiftung vom Unternehmen zu überzeugen? Wochenlang tragen die Gründer Informationen zusammen, nächtelang feilen sie an der Präsentation, nehmen sich gegenseitig ins Kreuzfeuer. Mit schlotternden Knien steigt Landsberg mit ihrem Kollegen Arist von Hehn in den Zug zur Präsentation nach Frankfurt. Abends knallen die Sektkorken. Mit den 45.000 Euro der Hertie-Stiftung kann sie Teach First Deutschland aus der Taufe heben. Programmpunkt zwei: Das Konzept ausarbeiten und ausschwärmen. „Wir konnten nur gewinnen, wenn wir alles gleichzeitig anschieben würden“, sagt Landsberg. „Finanzierung sicherstellen, Schulen gewinnen, die Verwaltung überzeugen, Kandidaten gewinnen, das Qualifizierungskonzept ausfeilen.“ Mit Volldampf machen sich Landsberg und ihre Mitstreiter an die Arbeit. Sie versuchen Unternehmen ins Boot zu holen, tingeln durch die Begabtenstiftungen, halten Vorträge über ihr Programm an den Universitäten, basteln an ihrer Homepage. Sie suchen Studenten an den Hochschulen, die als „Campus Captains“ ihre Idee an der Uni verbreiten, Plakate für Werbeveranstaltungen aufhängen, Räume und Equipment organisieren. Sie recherchieren nach innovativen Ansprechpartnern in den Bildungsverwaltungen, die Teach First die Tür zu den Ministerien öffnen würden. Sie finden Profis im Landesinstitut für Lehrerbildung Hamburg, später bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, die sie pädagogisch beraten: Wie müssen wir die „Fellows“ qualifizieren, damit sie vor den Schülern bestehen können, nicht zerrieben werden im harten Klima der Brennpunkte, damit sie schulmüden Kids sowohl den Dreisatz schmackhaft, als auch kreative Projekte nahebringen könnten? Anschließend erarbeitet das Teach-First-Team ein Stufenkonzept: erst Online-Fortbildung, dann Intensivtraining von Schulrecht bis zu Fachdidaktik in einer Sommerakademie. Sie ziehen durch die Schulen, versuchen die Lehrer zu überzeugen: „Sagt, was ihr braucht. Überlegt, wo ihr Fellows einsetzen könnt.“ Nachmittags oder im Unterricht? In Physik oder für Deutsch als Zweitsprache? Für Schülerfirmen oder Sportprojekte? Wolfgang Lüdtke erinnert sich noch allzu gut an die junge Frau, die mit flammenden Reden neben ihm auf dem Podium einer Begabtenstiftung für ihre Initiative warb. Das Erstaunliche: Im Auditorium gab es tatsächlich Interessenten, die ihm Löcher in den Bauch fragten – was können wir für euch tun? „Ich war perplex. Da wollten junge Menschen mit glänzenden Berufsperspektiven wirklich an unsere Schule im tiefsten Neukölln kommen“, sagt der Direktor der Berliner Kepler-Oberschule. 90 Prozent seiner Schüler haben einen Migrationshintergrund, die meisten Eltern sind arbeitslos, die Anzahl derer, die sich Schulbücher selbst kaufen, geht „gegen null“. Lüdtke war begeistert: „Ich habe mich sofort mit unserer Schule beworben.“ 34 35 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Durchbruch! Kaija Landsberg nimmt einen Schluck Wasser. Die Erinnerung an diese ersten Monate treibt ihr noch heute den Schweiß auf die Stirn. Ob tatsächlich genug sozial engagierte Top-Absolventen bereit sein würden, sich mit „schier endloser Energie, Enthusiasmus und Optimismus“ als Fellows für 1.700 Euro im Monat zwei Jahre lang an die harten Schulen in den Ballungszentren der Republik zu stürzen, konnte damals niemand mit Sicherheit sagen. „Da bewirbt sich doch keiner“, hörte sie oft. „Lange haben wir uns im Kreis gedreht.“ Die Ministerien fragten nach den Sponsoren, die Sponsoren nach den Ministerien, die Schulen nach den Fellows. „First-Mover-Dilemma“ nennt das Kaija Landsberg. Niemand will den ersten Schritt tun. Im Juni 2008 steht Teach First vor dem Aus. „Ihr unternehmerischer Geist, die ergebnisorientierte Arbeitsweise und ihr persönliches Auftreten haben mich sehr überzeugt.“ Dr. Mark Speich, Geschäftsführer der Vodafone Stiftung Deutschland Da trifft die Gründerin auf Mark Speich. Der Geschäftsführer der Vodafone Stiftung Deutschland ist beeindruckt. „Ihr unternehmerischer Geist, die ergebnisorientierte Arbeitsweise und ihr persönliches Auftreten haben mich sehr überzeugt.“ Speich gibt das Go für die Förderung. Im Rahmen des „World of Difference“-Programms zahlt die Stiftung nun die Gehälter für das Aufbauteam. „Das war der Durchbruch“, sagt Kaija Landsberg. Nach und nach sagen die Bildungsministerien von Hamburg, Berlin und Nordrhein-Westfalen zu. Sie werden die Gehälter der Fellows zahlen. Robert Bosch Stiftung und Deutsche Post, Lufthansa und McKinsey klinken sich ein. Die Berliner Anwaltskanzlei Hogan & Hartson Raue verspricht, pro bono die komplette Rechtsberatung zu übernehmen. Heute ist Teach First Deutschland ein richtiges Unternehmen mit 17 Vollzeitstellen. 140 Schulen haben sich beworben, 68 bekamen den Zuschlag. Auch beim Nachwuchs zieht der Slogan „Einsatz für andere + Karriere für Dich“ auf der Teach-First-Website. Auf die erste Ausschreibungsrunde bewarben sich mehr als 700 Kandidaten. 70 werden im Herbst ihre Arbeit aufnehmen. „Ich habe selbst viel Bildung in meinem Leben mitgenommen, jetzt würde ich gerne ein wenig davon an jene zurückgeben, die nicht so viel Glück hatten.“ simon Turschner, Molekularbiologe und Fellow im Teach-first-Programm Menschen wie Simon Turschner. Auf der Sommerakademie der Studienstiftung des Deutschen Volkes hörte der frisch diplomierte Molekularbiologe von der Bildungsinitiative. Sozial engagierte Kandidaten mit hervorragenden Noten und „schier endloser Energie, Enthusiasmus und Optimismus“ gesucht, die benachteiligte Schüler unterstützen? Der 26-Jährige nickt. Damit traf Teach First bei ihm ins Schwarze. „Ich habe selbst viel Bildung in meinem Leben mitgenommen, jetzt würde ich gerne ein wenig davon an jene zurückgeben, die nicht so viel Glück hatten.“ Zwei Jahre Basisarbeit im Klassenzimmer sind dafür nicht zu viel. In die Wirtschaft gehen oder ein Unternehmen gründen kann er danach immer noch. Turschner hat den Auswahlmarathon geschafft und ein Schnupperpraktikum in Berlin-Wedding hinter sich. Er war beeindruckt, „wie viel die Kinder draufhaben“, und überrascht, „wie unterschiedlich die Lehrer ihre Klassen unter Kontrolle haben“. Ein bisschen Bammel hat er schon. Er weiß, dass er noch dazulernen muss, um sich Respekt vor den Schülern zu erarbeiten. Vor allem aber will er sie motivieren, ihnen zeigen, dass sie etwas wert sind, etwas erreichen können. „Das wird für mich eine persönliche Herausforderung.“ Und vielleicht lassen sie sich begeistern für das, was er so liebt: Musik und Schach und naturwissenschaftliches Experimentieren. Schulleiter Lüdtke von der Kepler-Oberschule in Berlin-Neukölln hat bereits Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Externen. Gezielt holt er seit Jahren Theaterleute, Handwerker oder Musiker in seine Schule am harten Ende der Realität. Vergangene Woche stellte er seinen Fellow dem Kollegium vor. Ein Betriebswirt, Sportfreak, spricht fließend Englisch, spielt in einer Band und soll die Lehrer ab Herbst im Teamteaching unterstützen, mit einzelnen Schülern Stoff nacharbeiten und nachmittags eine Sport-AG betreuen. „Menschen von außen eröffnen unseren Schülern ganz neue Perspektiven. Sie bekommen Einblick in neue Berufsfelder und andere Lebensbereiche“, sagt Lüdtke. 36 37 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät „Ich denke, auch für die Fellows ist die Arbeit an einer Brennpunktschule eine wichtige Erfahrung. Wenn sie später mal in einer Führungsposition sind, werden sie sich an unsere Welt sicher erinnern.“ Kaija Landsberg räumt das Geschirr zusammen. Es ist 18.30 Uhr, aber ihr Tag ist noch lange nicht zu Ende. Bald beginnt das Sommercamp, die nächsten Bewerbungen liegen auf dem Tisch, neue Schulen klopfen an. 2010 sollten 150 Fellows an den Start gehen, 210 will sie 2011 in die Schulen schicken. Die 30-Jährige möchte neue Bundesländer ins Boot holen und ihr Netzwerk an den Hochschulen enger flechten. Dringend notwendig ist die wissenschaftliche Evaluation des Projekts: Was bringt die Arbeit der Fellows konkret? Wie ändert sich das Klima in den Schulen, wie verbessern sich die Schulleistungen der Schüler? Längst ist die Crew dafür in Gesprächen mit Experten an den Universitäten Lüneburg und Berlin. Kaija Landsberg lacht. Stimmt schon, manchmal bleibt kaum Zeit für ein Brötchen zwischendurch. Wie gut, dass sie ihren Freund hat, der auf den Tisch haut, wenn sie kein Ende mehr findet. Wie gut, dass das Team beschlossen hat: Ab jetzt ist das Wochenende frei, professionell sein heißt auch Regenerationszeit einplanen. Manchmal träumt die 30-Jährige dann von jenen fernen Tagen, in denen Teach First zu den begehrtesten Arbeitgebern für gute Uniabsolventen zählt. In denen ihre Fellows Jahr für Jahr zu Hunderten die Schulen verlassen, um zurück in ihre eigene Welt zu gehen. In die Welt der High Performer, Unternehmenslenker, Macher und Meinungsbildner, egal ob in Politik oder Wirtschaft, Journalismus oder Verwaltung. Und dort als Bildungsbotschafter die Welt zu verändern beginnen. „Menschen von außen eröffnen unseren Schülern ganz neue Perspektiven. Sie bekommen Einblick in neue Berufsfelder und andere Lebensbereiche.“ Wolfgang Lüdtke, Schulleiter an der Kepler-Oberschule in Berlin-Neukölln Eine Frage der (L)Ehre Zu Recht wird in den bildungspolitischen Diskussionen dieser Tage immer wieder eine einfache Wahrheit geäußert: Die Qualität von Schule steht und fällt mit ihren Lehrerinnen und Lehrern in unserem Land. Dennoch bleibt ihr Ruf beschädigt. Mit dem „Deutschen Lehrerpreis – Unterricht innovativ“ will ihn die Vodafone Stiftung Deutschland befördern: den längst überfälligen Imagewechsel. Prof. Susanne Porsche, Initiatorin „Deutscher Lehrerpreis“ und Mitglied im Beirat der Vodafone Stiftung Deutschland „Lehrer“ – spottet der Volksmund – „haben vormittags recht und nachmittags frei.“ Kalauer auf Kosten dieser Berufsgruppe sind seit jeher billig zu haben: Jeder war einmal in der Schule, jeder wähnt sich urteilsfähig, viele stimmen ein – und wer weiß, vielleicht ist die unausrottbare Lehrerschelte, das höhnische Herabschauen auf den vermeintlich lauen Lehrerjob nicht selten die späte Rache für ein einstmals unrühmliches Schülerdasein. Dabei sollte eigentlich allen klar sein: Auf dem Weg zur modernen Informationsund Wissensgesellschaft tragen die Lehrerinnen und Lehrer in unserem Land größte Verantwortung. Wachsende soziale Ungleichheit und ein verändertes Mediennutzungsverhalten der Jugendlichen stellen sie zudem vor große pädagogische und psychologische Herausforderungen. Zu Recht wird in den bildungspolitischen Diskussionen dieser Tage daher immer wieder die einfache Wahrheit geäußert, dass die Qualität von Schule mit ihren Lehrerinnen und Lehrern steht und fällt. Seit der Veröffentlichung der Pisa-Studien stehen folglich nicht nur die Neugestaltung der Schulformen oder der Ausbau der Ganztagsschulangebote 38 39 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät auf der politischen Agenda – auch die Ausbildung, Fortbildungsbereitschaft, zusätzliche Leistungsanreize sowie die Bezahlung und der Beamtenstatus der Lehrer sorgen für Diskussionen. Doch obwohl das Thema Bildung auf der politischen Erregungskurve spätestens seit der Einführung des achtjährigen Gymnasiums (G8) einen Höhepunkt erreicht hat und allerorts über die „Schule der Zukunft“ sinniert wird, hat sich das Image der Lehrer kaum fühlbar verbessert. Stattdessen wurden in den vergangenen Jahren gleich mehrere Studien veröffentlicht, die belegen sollen, dass Lehramtsanwärter schwache Kandidaten mit mäßigen Abiturnoten seien, die auch im Studium den Wettbewerb scheuen und an ihrem zukünftigen Beruf vor allem das Beamtendasein schätzen. Nicht nur die Versuchsanordnung dieser Studien, vor allem die mediale Aufmerksamkeit, die sie auslösten, zeigt einmal mehr, dass sich das Bild des Lehrers als eines überbezahlten „Low Performers“ mit unangemessener Jobsicherheit noch immer öffentlichkeitswirksam vermarkten lässt. Demoralisierendes Meinungsklima Ein solches Meinungsklima wirkt indes nicht nur demoralisierend auf diejenigen Lehrer, die ihrem Beruf mit Engagement und Hingabe nachgehen, es blockiert zudem paradoxerweise gerade die mögliche Behebung des beklagten Missstands. Denn der Lehrerberuf wird für hoch motivierte Spitzenabsolventen kaum attraktiver, wenn ihnen allenthalben gesagt wird, sie seien in Studium und Beruf nicht unter ihresgleichen. Stattdessen bedarf es authentischer Geschichten des guten Gelingens, es bedarf der öffentlichen Anerkennung dessen, was Lehrer tagtäglich leisten und wie sie zur Persönlichkeitsbildung von Kindern und Jugendlichen beitragen. Denn gegen Klischees und eingefahrene Denkmuster gibt es bekanntlich kein besseres Heilmittel als besseres Wissen. Den empirischen Beweis für diese Einsicht lieferte eine im März 2009 von der Vodafone Stiftung Deutschland in Auftrag gegebene repräsentative Allensbach-Umfrage mit dem Titel „Schule und Lehrer aus Sicht der Bevölkerung“. Demnach hält sich das negative Image vor allem dann, wenn die Menschen schlechterdings wenig oder gar nichts über die Lehrer und ihre Arbeit wissen. So sind 54 Prozent der Bürger der Meinung, Lehrer klagten häufig über ihre berufliche Belastung und bedienen damit jenes Lehrerbild vom „ewigen Nörgler“. In der Gruppe der Eltern mit Kindern im schulpflichtigen Alter sind dagegen nur 23 Prozent dieser Meinung. Das Fern- und das Erfahrungsbild fallen deutlich auseinander. Während nur 29 Prozent der Befragten der Meinung sind, Lehrer würden sich um gerechte Noten bemühen, urteilen die Eltern von Schulkindern wiederum deutlich positiver. 53 Prozent von ihnen meinen, die Lehrer ihrer eigenen Kinder bemühten sich durchaus um Gerechtigkeit bei der Zensurenvergabe. Noch deutlicher ist die Differenz in puncto Unterrichtsgestaltung: Während in der Gesamtgruppe der Befragten nur 16 Prozent meinen, Lehrer bemühten sich darum, ihren Unterricht interessant zu gestalten, sind in der Gruppe der Eltern immerhin 44 Prozent dieser Meinung. 42 Prozent der Eltern meinen, dass Lehrer ihren Beruf lieben – in der Vorstellungen von dem Berufsstand des Lehrers Das trifft auf viele Lehrer zu: Müssen viele Erziehungsfehler ausbügeln, die im Elternhaus begangen werden 59 % Tragen große Verantwortung 59 % Klagen viel über ihre berufliche Belastung 54 % Haben einen sehr anstrengenden Beruf 52 % Werden von Eltern oft hart kritisiert 41 % Können sich nicht richtig durchsetzen 40 % Können nur schlecht mit Kritik umgehen 40 % Haben viel Freizeit 37 % Müssen sich ständig auf neue Lehrpläne einstellen 34 % Verdienen viel Geld 32 % Sind oft nicht auf dem neuesten Stand 31 % Bemühen sich um gerechte Noten 29 % Können oft schlecht mit Kindern umgehen 29 % Bekommen nicht die Anerkennung, die sie verdienen 27 % Haben zu wenig Freiräume bei der Unterrichtsgestaltung 22 % Bemühen sich, den Unterricht möglichst interessant zu gestalten 16 % Bilden sich regelmäßig fort 13 % Lieben ihren Beruf 12 % Sind neuen Unterrichtsformen gegenüber aufgeschlossen 11% Sind auch außerhalb der Schule für die Kinder da 7 % Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre Quelle: IfD-Umfrage 10035, © IfD-Allensbach 4 0 41 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Gesamtgruppe der Befragten sind durchschnittlich nur zwölf Prozent dieser Ansicht. Mit anderen Worten: Lehrer sind besser als ihr Ruf. Wer selbst erfährt, was sie täglich leisten, wird vom „Halbtagsjob“ nicht länger reden. Immer mehr Bürger erkennen immerhin an, dass die Schule zu einem Austragungsort sozialer Missstände geworden ist. 59 Prozent konstatieren, dass Lehrer heute mehr denn je Erziehungsfehler ausbügeln müssen, die im Elternhaus begangen wurden. Die Umfrage zeigt also nicht nur, welche Klischees sich hartnäckig halten, sie weckt zugleich Hoffnung auf einen mehr als überfälligen Imagewechsel. Deutlich positiveres Erfahrungsbild: Das Urteil über Engagement und Unterricht des Lehrers der eigenen Kinder Trifft auf viele Lehrer zu Trifft auf Lehrer des eigenen Kindes zu* Bemüht sich um gerechte Noten 29 % Bemüht sich, den Unterricht möglichst interessant zu gestalten 16 % Bildet sich regelmäßig fort 13 % Liebt seinen Beruf 12 % Ist neuen Unterrichtsformen gegenüber aufgeschlossen 11 % Ist auch außerhalb der Schule für die Kinder da 7 % Klagt viel über berufliche Belastung 54 % Kann sich nicht richtig durchsetzen 40 % Kann nur schlecht mit Kritik umgehen 40 % Hat viel Freizeit 37 % Ist nicht auf dem neuesten Stand 31 % Kann schlecht mit Kindern umgehen 29 % * Aussagen über den Lehrer der eigenen Kinder, den man am besten kennt 53 % 44 % 27 % 42 % 29 % 30 % 23 % 20 % 26 % 19 % 10 % 12 % Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre Quelle: IfD-Umfrage 10035, © IfD-Allensbach In der Projektarbeit der Stiftung steht die Allensbach-Untersuchung nicht für sich allein. Sie flankiert den neu konzipierten „Deutschen Lehrerpreis – Unterricht innovativ“, einen Wettbewerb, mit dem die Vodafone Stiftung Deutschland und der Deutsche Philologenverband gemeinsam mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) kreative Lehrer unterstützen und fördern wollen. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Lehrerberuf zu den wichtigsten und anspruchsvollsten Tätigkeiten in unserer Gesellschaft zählt – insbesondere in einer Zeit, in der sich Lehrer verstärkt mit der Herausforderung konfrontiert sehen, immer größere Leistungsunterschiede und soziale Disparitäten abzufedern. Um ihrem Beruf unter diesen zunehmend schwierigen Bedingungen mit Freude und Motivation nachgehen zu können, brauchen Pädagogen nicht nur mehr individuelle Leistungsanreize, sondern vor allem die öffentliche Anerkennung und Wertschätzung, die sie verdienen. Vodafone Stiftung Deutschland: Mitinitiator und finanzieller Träger Aus diesem Grund hat die gemeinnützige Vodafone Stiftung Deutschland die Trägerschaft für den „Deutschen Lehrerpreis“ übernommen. Ziel dieser Auszeichnung ist es, die öffentliche Wertschätzung der Lehrerarbeit zu erhöhen und zugleich zur Verbreitung innovativer Unterrichtskonzepte beizutragen. An dem neu entwickelten Wettbewerbskonzept begrüßt die Stiftung insbesondere, dass Lehrer nicht nur als Wissensvermittler geehrt werden sollen, sondern als sozial engagierte Persönlichkeiten, die junge Menschen während einer wichtigen und prägenden Lebensphase mit besonderem Einsatz fördern und unterstützen. Das Konzept verbindet die Bewertung nach pä dagogischen Kriterien („Lehrer stellen ihren innovativen Unterricht vor“) mit dem persönlichen Urteil der Schüler, die ihrem engagierten „Lieblingslehrer“ Danke schön sagen wollen („Schüler zeichnen Lehrer aus“). Die Vodafone Stiftung Deutschland ermöglicht diesen bundesweiten Wettbewerb als alleiniger finanzieller Träger und ist gemeinsam mit dem Deutschen Philologenverband (DPhV) für die Organisation und Ausrichtung des Preises verantwortlich. Die Kommunikation, Ausschreibung und Auszeichnung der Lehrerinnen und Lehrer erfolgt gemeinschaftlich im Namen der Vodafone Stiftung Deutschland, des DPhV und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Durch die Kooperation mit dem BDI, für die die Stiftung außer- 42 4 3 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät ordentlich dankbar ist, erhofft sie sich unter anderem einen fruchtbaren Dialog zur Frage, wie die Schule die Schülerinnen und Schüler zukünftig besser auf das Berufsleben vorbereiten kann. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ und der Deutschlandfunk unterstützen das Vorhaben als Kooperationspartner. Die Verantwortung für die operative Durchführung des „Deutschen Lehrerpreises – Unterricht innovativ“ liegt bei den Projektleitern der Vodafone Stiftung Deutschland und des DPhV. „Der Lehrerpreis gründet auf der Einsicht, dass Lehrerschelte nicht weiterhilft, wenn man es mit der Bildungsoffensive ernst meint. Nur ein funktionierendes Zusammenwirken von Schule, Schülerschaft und Elternhaus schafft das Fundament für die Bildung und Entwicklung aus allen sozialen Schichten.“ Prof. Susanne Porsche, Mitglied im Beirat der Vodafone Stiftung Deutschland www.lehrerpreis.de Der Wettbewerb „Deutscher Lehrerpreis – Unterricht innovativ“ wird in zwei Kategorien vergeben: In der ersten Kategorie nomi nieren Schülerinnen und Schüler des Abschlussjahrganges 2008 oder 2009 an weiterführenden Schulen besonders engagierte Lehrer, die das verantwortungsvolle Miteinander von Schülern und Lehrern fördern und deren soziale Kompetenz sie persönlich erlebt haben. Die zweite Kategorie wendet sich direkt an die Lehrerinnen und Lehrer aus dem Sekundarbereich deutscher Schulen, die fächerübergreifend unterrichten sowie im Team zusammen arbeiten und damit zur Zukunftsfähigkeit der Schulen in Deutschland beitragen. Die Gewinner werden im Rahmen einer festlichen Preisverleihung am 30. November 2009 in Berlin geehrt. Für die besten Unterrichtskonzepte sind Preise im Gesamtwert von 13.000 Euro ausgeschrieben – für Lehre der Ehre gebührt. Ein Stück des Weges Seit 15 Jahren helfen Streetworker der Off Road Kids Stiftung Straßenkindern in Deutschland. Eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die ein engagierter Social Entrepreneur ins Leben gerufen hat und bis heute nachhaltig prägt. Sie sind täglich unterwegs in Berlin, Dortmund, Hamburg und Köln: die Straßensozialarbeiter der Off Road Kids Stiftung. Und sie sind erfolgreich: Seit 1994 haben sie mehr als 1.500 Straßenkinder, Ausreißer und junge Obdachlose in Deutschland erfolgreich von der Straße geholt. Doch ohne namhafte Partner aus der Wirtschaft wäre die einzige überregionale und bundesweit arbeitende Hilfsorganisation für Straßenkinder in Deutschland nie entstanden. Bis heute erhält Off Road Kids keine staatlichen Gelder. Von Anfang an als größter Förderer dabei: Die Vodafone Stiftung Deutschland half beim Aufbau der Streetwork-Stationen und finanziert seither den größten Teil der Betriebskosten. „Zu essen gibt es bei Off Road Kids nichts“, stellt Julia Zahidi, Leiterin der Kölner Streetwork-Station von Off Road Kids, unmissverständlich klar: „Bei uns gibt es nur Perspektiven.“ Straßenkinder, sollte man meinen, haben immer Hunger. Daher leuchtet es auf den ersten Blick nicht ein, dass die erfahrene Diplompädagogin kein großes Problem damit hat, dass ein Jugendlicher mit 4 4 4 5 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät ziemlich leerem Magen beim Beratungsgespräch an ihrem Schreibtisch sitzt und nur ein paar Gummibärchen ergattern kann. Doch Julia Zahidi weiß genau, was sie tut: „Die Straße ist doch keine gute Kinderstube. Wir finden für jeden jungen Menschen eine gute Lösung. Warum sollten wir den Jugendlichen das Straßenleben durch Essensausgaben auch noch bequem machen?“ Das leuchtet ein. Geschwindigkeit zählt, betont auch Jens Elberfeld. Er leitet die StreetworkStation von Off Road Kids in Dortmund: „Wenn wir für neue Ausreißer nicht innerhalb der ersten Tage eine gute Lösung gefunden haben, dann sind die Kids sofort in Köln oder Berlin.“ „Oder bei uns in Hamburg“, weiß seine Kollegin Benthe Müller aus der Hafenstadt zu berichten: „Und dann geht’s extrem schnell bergab.“ Wenn Ausreißer zu Straßenkindern werden, weil ihnen nicht schnell genug geholfen wird, dann führt sie der Weg nicht nur in die dunklen Ecken deutscher Großstädte, dann stranden sie früher oder später alle in Berlin – der unangefochtenen Hauptstadt der Straßenkinder. Doch Ines Fornaçon, Leiterin der Berliner Streetwork-Station von Off Road Kids, gibt vorsichtig Entwarnung: „Wir haben die Situation weitgehend im Griff. Solange neue Ausreißer meinen Kollegen in Köln, Dortmund und Hamburg nicht durch die Lappen gehen, können wir hier in Berlin verhindern, dass aus den restlichen Ausreißern überhaupt Straßenkinder werden.“ Schicksale wie das von Christiane F. müsse es heute nicht mehr geben, freut sich Ines Fornaçon: „Off Road Kids ist so erfolgreich, weil wir bundesweit arbeiten und Jugendliche auch ins tiefste Bayern nach Hause begleiten können. Die würden sich niemals alleine zu Gesprächen mit dem Jugendamt oder den Eltern trauen. Da müssen wir mit“, sagt Benthe Müller, Leiterin der Hamburger Streetwork-Station. Was Off Road Kids auch stark mache, sei einerseits das riesige Kooperationsnetz, das die Streetworker mit lokalen Hilfsorganisationen und Behörden geknüpft haben, und andererseits die hart erarbeitete Berufserfahrung der Streetworker. Vor allem aber sei die völlige Unabhängigkeit durch die spendenbasierte Finanzierung ein riesiger Vorteil, so Ines Fornaçon: „Die Flexibilität ist sagenhaft. Wir können einem jungen Menschen so intensiv helfen, wie es nötig ist. Über die benötigten Zeitkontingente entscheiden wir selbst. So können wir Ziele erreichen und pflegen nicht nur einen Zustand.“ Was Ines Fornaçon über Berlin berichtet, gelte auch für das restliche Bundesgebiet, erklärt der Gründer und Stiftungsvorstand von Off Road Kids Markus Seidel: „Wir können durchaus davon sprechen, dass aus Ausreißern in Deutschland keine Straßenkinder mehr werden müssen, solange unsere Streetworker in Berlin, Dortmund, Hamburg und Köln ihre Arbeit tun können.“ Die hohe Vermittlungsgeschwindigkeit verhindere effektiv, dass neue Jugendliche auf der Straße überhaupt Gruppen bilden oder aus Not in die Prostitution abrutschen könnten. Der Erfolg gibt dem Vorstandssprecher der Off Road Kids Stiftung recht: Tatsächlich sind die großen Zusammenrottungen junger Obdachloser vergangener Jahre etwa am Kölner Dom oder am Berliner Alexanderplatz nicht mehr existent. Für Seidel ist dies allerdings nur Grund, tief Luft zu holen: „Die mehr als 1.500 jungen Menschen, die wir seit 1994 von der Straße geholt haben, sind zwar eine unübersehbare Dimension, aber wir müssen unsere Straßensozialarbeit ständig anpassen und optimieren.“ Das Tagwerk eines Streetworkers sei normalerweise der Misserfolg. Immerhin habe man es oft mit den kompliziertesten Jugendhilfefällen Deutschlands zu tun. Und obendrein steige die Anzahl der gerade erst 18-Jährigen im Obdachlosenmilieu. Denen zu helfen, sei ungleich aufwendiger, da Jugendämter wegen der Volljährigkeit kaum mehr zur Hilfe verpflichtet werden könnten. Dennoch: Auch das ist kein Grund für Off Road Kids, nicht zu helfen. Schließlich sei die Vermittlung tragfähiger Lebensperspektiven der Urgedanke gewesen, blickt Markus Seidel 15 Jahre zurück auf die Gründung der Hilfsorganisation für Straßenkinder in Deutschland. Heute freut sich Seidel über die langjährige Treue der Förderer, die er längst als Partner betrachtet: „Große Partner wie die Vodafone Stiftung Deutschland bilden nicht nur das finanzielle Rückgrat von Off Road Kids. Sie sind wertvolle, unternehmerisch denkende Ratgeber. Diese Kombination hilft uns enorm.“ Denn eine „pauschale Lösung schlechthin für alle Kinder“ gebe es nicht und eine individuelle Herangehensweise habe sich als erfolgversprechender erwiesen, sagt auch Andrea Zinnenlauf von der Vodafone Stiftung Deutschland, die das Projekt seit 1994 begleitet und damit nicht nur die erste Ansprechperson für Seidel ist, sondern auch unabhängige Beraterin – für ihn ein nicht zu unterschätzender Erfolgsfaktor: „Unser gemeinsames Ziel ist die individuell bestmögliche Zukunftsperspektive für jeden einzelnen betreuten jungen 46 47 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Menschen.“ Und das, so der unternehmerische Rat der Vodafone Stiftung Deutschland, sei eben besser zu schaffen, wenn Off Road Kids viel näher an den Kids dran ist: So kam es 2005 zur gemeinsamen Gründung neuer Streetwork-Stationen in Dortmund, Hamburg und Köln. Die größte Herausforderung für die Zukunft? „Eine langfristige finanzielle Sicherung künftiger Jahresetats.“ Das werde noch ein hartes Stück Arbeit, ist sich Markus Seidel sicher: „Gejammert wird bei uns nicht und Finanzkrisen haben wir immer. So leicht erschreckt uns nichts mehr. Wir arbeiten weiter.“ Denn die Arbeit gehe seinen Streetworkern bestimmt nicht aus. Weshalb ihn der Mut nicht verlasse? Weil es ungemein spannend sei, zu beweisen, dass selbst Jugendliche mit völlig verkorksten Lebensläufen den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt und damit in die Gesellschaft schaffen könnten: „Gerade haben wieder zwei Jungs aus unseren Kinderheimen Abitur gemacht. Vor fünf Jahren hätte darauf bei beiden niemand auch nur einen Pfifferling gewettet. Unser Einsatz hat sich gelohnt.“ Die Off Road Kids Stiftung … … wurde 1993 zunächst als Verein aus der Taufe gehoben und ist heute eine rechtlich selbst ständige, mildtätige Stiftung, die als freier Träger der Jugendhilfe staatlich anerkannt ist. Die Stiftung betreibt Streetwork-Stationen in Berlin, Dortmund, Hamburg und Köln, verfügt über zwei Kinderheime in Bad Dürrheim im Schwarzwald, berät Eltern von Ausreißern und hat gemeinsam mit der Steinbeis-Hochschule Berlin das „Institut für Pädagogikmanagement“ (IfPM) gegründet. Dort können Erzieherinnen auch ohne Abitur berufsbegleitend einen Bachelor-Abschluss erreichen. Seit 1994 haben die Streetworker der Stiftung mehr als 1.500 junge Menschen erfolgreich von der Straße geholt. Zurzeit zählt die Stiftung rund 30 Mitarbeiter, von denen nahezu alle im pädagogischen Bereich tätig sind. Die reinen Verwaltungskosten der Stiftung trägt ein Förderer. Der Bundespräsident prämierte die Off Road Kids Stiftung gleich zweifach mit der Auszeichnung „Ort im Land der Ideen“ – einerseits für die überregionale Straßensozialarbeit für Straßenkinder in Deutschland und andererseits für die Gründung des Hochschulinstituts. Infos im Internet: www.offroadkids.de und www.steinbeis-ifpm.de „W ir wollen den Erfolg!“ Im Gespräch mit Markus Seidel (42), dem Gründer und Vorstandssprecher der Off Road Kids Stiftung. Für sein Engagement wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und vom Gründer des Davoser Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, zum „Social Entrepreneur“ gekürt. In diesem Jahr feiern Sie das 15-jährige Als wir 1994 mit der Arbeit für Straßenkinder begonnen haben, Bestehen der Off Road Kids Stiftung. gab es erschreckend große Zusammenrottungen. Diese untrag Rückblickend: Wie hat sich die Lage der StraSSenkinder in diesem Zeitraum bare Situation haben wir zumindest an unseren Streetwork- verändert? Standorten Berlin, Hamburg, Dortmund und Köln auflösen kön- nen. Das heißt auch, dass wir es heute in erster Linie mit Ausreißern zu tun haben, die neu auf der Straße ankommen und dank unserer Hilfe gar nicht erst zu Straßenkindern werden. Viel größer geworden ist die Anzahl der gerade Volljährigen, die aus der Jugendhilfe herausfallen und keinen Schulabschluss haben. Wie reagieren Sie auf diese Wir investieren ungeheuer viel Zeit und Energie, um diese jun- Entwicklung? gen Leute in Schulen und Ausbildungsverhältnisse zu vermitteln – möglichst in ihrem ursprünglichen Heimatgebiet. Wir wollen schließlich eine Integration am „Ersten Arbeitsmarkt“ erreichen. Der Aufwand lohnt sich. Sie verbinden Sozialarbeit ganz stark Ein Unternehmer möchte einen Gewinn erwirtschaften. Wir mit unternehmerischem Denken – auch – wenn auch nicht einen monetären Gewinn: Übersetzt nicht ohne Grund sind Sie in diesem Zusammenhang 2005 mit dem Titel auf die Sozialarbeit bedeutet dies, dass wir nicht des Betreu- „Social Entrepreneur“ ausgezeichnet ens wegen betreuen, sondern ein Ziel vor Augen haben. Der worden. Warum dieser Zugang? unternehmerische Gewinn unserer Stiftung definiert sich also aus Qualität und Anzahl der erarbeiteten Perspektiven für die Jugendlichen. Diese Denkweise ist sicherlich einer der Gründe, weshalb Off Road Kids stark aus der Wirtschaft unterstützt wird. Wir wollen den Erfolg. 48 49 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Ist es wahr, dass Off Road Kids für die Ja, es ist unerträglich: Nüchtern betrachtet wäre es die Mindest- doch sehr erfolgreiche StraSSen aufgabe der staatlichen Jugendhilfe, dafür zu sorgen, dass es in sozialarbeit noch nie einen Cent vom Staat bekommen hat? Deutschland keine Straßenkinder gibt. Das tut der Staat aber nicht. Dafür, dass wir diese Arbeit des Staates überhaupt tun dürfen, müssen wir ihm auch noch Geld bezahlen: Sozialabgaben, Lohnsteuer und Mehrwertsteuer brauchen rund die Hälfte unserer Spendeneinnahmen auf. Das ist doch niemals Bürgerwille. Mir liegt es schwer im Magen, wenn man jemandem Geld dafür bezahlen muss, dass man seine Arbeit erledigen darf. Etwa die Hälfte unseres Jahresetats verschwindet so in der Staatskasse. Geht es Hilfsorganisationen in anderen Die Antwort liegt auf dem Tisch, seit die renommierte Kanz- Ländern besser? lei Linklaters eine Studie zu diesem Thema publiziert hat: Ja, Deutschland ist das Schlusslicht. Wir dürfen ja noch nicht einmal „Danke“ auf die Spendenbestätigungen schreiben. In England bekommen Hilfsorganisationen zu jeder Spende vom Staat noch etwas dazu. Das nenne ich stilvolle Förderung. Wir sollten uns das abschauen. Kann man sagen, welchen volkswirt- Durchaus. Wir haben inzwischen mehr als 1.500 junge Men- schaftlichen Mehrwert eine Spende schen von der Straße geholt und bei mindestens 1.100 verhin- an Off Road Kids auslöst? dert, dass sie jemals zu Sozialhilfeempfängern werden. Wenn man bedenkt, dass bei vorsichtigster Berechnung ein Sozialhilfeempfänger während seines Lebens knapp eine Million Euro an staatlichen Zuwendungen erhält, haben wir mit dem Einsatz von rund zwölf Millionen Euro an Spendengeldern einen volkswirtschaftlichen Return in Höhe von etwa einer Milliarde Euro erwirtschaftet. Das ist ein Spendenfaktor von 100. Jeder gespendete Euro spart der Volkswirtschaft also mindestens 100 Euro an Sozialausgaben. Das lohnt sich für die jungen Menschen und für die Gesellschaft insgesamt. Chancen geben Das Chancen-Programm der Vodafone Stiftung Deutschland ermöglicht jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte das Studium an einer privaten Hochschule. 50 51 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Die Zahlen sind erschreckend: 16 Prozent der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte verlassen die Schule ohne Abschluss, zwei Drittel landen auf der Hauptschule, gerade mal elf Prozent machen Abitur. Nicht nur an den Schulen werden ihre Talente vergeudet. Auch an den Universitäten bleiben viele Söhne und Töchter von Einwanderern auf der Strecke – wenn sie überhaupt so weit kommen. Nur drei Prozent schaffen es auf die Universität, nach den jüngsten Erhebungen des Hochschulinformationssystems in Hannover brechen 45 Prozent ihr Studium in den ersten drei Jahren wieder ab, doppelt so viele wie unter deutschen Studenten. Oft fehlt es an Unterstützung im Elternhaus, an Selbstvertrauen – und an Geld. „Bildung ist der Schlüssel zur Integration. Aber in kaum einem anderen Land ist die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft so groß wie in Deutschland. Das müssen wir ändern“, sagt Staatsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration. „Eine der größten politischen Aufgaben der kommenden Jahre lautet deshalb: Bildungschancen eröffnen. Das gelingt nur, wenn Staat, Stiftungen, Verbände, aber auch der Sport und die Wirtschaft an einem Strang ziehen. Die Vodafone Stiftung Deutschland ist dabei ein wichtiger Partner.“ Seit 2006 ermöglicht das Chancen-Programm jungen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte das Studium an einer privaten Hochschule. Derzeit werden 37 Stipendiaten gefördert. „Wir wollen zeigen, dass es junge, äußerst begabte Menschen aus Einwandererfamilien gibt, die es nach oben schaffen“, sagt Dr. Mark Speich, Geschäftsführer der Vodafone Stiftung Deutschland, mittlerweile selbst Mentor einer Stipendiatin. „Sie sind für uns die Leuchttürme, Vorbilder für beispielhafte Karrieren, denen wir mit unserem Programm den Weg ebnen möchten.“ Das Programm hat in Bündnis 90/Die Grünen-Chef Cem Özdemir und dem Osnabrücker Migrationsforscher Professor Klaus Bade prominente Fürsprecher gefunden. Staatsministerin Maria Böhmer ist Schirmherrin des Projekts. „Dank Vodafone Chancen können Jugendliche aus Zuwandererfamilien ihre Potenziale voll entfalten“, so die Ministerin. „Das ist für sie eine Bereicherung und für unser Land. Wir brauchen die besten Köpfe und wir brauchen Vorbilder. Hier sind sie.“ 52 53 P o r t r ät N i ko l i n a M i l u n ov i c B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Die Welt so richtig verändern Nikolina Milunovic will intensiv leben und arbeiten. Die Kroatin hat an der Zeppelin University in Friedrichshafen das ideale Umfeld für sich gefunden. Gerade ist Nikolina Milunovic mittendrin in dieser Welt, die einmal ihre Zukunft sein könnte: der Politik. Aufmerksam steht sie in der letzten Reihe des Vortagssaals. Die Stuhlreihen im ersten Stock der Viadrina School of Governance sind dicht besetzt. Heute Abend entwerfen die US-Experten John Hulsmann und Wess Mitchell ihre Vision einer neuen Außenpolitik. Die erstaunlichen Thesen des Duos, das seine Ideen für das Überleben der Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert aus einem Mafia-Movie von Francis Ford Coppola ableitet, entfachen kontroverse Diskussionen im Saal. Nikolina arrangiert noch rasch Haribo und Cracker für den Empfang danach und schlüpft in ihr Büro zwei Stockwerke weiter oben. „Spannend so was, nicht?“ Der Blick aus den Räumen der Atlantic Community geht hinaus auf die Berliner Wilhelmstraße. Behörden, Medien, Institutionen haben sich hier seit der Wende angesiedelt. Durch das Stop and Go des Großstadtverkehrs hasten Menschen in Anzug und Krawatte, die Aktentasche unterm Arm, das Handy am Ohr. Einen Block weiter tagt das politische Berlin in Parlament und Kanzleramt. Seit ein paar Wochen macht Nikolina Milunovic ein Praktikum bei der Atlantic Community, einem Internet-Think-Tank für Außenpolitik. Sie durchstöbert Pressepublikationen aus aller Welt, fasst die wichtigsten Nachrichten online zusammen, redigiert Beiträge von Gastautoren oder packt bei der Organisation von Veranstaltungen mit an. „Hier bekommt man ein differenziertes Bild vom großen Ganzen“, sagt Nikolina, „und einen tollen Einblick in die Praxis der Politik.“ Jetzt aber ab in den Feierabend, auf ein Selters am Bundespressestrand. Vielleicht hat Nikolina Milunovic' Begeisterung für Politik auch etwas mit ihrer Herkunft zu tun. Oder besser: der Herkunft ihrer Eltern, die schon seit Jahren getrennt sind – Kroatien. Wenn sie in den Ferien für ein, zwei Monate zu den Verwandten südlich von Split fährt, taucht sie ein in eine Welt, die erfahren hat, wie es sein kann, wenn die Politik nicht mehr weiterweiß. Zwar tobt der Krieg vor allem durch den Nordosten des Landes, doch überall ist er spürbar. Die Väter von Cousins sind an der Front, Geschichten über Milošević oft Gesprächsstoff und irgendwann ändern sich bei den Besuchen die Busrouten, weil Kampfgebiete umfahren werden müssen. „Das hat mich sehr für politische Konflikte sensibilisiert“, sagt Nikolina. „Wie schnell rutscht man in schwarz-weiße Bilder.“ Schnelle Urteile, Stigmatisierung, entgleisende Konflikte – muss das so sein? Immer wieder hat sich Nikolina das gefragt. Auch später, als sie mit 15 für ein Jahr in die USA geht. Die Spannungen in diesem Ghetto von Schwarzen und Hispanics im Nordosten Philadelphias, die brennenden Autos, die Drogendealer auf den Straßen haben sich in ihr Gedächtnis eingegraben. Nikolina wird Mitglied bei der Umweltorganisation „Down 2 Earth“, engagiert sich bei einer Obdachloseninitiative. Dann lässt der Wahlsieg George Bushs alle Hoffnungen der schwarzen Freunde zerplatzen. Über diese Umwege entdeckt Nikolina ihr Interesse an Afrika, fragt sich: Warum müssen die Menschen dort so leben? In der zwölften Klasse arbeitet sie für UNICEF, unterstützt Entwicklungsarbeit in Sambia. Nikolina Milunovic birst vor Energie, auch wenn das ihre feine, leise Art auf den ersten Blick vielleicht nicht vermuten lässt. Schon als Kind schickte ihre Mutter sie zum Tanzen, zweimal die Woche. Hier konnte sie Energie ablassen, sich weiterentwickeln und kam in ein deutsches Umfeld. „Das ist wichtig für die Integration“, sagte die Mutter, die mit 19 nach Berlin gekommen war und Jahre später ihre Tochter zur Welt gebracht hatte. Die Liebe zum Tanz hat 54 55 P o r t r ät N i ko l i n a M i l u n ov i c B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Nikolina nie mehr verlassen, Ballett, Jazzdance, afrikanischer Tanz, Hip-Hop. Auch in puncto Integration ging das Konzept der Mutter auf. „60 % deutsch, 40 % kroatisch – so fühle ich mich heute“, sagt die 20-Jährige. Ihre Wurzeln liegen im Süden, in diesem Land der Lebensfreude, der Lässigkeit, des guten Essens und dieser ungewöhnlichen Literatur, die sie gerade zu entdecken begonnen hat. Ihr Alltag und ihre „intellektuelle Heimat“ sind in Deutschland. Hier findet sie einen Rahmen auch für die andere Energie, die in ihr steckt: ihre Lernlust, Begeisterungsfähigkeit, ihre Klugheit. Nach der Grundschule schickt ihre Mutter sie in die Schnellläuferklasse des Nordberliner HumboldtGymnasiums. „Das war eine Befreiung: Alle haben gerne und viel gelernt, ein Instrument gespielt und viel Sport gemacht.“ Als sie nach dem Abitur die passende Uni für ihr Politikstudium sucht, stößt Nikolina im Internet auf eine, die ihr ebenso zu entsprechen scheint, wie es bisher die Schule tat: die Zeppelin University am Bodensee. Schräg, innovativ, leistungsorientiert. Begeistert klickt sie sich durch Bilder von Professoren, die beim Lesen Trampolin springen oder um den See schreiten, freut sich an den ungewöhnlichen Fragen bei der Bewerbung. „Welchen Unterschied machen Sie für die Welt aus?“ „Glauben Sie, dass es heute ähnlich bedeutende Irrtümer gibt wie ‚die Erde ist eine Scheibe‘?“ Nikolina: „Und die Studenten hatten lauter schräge Lebensläufe.“ Nikolina strahlt und nippt an ihrem Selters. Zwei Semester sind um und immer noch kann sie ihre Begeisterung kaum zügeln. Viel hat sie gelernt, tolle Freunde gefunden. Unterstützer sowieso. Wie Schuldirektor Hinrich Lühmann, den Humanisten, oder Unigründer Stephan Jansen, der Systemtheoretiker Helmut Willke und Vodafone Stiftungsgeschäftsführer Mark Speich, ihr Mentor, der ihr auch das Praktikum bei der Atlantic Community vermittelt hat. „Das sind Menschen, die etwas verändern wollen“, sagt Nikolina. Und das möchte sie eines Tages auch einmal, ob in der Entwicklungshilfe oder in der Politik – sicher mit ganzer Energie. 56 57 P o r t r ät J a ko b H e n n i n g B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Vertrauen in die Zukunft Jakob Henning ist ein ruhiger und bodenständiger Zeitgenosse. Nur so meisterte er den mühevollen Weg aus Kasachstan an die European Business School in Oestrich-Winkel. Als Jakob klein war, brachte ihm die Oma sein erstes Gebet bei. Auf Deutsch. „Ich bin klein, mein Herz ist rein.“ Russisch konnte die Großmutter kaum, auch die Eltern sprachen Deutsch miteinander. Wie alle Deutschen hier in Kasachstan. Die Sprache war das Band, das sie zusammenhielt. Es erinnerte sie an das Land der Ahnen, aus dem diese im 18. Jahrhundert ausgewandert waren an die Wolga, bis sie zwangsumgesiedelt und deportiert wurden in die kargen Weiten Kasachstans. Ihre Namen verrieten noch immer ihre Herkunft. Schlothauer, Friedrich, Irene oder eben Jakob. Nach dem Zerfall der Sowjetrepubliken flammte der Nationalismus über das Land. Russisch blieb Amtssprache, Kasachisch wurde Pflicht, Deutsch völlig an den Rand gedrängt. Mit ihren Kindern und der Großmutter machten sich die Eltern auf in die Heimat ihrer Vorfahren. Da war Jakob Henning sechseinhalb Jahre alt. Der hochgewachsene junge Mann schlendert durch das Mittelschiff der Zionskirche. An den Wänden hängen meterhohe Schwarz-Weiß-Fotografien. DDR-Opposition, Widerstand im Dritten Reich unter dem evangelischen Pfarrer Dietrich Bonhoeffer. Jakob Henning grinst. „Wir wohnen auch in einer Dietrich-Bonhoeffer-Straße.“ Jakob ist auf Stippvisite in der Hauptstadt. Weil ein Termin den 22-Jährigen ohnehin hierher führt, schaut er sich gerne ein wenig um. Jakob ist ein ruhiger, leiser Typ, ein wacher, angenehmer Erzähler, keiner, der ausschaut, als würde er nachts ständig durch die Clubs ziehen. Warum auch? Das ist nicht seine Welt. Glaube, Kirchengemeinschaft, Geschichte – das ist ihm wichtig. Seit Jahren engagiert er sich in der Gemeinde. „Kennen Sie das Bonhoeffer-Gedicht? ,Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag ...‘ – so fühle ich mich auch.“ Geborgen im Glauben, sicher in der Familie – das hat Jakob Henning in seinem Leben Rückhalt gegeben. Auch in den schweren Zeiten. Wie 1993, als er mit der Familie nach Deutschland kam. Am 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus. Neun Monate in Auffanglagern, wie in Dranse, Mecklenburg-Vorpommern, zu zehnt in einem Zimmer mit anderen Aussiedlern. „Ungewohnt und bedrückend“, sagt Jakob. Ein paar Tage nach der Ankunft wurde er eingeschult. Seine Mitschüler lachten über die Aussprache und den ungewohnten Akzent des Jungen aus Kasachstan. Dort war er „der Deutsche“ gewesen. Hier ist er plötzlich „der Russe“. „Dabei habe ich mich immer als Deutscher gefühlt, als Deutscher mit besonderer Herkunft.“ Richtig heimisch fühlte sich Jakob lange nicht. Nach drei Jahren im mecklenburgischen Tutow, dem Ort mit der höchsten Arbeitslosenquote bundesweit, zieht die Familie zu Verwandten nach Nordrhein-Westfalen. Der Vater, in Kasachstan Direktor eines Warenlagers, findet hier nach einer Umschulung Arbeit. Auch die Mutter, eine „Ökonomistin“. Immer hat Jakob die Umzüge als Chance für einen Neuanfang gesehen. Endlich, in der Oberstufe, beginnt sich der kluge, angenehm unaufgeregte Schüler wohlzufühlen. „Ich fand Freunde, der Unterricht machte Spaß, ich wollte nicht mehr weg.“ Aber was tun mit dem Einser-Abitur? „Ich hätte mir vieles vorstellen können.“ Sein Rektor und Lehrer rät ihm: „Versuch es mit Betriebswirtschaft.“ Jakob Henning erinnert sich noch genau an die Zugfahrt an jenem heißen Apriltag 2006. Deutschland hatte in der Fußball-WM gerade das Viertelfinale gegen Argentinien gewonnen. Die Menschen lagen sich in den Armen, singend, 58 59 P o r t r ät J a ko b H e n n i n g B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät tanzend. Es roch nach Bier und Schweiß. Fast als wollten sie ihn feiern, ihn, der gerade mit einem Hochgefühl in den ICE gestiegen war. Glücklich wie ein Kind, dass die Vorstellungsgespräche bei der renommierten European Business School (EBS) so phantastisch gelaufen waren. Was wäre es für ein Glück, dort studieren zu können. Aber wie sollte er sich das leisten? Irgendwann fiel sein Blick auf die Chancen-Broschüre der Vodafone Stiftung Deutschland, die er als Schmierzettel mit in die Diskussionsrunden genommen hatte. „Ich sah, dass es gar keine Handywerbung war, sondern eine Stipendien-Ausschreibung für Migrantenkinder. Da wusste ich, dass Gott mich liebt.“ Vor ein paar Wochen lag der Brief der EBS im Briefkasten. „Angenommen zum Master-Programm.“ Jakob strahlt. „Jetzt kann ich nach dem Bachelor noch weitermachen.“ Er genießt das Studium, mag seine klaren Strukturen, das stramme Programm, die kleinen Gruppen, den persönlichen Kontakt zu den Professoren. Durch das Stipendium kann er sich auf das Studium konzentrieren. Wie auch hätte er es sonst finanzieren sollen? Die ideelle Förderung eröffnet ihm neue Perspektiven, Europaseminare, Rhetorik, Praktika. Bis zum Semesterstart im Herbst schaut Jakob vom anderen Rheinufer auf seine Business School. In der dritten Etage eines Glasbaus feilt er an Präsentationen, Exceltabellen, übernimmt Recherchen. Drei Monate dauert sein Praktikum beim Pharmakonzern Boehringer Ingelheim. Das Team ist jung, das Klima gut, die Arbeit in der Finanzabteilung gefällt ihm. Und, wer weiß, vielleicht wird er mit dem EBS-Master in der Tasche selbst bald in ein Unternehmen wie dieses einsteigen. „Ein Großunternehmen würde mich reizen“, sagt Jakob. „Hier bekommt man vielfältige Möglichkeiten und wird hervorragend gefördert.“ 6 0 61 P o r t r ät S u n a T u r h a n B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Zwei Herzen in einer Brust Suna Turhan hat zwei kulturelle Identitäten, deutsch und türkisch. Diversity macht ihr jedoch keine Angst, sondern spornt sie an, mehr über sich zu lernen. Suna Turhan dreht den Schlüssel herum, stößt die Altbautür auf und lacht. „Willkommen im Ghetto.“ Behände eilt die 21-Jährige ihren Besuchern voran die Stufen hinauf. Einige der alten Wandfliesen im Treppenhaus sind abgeschlagen. „Blöd, nicht?“, sagt Suna. „Die verkaufen die Diebe auf dem Flohmarkt.“ Im ersten Stock duftet es nach türkischem Reis mit Lamm, nach Trockenobst und Ingwertee mit Minze. Die Sonne flimmert durch das hellgrüne Blätterdach der gewaltigen Linde vor dem Haus. Im Wohnzimmer mischen sich Ölschinken und Familienfotos mit gerahmten Plakaten von August Macke und Paul Gauguin. Herr Turhan bittet lächelnd in die schwere Sitzecke, Frau Turhan schenkt einen Tee ein. „Suna war immer sehr fleißig und begabt. Wir sind so stolz auf sie.“ Suna knufft ihre Mutter in die Seite. „Ach anne*.“ Berlin-Reinickendorf, weit oben im Norden der Stadt. Als der Vater vor 36 Jahren aus Ostanatolien nach Deutschland kam, stimmte die Mischung im Kiez noch. Alt-Berliner, Handwerker, Kaufleute, Arbeiter, Einwandererfamilien. Kein Ghetto wie Kreuzberg oder der harte Wedding. Doch irgendwann wurde der Ton rauer. Armut, Elend, immer mehr Migrantenfamilien, in denen Ar beitslosigkeit die Regel und fließendes Deutsch die Ausnahme ist. Der Vater schüttelt den Kopf, das kann er nicht verstehen. „Wir haben mit den Kindern immer Deutsch gesprochen. Die Sprache ist doch entscheidend, damit sie vorankommen.“ Gemeinsam besuchten sie die Elternabende in der Schule. „Unsere Kinder sollten eine gute Bildung haben“, sagt die Mutter. Dass es Suna bis an die Universität geschafft hat, an eine hervorragende Privathochschule zumal, macht sie ungeheuer glücklich. Suna springt auf ihr Bett und legt die Beine im Schneidersitz zusammen. Lässig fallen ihre braunen Locken über die Schultern, der petrolblaue H&MCardigan lässt ihr vergnügtes Lachen doppelt strahlen. „Tut mir leid, ich bin halt nicht der typische Kopftuchfall.“ Türkisch oder deutsch? In solchen Kategorien hat sie nie gedacht. Sie wuchs hier auf wie andere auch, als Berlinerin, Deutsche, deren Eltern aus der Türkei kamen. Die mit deutschen Freunden auf der Straße kickte, sang und tanzte, Zirkus und Theater spielte. Nach der Schule schnell die Hausaufgaben, dann raus auf den Spielplatz im Hinterhof. Suna reißt die Arme in die Luft. „Boa, das war meine Welt, mein Reich.“ Eine, die in der Schule von klein auf super Noten hatte, kann sich das locker leisten. Später gibt sie Nachhilfe für jene, die es nicht so leicht haben. Wie jene türkische Freundin mit sieben Geschwistern, die in der kleinen Wohnung kaum eine ruhige Minute zum Lernen findet. Dass es bei ihr anders war, hat Suna immer von Herzen zu schätzen gewusst. Da sind die Eltern, die ihr alle Freiheiten lassen, mit den Kindern auf Reisen gehen, ihnen Rückhalt geben. Mit ihrer Schwester teilt sie ein kleines, liebevoll eingerichtetes Zimmer. Kiefernmöbel, Computer, Urlaubsfotos. Ein Ort, um zu lernen, Musik zu hören, sich zurückzuziehen und sei es nur auf ein paar Quadratmetern. Da ist die große Schwester, ihr Vorbild. Sie macht vor ihr Abitur und geht als Hotelfachfrau nach Amerika. Und da ist Ingrid Göbel, die deutsche Nachbarin und Freundin der Familie, die mit den Kindern von klein auf deutsch spricht, bei den Hausaufgaben hilft, mit ihnen spazieren geht und Weihnachten und Ostern feiert, 19 Jahre lang. „Sie ist meine deutsche Mama“, sagt Suna. Die Heimat ihrer Eltern kennt Suna Turhan nur aus den Ferien. Bunte Urlaubsfotos hängen über ihrem Schreibtisch. „Total cool“ fand sie ihren ersten Besuch in Izmir und dem 300-Einwohner-Dorf Mus Varto weit im Osten des Landes. Einerseits ein „Kulturclash“ mit Plumpsklo, Kühen, Wasser holen vom Brunnen, Schafe schlachten, andererseits diese voraussetzungslose Wärme der Familie. „Obwohl sie dich noch nie gesehen haben, bist du als Verwandter einfach ihr Ein und Alles. Auch wenn du kein Zazaisch sprichst.** “ 62 63 P o r t r ät S u n a T u r h a n B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Wie sehr diese Wurzeln Teil ihrer Identität sind, wird Suna erst im Laufe der Zeit klar. Als ihre beste Freundin erfährt, dass Suna Alevitin ist, zieht sich die Sunnitin geschockt von ihr zurück. Völlig unverständlich für die weltoffene Suna, für die Religion immer Privatsache war. „Letztlich stand ich immer irgendwo zwischen den Kulturen.“ Für die Türken im Kiez ist das quirlige Mädchen eine Deutsche, die zu schlecht türkisch spricht und zu gut in der Schule ist, um eine von ihnen zu sein. Die Deutschen sagen in der zehnten Klasse, als sie Kandidaten für ein Begabtenstipendium für Schüler mit Migrationshintergrund suchten: „Nehmen wir doch Suna.“ „Da hab ich mich schon komisch gefühlt.“ Bis heute treibt sie das Leben zwischen den Kulturen um. Deshalb sagt sie offensiv: „Meine Eltern wurden zwangsverheiratet. Es ist mir wichtig, damit offen umzugehen.“ Deshalb setzt sie sich aktiv mit dem Verständnis zwischen Okzident und Orient auseinander. In den Semesterferien besucht sie ein Seminar über das Bild des Islam in den westlichen Medien. Gerne würde Suna Turhan Journalistin werden, Fernsehmoderatorin vielleicht oder Dokumentarfilmerin. Nach dem Abitur entschied sie sich für ein Studium der Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaften, wollte unbedingt raus aus Berlin, um ihren Horizont zu erweitern. Ohne das Stipendium der Vodafone Stiftung Deutschland wäre es am Geld gescheitert. „Die JacobsUniversität hätte ich mir ebenso wenig leisten können wie ein Studium außer halb Berlins“, sagt Suna. „Gerade diese Uni hat mich so begeistert, weil dort die ganze Welt versammelt ist.“ Suna schlüpft in ihre Ballerinas und wirft die Jacke über. Bald geht es zurück nach Bremen. Jetzt will sie noch mal durch ihre Stadt ziehen. Um 21 Uhr trifft sie die Mit-Stipendiaten auf eine Currywurst am Ostbahnhof. „Bis morgen“, ruft Suna, wirft ihren Eltern einen Kussmund zu und eilt singend die Treppen hinunter, hinaus ins nächtliche Berlin. * türkisch für Mama ** Regionalsprache in Ostanatolien 6 4 65 P o r t r ät N aw i d A l i - A b b a s s i B i l d u n g , I n t eg r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät We are the world Nawid Ali-Abbassi hat ehrgeizige Lebensziele. Der Berliner mit iranischen Wurzeln will die Welt besser machen. Durch persönliches Engagement an den Schalthebeln der Wirtschaft. Nawid Ali-Abbassi ist einer, dem man sofort seine Handtasche anvertrauen würde. Weiche Züge, zuvorkommendes Lächeln, höflich bis in die Spitzen. Ein modischer junger Mann, die Haare leicht gegelt, lässiges Hemd, Jeans. Kein Wunder, dass er bei Procter & Gamble überzeugte. Seit ein paar Wochen arbeitet Nawid in der Schweizer Niederlassung des Konzerns, im Marketing. Es ist sein erster Job. Nawid konnte nicht nur mit seinem Auftreten punkten, sondern auch mit einer erstklassigen Ausbildung: einem Bachelor an der European Business School (EBS) in Oestrich-Winkel, noch dazu mit einem Begabtenstipendium. Ein Samstag im Juni. In dem kleinen Café am Kurfürstendamm ist nicht viel los. Nawid nimmt einen kleinen Schluck Tee und kneift leicht die Augen zusammen. Die Abendsonne blendet. Leise rauscht der Verkehr vorbei. Lange hat Nawid dahin wollen: nach ganz oben, in die Welt der Konzerne, der Macht und des Geldes. „Mit 50 will ich zu den zehn reichsten Leuten des Landes zählen“, schrieb er noch augenzwinkernd ins Abiturbuch. Heute ist ihm längst anderes wichtig: Verantwortung übernehmen. Das Soziale in den Mittelpunkt rücken. Die Welt ein kleines bisschen besser machen. Und das hat mit seiner wechselvollen Geschichte, seiner Herkunft und seinem Glauben zu tun. 30 Jahre ist es jetzt her, dass sein Vater zum Architekturstudium aus dem Iran nach Berlin kam. Im Heimaturlaub lernte er seine Mutter kennen, eine Lehrerin, die ihn bald heiratete und nach Deutschland folgte. Es war in jenen stürmischen Wochen, in denen Chomeini im Iran das Ruder an sich riss. Die Eltern entschieden: Wir gehen nicht zurück. Nawid grinst. „Ich bin glücklich darüber. Hier hatte ich ein Stipendium, im Iran hätte ich nicht mal studieren dürfen.“ Eine Rückkehr in den Iran war für die Eltern schon wegen ihres Glaubens undenkbar: Sie sind Bahai eine Glaubensgemeinschaft, die im Iran bis heute verfolgt wird. Der Bahai Glaube ist ein moderner, sozial und humanitär orientierter, monotheistischer Glaube, der von der Einheit der Religionen und der Einheit der Menschheit überzeugt ist. Seine Wurzeln gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück, auf den aus Persien stammenden Bahá’u’lláh. Dieser Glaube hat Nawid geprägt, die mit ihm verbundene Bildungsorientierung, seine Weltoffenheit, die individuelle Suche nach Wahrheit und Barmherzigkeit. Nawid: „Bahai betrachten den Menschen als Bergwerk, reich an Edelsteinen, die man zu Tage fördern muss.“ Von klein auf besucht er die Kinderklasse der Bahai, eine Art Ethikunterricht für den Nachwuchs, engagiert sich in den Gemeinden, die auch hierzulande wie Pilze aus dem Boden wachsen. Das hat ihn stark gemacht, sagt er, auch weil er über die Bahai viele deutsche Freunde fand. Ohnehin achteten seine Eltern von Anfang an darauf, dass er aufwächst wie die einheimischen Kinder auch. Kinderturnen, Kita, Schulhort, Montessoriunterricht. In der Oberschule blieb die Faszination der coolen harten Jungs, die dieses Spiel von Provokation und Stärke spielten, wie so viele im Berliner Stadtteil Moabit, mit seinem Ausländeranteil von knapp 30 Prozent, nur eine Episode in seinem Leben. „Aber es hat mich nachdenklich gemacht, dass da viele wirklich kluge Leute dabei waren, die später nichts aus sich gemacht haben.“ Nawid wusste: Das will ich nicht. Ich will ganz nach oben. Dann machte er ein freiwilliges soziales Jahr als Zivilersatzdienst. Im Peoples Theater. „Es war das größte Glück, das ich je hatte.“ Es ist ein Sprung in eine andere Welt, eine neue Perspektive. Die Aufgabe: Gewaltprävention an Schulen im Brennpunktgebiet Offenbach. Die Welt ist ihm nicht unvertraut, der Blick auf sie schon. Mit 15 anderen Jugendlichen lebt er in einer kleinen Wohngemeinschaft, jeden Tag müssen sie aufs Neue die Regeln für das Zusammenleben aushandeln, müssen sich einigen, abgrenzen, gemeinsam einen Weg finden. Tagsüber gehen sie in die Klassen und inszenieren mit den Kids kritische Theaterstücke zu Themen, die sie selbst 66 67 P o r t r ät N aw i d A l i - A b b a s s i B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät einmal umgetrieben haben. Cool sein oder Freunde im Stich lassen. Lästern oder Zivilcourage. Sie helfen den Schülern, sich damit auseinanderzusetzen, in die Rolle des Gegenübers zu schlüpfen, Lösungen zu finden. Wie fühlt sich der andere, wenn ich ihn niedermache? Wie kommt er da raus, wenn er als uncool verschrien ist? Eine unglaublich intensive Zeit und ein Prozess, der zunehmend beginnt, Nawid selbst gehörig umzukrempeln. „Ich habe noch nie so viel über mein Leben und meine Werte nachgedacht, alles in Frage gestellt“, sagt der 23-Jährige. „Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden.“ Ein Mensch, der nach neuen Blickwinkeln dürstet und neugierig fragt: Welches Paradigma steht dahinter, was kann ich daraus lernen, statt vorschnell zu urteilen? „Viel Geld, ein dickes Auto, Ansehen, das war plötzlich nicht mehr so wichtig für mich.“ In dem kleinen Zimmer zum Hinterhof liegt eine Stille in der Luft, die sich weich wie Watte anfühlt. 16 Menschen haben es sich auf Sofas, Stühlen und auf dem Boden bequem gemacht. Leise beginnen zwei Frauen zu singen. Dann beginnt der Vortrag. Es geht um die Gründe für die Finanzkrise und Moral in der Wirtschaft, um Motoren der Ökonomie, die Verführung des Geldes, gierige Manager und die Frage: Wie verhalte ich mich eigentlich selbst in diesem System, egal ob als Konsument bei Kaisers, Aldi oder Joop? Fragen wie diese treiben die Bahai und ihre Freunde um, die hier versammelt sind, deshalb kommen sie zusammen, um ihre Position zu finden, jeder für sich. Nawid ist so oft es geht dabei, mal hier in Berlin, mal in Wiesbaden, wo er bis zum Sommer studiert hat. Er hat seinen Weg gefunden und weiß, wie es hilft, weiter zu hinterfragen, im kritischen Gespräch zu bleiben. Gerade als Absolvent der Managerschmiede EBS. Oft wird er gefragt: Wie verträgt sich das – soziales und nachhaltiges, ethisches Handeln ganz oben auf die Agenda setzen und in der knallharten Wirtschafts elite mitmischen? Die Antwort: „Ich will gerade deshalb an die Schaltstellen der Wirtschaft, denn das ist der Ort, an dem Veränderung beginnt.“ Wo könnte er dafür ein besseres Handwerkszeug bekommen als an der EBS? Viele deutsche Freunde Im Gespräch mit Cem Özdemir, Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Herr Özdemir, Sie sind als Sohn Na ja, Vorzeigemigrant ... Sagen wir, mein Weg war für die dama- t ürkischer Einwanderer aus Anatolien ligen Verhältnisse in Schwaben eher ungewöhnlich. Es kamen aufgewachsen, ohne Bücherwand und Brockhaus im Regal. Heute sind Sie der mehrere Faktoren zusammen. Erstens haben mich einige Lehrer deutsch-türkische Vorzeigemigrant ziemlich motiviert und mein Selbstbewusstsein gestärkt. Dar- schlechthin. Wie haben Sie das geschafft? über hinaus erkannten meine Eltern sehr früh, dass ich es aus eigener Kraft nicht schaffe. In der fünften Klasse, in der Hauptschule, besorgten sie mir eine Nachhilfelehrerin. Sie hat mir mein erstes Buch geschenkt. Schließlich schaffte ich es auf die Realschule. Nicht zu vergessen, ich hatte immer viele deutsche Freunde und habe viel Zeit mit ihnen verbracht. Heute frage ich mich öfters: Wo sind die Leute türkischer Herkunft geblieben, mit denen ich aufgewachsen bin? Einige waren mir haushoch überlegen. Aber sie hatten vielleicht nicht dasselbe Glück mit dem Elternhaus und der Schule, oder insgesamt eine widrige Umgebung – und so fehlte ihnen vielleicht an der ein oder anderen Weggabelung die Unterstützung, die ich hatte. 68 69 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Viel Potenzial liegt also brach? Absolut. Das ist humanitär eine Tragödie und für die Gesellschaft ein Debakel. Welches Kreativpotenzial entgeht uns da? Es ist unglaublich, dass sich unsere Gesellschaft diesen Luxus leistet. 41 Prozent der Deutschen mit Migra Weil sich nichts geändert hat. Ich kenne Hebammen, die schon tionshintergrund bleiben ohne beruf- im Kreißsaal Wetten abschließen, welches Neugeborene auf lichen Bildungsabschluss, nur zehn Prozent machen Abitur, gerade mal drei welcher Schule landet. Was in der Wiege beginnt, setzt sich in Prozent schaffen es an die Universität. Kindergarten und Schule fort: soziale Ungleichheit. In keinem Wieso? anderen OECD-Land bestimmt die Herkunft so sehr darüber, wie es anschließend weitergeht. Das ist ein unerträglicher Zustand, der niemandem eine ruhige Nacht lassen sollte. Mit dem Projekt „Vodafone Chancen“ Ich finde das Projekt beispielhaft. Viele junge Menschen mit will die Vodafone Stiftung Deutschland Migrationshintergrund müssen auf dem Weg zum Abitur mehr Einwandererkindern den Hochschulzugang erleichtern. 37 Studenten an Hürden überwinden als andere. Oft scheuen sie anschließend hervorragenden Privathochschulen den Weg an die Universität oder an eine teuere Privathochschu- werden gefördert. Sie sind Fürsprecher des Programms. Warum? le. Hier setzt das Programm an. Auch wenn es zwei berechtigte Kritikpunkte gibt. Der eine lautet, es sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der zweite fragt: Was ist mit denen, die schon vor dem Abitur herausgekickt worden sind? Da sage ich: Stimmt, aber rechtfertigt das, diesen 37 diese Chance zu verweigern? Natürlich müssen wir fragen: Wo sind die anderen Einrichtungen und Organisationen, die sich der anderen Kinder annehmen? Überdies könnte man die Förderung auf staatliche Universitäten ausweiten. Was kann das Projekt bewirken? Das Vodafone Chancen-Programm hilft jungen Menschen, die sonst ungleich größere Schwierigkeiten hätten, ihren Weg zu gehen. Und glauben Sie mir, diese Kids werden der Gesellschaft eines Tages viel zurückgeben. Vielleicht werden sie Produkte erfinden, die uns helfen, aus der Wirtschaftskrise herauszukommen. Da ist jeder Cent gut angelegt. Natürlich müssen wir uns über eines im Klaren sein: Selbst das beste Engagement von Stiftungen ersetzt nicht die Bildungspolitik des Staates. Es kann höchstens ergänzen, aber niemals auffangen, was Staat und Gesellschaft nicht leisten. Hier macht die Stiftung eine tolle Arbeit. „D iese Leute sind hochintelligent, leistungsbereit und wollen Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen.“ Bei den Jahrestreffen nehmen Sie an Ja, und das sind alles andere als Pflichttermine. Ich profitiere den Abendessen mit den Stipendiaten selbst viel davon, weil ich junge Leute kennenlerne, die mich teil und lernen die Studenten persönlich kennen ... jedes Mal vor Neid erblassen lassen. Diese Menschen haben keine Inselbegabungen, sondern sind zum Teil erstaunliche Allrounder. Sprachlich und naturwissenschaftlich hervorragend und obendrein in Sport klasse. Als ob das nicht reichen würde, kümmern sie sich in ihrer Freizeit um ihre Geschwister, sind aktiv in sozialen Einrichtungen oder engagieren sich für alte und behinderte Menschen. Es sind Leute, bei denen man denkt: Wenn sie unsere Zukunft repräsentieren, muss man sich um unser Land keine Sorgen machen. Also keine leistungsfixierten Ganz im Gegenteil. Und das ist bemerkenswert in Zeiten, in de- Karrieristen? nen wir über Master, Bachelor und verkürzte Schulzeit debattieren, in denen alle nur noch Stress haben und selbst Jugendliche Terminkalender führen. Diese Leute sind hochintelligent, leistungsbereit und wollen Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen, schon weil sie ihre eigene Herkunft nicht vergessen haben. Sie fragen: Wie kann ich das zurückgeben, was mir mitgegeben wurde? Wie kann ich mich um die kümmern, die auf der Strecke geblieben sind? Leider gibt es bisher wenige, die so weit kommen wie diese Studenten. Aber die, die es schaffen, sind richtig gut. Ich würde sie sofort einstellen. Was muss geschehen, damit es mehr Erstens: Wir müssen die frühkindliche Bildung – nicht etwa Be- junge Menschen mit Migrationshinter- treuung – ausbauen. Alle Kinder sollten ab drei Jahren in den grund schaffen? Kindergarten gehen, denn dort geht die Schere auseinander. Zumindest für das letzte Kitajahr sollten wir ganz ideologiefrei über die Kitapflicht nachdenken. Entscheidend ist das Kindeswohl. Diese Zeit muss genutzt werden, um Defizite aufzuarbeiten – Sprache, Sozialverhalten und so weiter. Dafür brauchen wir 70 71 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät gut qualifizierte und angemessen bezahlte Erzieher. Zweitens plädiere ich für Ganztagsschulen. Kein Kind darf die Schule verlassen, ohne seine Hausaufgaben gemacht zu haben. Ob ich den Brockhaus zu Hause stehen habe oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Drittens muss die schulische Selektion der Kinder nach der vierten Klasse wegfallen. Wenn sich so früh entscheidet, wohin die Reise geht, haben nicht alle die gleichen Chancen. Bei vielen Mittelschichtseltern werden Die Sorgen der Mittelschichtsfamilien sind legitim. Aufgabe des sie auf wenig Begeisterung stoSSen. Staates ist es, beide Interessen zusammenzubringen, indem Sie streben aus Sorge um die Bildung ihrer Kinder seit den PISA-Debatten erst er für eine gute Mischung der Schüler und für hervorragen- recht aufs Gymnasium ... de Unterrichtsqualität sorgt. Deshalb müssen unsere Kinder nicht nur länger gemeinsam lernen, sondern auch individuell gefördert werden. Damit die Kinder einer alleinerziehenden Krankenschwester, eines türkischstämmigen Arbeiters und einer Oberärztin dieselbe Schule besuchen und vielleicht auch Freunde werden. Davon sind wir noch weit entfernt. De facto lebt im dreigliedrigen Schulsystem die alte ständische Gesellschaft Europas fort. Welche Rolle spielt Bildung für die Die entscheidende Rolle. Sie bestimmt darüber, welche Chan- Integration? cen meine Kinder später in der Gesellschaft haben werden. Wenn wir wollen, dass es endlich mehr Kinder mit Migrationshintergrund bis zum Abitur schaffen, ein Studium wagen und später in guten Berufen unsere Gesellschaft mitgestalten, müssen wir so früh wie möglich ihre Eltern mit ins Boot holen. Viele von ihnen sind in der Schule gescheitert und fühlen sich überfordert. Oft kommen sie vom Land, haben vielleicht nur fünf Jahre eine Schule besucht. Diesen Eltern müssen wir klarmachen, wie wichtig Bildung ist. Über Elterncafés, Medien, Konsulate oder Vereine. Alles kann der Staat nicht richten. Ich wünsche mir, dass türkische Väter eines Tages im Café nicht nur darüber sprechen, welche Fußballmannschaft Pokalsieger wird, sondern auch, auf welche Schule ihre Kinder gehen. Und dass sie, wenn einer sagt: „Ist mir egal, ob mein Sohn auf die Hauptschule geht oder aufs Gymnasium“, ihm empört ins Wort fallen: „Was bist du denn für einer?“ G a s t b e i t r ag v o n P ROF. D r . BARBARA IS C HINGER Wie schafft man erfolgreiche Lehr- und Lernumgebungen? Erste Ergebnisse der Talis-Studie. Die Entwicklung der neuen OECD-TALIS-Studie (Teaching and Learning International Survey) ist ein wesentlicher Beitrag zur OECD-Forschung im Bildungsbereich. Nie zuvor hatten wir die Möglichkeit, derartige Einblicke in Lehr- und Lernumgebungen in Schulen und deren Unterschiede zwischen und innerhalb einzelner Länder zu gewinnen. Einerseits wissen wir heute sehr viel über die jeweilige Bildungspolitik einzelner Regierungen, andererseits erhalten wir regelmäßig aus der PISA-Studie der OECD Momentaufnahmen zu den konkreten Erfolgen auf Basis des Wissens, das sich Schüler und Studenten erwerben. TALIS bietet uns nun erstmalig Einblick in die Umsetzung der jeweiligen Bildungspolitik aus Sicht der Menschen, die in der ersten Reihe des Unterrichts stehen – Lehrer und Schulleiter. Die Berichte der Lehrer bieten natürlich nur eine Perspektive von Unterrichtsrealität, eine Perspektive, die wir in Bezug zu anderen Datenquellen setzen müssen, um ein vollständiges Bild erhalten zu können. Die Sichtweise der Lehrer ist jedoch sehr bedeutungsvoll, weil die besten politischen Absichten nur dann Früchte tragen können, wenn sie wirkungsvoll umgesetzt werden. Die Schlussfolgerung lautet, dass die Qualität eines Bildungssystems nicht besser als die Qualität der Lehrer sein kann. 23 Länder1 haben in der TALIS-Studie mitgewirkt und Pionierarbeit geleistet sowie wertvolle Einblicke in die Bedingungen von Lehren und Lernen, die 1 Australien, Belgien (Fl.), Brasilien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Irland, Island, Italien, Korea, Litauen, Malaysia, Malta, Mexiko, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien, Türkei und Ungarn. 72 7 3 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Ausbildung und fachliche Weiterentwicklung von Lehrern sowie in die Beurteilung der Lehrer und deren Schulleitungen geliefert. In diesem Beitrag möchte ich einige der Schlüsselergebnisse der TALIS-Studie und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen näher betrachten. Deutschland hat zwar an der ersten TALIS-Runde nicht teilgenommen, besitzt aber die Möglichkeit, sich in einer späteren Phase noch zu beteiligen. Im Durchschnitt der 23 Länder (siehe1 ) arbeitet mehr als eine von drei Lehrkräften in einer Schule, deren Schulleitung berichtet, an der Schule herrsche ein Mangel an qualifizierten Lehrern. Mängel an der Ausstattung und unterrichtlicher Unterstützung seien weitere Hindernisse für einen erfolgreichen Unterricht. Hinzu kommen schwere disziplinarische Probleme in vielen Ländern. Überdies beklagen im Durchschnitt 26 Prozent der Schulleitungen Absentismus von Lehrkräften und 24 Prozent ungenügende pädagogische Voraussetzungen zum Unterrichten als Beeinträchtigung erfolgreichen Lernens in ihren Schulen. Aber TALIS liefert auch sehr ermutigende Ergebnisse. Nicht nur signalisieren die positiven Ergebnisse einiger Länder den übrigen, dass die Herausforderungen erfolgreich bewältigt werden können, sondern sie geben auch Hinweise, dass Lehrer die Herausforderungen aktiv annehmen. So ist in den meisten Ländern die große Mehrheit der Lehrer mit ihrer Stelle zufrieden und der Ansicht, dass sie für die Ausbildung ihrer Schüler etwas Bedeutendes beitragen. Lehrer investieren Zeit und Geld in ihre berufliche Fortbildung. Damit erhalten sie ein größeres Repertoire an pädagogischen Strategien, die sie im Unterricht einsetzen können. G a s t b e i t r ag v o n P ROF. D r . BARBARA IS C HINGER Was lernen wir aus den Ergebnissen und was können wir mit ihnen anfan gen? In erster Linie weist die TALIS-Studie darauf hin, dass eine zielgerichtete berufliche Weiterbildung ein wesentlicher Ansatz für Verbesserungen ist. Die zielgerichtete Fortbildung kann eine wichtige Determinante für Verbesserungen sein. Die Daten von TALIS belegen: Die Fortbildung von Lehrkräften geht Hand in Hand mit der Beherrschung eines breiten Methodenrepertoires im Unterricht – obwohl nicht klar ist, in welchem Ausmaß die professionelle Weiterbildung die Übernahme von neuen Techniken auslöst oder darauf antwortet. Die Daten zeigen auch einen engen Zusammenhang auf zwischen Weiterbildung auf der einen Seite und einem positiven Schulklima, pädagogischen Weltbildern (beliefs), Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften und Zufriedenheit im Beruf auf der anderen Seite. Allerdings benötigen die meisten Schulsysteme ein deutlich besseres Zusammenspiel sowohl von Kosten und Nutzen als auch von Angebot und Nachfrage: Relativ wenige Lehrkräfte nehmen an Maßnahmen teil, die sie eigentlich für ihre Arbeit als besonders nützlich einschätzen, nämlich Qualifikationsprogramme und individuelle und kooperative Forschungsprojekte. Dies gilt auch für jene, die bereit sind, hierfür erhebliche Zeit- und Geldressourcen einzusetzen, und die von der Effektivität der Maßnahmen überzeugt sind. Umgekehrt sind relativ hohe Teilnahmequoten bei Maßnahmen festzustellen, die als weniger effektiv eingeschätzt werden, wie einmalige Konferenzen und Seminare. Lehrkräfte, die mehr professionelle Fortbildung wünschen, wurden gefragt, was sie von einer Realisierung abhält. Knapp die Hälfte gab als Grund an, es gäbe Konflikte mit der Arbeitsbelastung. Aber genauso viele benannten den Mangel an passenden Angeboten als Hinderungsgrund. Diese Lehrkräfte 74 75 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät nahmen auch weniger an Fortbildungsaktivitäten teil. Diejenigen, die Probleme mit der Arbeitszeit angaben, unternahmen stärkere Anstrengungen zur professionellen Weiterbildung als der Durchschnitt der Lehrkräfte, häufig in zeitaufwendigen Qualifikationskursen. Die Tatsache, dass Lehrkräfte durchgehend berichten, sie sähen den größten Bedarf an solchen Fortbildungen, die ihre Fähigkeiten bezüglich des Umgangs mit Heterogenität, dem Schülerverhalten und dem Gebrauch von Informations- und Kommunikations technologien verbessern, zeigt eindeutig die Richtung an, wo zukünftige Fortbildungsanstrengungen zu fokussieren sind. Zur Ermittlung der konkreten Bedarfe sollten systematische Abfragen vorgenommen werden. Die Tatsache, dass ein erheblicher Anteil an Lehrkräften bereit ist, die Kosten ihrer professionellen Weiterbildung selber zu tragen, ist ein Beleg dafür, dass viele bereit sind, einen eigenen Beitrag zur Entwicklung ihrer Karriere und Professionalität zu leisten. Bemerkenswert ist, dass gerade die Lehrkräfte, die ihre Weiterbildung selber bezahlen, in der Tendenz größere Fortbildungsanstrengungen unternehmen: Sie nehmen doppelt so häufig an Weiterbildungsmaßnahmen teil wie jene, die eine kostenlose Fortbildung besuchen. Lehrkräfte, die selber bezahlen, haben auch stärker das Gefühl, dass sie eigentlich noch mehr Fortbildung benötigen, als sie zurzeit in Anspruch nehmen. Dies legt nahe, dass kostenlose Fortbildungsangebote nicht der alleinige Weg sind, die Teilnahme an Fortbildungen anzuregen. Ein zweiter politischer Ansatz, der sich aus TALIS ergibt, ist die Notwendigkeit, erfolgreichen Unterricht durch Beurteilungen und Feedback besser zu unterstützen. Die allgemein positive Einstellung der Lehrer hierzu zeigt die Bereitschaft, sich weiterentwickeln zu wollen. Und nicht nur im Sinne einer bürokratischen Pflichterfüllung. TALIS zeigt außerdem, dass die Beurteilungen und das Feedback, das Lehrer erhalten, ihren Glauben an ihre pädagogi- G a s t b e i t r ag v o n P ROF. D r . BARBARA IS C HINGER schen Fähigkeiten unterstreichen und dass sie umso mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten zur Bewältigung der jeweiligen Herausforderungen im Unterricht haben, je mehr Feedback sie zu konkreten Aspekten ihrer Arbeit erhalten. So weit die guten Nachrichten. TALIS zeigt aber auch, dass 13 Prozent der Lehrer in den Teilnehmerländern überhaupt keine Beurteilungen und Feedback zu ihrer Arbeit erhalten. Dies fällt besonders in Irland und Portugal auf, wo es mehr als ein Viertel der Lehrer betrifft, sowie in Italien und Spanien, wo dies bei etwa der Hälfte der Lehrer der Fall ist. Ferner arbeiten knapp ein Drittel der Lehrer in den TALIS-Ländern an Schulen, die in den vergangenen fünf Jahren nicht extern bewertet wurden, und ein Fünftel der Schulen hat nicht einmal eine Selbstbewertung durchgeführt. Die Folge: Lehrer in Schulen, die nicht bewertet werden, profitieren wahrscheinlich weniger von Beurteilungen oder Feedback. In Korea ist zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass ein Lehrer in einer nicht bewerteten Schule keine Beurteilung oder Feedback erhält, doppelt so groß wie in einer Schule, in der eine Schulbewertung erfolgt ist. Ebenso beunruhigend ist, dass drei Viertel der Lehrer in allen Ländern angeben, dass eine Steigerung ihrer Arbeitsqualität oder innovativere Lehrmethoden keine Anerkennung finden. So sagen drei Viertel der Lehrer, dass die effektivsten Lehrer an ihrer Schule nicht unbedingt die meiste Anerkennung erhalten und dass die Schulleitung keine Maßnahmen unternimmt, die Entlohnung von Lehrern zu ändern, die auf Dauer zu geringe Leistungen bringen. In gleicher Weise haben Schulbewertungen und Lehrerbeurteilungen nur geringe finanzielle Auswirkungen. Im Durchschnitt sind in den TALIS-Ländern die Beurteilung und das Feedback von Lehrern nur zu zehn Prozent mit finanzieller Belohnung und nur zu 16 Prozent mit beruflichem Aufstieg verbunden. Der Mangel an Anerkennung und Anreizen für Lehrer zur Entwicklung ihrer Lehrmethoden und Verbesserung deren Effektivität steht im Widerspruch zu 76 7 7 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät den Bemühungen zur Verbesserung der Schulen. Ein Beurteilungssystem und eine Struktur der beruflichen Laufbahn, die auf Innovation und Effektivität setzt und diese fördert, würden den Schulverbesserungsprogrammen und den Bemühungen um eine Steigerung der Effektivität der Schulen besser dienen. Drittens deutet TALIS darauf hin, dass eine starke Schulleitung eine über ragende Rolle im Arbeitsleben der Lehrer hat und einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung der Weiterbildung von Lehrern leisten kann. Im Managementverhalten und dem Führungsstil der Schulleitungen hat längst ein Umschwung von bürokratischer Verwaltung zu „Leadership for Learning“ stattgefunden. TALIS macht diesen Umschwung und dessen möglichen Nutzen sichtbar. In Schulen mit starker Führung zeigt TALIS, dass die Schulleitungen berufliche Fortbildungsmaßnahmen wahrscheinlich eher nutzen, um die bei Beurteilungen festgestellten Schwächen von Lehrern zu behandeln. Häufig findet man dort auch eine bessere Zusammenarbeit zwischen Lehrern, bessere Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern, mehr Anerkennung der Lehrer bei innovativen Lehrmethoden und eine stärkere Betonung der Ergebnisse von Lehrerbeurteilungen. Was die Unterrichtspraxis nachhaltig verbessert, lässt sich nur schwer fassen und ebenso schwer messen. Untersuchungen zeigen aber, dass Lehrer nicht geben können, was sie nicht besitzen. Der einzige Weg zur Verbesserung der Resultate ist daher die Verbesserung des Unterrichts. Es muss deshalb gewährleistet sein, dass die Erwartungen von Lehrern eindeutig sind, dass Lehrer eine starke berufliche Ethik mit einer beständigen Konzentration auf die Verbesserung der Unterrichtspraxis verbinden, dass sie anerkennen, dass gewöhnliche Schüler außergewöhnliche Begabungen besitzen, und dass sie und das System den Erfolg jedes einzelnen Kindes erwarten. TALIS zeigt uns, G a s t b e i t r ag v o n P ROF. D r . BARBARA IS C HINGER dass Lehrer im Allgemeinen wissen, was zählt, und dass sie ähnliche Überzeugungen besitzen, wie gelehrt werden muss. TALIS zeigt aber auch, dass die heutige Unterrichtspraxis diese Absichten häufig nicht erfüllt. Die Lehrer in den meisten Ländern berichten weit häufiger über traditionelle Methoden der Wissensvermittlung als über den Einsatz schülerorientierter Praktiken, wie zum Beispiel die Anpassung des Unterrichts an individuelle Bedürfnisse. Und noch weniger verwenden sie Lernmethoden, die eine tiefere kognitive Aktivierung der Schüler erfordern würden. Dies bringt uns zu unserem Ausgangspunkt zurück, zur Notwendigkeit der Qualitätsverbesserung und Konzentration auf die berufliche Weiterentwicklung. Um die Unterrichtspraxis verbessern zu können, muss den Lehrern zunächst bewusst werden, wie sich ihre eigene Methode verbessern lässt. Es geht dabei nicht nur um die Bewusstmachung ihrer Tätigkeiten, sondern auch um die zu Grunde liegende geistige Haltung. Danach müssen Lehrer mehr über die konkret besten Praktiken erfahren, die sich generell nur in einem zuverlässigen Umfeld erwerben lassen. Und nicht zuletzt müssen die einzelnen Lehrer zu den notwendigen Verbesserungen motiviert werden. Dazu gehören ein effektives Arbeitsumfeld und materielle Anreize, von denen ich bereits gesprochen habe. All dies erfordert eine grundlegende Veränderung, die über materielle Anreize hinausgeht und nur dann zustande kommen kann, wenn die Lehrer hohe Erwartungen, ein gemeinsames Gefühl für das Ziel und vor allem einen kollektiven Glauben an ihre allgemeine Fähigkeit haben, in der Erziehung der Kinder, denen sie dienen, etwas bewegen zu können. Die engen Verbindungen, die TALIS zwischen Faktoren wie positives Schulklima, Methodensicherheit, Kooperation zwischen Lehrern, Zufriedenheit mit dem Lehrerberuf, der beruflichen Weiterentwicklung und der Annahme einer Reihe von Unterrichtstechniken aufzeigt, liefern Hinweise darauf, dass die 78 79 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Politik die Bedingungen für erfolgreiches Lernen aktiv gestalten kann. Gleichzeitig unterstreicht die Tatsache, dass es eher an den Unterschieden zwischen einzelnen Lehrern als zwischen Schulen oder Ländern liegt, den Bedarf an individualisierten und zielgerichteten Programmen für Lehrer, anstelle von Maßnahmen für die ganze Schule oder das gesamte System, die traditionell die Bildungspolitik dominiert haben. Nochmals: Die Herausforderungen sind hart, aber die Ergebnisse der TALISStudie deuten darauf hin, dass viele Lehrer und Schulleitungen bereit sind, sich ihnen zu stellen. Die Bildungssysteme können sie dabei unterstützen, indem sich öffentliche und staatliche Beteiligungen von der reinen Kontrolle der Ressourcen und der Ausbildungsinhalte zur Konzentration auf Ergebnisse verlagern: Übergang von einer „Hit and Miss“-Politik zur Etablierung hoher Universalstandards, von Einheitssystemen zur Annahme von Verschiedenheit und eines individualisierten Lehrens und Lernens, vom Inputmanagement und einer bürokratischen Bildungsmethode zur Übertragung von Verantwortung und einer effektiven Schulleitung, die Lehrer durch Unterstützung, zielgerichtete berufliche Weiterentwicklung, Beurteilung und Feedback befähigt. Prof. Dr. Barbara Ischinger ist Bildungsdirektorin der OECD in Paris, wo sie für die PISA-Studien verantwortlich ist. Die international renommierte Bildungsexpertin ist außerdem Mitglied des Beirates der Vodafone Stiftung Deutschland. 80 81 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Integration über alles! Im Gespräch mit Thomas Ellerbeck über das internationale Symposium „Chancen schaffen – Integration, Arbeit und soziale Mobilität: Europäische Erfahrungen und Gestaltungsperspektiven“. Veranstaltet am 26. Januar 2009 zusammen mit dem Bundeskanzleramt und der Stiftung Mercator. Alle westlichen Industriestaaten sehen sich mit dem Problem wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit konfrontiert. Dies bedeutet eine große Herausforderung für moderne Gesellschaften: Es müssen individuelle Aufstiegschancen geschaffen werden, die eine aktive, gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Vor allem der erfolgreiche Zugang zum Arbeitsmarkt ist eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg. Gelingt dieser Zugang nicht, drohen hohe wirtschaftliche und soziale Kosten sowie Konflikte. Auf dem Symposium wurden gegenwärtige und künftige Potenziale wirtschaftlicher Integrationsstrategien diskutiert. Herr Ellerbeck, das internationale Zusammen mit dem Bundeskanzleramt hat die Stiftung im Ok- Symposium „Chancen schaffen“ widmete tober 2007 das erste internationale Symposium „Integration sich insbesondere IntegrationsFragen. Welche Bedeutung hat dieses Thema für durch Bildung im 21. Jahrhundert – eine Herausforderung für die Vodafone Stiftung Deutschland? Public-Private-Partnerships“ veranstaltet. Die große internationale Resonanz hat gezeigt, wie entscheidend das Thema nicht nur für Deutschland und Europa ist, sondern wie sehr national und international Austausch und Kooperation gesucht werden. Bundeskanzlerin Merkel und EU-Kommissionspräsident Barroso haben die Relevanz für Europa durch ihre Beiträge eindrucksvoll unterstrichen – auch die Relevanz für ihre politische Agenda. 2009 haben wir dann sehr praxisnah das Thema „Integration und Arbeitsmarkt“ in den Mittelpunkt gerückt. Insbesondere war es allen Partnern wichtig, Integration, Bildungschancen, Arbeits- markt und sozialen Aufstieg in einem sehr engen Zusammenhang zu beleuchten. Konkret: Wie gelingt es, die Bildungs- und Berufschancen von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte deutlich zu verbessern? Was sind die wichtigsten Ergebnisse des In den Gesprächen wurde erstens deutlich, dass in Deutschland Symposiums? eine einseitige Diskussion vorherrscht, was die Integration in den Arbeitsmarkt anbelangt. Von den zwei Wegen einer Berufstätigkeit, der abhängigen Beschäftigung und der Selbstständigkeit, wird der letztere in der Öffentlichkeit kaum näher beleuchtet. Diese Tatsache rückte auf dem Symposium besonders in das Blickfeld. Im europäischen Vergleich ist hingegen auffallend, dass das Thema Selbstständigkeit in anderen Ländern in der politischen Diskussion eine sehr viel größere Rolle spielt. Insbesondere im Hinblick auf die Integration in den Arbeitsmarkt stellt das Modell der Selbstständigkeit eine Entwicklungsmöglichkeit dar. Denn gerade in den Zuwanderungsgesellschaften findet man häufig kleingewerbliche Strukturen, die eine echte Beschäftigungsperspektive bieten. Zweitens zeigte sich auf dem Symposium, dass eine undifferenzierte Beurteilung von Integrationserfolgen wenig erfolgreich ist. Das bedeutet, dass die Integration von Migranten stärker herkunftsspezifisch untersucht werden muss. Denn Migrant ist nicht gleich Migrant. Es gibt Gruppen, die sich integrativ leichter entwickeln als andere. Diese Entwicklung lässt sich nicht allein 82 8 3 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät sozioökonomisch erklären. Sie auf der anderen Seite allgemein kulturell begründen zu wollen, wäre zu diffus. Diese Erkenntnis stellt natürlich noch keine Lösung dar, aber eine Fragestellung, die größerer Beachtung bedarf und an der die Stiftungen weiter arbeiten werden. Welche Aufgaben können Ihrer Meinung Stiftungen können innerhalb der Gesellschaft eine zentrale nach Stiftungen in der Gesellschaft Rolle einnehmen, als Ideengeber, Laborbetrieb und Vermittler. übernehmen? Aus einer Nähe zu Forschung und Wissenschaft auf der einen Seite und einer Nähe zur Politik auf der anderen Seite haben sie die Möglichkeit, als Mediatoren und Makler zu wirken, indem sie zwischen den Erkenntnissen wissenschaftlicher Forschung und politischer Umsetzung vermitteln. Ich sehe in diesem Bereich weiter einen großen Bedarf. Häufig produzieren Stiftungen und Forschungseinrichtungen Berichte mit Handlungsempfehlungen, die dann mit der Hoffnung auf Umsetzung an Entscheidungsträger weitergeleitet werden. Lösungen für gesellschaftliche Probleme können aber viel effizienter erarbeitet werden, wenn Stiftungen in einem sehr frühen Stadium Wissenschaft, Politik und Administration zusammenbringen. Durch frühzeitige Verzahnung lässt sich das Studiendesign viel umsetzungsorientierter konzipieren und durch Modelle in der Praxis begleiten. Von rechts nach links: Dr. Mark Speich mit den Podiumsteilnehmern Prof. Dr. Klaus J. Bade, Staatsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer und OECD-Generalsekretär Angel Gurría 84 8 5 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Gegenseitige Hilfe Die Seminarreihe „Integration und soziale Mobilität von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“ findet ganz bewusst in Botschaften verschiedener Länder statt. Experten vermitteln Ansätze erfolgreicher Integrationspolitik in anderen Ländern. „Meine Damen und Herren, ich möchte Sie alle in der Botschaft des König reichs der Niederlande in Berlin willkommen heißen.“ Es ist eine nicht ganz gewöhnliche Veranstaltung, die der niederländische Botschafter Peter P. van Wulfften Palthe an diesem kalten Januarmittag eröffnet. Deutsche Experten sollen mehr darüber erfahren, wie unser Nachbarland Kinder mit Migrationshintergrund in Bildung und Arbeitsmarkt zu integrieren versucht. Van Wulfften Palthe formuliert es so: „Ziel ist es, voneinander zu lernen, wie Bildungsmöglichkeiten geschaffen werden können, die diesen Kindern eine grundlegende Qualifikation garantieren.“ Das Expertenforum in der niederländischen Botschaft ist Teil einer von der Vodafone Stiftung Deutschland initiierten Seminarreihe zum Thema „Integration und soziale Mobilität von Menschen mit Migrationshintergrund“. In Zusammenarbeit mit Botschaften verschiedener Länder bietet diese Seminarreihe eine internationale Plattform des Austauschs von Erfolgsstrategien und positiven Politikansätzen. Vorgestellt werden „Best Practices“ aus den jeweiligen Ländern, um daraus Impulse für eine Verbesserung der deutschen Integrationspolitik in der Praxis zu erhalten. Es geht um die spezifischen Probleme, Politikansätze und Erfolgsstrategien. Von diesen Erkenntnissen können deutsche Strategen und Experten aus Politik, Wirtschaft und dem Stiftungsbereich wiederum hervorragend profitieren. Stattgefunden haben diese Seminare bislang in den Botschaften von Großbritannien, Schweden, Australien und den Niederlanden. Sonja Gigler, wissenschaftliche Referentin der Vodafone Stiftung Deutschland, ist von der Praxisorientierung des Konzepts überzeugt und beschreibt die Idee zu den Botschaftsseminaren so: „In der Diskussion mit Integrations- experten besteht kein Mangel an fortschrittlichen Integrationsmodellen. Was jedoch in Deutschland fehlt, ist die Verbindung zu den Entscheidungsträgern. Deswegen war unsere Überlegung: Wir führen wichtige Berater von Entscheidungsträgern aus der Gesellschaft zusammen und bringen sie mit Experten aus anderen Ländern in einen Dialog, um konkrete Lösungsansätze, aber auch Probleme der Integration zu diskutieren. Gleichzeitig nehmen deutsche Integrationsexperten an den Seminaren teil, um einen optimalen Erfahrungstransfer zu ermöglichen.“ Für die Kooperation hat die Vodafone Stiftung Deutschland Länder ausgesucht, die in Integrationsfragen bereits fruchtbare Ansätze verwirklicht haben, oder Länder, die mit vergleichbaren Problemen wie Deutschland konfrontiert sind. Unabhängig vom Fokus des jeweiligen Expertenforums geht es in der Seminarreihe um folgende Fragen: Welche Probleme gibt es bei der Integration von Zuwanderern? Welche politischen Ansätze und Gesetzesänderungen hat es in den letzten Jahrzehnten gegeben? Welche lokalen Initiativen und Projekte gibt es? In der niederländischen Botschaft sitzen an diesem Mittag fünf niederländische Vertreter der Regierung und des Schulsystems auf dem Podium. Sie stellen zentrale Ansätze des aktuellen niederländischen Integrationsplans vor: „Everyone joins in“ etwa fördert die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt. Hierfür arbeiten regionale Jobagenturen mit Firmen zusammen, helfen bei der Arbeitssuche, trainieren „Soft Skills“ und werben für eine Stärkung der Diversitätspolitik in den Firmen. „District Approach“ wiederum beinhaltet gezielte Maßnahmen zur Verbesserung von sozialen Brennpunkt-Nachbarschaften, wobei die Jugendförderung im Mittelpunkt steht. „Opportunities for all children“ ist ein Programm, das insbesondere die Verbesserung von sozialen Einrichtungen und Institutionen verfolgt, um Menschen in Not besser helfen zu können. Um die Integration ausländischer Jugendlicher ging es auch im Seminar in der britischen Botschaft, an dem sogar der britische Thronfolger Prinz Charles teilnahm. Bei diesem vierten Seminar der Reihe wurden konkrete Ansätze für die Verbesserung des Erwerbs von Sprachkenntnissen als unverzichbarer Schritt für eine erfolgreiche Integration entwickelt. Beispielhaft für diesen 86 87 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Ansatz ist das Projekt „The Arbour“, das sich unter anderem mit der Förderung der Englischkenntnisse von bengalischen Frauen befasst. Einen wichtigen Beitrag zur Integration in den Arbeitsmarkt leistet das „Employability Forum“: Diese Organisation betreibt eine Reihe von Projekten mit dem Ziel, Flüchtlingen die Rückkehr in ihre erlernten Berufe zu ermöglichen. Die Stiftung „Prince’s Trust“ stellt eine Besonderheit dar: Es ermöglicht Jugendlichen ein zwölfwöchiges Programm zur persönlichen Weiterentwicklung. Der Thronfolger Prinz Charles war über den Ansatz der Botschaftsseminare und das Zustandekommen der Veranstaltung erfreut: „Ein Austausch über erfolgsbewährte Strategien ist von großem Nutzen.“ So hätten die von ihm selbst ins Leben gerufenen Organisationen bereits viel von den Vereinigten Staaten und anderen Ländern lernen können. Um die Diskussionen der einzelnen Botschaftsseminare für die Praxis nutzbar zu machen, werden die Ergebnisse natürlich detailliert dokumentiert und nach Abschluss der Seminarreihe publiziert. Für die nähere Zukunft sind Seminare in den Botschaften Spaniens, Kanadas und der USA geplant. „Die beteiligten Botschaften waren vom neuen Ansatz der ‚Botschaftsseminare‘ angetan“, sagt Gigler. „Wir hoffen, dass wir diesen gegenseitigen Austausch zur Verbesserung der Integrationspolitik erfolgreich fortsetzen können.“ Die Lücke schließen Mit sieben weiteren deutschen Stiftungen hat die Vodafone Stiftung Deutschland einen Sachverständigenrat für Integration und Migration gegründet. Das von der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung initiierte Expertengremium entwickelt neue Ideen und Lösungen für das Einwanderungsland Deutschland. 88 89 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät Es ist ein Novum in der deutschen Stiftungslandschaft: Acht deutsche Stiftungen ziehen am gemeinsamen Strang und gründen den „Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) GmbH“. Das Ziel: Lösungen für das gesellschaftspolitische Thema Integration und Migration finden. Das Expertengremium will künftig die Politik in Bund, Ländern und Gemeinden sowie die Zivilgesellschaft mit wissenschaftlich fundierten und handlungsorientierten Empfehlungen begleiten. Hierzu stellen die acht Stiftungen in den kommenden drei Jahren insgesamt rund 1,8 Millionen Euro für den Aufbau des Sachverständigenrates zur Verfügung. Hintergrund: Deutschland ist längst ein Einwanderungsland mit starker transnationaler Fluktuation. Integration und Migration stellen zentrale Herausforderungen der Gesellschaft dar. Doch bislang ist dieses Themenfeld ohne systematische, kontinuierliche und unabhängige Begleitung durch die Wissenschaft geblieben. Vor diesem Hintergrund haben die Stiftung Mercator und die VolkswagenStiftung die Gründung des Sachverständigenrates initiiert, um die Lücke zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischer Umsetzung zu schließen. Der SVR soll dabei einerseits die bestehenden, oftmals an Ministerien oder andere staatliche Institutionen gekoppelten und damit nicht oder nur bedingt unabhängig tätigen Forschungseinheiten ergänzen. Auf diese Weise ist der Rat politisch unabhängig und ausschließlich wissenschaftlichen Kriterien verpflichtet. Ein Umstand, den Rüdiger Frohn, Vorsitzender des Kuratoriums und Beiratsvorsitzender der Stiftung Mercator, besonders hervorhebt: „Anders als die existierenden Sachverständigenräte ist dieser nicht von der Politik, sondern von der Zivilgesellschaft berufen. Das verleiht ihm als unabhängigem Gremium ein besonderes Gewicht.“ StaatsmiMitglieder des SVR nisterin Prof. Dr. Maria Böhmer begrüßt die Gründung des SVR ebenfalls: „Der (von links nach rechts): Sachverständigenrat deutscher Stiftungen kann der Politik wichtige Hinweise Prof. Dr. Michael Bommes geben und entscheidend dazu beitragen, dass wir gemeinsam die Herausfor- Prof. Dr. Thomas Straubhaar Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu derungen von Integration und Migration meistern.“ Neben den Initiatoren Prof. Dr. Ursula Neumann und der Vodafone Stiftung Deutschland wird der Sachverständigenrat mit Prof. Dr. Werner Schiffauer Prof. Dr. Klaus J. Bade Sitz in Berlin durch die Bertelsmann Stiftung, die Freudenberg Stiftung, die Prof. Dr. Christine Langenfeld Gemeinnützige Hertie-Stiftung, die Körber-Stiftung, die ZEIT-Stiftung und Prof. Dr. Heinz Faßmann Prof. Dr. Steven Vertovec durch die Robert Bosch Stiftung unterstützt. Die Arbeitsweise des SVR basiert auf kontinuierlicher Auswertung des neuesten Forschungsstandes, eigener empirischer Forschung und einem doppelten Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis: einerseits interdisziplinär zwischen Experten der Wissenschaft, andererseits zwischen ihnen und Experten aus der Praxis. Um den selbst gesetzten hohen Ansprüchen gerecht zu werden, wurde eine unabhängige Findungskommission mit der Auswahl von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen beauftragt. Prof. Dr. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a. D., die als Vorsitzende der Findungskommission und als Ehrengast des Kuratoriums den SVR unterstützt, ist von der Auswahl überzeugt: „Der Sachverständigenrat ist ein einzigartiges Projekt der Zivilgesellschaft, für den wir international ausgewiesene Experten finden wollten. Das ist uns nach intensiver Recherche und vielen Gesprächen gelungen. Die Mitglieder des Sachverständigenrats werden die integrations- und migrationspolitischen Entwicklungen in Deutschland künftig unabhängig begleiten und beurteilen.“ „Integrationspolitik braucht die kontinuierliche Beobachtung ihrer Kontextbedingungen und Wirkungen.“ Der SVR, der seine Arbeit 2009 mit neun Professoren aufgenommen hat, wird erstmals im Frühjahr 2010, danach im jährlichen Turnus, ein Jahresgutachten vorlegen. Es soll die Entwicklung von Integration und Migration, die Konzeption und Umsetzung von Integrationsförderung und Zuwanderungspolitik sowohl auf Bundesebene als auch in ausgewählten Bundesländern und Gemeinden Deutschlands kritisch überblicken und bewerten. Vor dem Hintergrund von Abwanderung und demografischer Alterung beschäftigt sich der SVR beispielsweise mit Themen wie der Zuwanderungssteuerung im Interesse der Vermeidung von Arbeitskräfte- und insbesondere Fachkräftemangel. Ein weiterer Schwerpunkt betrifft die Integration von Zuwanderern und Menschen mit Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt. Darüber hinaus soll sich der SVR mit der Förderung sprachlicher und sozialer Kompetenz und der Teilhabe an Bildung und Ausbildung von Migranten beschäftigen. Alle Bemühungen sollen im internationalen Vergleich unternommen werden. Zusammen mit dem Jahresbericht wird der SVR jährlich ein „Integrationsbarometer“ erstellen. Dieses Erhebungsinstrument soll mit Hilfe einer Re- 9 0 91 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät präsentativbefragung unter Menschen mit und ohne Migrationshintergrund Aufschluss über deren Einstellungen, Meinungen und Stimmungen im Hinblick auf zentrale Themen von Integration und Migration geben. Migrationsforscher Prof. Dr. Klaus J. Bade, der als Vorsitzender im SVR tätig ist, sieht in dieser Datenerhebung eine besondere Notwendigkeit: „Integrationspolitik braucht die kontinuierliche Beobachtung ihrer Kontextbedingungen und Wirkungen. Sie muss wissen, ob das Vertrauen der Menschen sinkt oder steigt, welche Meinungen und Einstellungen die Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, also beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft dazu haben.“ Neben dem Barometer verfolgt der SVR kontinuierlich Fragen der Übertragbarkeit international bewährter integrationspolitischer „Best Practices“ und bezieht dies mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auch in seinen Jahresbericht ein. Darüber hinaus erstellt, vergibt und publiziert der SVR Gutachten zu bislang nicht zureichend erforschten integrations- und migrationspolitischen Fragestellungen und nimmt zu aktuellen Fragen des Themenfelds Stellung. Die gewählte Rechtsform einer gemeinnützigen GmbH sowie die unter unabhängiger externer Mitwirkung vollzogene Auswahl der Mitglieder des SVR garantieren dessen Unabhängigkeit – auch gegenüber den Stiftungen selbst. Der SVR wird zunächst für drei Jahre gefördert. Vor einer Entscheidung über seine Anschlussförderung wird seine Arbeit evaluiert. G a s t b e i t r ag v o n D r . G u n i l l a F i n c k e Qualifikation und Migration: Potenziale und Personalpolitik in der „Firma“ Deutschland Die „Firma“ Deutschland hat Personalprobleme. Dies zeigt ein Informationspapier des SVR1. Jährlich wandern Zehntausende von oft gut qualifizierten Deutschen im besten Erwerbsalter ab, nur ein Teil von ihnen kehrt zurück. Seit 2003 hat Deutschland unter Berücksichtigung der Rückwanderung knapp 200.000 Staatsangehörige an andere OECD-Staaten abgegeben. Und auch unter den qualifizierten Zuwanderern der zweiten Generation spielt ein erheblicher Anteil mit dem Gedanken, Deutschland zu verlassen. Besonders auffällig ist die Entwicklung bei den Medizinern: Allein 2008 sind über 3.000 Ärzte ins Ausland abgewandert. Nach einer vom SVR in Auftrag gegebenen Studie des ifo Instituts betragen die fiskalischen Kosten über eine Million Euro pro Arzt. Unter der vorsichtigen Annahme, dass nur ein Drittel der abwandernden Ärzte dauerhaft im Ausland bleibt, entgehen dem deutschen Staat allein für diese Abwanderergruppe des Jahres 2008 knapp 1,1 Milliarden Euro. Abwanderung wird dann zum Problem, wenn ihr keine qualifizierte Zuwanderung gegenübersteht. Der Anteil Hochqualifizierter an der Zuwandererbevölkerung ist in Deutschland jedoch niedriger als in fast allen anderen OECDStaaten. Migration führt somit nicht zum Anstieg, sondern zur Reduktion des Qualifikationsniveaus der Bevölkerung. In der Wirtschaftskrise rückt dieses Problem in den Hintergrund, dabei sollten gerade jetzt die Weichen richtig gestellt werden, um am Ende der Krise nicht 1 SVR-Informationspapier, Mai 2009, erstellt von Dr. Holger Kolb in Abstimmung mit dem Vorsitzenden des SVR. 92 93 B i l d u n g , I n t e g r at i o n u n d s oz i a l e M o b i l i tät von den Problemen eingeholt zu werden, die schon zuvor Wachstum und Beschäftigung gebremst haben. Denn Zuwanderung lässt sich nicht kurz fristig ein- oder ausschalten, und Deutschland bedarf grundsätzlich gesteuerter Zuwanderung. Der SVR ist aufgrund seiner Unabhängigkeit (auch von der Tagespolitik) für eine kritische Aufarbeitung solcher Themen besonders geeignet. Konkreten „personalpolitischen“ Handlungsbedarf sieht der SVR in folgenden Bereichen: > Schaffung eines flexiblen Steuerungssystems für Zuwanderung und offensive Werbung für die schon bestehenden Einwanderungsmöglichkeiten (vor allem für Akademiker); > Entwicklung einer Willkommenskultur für Neuzuwanderer; > Bindung von ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen; > verbesserte Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen und beruflichen Erfahrungen. Reformen im Zuwanderungsrecht sind „personalpolitisch notwendig“, aber nicht hinreichend. Reformbedarf besteht auch jenseits von Zuwanderungsfragen. Bildungspolitisch muss lebenslanges Lernen gefördert und die Selektivität des deutschen Bildungssystems, die zu einer Vererbung sozialer Startnachteile führt, abgebaut werden. Insgesamt ist damit auch ein kritischer Blick auf die Strukturen Deutschlands nötig. Entsprechen sie den Anforderungen an eine moderne, plurale Gesellschaft, die ihrer Verantwortung in einer globalisierten Welt gerecht werden und ihre Standards (auch der sozialen Sicherung) erhalten will? Dr. Gunilla Fincke ist Politikwissenschaftlerin und Geschäftsführerin des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Förderbereich Gesundheit 96 97 Förderbereich Gesundheit Dem Schmerz das Leben abtrotzen Das Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin in Datteln ist einzigartig. Irgendwann konnte Leon* einfach nicht mehr. therapie und Pädiatrische Palliativmedizin an der Fast jeden Tag hämmerten die Schmerzen durch Vestischen Kinder- und Jugendklinik – Universität seinen Kopf. Was in der zweiten Klasse begonnen Witten/Herdecke. Die 44-Jährige nimmt Kind und hatte, als kleines, leises Pochen, als unangeneh- Mann mit und fährt ins nordrhein-westfälische mes Spannungsgefühl, war seit einem Bänderriss Datteln. Drei Wochen lang besucht Leon die Kin- im sechsten Schuljahr zu einem Orkan gewachsen, derschmerzstation. „Es war unglaublich. Danach der bald Tag und Nacht durch seinen Schädel tob- bekam ich ein ganz anderes Kind zurück.“ te. Migränetabletten, Antibiotika, Schmerzmittel – nichts half. Kinder- und Augenärzte, Hals-Nasen- Kinderklinik Datteln, nahe Dortmund. Der Weg Ohren-Doktoren, Spezialisten – die Experten wa- führt durch ein Geflecht von Verkehrsadern, In- ren ratlos. „Hat der Junge vielleicht einen Tumor?“, dustriebauten, himmelhohen Schloten und jenen fragte die Großmutter. Die Befunde zeigten: Nichts. ineinander verhakten Ortskernen, die so typisch Verzweifelt zog sich der Elfjährige zurück, ver- sind für das Ruhrgebiet. Sanft treibt der Morgen- brachte die Tage im Bett, den Raum abgedunkelt, wind durch das Grün der Bäume vor der Friedrich- die Gedanken in depressivem Taumel. Zur Schule Steiner-Straße 5. Ein weitläufiges Gelände mit ging er da schon lange nicht mehr. „Wir wussten Spielplatz, Fußballfeld, Krankenhausschule, El- nicht mehr ein noch aus“, sagt seine Mutter Karin ternwohnhaus. In der Lobby grüßen Elefant und Schmidt*. „Wir wussten nur: Er simuliert nicht.“ Giraffe von den Wänden, summend wiegt ein Vater Sollten sie ihn mehr schonen? Die Ruhe brachte sein Kind auf dem Schoß. * Namen von der Redaktion geändert keine Linderung. Sollten sie ihn mehr zwingen? Die Lehrer schickten ihn nach einer halben Stunde Jürgen Behlert hat alle Hände voll zu tun. Der Pfle- wieder heim. Die Hochschulforscherin beantragte geleiter der Station Leuchtturm im weitläufigen Teilzeit. Geändert hat sich dadurch nichts. „Unser Dachgeschoss der Kinderklinik organisiert den Ta- Leben geriet aus den Fugen.“ gesablauf für die 16 Patienten, regelt Zimmerverteilung, Therapiestunden, vergibt Pflichtaufgaben. Eines Tages erzählt eine Freundin Schmidt von Weck-, Tisch-, Aufräumdienst, TV- und Getränke- einem ungewöhnlichen Spezialzentrum: dem meister. Um 7.30 Uhr ist Morgenkreis. Dann kom- Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerz- men die 6- bis 18-Jährigen auf der Kissenlandschaft in der halbrunden Versammlungshöhle inmitten redungen mit Freunden. Die Beziehung zu Eltern des Gemeinschaftszimmers zusammen. Was habt und Geschwistern, das ganze Familienleben ist ihr geträumt, wie habt ihr geschlafen, wo hakt es zunehmend vom Schmerz bestimmt, immer häu- heute? Danach wird gemeinsam gefrühstückt. „Die figer fehlen sie in der Schule, einige entwickeln Kinder genießen das“, sagt Behlert. „Gemeinschaft Depressionen und psychische Störungen. und klare Abläufe sind sehr wichtig für sie.“ Lange wurden Schmerzerkrankungen nicht ernst Der rot-weiße Leuchtturm reicht bis auf den Gang genommen, schon gar nicht bei Kindern. Es gab der Schmerzstation. Zwei kleine Stufen führen in weder Studien noch Therapiekonzepte. Schmerz? sein Inneres, ein Kuschelraum für Kinder, denen al- Das galt als etwas Gesundes, ein notwendiges les über den Kopf wächst. Drei Türen weiter gibt es Warnsignal des Körpers: Stopp, hier ist etwas nicht Kicker, Spiele und Malsachen. Im Gemeinschafts- in Ordnung. Boris Zernikow schüttelt den Kopf. Wie raum dösen Teddys in den Regalen, daneben sieht absurd. Wie oft hat der 45-Jährige in seiner langen man Bücher, eine Musikanlage, kleine Tischgrup- Karriere als Facharzt für Kinderheilkunde und Arzt pen. Zwei Mädchen in leichtem Sommerkleid und in der Kinderonkologie beobachtet, wie sich der Cargohose sitzen über Bastelarbeiten. Schwes- Schmerz verselbstständigen kann. So sehr, dass er tern, Pfleger, Ärzte und Psychologen mit Jeans eigentlich nichts mehr mit dem akuten Schmerz und bunten Poloshirts eilen über den Flur. „Kittel zu tun hat, weder in seiner Entstehung noch in sei- trägt bei uns niemand.“ Behlert lacht. „Die Kinder ner Behandlung. „Im Grunde müsste chronischer sagen immer, das ist wie im Schullandheim hier.“ Schmerz ganz anders heißen.“ Dabei geht es nicht um einen Klassenausflug. Sondern um Schmerz. Um Kinder wie Leon, den Der Chef der Schmerzstation in der Kinderklinik der Kopfschmerz fest in seinen Krallen hält. Kinder Datteln erklärt den Unterschied so: Ein Patient ist wie Tom, der sein Bauchweh nicht mehr los wird. auf der Treppe umgeknickt und hat sich das Au- Jugendliche wie Ena oder Lisa, die ihrer Migräne ßenband gezerrt, auf einer Skala von null bis zehn nicht entrinnen können. schnellt der Schmerz auf Stufe neun empor, der Patient ist wütend, verzweifelt, ängstlich vielleicht, Etwa 200.000 Kinder in Deutschland leiden an wird das Bein hochlegen, kühlen und schonen, ein chronischen Schmerzen. Bauch- oder Kopfweh, Schmerzmittel nehmen, bekommt einen Stützver- Rücken- oder Gelenkschmerzen. Der Schmerz ist band. Bald fühlt er sich besser. Nach einer Woche nicht mehr Symptom einer anderen Erkrankung, sind die Schmerzen verschwunden. Ganz anders sondern selbst zur Krankheit geworden. Er ist beim chronischen Schmerz. Der Patient klagt da- so stark und allbeherrschend, dass er das ganze rüber, dass sein Bein seit drei Jahren wehtut, geht Leben der Kinder und Jugendlichen prägt: Oft nach Aufforderung auf und ab, lächelt höflich und können sie sich nur noch schwer konzentrieren, beschreibt dabei einen Schmerz der Stufe neun. ziehen sich zurück, vermeiden Sport, Kino, Verab- Nach einer Woche ist der Schmerz noch genau- 98 99 Förderbereich Gesundheit so stark, ja, er hat sich sogar verfestigt. Zernikow: und Gefühle, Stress und körperlicher Anspannung „Schonung bewirkt beim chronischen Schmerz bildet sich eine erhöhte Schmerzsensibilität aus, genau das Gegenteil. Das Gehirn lernt ihn umso das Gehirn verändert sich, ein Schmerzgedächtnis schneller.“ zementiert sich, neue Schmerzen werden anders verarbeitet und der Kreislauf beginnt von neuem. Schon vor Jahren begab sich Zernikow auf die Spur Ob es zu einer solchen Schmerzstörung kommt, des Schmerzes. Er fragte sich: Wie kann es sein, darüber entscheidet ein ganzes „Biopsychosozi- dass sich ein Kind mit einem gewaltigen Tumor ales Ursachenbündel“ – traumatische Erlebnisse, im Bein, mit Metastasen in Lungen und Becken, die Reaktion der Umwelt, schulische Über- oder trotzdem jeden Tag in die Schule zwingt, während Unterforderung, genetische Disposition. Früh er- ein anderes bei Kopfweh im Bett liegen bleibt. kannte Zernikow: „Kinder, die einmal in diesem Klar war, mit „anstellen“ oder „simulieren“ hat das Teufelskreis gefangen sind, kommen oft nicht nichts zu tun. Zernikow suchte nach Ursachen, Er- mehr von alleine heraus. Chronischer Schmerz ist klärungsmodellen und Therapien. ein gelerntes Verhalten, ein in Körper und Geist abgespeichertes Programm, das erst mit einer Heute spricht Zernikow von einem „Teufelskreis des systematischen Schmerztherapie überschrieben Schmerzes“ und beschreibt damit einen Circulus werden kann.“ 2001 gründete der Pädiater die vitiosus komplexer Vorgänge, die zwischen Gehirn Kinderschmerzambulanz an der Vestischen Kin- und Körper ablaufen und die Schmerzwahrneh- der- und Jugendklinik Datteln. mung verändern: Aus einem einfachen Schmerzsignal, ein Ritz, ein Stoß, ein kaputtes Bein, kann Die Strahlen der Morgensonne fallen auf das ho- so ein Dauerschmerz werden. „Entscheidend sind niggelbe Linoleum der Schmerzambulanz. Vor die Bewertung und die Gefühle im Kopf, die ent- dem Sprechzimmer warten die ersten Patienten scheiden, ob sich das Schmerztor öffnet und wie mit ihren Eltern. Boris Zernikow und Psychologe er weiterverarbeitet wird.“ Unter dem Einfluss von Michael Dobe nehmen sich Zeit. Eine Stunde lang Aufmerksamkeit, Bewertung, schwarzer Gedanken befragen sie Eltern und Kind nach der Krankheits- „D ie Kinder und ihre Familien brauchen über Jahre hinweg ein verlässliches Casemanagement, das sich ihrer aktuellen Situation flexibel anpasst.“ Prof. Dr. Boris Zernikow, Chefarzt, Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin geschichte, der Stärke des Schmerzes, dem Alltag Michael Dobe schiebt seine Unterlagen beiseite mit dem Schmerz. Machen kleine Tests und las- und federt auf den Gang, Patienten warten. Es be- sen sich auf Piktogrammen von Kindern wie Tom, flügelt ihn immer wieder, wie viel solche Gesprä- Leon oder Lisa zeigen, wo genau die Schmerzen che bewirken können. Verbunden mit Tipps zur sitzen. Dann klären Arzt und Psychologe auf. Was Schmerzbewältigung und einer zweiten Sitzung sind chronische Schmerzen, wie entstehen sie, mit Eltern und Kindern bekommen die meisten wie beißen sie sich im Patienten fest? „Es hilft viel, Patienten den Schmerz in den Griff. 1.200 sind es wenn die Patienten das verstehen“, sagt Dobe. Vie- jedes Jahr. Für zehn Prozent reicht die ambulante le Kinder haben eine ernüchternde Ärzteodyssee Behandlung nicht. Sie müssen länger bleiben. Drei hinter sich. Psychologen, Neurologen, Chirurgen, Wochen lang auf der Schmerzstation. Zahnärzte, Heilpraktiker, ein endloses Auf und Ab von Hoffnung, Versprechen und Enttäuschung. Im Gemeinschaftsraum im Dachgeschoss klappert Allzu oft enden die Fehldiagnosen in falschen das Geschirr. Zwei Kinder räumen Teller und Be- Therapien. Irrtümlich entfernte Blinddärme, er- cher ab. Das Frühstück ist beendet. Um acht Uhr gebnislos aufgeschnittene Bäuche, nutzlose Auf- beginnt der Terminmarathon, ein persönlicher bissschienen, Chiropraktiker, die an vermeintlich Wochenplan, den jedes Kind abarbeiten muss. fehlgestellten Halswirbeln herumknacksen. Zum Beispiel Schwimmen und Sport. Körperliches Work-out, ein gutes Körpergefühl helfen gegen In der Schmerzambulanz suchen sie gemeinsam den Schmerz. Zum Beispiel Ablenkungstechni- nach Erklärungen, warum der Schmerz so tiefe ken üben. Wie das Ablenkungs-ABC, bei dem man Spuren auf der Festplatte im Kopf hinterlassen sich auf ein Thema wie etwa Tiere oder Automar- konnte. Verschafft er dem Kind mehr Aufmerk- ken konzentriert und im Geiste alphabetisch Au- samkeit in der Familie? Ist er in der Erinnerung mit tomarken oder Tierarten aufzählt. Zum Beispiel traumatischen Erlebnissen verbunden? Wie gehen bunte Gedanken denken. Statt: „Andere haben die Eltern mit dem Schmerz des Kindes um? „Viele keine Schmerzen“, sich klarmachen: „Dafür haben Eltern sagen: Der Schmerz muss weg, egal wie“, sie andere Probleme.“ Statt „Ich bin schwach“, sich sagt Dobe. „Wir machen deutlich: Schmerz gehört bewusst werden: „Ich bin stark, wenn ich das brau- zum Leben dazu. Vielleicht lässt er sich nicht aus- che.“ Zum Beispiel den Schmerz provozieren und löschen, aber das Kind kann trotzdem ein eigen- beeinflussen lernen. Indem man sich konzentriert ständiges, normales Leben führen.“ und wieder ablenkt, ihn aktiv hoch- und runterjagt. 10 0 101 Förderbereich Gesundheit Zum Beispiel Entspannungsübungen machen. Wie so sehr unter dem häufigen Schimpfen des Vaters Tom, der heute Morgen am Computer mit Biofeed- leidet. Schon gar nicht, dass die chronischen Kopf- back lernt, sich spielerisch zu entspannen. Träumt schmerzen ihres Sohnes etwas damit zu tun haben er sich entspannt an einen Strand, steigt seine könnten. Und dass ihn in seinem Innersten die Sor- Handtemperatur, der Temperaturanstieg wird über ge quälte, die Eltern könnten sich trennen – kaum Sensoren in der Maus gemessen, dadurch geht im vorstellbar. Computerspiel die Sonne auf – Tom merkt, die entspannenden Gedanken haben etwas in seinem Der blondgelockte Junge auf der Station Leucht- Körper verändert. turm hat heute seinen Stresstag. Drei Seiten muss er aus einem Buch abschreiben, unter Zeitdruck. Der Terminstress gehört zum Konzept. Michael Seit zwei Wochen ist er jetzt auf der Station, bald Dobe lacht. „Schonung ist auf der Schmerzstation geht es zurück nach Haus. Höchste Zeit, um die verboten.“ Denn ausruhen ist kontraproduktiv. Wer Begegnung mit der Realität zu üben. Dazu gehört: wegen der Schmerzen die Beine hochlegt, bringt Stress aushalten, die Schmerzbewältigungsstra- seinem Kopf bei: Die Schmerzen lohnen sich. Ich tegien auch unter Stress einsetzen lernen. „Nach kann mich hängenlassen, ungeliebten Tätigkei- etwa zwei Wochen führen wir die Patienten Stück ten entgehen. Also heißt es: Zähne zusammen- für Stück in den Alltag zurück“, sagt Boris Zernikow. beißen und mit dem Schmerz alles tun, was man In der Krankenhausschule auf dem Gelände geht auch ohne tun würde. Dem Schmerz das Leben es zum Unterricht, lebensnah wird der Schultag si- abtrotzen, um dem Gehirn zu zeigen: Ich bin der muliert. Ein wichtiger Punkt auf dem Weg zurück Chef. Aktive Schmerzbewältigung nennt Dobe das. in die Normalität, in der Schulstress oder Probleme Und sie ist ebenso wichtig, wie zu verstehen, dass mit Mitschülern allzu oft der Knackpunkt sind. Schmerz und Gefühl zusammenhängen. Boris Zernikow lehnt sich zurück und streckt die Drei- bis viermal die Woche führen die Psycholo- Beine aus. Er liebt seinen Job und hätte „nie etwas gen und Ärzte Einzelgespräche mit den Kindern, anderes machen wollen“. Schon vor 20 Jahren hat mindestens einmal sind die Eltern dabei, manch- es ihn gepackt, damals, als er Zivildienst in der Dat- mal ein wichtiger Freund oder die Großeltern. Die telner Kinderonkologie machte. Heute behandeln Konstellation zu Hause, Konflikte innerhalb der er und sein Team 1.200 Schmerzpatienten im Jahr Familie spielen eine wichtige Rolle bei der Entste- ambulant, das sind so viele wie in allen kanadi- hung und Verfestigung der Schmerzkrankheit. Sie schen Kinderschmerzambulanzen zusammen. Die kann Schutz sein vor Auseinandersetzungen, Aus- Schmerzambulanz, die unter anderem mit Mitteln druck von Konflikten, Folge von Ängsten. Häufig der Vodafone Stiftung Deutschland 2005 ausge- sind diese Zusammenhänge den Beteiligten nicht baut wurde, ist die einzige ambulante Einrichtung, bewusst. Wie bei Karin Schmidt, der Mutter des elf- in der Kinder mit chronischen Schmerzen multidis- jährigen Leon. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Sohn ziplinär versorgt werden. Etwa 140 werden jedes Jahr stationär behandelt. Mit der Gründung des Lebensphase nicht mehr zu Hause versorgt werden Vodafone Stiftungsinstituts für Kinderschmerz- können. Farben und Lichtkonzept der Station wer- therapie und Pädiatrische Palliativmedizin (VIKP) den von einer Künstlerin komponiert, alle Zimmer 2006 wurde die Förderung gewaltig ausgedehnt. haben grün umrankte Terrassen, ein Kräuter- und Die Erfolge sind beachtlich: Auf einer Skala von ein Sinnesgarten mit kantigen Kieseln und runden null bis zehn reduzierten sich die Schmerzwerte Steinen sind geplant, für Geschwisterkinder gibt es der ambulant behandelten Kinder allein zwischen Skaterbahn und Basketballplatz, für die Eltern lie- dem ersten und dem zweiten Behandlungstermin bevoll eingerichtete Apartments. Im ersten Stock von durchschnittlich 7,6 auf 4,6 Punkte. Die stati- finden Fortbildungsseminare für Ärzte, Psycho- onär behandelten Kinder fühlen sich nach nur drei logen, Pfleger, Pädagogen, Krankengymnasten, Wochen auf der Schmerzstation signifikant besser Kreativtherapeuten aus aller Welt statt. Am Kin- und fehlen seltener in der Schule. 80 Prozent der derpalliativzentrum soll intensiviert werden, was Patienten haben nach drei Jahren den Schmerz am VIKP begann. gut im Griff. Zernikow strahlt: „Großartig, nicht?“ Boris Zernikow weiß, wie schwer es ist, diesen KinAndrea Zinnenlauf nickt. Als die Projektleiterin der dern gerecht zu werden. Was brauchen sie, um Vodafone Stiftung Deutschland im Herbst 2002 möglichst gut mit ihrer Krankheit zu leben, wie Boris Zernikow traf, hat er sie gleich überzeugt. können ihre Schmerzen gelindert, die Symptome Damals stand die Schmerzambulanz des Dattelner ihre Krankheit erträglich gemacht, die Familien in Pädiaters noch am Anfang, mit seinem multidiszip- der Achterbahn der tödlichen Krankheitsverläufe linären Team entwickelte er gerade die Therapie in gestützt, wie kann das Sterben erträglich gemacht einer kleinen Villa vor den Toren der Klinik. Schnell werden, so gut es geht? war Zinnenlauf klar: „Das ist ein außergewöhnliches Team und ein unglaublich wichtiges Thema, Schon als Kinderonkologe in Datteln hat Zernikow das wir von klein auf begleiten und vorantreiben Palliativpatienten begleitet. Kinder mit lebensver- können.“ Dazu gehört auch der zweite Bereich, der kürzenden Erkrankungen werden seit jeher auf am VIKP gerade mit Hochdruck vorangetrieben den einzelnen Stationen in der Klinik versorgt. In- wird: die pädiatrische Palliativmedizin. zwischen hat die 30-köpfige Mannschaft am VIKP die ambulante Behandlung der kleinen Patienten Tief graben sich die Bagger in das Erdreich hinter systematisiert. Ein spezialisiertes Kinderpalliativ- der Vestischen Kinderklinik. Die Keller sind bereits team kümmert sich um die verlässliche Betreuung ausgehoben, der Verbindungsgang zum Klinikbau zu Hause. Zernikow: „Die Kinder und ihre Famili- ist in Arbeit. Mitte September 2009 war Richtfest. en brauchen über Jahre hinweg ein verlässliches Hier entsteht das erste Kinderpalliativzentrum der Casemanagement, das sich ihrer aktuellen Situati- Welt, eine Station für sterbende Kinder, die an un- on flexibel anpasst.“ Das für Eltern da ist, wenn sie heilbaren Erkrankungen leiden und in ihrer letzten aushalten lernen müssen, dass ihr bisher gesun- 102 10 3 Förderbereich Gesundheit des Kind innerhalb von sechs Monaten durch eine menspiel wie in der Schmerztherapie berücksich- unerwartete Erkrankung plötzlich alles verlernen tigen“, sagt Chefarzt Zernikow. „Wir schauen uns wird, das es je konnte. Das mit der Familie immer die Symptome immer aus vier Perspektiven an: wieder neu abwägt, welche Therapien sinnvoll der biologischen, psychologischen, sozialen und sind, welche Belastung kein Plus an Lebensqua- spirituellen.“ „Total pain concept“ nennen das die lität bringt. Das für die Eltern eine Auszeit organi- Experten. siert, wenn sie nach jahrelanger Betreuung ihres schwermehrfachbehinderten Kindes einfach nicht Bereits 2004 hat das VIKP ein Curriculum für die mehr können. Das ständig überprüft, wo sich die Fortbildung in pädiatrischer Palliativversorgung Situation zu Hause so stabilisieren lässt, dass ein entwickelt. Regelmäßig werden Ärzte fortgebil- Maximum an Lebensqualität herauskommt. Das det, die Evaluation der Schmerztherapie läuft auf unkompliziert die Verlegungen auf die Schmerz- Hochtouren. Im Fokus: Studien zur Diagnostik, zur station regelt, wenn Krämpfe, Übelkeit, Atemnot Therapie, Grundlagenforschung. Mehrfach wurde und Angst zu Hause nicht mehr bewältigt werden das Forschungsteam bereits ausgezeichnet. können. 2008 konnte mit Fördermitteln der Vodafone Mehr als 80 Familien mit sterbenskranken Kindern Stiftung Deutschland an der Universität Witten/ werden am VIKP ambulant begleitet, 20 Kinder Herdecke der weltweit erste Lehrstuhl für Kinder- wurden von Ärzten, Psychologen, Schwestern und schmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin Therapeuten auf der Station Leuchtturm in ihren eingerichtet werden. Den Ruf erhielt Boris Zerni- letzten Lebenstagen versorgt. „Bei der Kinderpal- kow. Seitdem hat die Forschung noch mehr Zug- liativversorgung müssen wir ein ähnliches Zusam- kraft bekommen. F ö r d e r b e r e i c h K u n s t u n d K u lt u r 106 107 F ö r d e r b e r e i c h K u n s t u n d K u lt u r Weimarer Aschebücher Eine der weltweit wertvollsten Bibliotheken stand vor fünf Jahren in Flammen. Mit Hilfe von Günter Müller ist mittlerweile fast ein Wunder geschehen – die Restaurierung der Bücher auf allerhöchstem Niveau. Nicht viel mehr als eine schlammige, verbrannte Masse ist von den kostbaren Büchern übrig. „Löschwasser, Asche, Gebälk und Reste vom Mauerwerk“ haben sich zu einer „stinkenden, schwarz-braunen Brühe“ vermischt. Buchrestaurator Günter Müller dreht sich immer noch der Magen um, wenn er daran denkt. „Fast wie Jauche“, verzieht er sein Gesicht. Das Gros der Bücher ist vollgesogen. Daher sprechen die Restauratoren von den „Weimarer Aschebüchern“ – Geisteswissenschaftler hingegen von der berühmtesten Sammlung der deutschen Klassik, die beim Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar 2004 den Flammen zum Opfer fiel. Zu retten, was noch zu retten ist. Das ist die Aufgabe von Günter Müller, der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feiert. 30 Jahre war er an der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena als Buchrestaurator tätig. Zeit seines Lebens beschäftigte er sich mit der Mengenrestaurierung stark beschädigter Bücher und Archivalien aus den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg. Darunter auch Goethe-Handschriften. Er gilt als Kapazität seines Fachs. Hochdekoriert unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. 2004 ging Müller in Pension. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er nicht, vor welcher Herausforderung er noch einmal stehen wird – ausgelöst durch ein durchgeschmortes Kabel hinter einer Wandvertäfelung der Anna Amalia Bibliothek. In der Nacht des 2. Septembers 2004 steht sie in Flammen. Die Folgen sind katastrophal: 50.000 Bücher sind zerstört, 65.000 zwar gerettet, aber in einem erbärmlichen Zustand. Beinahe die Hälfte sind „schlammige, verbrannte Masse“. Dass nicht noch mehr Bücher verbrannten, ist dem waghalsigen Einsatz des Bibliotheksdirektors Michael Knoche zu verdanken: Er rettet gemeinsam mit Kollegen und freiwilligen Helfern etwa 10.000 Bände, zahlreiche Büsten und etliche Gemälde. Darunter auch die Luther-Bibel, das berühmteste Exemplar der Bibliothek. Es ist die erste vollständige Ausgabe des Alten und Neuen Testaments. Andere Bücher sind hingegen verloren, so scheint es: etwa die Musikaliensammlung von Anna Amalia oder große Teile der Gelehrtenbibliothek des ersten Bibliotheksdirektors Konrad Samuel Schurzfleisch. Doch möglicherweise ist der Schaden geringer als bisher angenommen. „Im Zuge der Restaurierung entdecken wir fast täglich neue Objekte, von denen wir dachten, sie seien verloren.“ Günter Müller hat seine Pension kurzerhand aufgeschoben, nachdem sich abgezeichnet hatte, dass seine Erfahrung beim Wiederaufbau der Bibliothek dringend benötigt wird. Heute ist die Anna Amalia Bibliothek sein Lebensprojekt, wie er sagt. Er freut sich, dass er sein Wissen an die jungen Mitarbeiter und Kollegen der Restaurierungswerkstatt weitergeben kann. „Die Schäden waren so groß, dass die bisher bekannten Restaurierungsmethoden nicht anwendbar waren, zumindest nicht bei Millionen von Blättern.“ Das war der Ausgangspunkt seiner Arbeit. Müller musste ein technisches Verfahren entwickeln, das nicht so aufwendig und teuer war wie gängige Methoden. „Denn es ist ein Unterschied, ob die Restaurierung eines Blattes 120 Euro kostet oder nur 2,70 Euro.“ Genau das ist Müller gelungen. Sein Verfahren kommt ohne die üblichen zeit- und kostenaufwendigen Zwischentrocknungen aus und erlaubt die Mengenrestaurierung in einem einzigen Arbeitsprozess: Das Verfahren sichert die Reste der Buchseiten, wäscht die „Jauche“ heraus und verfestigt bestehende Papierfasern beziehungsweise füllt fehlende Papierstellen mit neuer Papiermasse aus, sodass nach der Restaurierung das Buch ohne Weiteres benutzungsfähig ist. 10 8 10 9 F ö r d e r b e r e i c h K u n s t u n d K u lt u r Zudem schließt dieses Verfahren eine „große Unsicherheitslücke“ in der Restaurierung von Druckschriften: dass wasserempfindliche Marginalien, also handschriftliche Anmerkungen und Kommentare am Seitenrand der Bücher, bei der Restaurierung „ausbluten“ oder „herauslaufen“. Das ist ganz entscheidend. Denn Marginalien machen aus einem gedruckten Buch ein Unikat. Gleichzeitig sind sie Zeugnisse einer vergangenen Zeit und daher besonders wertvoll. „Wir können pro Tag 500 Blätter restaurieren. Das ist einmalig. Bisher war es in Restaurierungsateliers bei dieser Schadenslage üblich, drei bis zehn Blätter zu behandeln.“ Das ist die Chance der Anna Amalia Bibliothek. Insgesamt sind 19.000 der 65.000 teilweise zerstörten Bücher restauriert und 22.000 von 50.000 gänzlich verlorenen Bänden wiederbeschafft. Das ist teuer – trotz des innovativen Verfahrens von Müller. Daher besteht eine wesentliche Aufgabe der Klassik Stiftung Weimar und der Vodafone Stiftung Deutschland darin, weiterhin Spenden für den Wiederaufbau zu sammeln. Und das heißt in erster Linie: im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bleiben – auch nach fünf Jahren und mehr. Denn bis die Bestände wiederhergestellt sind, werden 30 Jahre vergehen, schätzt Petra Wickenkamp von der Vodafone Stiftung Deutschland. Die Düsseldorfer Stiftung beschäftigt sich nicht nur mit der Finanzierung des Wiederaufbaus und der Restaurierung der Bücher – sie ist mit fünf Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren größter Einzelspender –, sondern fördert auch Projekte in und um Weimar, die darauf ausgerichtet sind, das Interesse der Bevölkerung weiter auf die Bibliothek zu richten. Beispielsweise der Kinder und Jugendlichen. Sie können im Rahmen einer Sommerferienaktion die Bibliothek in Führungen und Workshops hautnah erleben. „Zu Besuch bei Anna Amalia“ (2008) und „Leben zwischen dem Buchrücken“ (2009) lauten die Aktionen, die Wissenswertes zur Geschichte der Bibliothek und zu einzelnen Elementen des Buches vermitteln: vom Papier bis zur Illustration. Die Workshops sind „sehr gut angekommen“, sagt Wickenkamp. So hofft sie, dass die Bibliothek weiter im Zentrum der Aufmerksamkeit bleibt. Wie auch durch das Sommerfest des Freistaats Thüringen in der Landesvertretung Berlin. Das Highlight dieser Veranstaltung: natürlich die Werkstatt für brandgeschädigtes Schriftgut von Günter Müller. 110 111 F ö r d e r b e r e i c h K u n s t u n d K u lt u r Flügel stärken, Schätze heben Seit fünf Jahren veranstaltet die Vodafone Stiftung Deutschland zusammen mit der Stadt Düsseldorf den Jugendkunstwettbewerb „Düsseldorf ist ARTig“. Ein Meilenstein in der Entwicklung innovativer kultureller Bildungsprojekte! „Deine Anzeige, sorry, die war echt langweilig. Aber das mit den Kassetten statt Briefen ist cool. Ich hab’s nicht so mit dem Schreiben.“ Sätze, die von Stella Volkenand stammen, ihr Hörspiel trägt den Namen „Ik vertrek“. Es hat die Jury des Jugendkunstwettbewerbs „Düsseldorf ist ARTig“ überzeugt. Mehr noch: Die Geschichte von den ungleichen Mädchen Maya und Anne, die sich nie gesehen haben und sich Kassetten schicken, um aus ihrem Leben zu erzählen, hat sie richtig in den Bann gezogen. So erhielt Volkenand in der Kategorie Literatur den EigenARTig-Award. Neben ihr wurden vier weitere junge Künstler aus den Kategorien Theater, Film, Bildende Kunst und Tanz ausgezeichnet. Überreicht wurde der EigenARTig-Award den jungen Künstlern als Höhepunkt des „Düsseldorf ist ARTig“-Festivals, das den gleichnamigen Jugendkunstwettbewerb abschließt. Auf dem fünftägigen Festival im November 2008 präsentierten 120 Jugendliche 45 künstlerische Projekte, mit denen sie sich im Frühjahr beim Kunstwettbewerb beworben hatten. Nach der Auswahl arbeiteten sie sechs Monate mit Unterstützung von etablierten Künstlern an ihren Projekten weiter, um sie auf dem Festival der Öffentlichkeit zu präsentieren. Mit Erfolg: Über 2.000 Menschen besuchten das Festival. „Am Anfang steht die Neugier“, sagt Petra Wickenkamp von der Vodafone Stiftung Deutschland, „die der Wettbewerbsteilnehmer, ob ihre Ideen der Jury gefallen, die der Jury auf die neuen Ideen, die der Mentoren auf die neuen Teilnehmer. Offenheit ist auf allen Seiten gefragt, wenn es darum geht, kreative Ideen in konkrete künstlerische Ergebnisse zu verwandeln. Der intensive Austausch und die enge Zusammenarbeit zwischen Mentoren, den ARTig-Teilnehmern und dem ARTig-Team sind der Humus, auf dem sich ‚Düsseldorf ist ARTig‘ ständig weiterentwickelt.“ Das bestätigt auch Dr. Petra Winkelmann vom Kulturamt der Stadt Düsseldorf. Sie kennt die Anfänge und erinnert sich zurück. Zu Beginn ging es um die Frage, was sich Jugendliche im kulturellen Bereich wünschten. Das Ergebnis: „Die Jugendlichen hatten ein großes Interesse, sich selbst kreativ zu betätigen und ihre Arbeiten zu präsentieren“, sagt Winkelmann. Der kreative Wettbewerb „Düsseldorf ist ARTig“, den die Vodafone Stiftung Deutschland zusammen mit der Stadt Düsseldorf seit 2004 veranstaltet, ist die Umsetzung der Bedürfnisse von Jugendlichen. Das zeigt auch die Resonanz: „Der Wettbewerb spricht sich immer mehr herum und wir erhalten von Jahr zu Jahr mehr Bewerbungen“, sagt Winkelmann. Das Procedere ist einfach: Düsseldorfer Jugendliche im Alter von 15 bis 23 Jahren können sich einzeln oder in Gruppen in den Kunstsparten Musik, Theater, Film/Video, Tanz, Fotografie, Literatur und Bildende Kunst mit künstlerischen Projektideen bewerben. Eine Jury trifft aus den eingereichten Beiträgen eine Auswahl. Die ausgewählten Projekte werden dann im Anschluss ein halbes Jahr von den Jugendlichen weiterbearbeitet. Dabei erhalten sie, wenn sie möchten, Unterstützung von Künstlern als Mentoren, mit denen sie diskutieren und die Projektentwicklung vorantreiben können. Am Ende des halben Jahres findet dann das „Düsseldorf ist ARTig“-Festival statt, auf dem die jungen Künstler ihre Arbeiten der Öffentlichkeit präsentieren können. Seit 2007 werden fünf der künstlerisch anspruchsvollsten Arbeiten mit dem EigenARTig-Award ausgezeichnet, der den Künstlern zweierlei garantiert: Zum einen werden sie ein weiteres halbes Jahr bei ihrer künstlerischen Arbeit durch die Mentoren unterstützt, zum anderen werden sie beim nächsten Ideenwettbewerb mit ihren Arbeiten teilnehmen können. Das Besondere des Ideenwettbewerbs ist, dass die Jugendlichen nicht nur an der Konzeption beteiligt werden, sondern dass sie das Projekt auch in größtmöglicher Eigenverantwortung durchführen und weiterentwickeln. „Ich habe die Jugendlichen immer als engagiert, ernst und eigenverantwortlich erlebt“, sagt Winkelmann. Die Qualität der Arbeiten ist hoch und Talente scheinen aus dem Nichts aufzutauchen. So erinnert sich Winkelmann, dass ein Ideen- 112 113 F ö r d e r b e r e i c h K u n s t u n d K u lt u r wettbewerbsteilnehmer, der in der Kategorie Theater teilgenommen hatte, mittlerweile auch beruflich als Schauspieler reüssiert. Doch unabhängig davon, ob sich Teilnehmer nach dem Wettbewerb künstlerisch weiterentwickeln wollen, steht für Winkelmann etwas anderes im Vordergrund: „Viele haben im Rahmen des Ideenwettbewerbs ihre eigene Kreativität erlebt.“ Die Resonanz auf den Wettbewerb ist beeindruckend: „Düsseldorf ist ARTig“ hat sich überregional als „Best Practice“ im Kontext kultureller Bildung und kreativer Jugendkulturarbeit etabliert. Und Winkelmann ist überzeugt: „Der Wettbewerb ist ein Bildungsprojekt auf höchstem Niveau.“ Überdies wurde das Projekt 2008 vom Zentrum für Audience Development der FU Berlin als Best-Practice-Projekt im Bereich Innovationen vorgestellt. Und die Zukunft von „Düsseldorf ist ARTig“ scheint hinsichtlich personellen Nachwuchses gesichert. Kein Wunder, denn es ist auch ein Beispiel für gelungenes Kulturmanagement. Mit viel Leidenschaft, die das Projekt auszeichnet und weiterträgt. Natürlich auch bei Petra Winkelmann: „Ich mache ‚Düsseldorf ist ARTig‘ leidenschaftlich gerne, weil ich an die Inhalte glaube, die wir vermitteln – und bin froh, dass wir das an die Jugendlichen weitergeben können.“ S t r at eg i s c h e P e r s p e k t i v e n G a s t b e i t r ag v o n P r o f. D r . S t e p h a n A . J a n s e n u n d T i m G ö b e l Das Gegenteil von Unterlassen Über den neuen Wettbewerb in der Produktion von Sozialgütern. Zwei Punkte einer Praxis- und Forschungsagenda für Sozialunternehmer. Universitäten sind nicht gerade verdächtig, Brutkästen für heutige Gründer zu sein, aus denen morgen einmal große Unternehmer werden. Entrepreneure, die Schumpeter'schen „schöpferischen Zerstörer“, die Weber'schen „Berufenen“, die Say'schen Abenteurer, die Casson'schen „großen Entscheider“, die Würth'schen „Dynamischen“ wurden immer an anderen Orten vermutet als bei der „nährenden Mutter“, der Alma Mater. Und daher sind Unternehmer, die große Entwicklungen angestoßen haben, auch so häufig ohne Abschluss – einen universitären zumindest. Das könnte sich ändern. Das sollte sich ändern. Unternehmer sind das Gegenteil von Unterlassern – und sie stellen sich nicht an. Das Phänomen des „Social Entrepreneurship“ besitzt in Zeiten der Elitenkritik, der Neujustierung des immer fragilen Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Staat, in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession eine besondere Qualität und Wichtigkeit – auch in studentischen Biografieentscheidungen. Universitäten und gerade nicht die „Business-School-Idee“ der 1970er/1980er Jahre könnten sich als wichtige Plattform und Treiber des Diskurses rund um das „soziale Unternehmertum“ etablieren. Universitäten, die in der Lage sind, zwischen Wirtschafts-, Medien-, Rechts-, Politik-, Staats- und Verwaltungswissenschaften die Phänomene in dem Spannungsbogen zwischen QuasiMarkets, Markets und Non-Markets, zwischen Regulierung und Unreguliertem, zwischen Philanthropie und Privatunternehmerinteressen, zwischen Clubgütern und öffentlichen Gütern präziser zu beschreiben. Zwei Punkte für die Skizze der weiteren Praxis- und Forschungsagenda: 116 117 S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n Die Praxisagenda: Unternehmertum außerhalb der BWL-Klientel Geschäftsmodelle von Sozialunternehmern scheinen oftmals komplexer zu sein als herkömmliche profitorientierte Geschäftsmodelle. Das macht sie für Hochschulabsolventen interessant, die in die Entwicklung des Geschäftsmodells ihre analytischen, methodischen und kommunikativen Fähigkeiten einbringen können. Die Gründung eines Sozialunternehmens könnte gerade für nicht spezifisch BWL- oder technologieaffine Fächergruppen wie Soziologie, Philosophie, Pädagogen, Regionalwissenschaftler, Verwaltungs- oder Naturwissenschaftler attraktiv sein, die auf die Etablierung inhaltsgetriebener Geschäftsmodelle setzen, die komplex, skalierbar und schwer imitierbar sind. Universitäten könnten wiederum in Kooperation mit Stiftungen als (Risiko-) Kapitalgeber fungieren, die nicht nur wie bisher Initiativen als Pilotprojekte anfinanzieren, sondern als wirkungsorientierte Philanthropen auf nachhaltige, unternehmerische und risikobereite soziale Entrepreneurs setzen und diese Ausgründungen unterstützen. Beispiel: Das ZU-Social-Franchise „Rock Your Life!“ Drei Studentinnen der Zeppelin University (ZU), Elisabeth Hahnke und Christine Veldhoen (Master-Studierende der Kommunikations- und Kulturwissenschaften) und Linn Rampl (Master für Wirtschaftswissenschaften), reagieren auf ein Klassikerproblem: Hauptschüler werden hauptsächlich Hartz-IVEmpfänger. Interessant: Betriebe, die Hauptschüler beschäftigen wollen, finden keine geeigneten. Die Studierenden bringen in ihrer Initiative „Rock Your Life!“ Hauptschüler und Unternehmen intelligent zusammen – durch Studierenden-Coaching. Hahnke, Veldhoen und Rampl entwarfen ein „Einszu-eins-Coaching-Programm“ für Hauptschüler der letzten Klassen, bei dem sie ein Student über zwölf bis 24 Monate intensiv begleitet und alle Fragen rund um Berufsorientierung, Bewerbung und auch private Themen mit dem Hauptschüler behandelt. Dann wird er empfohlen an ein regionales Unternehmensnetzwerk. Der Clou: Beide Seiten lernen etwas voneinander und die Schüler sind den Studierenden gegenüber viel aufgeschlossener als einem Lehrer oder sonstigen Berufsberatern. Es geht um Augenhöhe und das Gefühl des Angenommenseins statt bloßer Defizitperspektive. G a s t b e i t r ag v o n P r o f. D r . S t e p h a n A . J a n s e n u n d T i m G ö b e l Die Forschungsagenda: Theorie und Empirie der Sozialunternehmen Was ist anders am „sozialen Unternehmertum“? Als Begriff in den 1980er Jahren vom ehemaligen McKinsey-Partner William Drayton lanciert; als Ashoka mit über 160 Mitarbeitern und über 30 Millionen US-Dollar Budget institutionalisiert (Zahlen für 2006); als Phänomen mit zahlreichen „Social Entrepreneurs“ – davon allein knapp 2.000 von Ashoka geförderten – beobachtbar, steht die wissenschaftliche Forschung zu Sozialunternehmertum nach 30 Jahren noch immer vergleichsweise am Anfang. In Deutschland hat diese Entwicklung relativ spät – und wohl weitgehend ursächlich mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Muhammad Yunus – eingesetzt. „Social Entrepreneurship“ wurde bislang dem Dritten Sektor zugerechnet – mit all seinen Synonymen wie Nonprofit Sector, Civil Society, Social Economy, Nongovernmental Sector, Charitable Sector, Gemeinnützigkeitssektor, Zivilgesellschaft oder Sozialwirtschaft. Dieser Dik tion folgend, können die Daten zum Dritten Sektor in Deutschland aus dem Jahr 1990 vom Johns Hopkins „Comparative Nonprofit Sector Project (CNP)“ aufgezeigt werden, wobei eine Million Vollzeitstellen, also 3,7 Prozent der Gesamtbeschäftigung beschäftigt sind. Zwischen 1970 und 1990 hatte sich die Beschäftigungszahl im Dritten Sektor damit nahezu verdoppelt. Für den Zeitraum 1997 bis 2005 weist das Institut der deutschen Wirtschaft ein Beschäftigungswachstum von 16 Prozent im Dritten Sektor aus, verglichen mit vier Prozent Gesamtbeschäftigungszuwachs. Demzufolge beschäftigte der Sektor 1997 7,7 Millionen Menschen und im Jahr 2005 bereits fast neun Millionen Erwerbstätige, 23 Prozent der Gesamterwerbstätigen. Der Sektor erzielte 11,5 Prozent der gesamten deutschen Wirtschaftsleistung. Das Problem ist die fehlende Trennschärfe der Definition eines Sozialunternehmers. So ist der größte deutsche Arbeitgeber, die Caritas mit 482.000 Mitarbeitern, eben kein hinreichender Beleg für Sozialunternehmertum, und auch die internationalen Vergleiche sind irreführend. Das Sozialunternehmertum ist weiterhin nicht hinreichend aus der Perspektive der Renditedifferenzierung abzuleiten. 118 119 S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n Vielmehr scheint es für eine Forschungsagenda angebracht, dass die Sozialunternehmertum-Forschung sich mit der Theorie der öffentlichen Güter, der Quasimärkte (in genauer Analyse der Branchen), netzwerkbasierter Philanthropie, der Regulierung und damit der institutionellen Voraussetzungen für „Social Entrepreneurship“ ebenso auseinandersetzen muss wie mit einer anders gelagerten Betriebswirtschaftslehre mit Blick auf Internationalisierung, Vertriebsstrategien, Mikrofinanzinstrumente und Wachstumsfinanzierung von Sozialunternehmern. Ausblick Die Zeppelin University initiiert derzeit gemeinsam mit dem „Center for Social Innovation and Investment (CSI)“ der Universität Heidelberg, dem „Center for Entrepreneurial and Financial Studies (CEFS)“ der TU München, der Ashoka, der Schwab Foundation sowie weiteren Projektpartnern eine größere Forschergruppe. Denn auch für Universitäten gilt: Unternehmen ist das Gegenteil von Unterlassen – in Praxis wie Forschung. Prof. Dr. Stephan A. Jansen ist Präsident und Geschäftsführer der Zeppelin University in Friedrichshafen am Bodensee. Er ist zudem Inhaber des Lehrstuhls für Strategische Organisation und Finanzierung (SOFI) und forscht schwerpunktmäßig in den Bereichen Management-, Organisations- und Netzwerktheorie sowie in der Bildungssystemforschung. Tim Göbel ist Mitglied des Präsidiums der Zeppelin University in Friedrichshafen am Bodensee. Dort verantwortet er unter anderem das Auswahlverfahren der ZU, das Stipendiensystem und die Universitätsveranstaltungen. Mehr Informationen zur Universität unter: www.zeppelin-university.de Wissenschaft Sozialunternehmer Politik 120 121 S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n Philanthropie und Kreativität – Bildungsinitiativen zwischen Qualität und Veränderung Von Dr. Mark Speich Seit Anfang der 90er Jahre öffnet sich in fast allen OECD-Ländern die Schere der Einkommens- und Vermögensverteilung. In Deutschland hat man diese Entwicklung durch erhebliche Umverteilungsanstrengungen zu kompensieren versucht. Aber selbst Deutschland bescheinigen jüngste Studien eine wachsende Ungleichheit. Diese Entwicklung wäre weniger bedenklich, wenn wir es mit einer dynamischen Gesellschaft und einem glaubhaften Aufstiegsversprechen zu tun hätten. Einkommens- und Vermögensunterschiede scheinen jedenfalls eher vermittelbar, wenn jeder kraft Leistung und Wille in der Lage ist, gesellschaftlich aufzusteigen. In Deutschland aber ist der prägende Faktor für die individuelle Zukunft oft genug die individuelle Herkunft. Und hier liegt der eigentliche politische Sprengstoff – denn Gesellschaften, die auf der einen Seite ungleicher werden, auf der anderen Seite aber nur unzureichende soziale Mobilität ermöglichen, riskieren ihre Akzeptanz. Wenn demografische und budgetäre Restriktionen es immer unwahrscheinlicher machen, Ungleichheit durch Umverteilung auszugleichen, bleibt als zentrale politische Handlungsstrategie nur die Ermöglichung und Verbesserung sozialer Mobilität. Und diese Handlungsstrategie stellt wiederum die Frage der Bildung ganz in den Mittelpunkt. So war Bildung immer ein wichtiges gesellschaftliches Thema, aber die möglichen Gefährdungen unserer gesellschaftlichen Ordnung machen es zum Schlüsselthema. Dass ein Thema von so elementarer Bedeutung auch zu einem Thema von Stiftungsarbeit wird, liegt also auf der Hand. Die Bedeutung, die dem Thema Bildung inzwischen in der politischen Rhetorik zukommt, wirft aber zu- gleich die Frage der Möglichkeiten von Bildungsinitiativen aus dem Stif- tungssektor auf. Im Schatten staatlicher Konjunkturprogramme nehmen sich die den Stiftungen zu Gebote stehenden Mittel recht kümmerlich aus. Wenn außerdem der Eindruck vermittelt wird, das Heil unseres Bildungssystems liege in einer Erhöhung der Planstellen, stellt sich erst recht die Frage, was Stiftungen auf diesem Feld ausrichten können. Die dauerhafte Finanzierung öffentlicher Stellen gehörte jedenfalls bislang nicht zur Domäne von Stiftungsarbeit. An der aufkeimenden Skepsis hinsichtlich ihrer Wirkungsmöglichkeiten sind Stiftungen selbst nicht unschuldig. Im Stiftungswesen grassierte lange genug ein Pilotprojektismus, der dem Staat im Kleinen zu beweisen suchte, wie er flächendeckend zu handeln habe. Oftmals konnten diese Projekte gerade deshalb einen Erfolg vorweisen, weil sie üppige Stiftungsmittel auf eine eher kleine Gruppe von Individuen konzentriert haben. Flächendeckend wären solche Vorhaben nie finanzierbar. Pilotprojekte, deren flächendeckende Anwendung nicht finanzierbar ist oder die nur die These von der notwendigen Aufstockung staatlicher Mittel erhärten, sind erstens völlig verzichtbar, zeugen zweitens von einem verantwortungslosen Umgang mit Stiftungserträgen und unterschätzen drittens auf fahrlässige Weise die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung. Denn die öffentliche Verwaltung hat manche dieser in Pilotprojekten angedienten Lösungen nicht deshalb schon selbst umgesetzt, weil sie durch Blindheit geschlagen ist und der Erleuchtung durch Stiftungshandeln harrt, sondern weil sie sich verantwortungsbewusst im Rahmen eines öffentlichen Budgets bewegt. Was heißt das nun für Stiftungshandeln im Bildungsbereich? Gibt es hier tatsächlich Raum für das bürgerschaftliche Handeln von Stiftungen? 122 12 3 S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n Meines Erachtens haben Stiftungen ihre Berechtigung auf diesem Hand lungsfeld, wenn sie echte Innovationen entwickeln, die skalierbar sind. Der große Vorteil von Stiftungen liegt gegenüber politisch-administrativen Struk turen darin, nicht der Notwendigkeit tagesaktueller Reaktion und Hektik unterworfen zu sein, die Kreativität oft genug erstickt. Um es auf den Bildungsbereich zu beziehen: Die fehlende Kreativität im Umgang mit Fragen der Bildung zeigt sich in Deutschland nicht zuletzt darin, dass jede große Bildungsstudie fast zwingend zu einer Diskussion über das dreigliedrige Schulsystem führt. Nur leider führen wir diese Diskussion bereits seit 30 Jahren – ohne dass sich an dem eigentlichen Kardinalprob- lem, nämlich der kausalen Verkettung von Bildungserfolg und familiärer Herkunft, etwas geändert hätte. „Beim Ansatz der ‚Think-Tanks‘ geht es darum, einen aktiven Geburtshelferdienst für Ideen zu leisten und dann dazu beizutragen, solche Ideen auch in die Praxis der Anwendung zu übersetzen.“ Was können nun Stiftungen tun, um diese tiefen Schützengräben der bildungspolitischen Situation zu überwinden? Ich sehe hier vor allem zwei Ansätze, die zugleich über die nötige Hebelwirkung verfügen; der eine ist fördernd und verbindet sich mit dem Begriff der Venture Philanthropy, der andere ist operativ und verbindet sich mit dem Begriff des Think-Tanks. Der Begriff der Venture Philanthropy lehnt sich konzeptionell an die Risikokapitalgeber an, die junge vielversprechende Start-ups mit Risikokapital und begleitender Beratung versorgen. Der Begriff der Venture Philanthropy richtet sich auf „Social Entrepreneurs“ – Individuen, die, um bei unserem Thema zu bleiben, mit einer überzeugenden Idee antreten, um unser Bildungssystem zu verbessern. Dazu sind sie auf die Finanzierung einer institutionellen und personellen Grundausstattung angewiesen, die ihnen den Rücken für die Startphase ihres schöpferischen Unternehmertums frei hält. Genau hier setzt der Gedanke der Venture Philanthropy an. Der Begriff „Venture“ macht deutlich, dass eine solche Investition mit dem Risiko des Scheiterns verbunden sein kann. Nicht jede unternehmerische Idee, die sich zunächst faszinierend anhört, hat sich am Markt behaupten können. Stiftungen, die sich auf diesem Feld bewegen, werden also auch ertragen müssen, gelegentlich zu scheitern. Der Ansatz des „Think-Tanks“ bewegt sich auch auf dem Marktplatz der Ideen und der Kreativität, aber er fordert Stiftungen mehr operative Eigenleistung ab. Denn hier geht es darum, einen aktiven Geburtshelferdienst für Ideen zu leisten und dann dazu beizutragen, solche Ideen auch in die Praxis der Anwendung zu übersetzen. Damit muss nicht zwangsläufig die Forderung 124 12 5 S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n nach der Erhöhung staatlicher Budgets verbunden sein. Denn bei den guten Ideen geht es sehr viel eher darum, durch bessere Regulierung zu besseren Ergebnissen innerhalb des bestehenden Budgetrahmens zu kommen. Man könnte auch von „smart regulation“ sprechen. Auch hier gibt es ein Risiko des Scheiterns. Aber die Hebelwirkung bei erfolgreicher „smart regulation“ kann enorm hoch sein. Bei beiden Ansätzen müssen Stiftungen Risiken eingehen und wahrscheinlich auch Fehler machen. Sich seiner großen Flexibilität zu rühmen, aber bei der Mittelvergabe ängstlicher und bürokratischer als die öffentliche Hand vorzugehen, ist jedenfalls kein Erfolgsrezept. Gerade weil sie ihre Existenz so oft unternehmerischem Vermögen verdanken, sollten Stiftungen sich die Verpflichtung bewahren, auch unternehmerisch zu handeln – dann erhöht sich jedenfalls die Chance, dass Philanthropie und Kreativität zusammenfinden. 126 127 S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n Herkunft und Talent: Neue Wege zur Bildungsgerechtigkeit Von Dr. David Deißner „Sage mir, wo du herkommst, und ich sage dir, was aus dir wird.“ Diese Formel beschreibt – wenngleich zugespitzt – jenen Defekt des deutschen Bildungssystems, der nach den hitzigen bildungssoziologischen Debatten der 60er und 70er Jahre mit der Veröffentlichung der PISA-Untersuchungen erneut ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt ist: Bildungserfolg ist hierzulande ganz wesentlich eine Frage der sozialen Herkunft. Die Bildungssoziologie fasst die Situation wie folgt zusammen: Insgesamt erbrachte die Bildungsexpansion seit den 50er Jahren „einen Zuwachs an Bildungschancen für alle Sozialgruppen, aber keinen umfassenden Abbau der sozialen Ungleichheit“1. Mit anderen Worten: Es gibt mehr Bildung für viele und zugleich doch immer noch viel zu wenig Bildung für einige. So beträgt die Chance eines Jugendlichen aus einem Facharbeiterhaushalt, ein Gymnasium anstelle einer anderen Schulform zu besuchen 3:17, während für Jugendliche, die aus einer Familie höherer Beamten stammen, die Chancen, ein Gymnasium statt einer anderen Schulform zu besuchen, bei etwa 1:1 liegen. Der eigentlich alarmierende Befund: Selbst Intelligenz und gute Noten helfen nicht unbedingt weiter. Auch bei gleicher kognitiver Befähigung haben Kinder aus Akademikerhaushalten eine 2,5-mal höhere Chance auf den Besuch des Gymnasiums als ihre Klassenkameraden aus bildungsfernen Elternhäusern. Mangelndes Bildungsbewusstsein und „kulturelles Kapital“ im Elternhaus, aber auch die unbewusste Diskriminierung der Lehrer bei der Schulempfehlung spielen hier eine entscheidende Rolle. 1 Rolf Becker, Wolfgang Lauterbach (Hrsg.), „Bildung als Privileg“, Wiesbaden 2008. „Das Glück des individuellen Talents kreuzt sich nach wie vor mit dem Pech der sozialen Herkunft“, schreibt Heinz Bude, in seinem Buch „Die Ausgeschlossenen – Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“2. Die Gefahr, dass ein junger Mensch als einer eben jener „Ausgeschlossenen“ endet, als Minijobber und Transferleistungsempfänger, als einer jener Millionen Menschen, die allen Mut, alle Perspektiven und schließlich die Möglichkeit gesellschaftlicher Partizipation verlieren, steigt gefährlich an, wenn ihm in der Kindheit herkunftsbedingt der Zugang zu Bildung verwehrt bleibt. Dies ist umso mehr der Fall, als der globalisierte Arbeitsmarkt immer weniger gesicherte Beschäftigung für Geringqualifizierte bereitstellt. Je mehr der Arbeitsmarkt auf Dienstleistung und hochqualifizierte Facharbeit einschrumpft, desto schwerwiegender das Problem ungleicher Bildungschancen. Angesichts der Dringlichkeit des Problems muss es erstaunen, dass sich die bildungspolitische Debatte – kommt die Rede auf Bildungsgerechtigkeit – geradezu reflexartig auf die Frage der Schulstruktur reduziert. Keine Frage: Die Reform der Struktur wird und soll uns auch weiter beschäftigen. Doch die ideologisch verengten Streitigkeiten um die Mehrgliedrigkeit des Systems, den Zeitpunkt des Schulübergangs und die Zukunft der Hauptschule haben den Blick auf andere innovative und potenziell flächentaugliche Ansätze zur Förderung der Bildungsgerechtigkeit verstellt. Mit einer Änderung der Struktur des Bildungswesens sind die Probleme noch nicht gelöst, denn soziale Ungleichheit entsteht vor allem durch das schichtenspezifische Entscheidungsverhalten der Eltern an Bildungsübergängen. Hier walten komplexe soziopsychologische Prozesse, die sich durch legislative Handstreiche nicht von heute auf morgen korrigieren lassen. Gleichwohl gibt es Raum für kreative Ansätze. Entscheidungen – auch Bildungsentscheidungen – verändern sich je nach Präsentation der vorliegenden Optionen und vorangegangener Erfahrungen, sie variieren je nach Informationsstand und geglaubter Erfolgsaussicht. Ein Schulsystem, welches bildungsferne Eltern durch klassische Eltern- und In2 Heinz Bude, „Die Ausgeschlossenen – Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“, München 2008. 128 129 S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n formationsabende kaum erreicht, ein Schulsystem, das die Bedeutung des Bildungsübergangs nach der Grundschule nicht allen Eltern gleichermaßen verständlich zu machen vermag und nicht selten auf „Amtsdeutsch“ kommuniziert, hat hier erheblichen Nachholbedarf. Das Think-Tank-Projekt Vodafone Talente, das 2009 ins Leben gerufen wurde, soll genau hier ansetzen. Es bringt Bildungsforscher, Politiker, Experten aus Schul- und Kultusverwaltung sowie Praktiker aus Schule und Elternarbeit ins Gespräch, um Instrumente zu entwickeln, die Eltern „entscheidungsfit“ machen und Lehrer für die Wahrnehmung sozialer Unterschiede sensibilisieren und bei der Schulempfehlung unterstützen. Wenn wir es mit chancengerechter Bildung ernst meinen, wenn wir unentdeckte Talente bergen wollen, müssen Entscheidungsarchitektur und -kompetenz ganzheitlich in den Blick genommen werden. Vor allem wird es darauf ankommen, benachteiligte Familien zielgenau anzusprechen und frühzeitig auf Bildungsübergänge vorzubereiten. Hierzu bedarf es innovativer Formate, einer Informationsvermittlung neuen Typs und gezielter vertrauensbildender Maßnahmen zwischen Schule und Elternhaus. Die Botschaft ist klar: „Wo auch immer du herkommst – ich sage dir, was alles aus dir werden kann!“ Dr. David Deißner ist Projektleiter für Bildung und Bildungsforschung bei der Vodafone Stiftung Deutschland. Ausblick Die Vodafone Stiftung Deutschland im Jahre 2012 Im Jahre 2012 wollen wir eine Stiftung sein, die im Themenfeld Bildung, Integration und soziale Mobilität sichtbare innovative Akzente setzt und so das politische und gesellschaftliche Zeitgespräch bereichert sowie soziale Innovationen initiiert. Dafür wollen wir uns in den nächsten Jahren die notwendige Expertise und Reputation erarbeiten. Vorbild sind Think-Tanks amerikanischer Prägung, die wirkungsvoll an den gesellschaftlichen Debatten mitwirken. Sie begreifen sich als Agenturen für notwendige Einmischungen. Ein Selbstbild, das wir für uns ebenfalls heranziehen wollen. Der Transformationsprozess hat im Jahr 2009 begonnen. Bis dahin hatte die Stiftung ein sehr heterogenes Betätigungsfeld: Kunst- und Kulturförderung, Gesundheit sowie Bildung, Integration und soziale Mobilität. In ihrer strategischen Ausrichtung wird sich die Vodafone Stiftung Deutschland neben der Fortführung ihrer erfolgreichen Kernprojekte im Bildungsbereich zukünftig noch deutlicher als bisher auf die Themenfelder Bildung, Integration und soziale Mobilität konzentrieren. So wird sich die Stiftung verstärkt als Risikokapitalgeber engagieren und im Sinne der „Venture Philanthropy“ Anschubfinanzierungen für kreative Projektideen im Bereich Bildung und soziale Mobilität bereitstellen. Darüber hinaus wird die Stiftung ihre Tätigkeit im Rahmen der Think-Tank-Arbeit ausweiten. In enger Zusammenarbeit von Wissenschaft, Politik und Praxis sollen Instrumente entwickelt und Projekte umgesetzt werden, die das Schulsystem für Kinder benachteiligter Familien durchlässiger gestalten und somit die Bildungsgerechtigkeit und soziale Mobilität befördern. Unsere Unterstützung gilt überdies Menschen und Ideen, die mit höchster Überzeugung und Expertise für einen konstruktiven Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft stehen. Und zwar genau dort, wo der Zusammenhalt in der Gesellschaft gefährdet ist: bei der drohenden sozialen Ungleichheit, die 130 131 S t r at e g i s c h e P e r s p e k t i v e n uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sehr schmerzhaft beschäftigen wird. Dabei geht es letztlich um die Stabilität unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, mindestens aber um ihre breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sieht sich allerdings einer tiefen Akzeptanzkrise gegenüber, die durch die gegenwärtige Finanzkrise noch verschärft wird. Im Kern geht es darum, dass es immer weniger gelingt, die sich öffnende Schere in der gesellschaftlichen Einkommens- und Vermögensverteilung durch Umverteilung zu schließen. Wachsende Ungleichheit ist gesellschaftspolitisch aber nur vermittelbar, wenn damit jeder Einzelne unabhängig von seiner Herkunft bessere Chancen zu gesellschaftlichem Aufstieg und sozialer Mobilität erhält. Andernfalls führt wachsende Ungleichheit zur schleichenden Delegitimierung einer Gesellschaftsordnung und zu politischer Instabilität. Im Interesse der gesellschaftlichen Stabilität können wir es uns nicht länger erlauben, Talente nicht zu entwickeln und brachliegen zu lassen. Hier liegt die Kernaufgabe der Vodafone Stiftung Deutschland, die sich auch aus den ordnungspolitischen Interessen des Unternehmens Vodafone ableitet. Wir verdanken unser aller Erfolg der Stabilität von Rahmenbedingungen in diesem Land. Wir müssen also Zugänge schaffen für Menschen, denen der Zugang zu Bildung, Arbeit und Qualifikation herkunftsbedingt erschwert wird. Als bildungspolitischer Think-Tank wollen wir Diskurse anstoßen, die im öffentlichen Raum Gehör finden und eine gedankliche Grundlage für die politische Willensbildung vermitteln. Wir möchten Denker und Entscheider ins Gespräch bringen und so den Hebel zum gesellschaftlichen Wandel ansetzen. Wir sind überzeugt: Die Lösungen, die unser Land voranbringen, müssen crosssektoral erdacht und realisiert werden. Gefangen im jeweiligen Subsystem wird es nicht gelingen, die richtigen Antworten auf die Zukunftsfragen zu finden. Die Vodafone Stiftung Deutschland möchte hier Grenzen überschreiten und Menschen aus Wirtschaft, Politik, Medien, Kultur und Gesellschaft zusammenbringen. Au f e i n e n B l i c k Stiftungsporträt Gründer/Gesellschafter Vodafone D2 GmbH Rechtsform gemeinnützige GmbH Sitz Düsseldorf Handelsregistereintrag Handelsregister B des Amtsgerichts Düsseldorf, HRB 42767 Beirat Thomas Ellerbeck (Vorsitzender) Geschäftsführer Thomas Holtmanns Dr. Mark Speich Förderbereiche Bildung, Integration, soziale Mobilität, Gesundheit, Kunst und Kultur 134 135 Au f e i n e n B li ck Beirat Thomas Ellerbeck Prof. Dr. Dr. h. c. Werner F. Ebke Prof. Dr. Barbara Ischinger Mitglied der Geschäftsleitung Vodafone Deutschland und Vodafone AG, Ressort Konzernkommunikation, Politik und Stiftungen Direktor des Institutes für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht an der Universität Heidelberg, Herausgeber Neue Osnabrücker Zeitung Direktorin für Bildung bei der OECD, Paris Cem Özdemir Prof. Susanne Porsche Dr. Helmut Reitze Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen Geschäftsführerin der summerset GmbH und Vorstandsmitglied der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft e. V. Intendant des Hessischen Rundfunks Vorsitzender Team von links nach rechts: Manuela Dittmann Assistentin manuela.dittmann@vodafone.com Sonja Gigler Wissenschaftliche Referentin sonja.gigler@vodafone.com Stephan Gesing Projektassistent stephan.gesing@vodafone.com 136 137 Au f e i n e n B li ck Dr. Mark Speich Dr. David Deißner Geschäftsführer mark.speich@vodafone.com Projektleiter Bildung, Bildungsforschung david.deissner@vodafone.com Thomas Holtmanns Petra Wickenkamp Geschäftsführer thomas.holtmanns@vodafone.com Projektleiterin Kunst und Kultur, Stipendienprogramme petra.wickenkamp@vodafone.com Danyal Alaybeyoglu Andrea Zinnenlauf Pressesprecher danyal.alaybeyoglu@vodafone.com Projektleiterin Bildung, Gesundheit andrea.zinnenlauf@vodafone.com Das Vodafone Stiftungsnetzwerk International in 23 Ländern So international wie das Unternehmen ist auch die Vodafone Stiftungsfamilie. Neben der Vodafone Foundation in Großbritannien gibt es 23 weitere Stiftungen, die unabhängig operieren und sich gesellschaftlichen Herausforderungen ihrer Heimatländer stellen. Die Vodafone Foundation hat ihre Arbeit im Jahre 2002 aufgenommen. Gegründet wurde sie von der Vodafone Group Plc. Seit ihrer Gründung hat sie mehr als 100 Millionen britische Pfund für soziale Projekte aufgewendet. Die Stiftung unterstützt weltweit unter anderem Projekte und Institutionen, die im Katastrophenfall schnell und unkompliziert Hilfe leisten. Dazu gehören unter anderem United Nations Foundation, Oxfam, Télécoms Sans Frontières und MapAction. Mit diesem Engagement will die Vodafone Foundation zum Aufbau einer Bürgergesellschaft beitragen. Darüber hinaus setzt sie sich verstärkt in den Bereichen Sport und Musik ein und stellt in diesen Bereichen zusätzliche Fördermittel bereit. Davon sollen in erster Linie benachteiligte junge Menschen profitieren. Auf die besonderen lokalen Bdürfnisse und gesellschaftlichen Herausforderungen gehen 23 nationale Stiftungen ein. Sie sind Ausdruck dafür, dass Vodafone ein nachhaltiges Interesse daran hat, sich für die Gesellschaft einzusetzen. Die lokale Präsenz ermöglicht es den Stiftungen, einfach und nah an den Menschen aktiv zu werden. 138 139 Au f e i n e n B li ck So gibt es inzwischen folgende Vodafone Stiftungen: Weitere unternehmensnahe Stiftungen sind: Vodafone Stiftung Ägypten Vodafone Stiftung Albanien Vodafone Stiftung Australien Vodafone Stiftung Deutschland Vodafone Stiftung Großbritannien Vodafone Stiftung Irland Vodafone Stiftung Italien Vodafone Stiftung Malta Vodafone Stiftung Neuseeland Vodafone Stiftung Niederlande Vodafone Stiftung Polen Vodafone Stiftung Portugal Vodafone Stiftung Rumänien Vodafone Stiftung Spanien Vodafone Stiftung Tschechische Republik Vodafone Stiftung Türkei Vodafone Stiftung Ungarn Vodafone Stiftung USA Vodafone Foundation Bharti Stiftung, Indien Safaricom gemeinnützige Stiftung, Kenia Vodacom Stiftung, Südafrika Vodafone ATH Fiji Stiftung Im Registrierungsprozess für eine Stiftung befindet sich Vodafone Griechenland. Gemeinnützige Projekte in diesem Land werden derzeit über die Vodafone Foundation abgewickelt. Finanzstatus Vodafone Stiftung Deutschland gemeinnützige GmbH Berichtszeitraum 2007/2008 und 2008/2009 Mittelherkunft Zeitraum Vodafone Foundation, UK Vodafone D2 GmbH, Düsseldorf diverse Kleinspenden / Zinserträge 01.04.2008 – 31.03.2009 01.04.2007 – 31.03.2008 4.446.718,00 € 4.440.000,00 € 0,00 € 1.400.000,00 € 57.375,36 € 92.014,35 € noch nicht abgeflossene Mittel aus dem Vorjahr 1.378.022,20 € 2.197.967,03 € Summe 5.882.115,56 € 8.129.981,38 € 14 0 141 Au f e i n e n B li ck Mittelverwendung Zeitraum Verwaltung 01.04.2008 – 31.03.2009 01.04.2007 – 31.03.2008 541.581,53 € 601.252,60 € Vodafone Stiftungsinstitut für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin, Datteln 985.871,25 € 598.844,37 € Vodafone Stiftungslehrstuhl für Kinderschmerztherapie und Pädiatrische Palliativmedizin, Universität Witten/Herdecke 120.000,00 € 0,00 € 80.705,08 € 0,00 € Themenfeld Gesundheit KidSwing – Dietrich Grönemeyer Stiftung gGmbH, Bochum KidSwing – Deutsche Kinderhilfe e.V., Berlin 0,00 € 65.160,96 € nestwärme e.V., Trier 0,00 € 150.059,30 € 1.186.576,33 € 814.064,63 € Summe Themenfeld Bildung, Integration und Soziale Mobilität buddY E.V., Düsseldorf 1.001.717,98 € 1.016.701,48 € Vodafone Chancen 850.619,59 € 585.219,95 € Off Road Kids Stiftung, Bad Dürrheim 609.413,86 € 652.090,63 € World of Difference – Teach First e.V., Berlin 295.937,68 € 0,00 € Internationales Integrationssymposium, Berlin 259.297,29 € 538.905,97 € Entwicklung Themenfeld Soziale Mobilität 169.532,22 € 51.602,85 € Deutscher Lehrerpreis 165.789,61 € 0,00 € START, START-Stiftung gGmbH, Frankfurt 98.000,00 € 0,00 € impACT -Wettbewerb, Jacobs University, Bremen 85.000,00 € 0,00 € 0,00 € 93.206,70 € 33.400,00 € 0,00 € 3 Vodafone Bucerius LERN-WERK Altmark, ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration GmbH, Berlin sonstige Förderungen 103.372,50 € 208.841,25 € 3.672.080,73 € 3.146.568,83 € 1.006.024,30 € 1.016.105,25 € 130.180,00 € 132.549,47 € 1.500,00 € 41.418,40 € Summe 1.137.704,30 € 1.190.073,12 € Summe Projekte 5.996.361,36 € 5.150.706,58 € Summe Themenfeld Kunst und Kultur Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Klassik Stiftung Weimar Düsseldorf ist ARTig, Kulturamt der Stadt Düsseldorf sonstige Förderungen Impressum Herausgeber Vodafone Stiftung Deutschland gemeinnützige GmbH Am Seestern 1 40547 Düsseldorf www.vodafone-stiftung.de Telefon +49 211 533-5392 Telefax +49 211 533-1898 Verantwortlich Dr. Mark Speich Konzeption und Redaktion Danyal Alaybeyoglu, Düsseldorf Peter Felixberger, Erding Andrea Zinnenlauf, Düsseldorf Texte Danyal Alaybeyoglu, Düsseldorf Dr. David Deißner, Düsseldorf Anja Dilk, Berlin Peter Felixberger, Erding Sascha Hellmann, Wallenhorst Florian Michl, Wien Grafische Konzeption und Gestaltung trafodesign GmbH, Düsseldorf Druck fgb freiburger graphische betriebe GmbH & Co. KG, Freiburg Fotonachweise Amin Akhtar David Ausserhofer Britische Botschaft Berlin buddY E.V. Düsseldorf ist ARTig Daniel Gebauer David Klammer Klassik Stiftung Weimar Off Road Kids Stiftung Aleksander Perkovic RTL Erkennen. Fördern. Bewegen. Vodafone Stiftung Deutschland gemeinnützige GmbH Am Seestern 1 40547 Düsseldorf Telefon: +49 211 533-5392 Telefax: +49 211 533-1898 info@vodafone-stiftung.de www.vodafone-stiftung.de